PLATON, PHAIDON (in Arbeit) INHALT 1 Äußere Rahmenhandlung: Gespräch zwischen Phaidon und Echekrates (57a-58d) ................................................................1 2 Innere Rahmenhandlung: Phaidons Bericht von Sokrates' Tod (58e-88c, 89a-118a) ..............................................................2 2.1 Sokrates' Gespräch mit Kebes und Simmias (59d- ) ...................................................................................................................4 2.1.1 Ausgangspunkt: Für die Philosophen ist der Tod wünschenswert, weil er Unabhängigkeit vom Körper bedeutet – wenn es ein Dasein nach dem Tod gibt ('Apologie') (59d-69e) ................................................................................5 2.1.2 Erster Beweis für die Unsterblichkeit der Seele: Alles entsteht aus seinem Gegenteil (69e-72e) ................... 17 2.1.3 Zweiter Beweis: Erkennen des 'an sich Seienden' ist Erinnerung an vorgeburtliches Wissen (72e-78a) ..... 22 2.1.4 Dritter Beweis: Die Seele ist den 'Dingen an sich' wesensähnlich und also unvergänglich (78a-80d) ......... 31 2.1.5 Ethische Konsequenz: Der Philosoph lebt entsprechend der Natur der Seele möglichst unabhängig vom Körper (80e-84a) ................................................................................................................................................................................................ 35 2.1.6 Einwand von Simmias: Die Seele könnte nur eine 'Stimmung' des Körpers sein und damit doch sterblich (Beispiel von der Lyra) (84c-86d) ................................................................................................................................................................. 39 2.1.7 1 Einwand von Kebes: Die Prä- und Postexistenz der Seele beweise noch nicht ihre Unsterblichkeit (86e-)42 ÄUßERE RAHMENHANDLUNG: GESPRÄCH ZWISCHEN PHAIDON UND ECHEKRATES (57A58D) [57a] Echekrates: Phaidon, warst du selbst an dem Tag bei Sokrates, als er im Gefängnis das Gift trank, oder hast du es von jemand anders gehört? Phaidon: Ich war selbst dort, Echekrates. Echekrates: Was ist es also, was der Mann vor seinem Tod sagte? Und wie ist er gestorben? Ich würde es ja doch gern hören. Von den Leuten aus Phleiasia kommt keiner dieser Tage nach Athen, und es ist auch schon lange kein Besucher [57b] von dort hergekommen, der uns darüber etwas Sicheres hätte berichten könnte, außer natürlich, dass er durch das Trinken des Gifts starb. Sonst konnte keiner etwas sagen. [58a] Phaidon: Habt ihr auch von dem Prozess noch nicht gehört, wie er vonstatten ging? Echekrates: Doch, das hat uns jemand berichtet, und wir haben uns in der Tat gewundert, dass Sokrates offenbar erst viel später hingerichtet wurde, obwohl der Prozess längst vorbei war. Wie kam das, Phaidon? Phaidon: Es war ein Zufall, Echekrates. Am Tag vor dem Prozess nämlich war gerade das Heck des Schiffs bekränzt worden, dass die Athener immer nach Delos senden. Echekrates: Was für ein Schiff ist denn das? Phaidon: Es ist das Schiff, so sagen die Athener, in dem Theseus einst mit den 'zweimal Sieben' nach Kreta fortsegelte [58b] und dann sie und auch sich selbst rettete. Man erzählt, dass sie dem Apoll gelobt hatten, ihm jedes Jahr eine Festgesandtschaft nach Delos zu schicken, wenn sie gerettet würden; und diese schicken sie seit damals dem Gott auch heute noch jedes Jahr. Es ist aber Gesetz bei ihnen, dass die Stadt, sobald sie mit der Festgesandtschaft begonnen haben, sich in dieser Zeit reinhalten muss und niemanden von Staats wegen hinrichten darf, bevor das Schiff nach Delos und wieder zurückgekommen ist. Und das dauert manchmal lange, wenn zufällig (ungünstige) Winde [58c] sie aufhalten. Das Fest beginnt, sobald der Apollonpriester das Heck des Schiffs bekränzt; und das war gerade, wie ich sagte, am Tag vor dem Prozess geschehen. Deshalb hatte Sokrates im Gefängnis so viel Zeit zwischen dem Urteil und seinem Tod. Echekrates: Und was geschah bei seinem Tod, Phaidon? Was wurde gesagt und getan, und wer von seinen Freunden war bei ihm? Oder ließen die Beamten sie nicht zu ihm, und er starb ohne seine Freunde? [58d] Phaidon: Nein, gar nicht. Es waren einige da – sogar recht viele. Echekrates: Bitte sei so gut, uns alles so genau wie möglich zu erzählen, wenn du nicht gerade etwas zu tun hast. Phaidon: Nein, ich habe Zeit und werde versuchen, es euch zu erzählen. Die Erinnerung an Sokrates, ob ich selber von ihm spreche oder jemand anderem zuhöre, ist ja für mich auch immer die größte Freude. Echekrates: Nun, Phaidon, du hast hier Zuhörer, denen es genauso geht. Versuche also doch bitte, uns so genau, wie du kannst, alles der Reihe nach zu erzählen. 2 INNERE RAHMENHANDLUNG: PHAIDONS BERICHT VON SOKRATES' TOD (58E-88C, 89A-118A) [58e] Phaidon: Ich für meinen Teil hatte eine sonderbare Empfindung, als ich dort ankam. Denn mich ergriff kein Mitleid, wie man es erwarten sollte, wenn man beim Tod eines Freundes zugegen ist; denn der Mann erschien glücklich, Echekrates, in seinem Verhalten und in seinen Worten, wie furchtlos und edel er in den Tod ging, so dass mir der Gedanke kam, er gehe nicht ohne göttliche Fügung zum Hades, sondern es werde ihm, wenn er dort hinkommen würde, gut ergehen, [59a] wenn überhaupt jemals einem Menschen. Deshalb empfand ich also überhaupt kein Mitleid, wie es normal erscheinen könnte, wenn man einem Trauerfall beiwohnt, und auch andererseits keine Freude wie sonst in unseren philosophischen Gesprächen, wie wir sie gewohnt waren – die Gespräche (dort im Gefängnis) waren durchaus auch von dieser Art – sondern eine ganz eigenartige Stimmung überkam mich, eine ungewohnte Mischung aus Freude und Schmerz zugleich, wenn ich daran dachte, dass Sokrates bald sterben würde. Und alle Anwesenden waren wohl ungefähr in dieser Verfassung, lachten und weinten dann wieder, und einer von uns ganz besonders, Apollodoros – [59b] du kennst ja wohl den Mann und seine Art. Echekrates: In der Tat. Phaidon: Der war wirklich ganz und gar in diesem Zustand, aber auch ich selbst war aufgewühlt und die anderen ebenso. Echekrates: Wer war denn anwesend, Phaidon? Phaidon: Von den Einheimischen (den Athenern) war eben dieser Apollodoros dort und Kritoboulos und sein Vater (Kriton) und dann noch Hermogenes, Epigenes, Aischines und Antisthenes. Auch Ktesippos aus Paiania war dort und Menexenos und andere Athener. Platon aber, glaube ich, war krank. Echekrates: Waren auch Fremde dort? [59c] Phaidon: Ja, Simmias, Kebes und Phaidondes aus Theben, und aus Megara Eukleides und Terpsion. Echekrates: Und – waren Aristippos und Kleombrotos da? Phaidon: Nein, es hieß, sie seien auf Aigina. Echekrates: War sonst noch jemand da? Phaidon: Ich glaube, das waren wohl alle, die dort waren. Echekrates: Wie ging es also weiter – worüber, sagst du, wurde gesprochen? Phaidon: Ich will versuchen, dir alles von Anfang an zu erzählen. [59d] Auch an den vorangegangenen Tagen hatten wir Sokrates immer besucht, die anderen und ich, wobei wir uns frühmorgens im Gerichtsgebäude trafen, wo auch der Prozess stattgefunden hatte, denn es lag nahe beim Gefängnis. Wir warteten nun jedesmal, bis das Gefängnis aufgeschlossen wurde, und unterhielten uns dabei miteinander, denn es wurde nicht gleich in der Frühe geöffnet. Sobald es dann geöffnet wurde, gingen wir zu Sokrates hinein und verbrachten den größten Teil des Tags mit ihm. Und an diesem bewussten Tag hatten wir uns noch früher getroffen, denn am Tag zuvor [59e], als wir abends aus dem Gefängnis gekommen waren, hatten wir erfahren, dass das Schiff aus Delos angekommen sei. Also hatten wir uns verabredet, so früh wie möglich zum gewohnten Ort zu kommen. Und wir kamen, und der Türwächter, der immer die Tür öffnete, kam zu uns heraus und sagte, dass wir warten und nicht eher hereinkommen sollten, bis er uns auffordern würde. "Die Elfmänner", sagte er, "lassen nämlich gerade Sokrates aus seinen Fesseln lösen und treffen Anweisungen dafür, dass er heute hingerichtet wird." Kurze Zeit später kam er heraus und forderte uns auf, einzutreten. Beim Eintreten [60a] fanden wir Sokrates soeben von den Fesseln befreit vor und Xanthippe – du kennst sie ja – mit seinem kleinen Kind bei ihm sitzend. Als sie uns nun sah, jammerte sie laut auf und sagte solche Sachen, wie die Frauen sie eben sagen: "Ach, Sokrates, zum letzten Mal werden jetzt deine Freunde zu dir sprechen und du zu ihnen!" Und Sokrates sah Kriton an und sagte: "Kriton, jemand soll sie nach Haus bringen." Und ein paar von Kritons Leuten führten sie fort, während sie schrie [60b] und sich die Brust schlug. Sokrates aber setzte sich auf seinem Bett auf, winkelte sein Bein an und rieb es mit der Hand, und während er es rieb, sagte er: "Wie merkwürdig, Freunde, erscheint das, was die Menschen das Angenehme nennen – wie wundersam verhält es sich zu dem, was sein Gegenteil zu sein scheint, dem Schmerzvollen, nämlich darin, dass beide nicht zugleich beim Menschen sein wollen, dass man aber, wenn man das eine jagt und fängt, geradezu gezwungen wird, immer auch das andere mitzunehmen, wie wenn sie an einem Kopf verbunden wären, [60c] obgleich sie zwei sind. Und mir scheint es", fuhr er fort, "wenn Aisopos sie bemerkt hätte, dass er dann eine Fabel darüber gedichtet hätte, wie der Gott ihrem Krieg ein Ende setzen wollte und, als er es nicht konnte, ihre Köpfe an einer Stelle zusammengebunden hätte, und dass deshalb zu jemandem, zu dem das eine geht, auch das andere nachfolgt. So kommt es auch mir selbst jetzt vor: Nachdem mein Bein wegen der Fessel Schmerz empfand, scheint nun, diesem Schmerz auf dem Fuß folgend, das angenehme Gefühl sich eingestellt zu haben." 2.1 SOKRATES' GESPRÄCH MIT KEBES UND SIMMIAS (59D- ) 2.1.1 AUSGANGSPUNKT: FÜR DIE PHILOSOPHEN IST DER TOD WÜNSCHENSWERT , WEIL ER UNABHÄNGIGKEIT VOM KÖRPER BEDEUTET – WENN ES EIN DASEIN NACH DEM TOD GIBT ('APOLOGIE') (59D -69E) Nun nahm Kebes das Wort und sagte: "Beim Zeus, Sokrates, es ist gut, dass du mich daran erinnerst. Denn zu den [60d] Gedichten, die du verfasst hast, indem du die Fabeln des Aisopos und den Apollon-Hymnos in Verse gebracht hast, haben mich schon andere befragt und vorgestern auch Euenos: Was du dir wohl dabei gedacht hast, sie zu schreiben, als du hierher kamst, wo du doch vorher noch nie etwas gedichtet hattest. Wenn dir nun daran liegt, dass ich dem Euenos eine Antwort geben kann, wenn er mich wieder fragt – und ich weiß, dass er mich wieder fragen wird –, dann sag mir, was ich antworten soll." "Sag ihm die Wahrheit, Kebes", sagte Sokrates, "dass ich es nicht in dem Wunsch tat, mit ihm in der Dichtung zu rivalisieren, [60e] – denn ich wüsste wohl, dass das nicht einfach wäre – sondern weil ich prüfen wollte, was gewisse Träume zu bedeuten hätten, und meine heilige Pflicht erfüllen wollte, für den Fall, dass diese Träume mir tatsächlich viele Male den Auftrag gegeben haben sollten, diese Kunst auszuüben. Es war nämlich so: Mir ist in meinem vergangenen Leben oft derselbe Traum begegnet, bald in dieser, bald in jener Gestalt, aber immer mit denselben Worten: 'Sokrates', sagte er, 'betreibe Kunst und übe dich darin!' Und ich dachte früher immer, dass er mir auftrug, genau das zu tun, was ich bereits tat; dass nämlich der Traum mich antrieb [61a] und bestärkte – so wie Leute, die Läufer anfeuern – das zu tun, was ich bereits tat, nämlich Kunst auszuüben, weil die Philosophie meiner Meinung nach die schönste Kunst ist und ich mich ja damit beschäftigte. Nun aber, nach dem Prozess, als das Fest des Gottes (die Delien) meine Hinrichtung verzögerte, schien es mir nötig zu sein, für den Fall, dass der Traum mir doch in Wirklichkeit all die Male aufgetragen hatte, 'Kunst' im landläufigen Sinne zu betreiben, ihm nicht ungehorsam zu sein, sondern das zu tun. Denn es schien mir sicherer, nicht aus dem Leben zu gehen, bevor ich meine heilige Pflicht erfüllt hätte, [61b] indem ich Gedichte schriebe und dem Traum gehorchte. So verfasste ich also das erste Gedicht für den Gott, dem das gegenwärtige Fest dargebracht wurde, und nach dem Gott – weil ich mir überlegt hatte, dass ein Dichter, wenn er wirklich ein Dichter sein will, Geschichten und nicht Diskurse schreiben müsse und dass ich selbst kein Geschichtenerfinder bin – deshalb also habe ich von den Geschichten, die ich zur Hand hatte und kannte, nämlich denen des Aisopos, die ersten, die ich fand, in Verse gebracht. Das also, Kebes, sag dem Euenos, und dass er gesund sein und mir so bald wie möglich folgen möge, wenn er bei Verstand ist. [61c] Wie es aussieht, werde ich ja heute aufbrechen, denn die Athener befehlen es." Und Simmias sagte: "Was lässt du dem Euenos da ausrichten, Sokrates! Ich bin dem Mann ja schon oft begegnet, und nach dem, was ich von ihm erlebt habe, bin ich doch sicher, dass er auch nicht im geringsten Lust haben wird, deinen Rat zu befolgen." "Warum?" fragte Sokrates, "Ist Euenos kein Philosoph?" "Ich glaube doch", sprach Simmias. "Dann wird Euenos durchaus bereitwillig sein, und ebenso jeder, der sich in nennenswerter Weise mit der Philosophie beschäftigt. Er wird allerdings wohl nicht selbst Hand an sich legen, denn man sagt ja, dass das gegen die göttliche Bestimmung ist." Bei diesen Worten setzte er [61d] die Beine auf den Boden und führte den Rest des Gesprächs sitzend in dieser Position. Nun fragte Kebes ihn: "Was meint du damit, Sokrates, dass es gegen die göttliche Bestimmung ist, sich selbst zu töten, dass aber ein Philosoph einem Sterbenden gern nachfolgen will?" "Wie, Kebes – habt ihr, du und Simmias, nicht von solchen Dingen gehört, als ihr mit Philolaos zusammenwart?" "Nichts Genaues, Sokrates." "Nun, ich spreche darüber freilich nur nach dem Hörensagen; was ich aber zufällig gehört habe, will ich euch nicht vorenthalten. [61e] Es ist ja auch durchaus angemessen für jemand, der gerade im Begriff ist, dorthin aufzubrechen, über den Aufenthalt dort (in der Welt nach dem Tod) nachzudenken und Geschichten darüber zu erzählen, wie sie unserer Vorstellung nach wohl ist. Was könnte man auch sonst in der Zeit bis zum Sonnenuntergang tun?" "Aber weshalb denn bloß sagt man, dass es nicht erlaubt ist, sich selbst zu töten, Sokrates? Ich habe in der Tat selbst genau das, wonach du jetzt eben fragtest, auch von Philolaos gehört, als er bei uns war, und auch schon von anderen, dass man das nicht tun dürfe; Genaues darüber aber habe ich noch von niemandem je gehört." [62a] "Lass den Mut nur nicht sinken", sagte Sokrates, "vielleicht hörst du es ja noch. Es mag dir allerdings sonderbar vorkommen, dass nur dies eine von allen Dingen ausnahmslos gilt und dass es beim Menschen niemals vorkommt, wie sonst bei allen Dingen, dass es nur manchmal und nur für bestimmte Menschen (gilt, nämlich dass es) besser ist, tot zu sein, als zu leben. Und es erscheint dir vielleicht seltsam, dass es für diese Menschen, für die es besser wäre, tot zu sein, ein Frevel ist, sich selbst eine Wohltat zu erweisen, und dass sie stattdessen auf einen fremden Wohltäter warten müssen." Und Kebes sagte in seinem Dialekt und lächelte leicht dazu: "Das mag Zeus wissen." [62b] "Es mag ja so auch unsinnig erscheinen", sagte Sokrates. "Vielleicht allerdings hat es trotzdem einen Sinn. Der Grund, der dazu in den Geheimlehren genannt wird, nämlich dass wir Menschen unter einer Art Bewachung stehen und uns nicht daraus freimachen und weglaufen dürfen, scheint mir recht gewichtig zu sein und nicht leicht zu durchschauen. Aber, Kebes, dies scheint man mir doch jedenfalls mit Recht zu sagen, dass die Götter unsere Hüter sind und wir Menschen ein Eigentum der Götter. Oder scheint es dir nicht so zu sein?" "Doch, sicherlich", sagte Kebes. [62c] "Nicht wahr", sagte Sokrates, "wenn etwas, was dir gehört, sich selbst töten würde, ohne dass du angedeutet hättest, dass du willst, dass es stirbt – dann würdest du ihm das doch wohl übelnehmen und, wenn du die Möglichkeit dazu hättest, es bestrafen?" "Bestimmt", sagte Kebes. "So betrachtet, scheint es also vielleicht doch nicht unsinnig, dass man sich nicht selbst umbringen darf, bevor die Gottheit die Notwendigkeit dazu verhängt, so wie die, in der ich mich jetzt befinde." "Ja, das erscheint wirklich einleuchtend", sagte Kebes. "Was du allerdings vorher sagtest, nämlich dass Philosophen gern [62d] den Tod wählen – das, Sokrates, erscheint unsinnig, wenn das, was wir gerade sagten, tatsächlich sinnvoll ist: dass die Gottheit sich um uns kümmert und wir ihr Eigentum sind. Denn es ergibt keinen Sinn, dass die vernünftigsten Menschen ohne jeden Widerwillen aus diesem Dienst scheiden sollten, in dem ihre Vorgesetzten die besten aller Vorgesetzten sind, die es gibt, nämlich die Götter. Es bildet sich ja wohl keiner ein, dass er selbst besser für sich sorgen könnte, wenn er frei wird. Ein dummer Mensch mag sich das wohl einbilden, dass man [62e] seinem Herrn (unter allen Umständen) entfliehen muss, und er denkt vielleicht nicht darüber nach, dass man von dem Guten nicht fliehen, sondern alles daransetzen sollte, zu bleiben; und so würde er unvernünftigerweise fliehen. Wer dagegen Verstand (νοῦς) hat, wird doch wohl bei demjenigen bleiben wollen, der besser ist als er selbst. Und so, Sokrates, wäre das Gegenteil von dem wahrscheinlich, was eben gesagt wurde: Es würde dann zu den Vernünftigen passen, widerwillig zu sterben, und zu den Unvernünftigen, es gern zu tun." Als Sokrates das hörte, hatte ich den Eindruck, als freute er sich über [63a] Kebes' Eifer, und er schaute zu uns herüber und sagte: "Kebes versucht wirklich immer, den Gedankengängen auf den Grund zu gehen, und er ist nicht so ohne weiteres bereit, sich von allem überzeugen zu lassen, was irgendwer behaupten mag." Da sagte Simmias: "Allerdings, Sokrates, glaube auch ich selbst, dass Kebes jetzt recht hat. Denn mit welchem Ziel sollten weise Menschen Herren, die besser sind als sie, zu entkommen versuchen und sich leichten Herzens von ihnen trennen? Und ich habe den Eindruck, dass Kebes seine Argumentation auf dich abzielt: dass du es so leicht hinnimmst, sowohl uns als auch gute Herren zu verlassen, wie du ja selber zugestehst: die Götter." [63b] "Ihr habt recht, das zu sagen", sagte Sokrates. "Denn ihr meint, glaube ich, dass ich dazu eine Verteidigungsrede halten sollte, wie vor Gericht." "Allerdings", sagte Simmias. "Nun gut", sagte Sokrates, "dann will ich versuchen, mich vor euch überzeugender zu verteidigen als vor den (athenischen) Richtern. Denn, Simmias und Kebes, wenn ich nicht glauben würde, dass ich erstens zu anderen weisen und guten Göttern kommen werde, und zweitens zu besseren verstorbenen Menschen, als es die hiesigen sind, dann würde ich zu Unrecht den Tod willkommen heißen. So aber seid euch bewusst, [63c] dass ich die Hoffnung habe, zu guten Menschen zu kommen, auch wenn ich das wohl nicht ganz sicher sagen kann; dass ich aber zu Göttern kommen werde, die sehr gute Herren sind, da seid euch gewiss, dass ich das mit aller Sicherheit sagen kann, wenn überhaupt irgendetwas. Und darum bin ich nicht so widerwillig (wie andere Menschen), sondern voller guter Hoffnung, dass die Verstorbenen etwas Gutes erwartet und, wie man auch seit alters her erzählt, etwas weitaus Besseres für die guten Menschen als für die schlechten." "Was meinst du denn, Sokrates?" sagte Simmias. "Hast du die Absicht, dich davonzumachen, indem du diese Gedanken für dich behältst, oder magst du uns vielleicht daran teilhaben lassen? [63d] Dieser Schatz scheint mir ja doch auch uns mit zu gehören, und er wird dir zugleich als Verteidigungsrede dienen, wenn du uns von dem überzeugen kannst, was du da sagst." "Also gut, ich werde es versuchen", sagte Sokrates. "Sehen wir aber zuerst einmal, was mir Kriton hier, glaube ich, schon die ganze Zeit sagen will." "Was denn, Sokrates?" sagte Kriton. "Etwa, was der Mann, der dir das Gift geben wird, mir die ganze Zeit schon sagt, nämlich dass wir dir erklären sollen, dass du so wenig wie möglich sprechen sollst? Er sagt nämlich, dass man sich erhitzt, wenn man sich unterhält, und dass sich das [63e] mit der Wirkung des Gifts nicht verträgt. Wenn man sich daran nicht hält, müssten die, die sich so verhalten, zwei- oder gar dreimal trinken." Und Sokrates sagte: "Lass ihn; er soll sich nur um seine eigenen Aufgaben kümmern und Vorsorge treffen, dass er zweimal oder, wenn es nötig ist, dreimal den Trank verabreichen kann." "Das war mir schon klar", sagte Kriton, "er liegt mir nur schon die ganze Zeit in den Ohren." "Lass ihn", sagte Sokrates. "Ich will jetzt euch, meinen Richtern, Rechenschaft darüber ablegen, dass ich mit guten Grund glaube, dass ein Mann, der sich wahrhaftig in seinem Leben mit der Philosophie auseinandergesetzt hat, zuversichtlich ist, wenn er dem [64a] Sterben entgegensieht, und voller Hoffnung ist, dass er die größten Schätze davontragen wird, wenn er stirbt. Wie das nun wohl so möglich ist, Simmias und Kebes, werde ich zu erklären versuchen. Andere Menschen merken normalerweise nicht, dass alle, die sich in rechter Weise mit der Philosophie befassen, sich mit nichts anderem als dem Sterben und dem Tot-Sein beschäftigen. Wenn das nun wahr ist, wäre es ja wohl absurd, das ganze Leben lang nichts anderes als das anzustreben; wenn es aber dann wirklich auf einen zukommt, widerwillig gegenüber dem zu sein, was man sich die ganze Zeit gewünscht und geübt hat." Da lachte Simmias und sagte: "Beim Zeus, Sokrates, [64b] jetzt hast du mich zum Lachen gebracht, obwohl ich nicht wirklich in der Stimmung bin, zu lachen. Denn ich glaube, dass die Leute, wenn sie das hören würden, denken würden, dass durchaus zu Recht von den Philosophen gesagt wird – und gerade die hiesigen Leute würden entschieden zustimmen – dass in der Tat die Philosophen den Tod anstreben und dass ihnen sehr klar ist, dass die Philosophen auch verdienen, ihn zu erleiden." "Und sie würden die Wahrheit sagen, Simmias, ausgenommen dessen, dass es ihnen klar wäre. Denn es ist ihnen überhaupt nicht klar, in welcher Weise die wahren Philosophen den Tod anstreben und in welcher Weise sie den Tod verdienen, und was für einen Tod. [64c] Wir wollen es aber für uns selber sagen und diese Leute dabei beiseite lassen: Glauben wir, dass der Tod etwas ist?" "Sicherlich", ergriff Simmias das Wort. "Doch nichts anderes als die Trennung der Seele vom Körper? Und dass Tot-Sein bedeutet, dass der Körper ohne die Seele, getrennt von ihr, für sich allein ist, und dass auch die Seele ohne den Körper, von ihm getrennt, für sich allein ist? Oder ist der Tod vielleicht etwas anderes als das?" "Nein, sondern genau das", sagte Simmias. "Dann, lieber Simmias, überlege, ob du also dasselbe denkst wie ich, [64d] denn daraus, glaube ich, werden wir besser erkennen, was wir untersuchen. Glaubst du, dass es für einen Philosophen bezeichnend ist, sich um solche sogenannten Freuden zu bemühen wie Essen und Trinken?" "Überhaupt nicht, Sokrates", sagte Simmias. "Wie ist es mit den Freuden der Liebe?" "Gar nicht." "Und mit den anderen Freuden, mit denen man den Körper verwöhnt? Glaubst du, dass so ein Mensch sie für wichtig hält? So wie das Kaufen verschiedener Kleider und Schuhe und die anderen Verschönerungsmaßnahmen für den Körper – glaubst du, dass er sie für wichtig hält oder dass er sie geringschätzt, außer [64e] so viel, wie man unbedingt und notwendigerweise davon haben muss?" "Ich glaube, dass der wahre Philosoph sie gering achtet", sagte Simmias. "Glaubst du also nicht insgesamt", sagte Sokrates, "dass die Bestrebungen eines solchen Mannes sich nicht auf den Körper richten, sondern, soweit er es vermag, davon abgelöst und der Seele zugewandt sind?" "Das glaube ich." "Also erweist sich als erstes bei solchen Dingen der [65a] Philosoph als jemand, der seine Seele so weit wie möglich aus der Gemeinschaft mit dem Körper löst, anders als die anderen Menschen?" "So scheint es." "Und die meisten Leute, Simmias, glauben doch wohl, dass für jemand, dem von derartigen Dingen nichts angenehm ist und der daran nicht teilhat, das Leben nicht lohnt, sondern dass man so gut wie tot ist, wenn man sich um die Freuden nicht kümmert, die durch den Körper entstehen." "Da sagst du allerdings die Wahrheit." "Wie sieht es aber mit dem Erwerb der Erkenntnis (φρόνησις) aus? Ist der Körper hinderlich oder nicht, wenn man ihn bei der Suche [65b] als Gefährten zu Hilfe nimmt? Ich meine es so: Bietet der Sehsinn oder das Gehör für die Menschen etwas Wahrhaftiges, oder ist es eher so, wie die Dichter es uns immer sagen: dass wir nichts Genaues hören und sehen? Wenn jedoch diese körperlichen Sinne weder genau noch deutlich sind, dann sind es die anderen ja erst recht nicht, denn alle sind diesen ja unterlegen. Oder scheinen sie dir das nicht zu sein?" "Doch, auf jeden Fall", sagte Simmias. "Wann nun", sagte Sokrates, "berührt die Seele die Wahrheit? Wenn sie mit Hilfe des Körpers etwas zu betrachten versucht, ist es klar, dass sie dann von ihm getrogen wird." [65c] "Das ist wahr." "Also im Denken (τῷ λογίζεσθαι), wenn überhaupt, wird ihr etwas von der Wirklichkeit deutlich?" "Ja." "Sie denkt (λογίζεται) aber doch wohl dann am besten, wenn nichts von diesen Dingen sie nebenher trübt, weder das Gehör, noch das Sehen, noch ein Schmerz, noch eine angenehme Empfindung, sondern wenn sie so weit wie möglich den Körper ignoriert und für sich selbst ist und, soweit sie es vermag, ohne mit ihm zu tun zu haben und ihm verhaftet zu sein, sich der Wirklichkeit zuwendet." "So ist es." "Nicht wahr, und dabei [65d] verachtet die Seele des Philosophen den Körper in höchstem Maße, flieht von ihm und strebt danach, für sich allein zu sein?" "So scheint es." "Was ist also hiermit, Simmias: Sagen wir, dass das absolut Gerechte etwas ist oder nichts?" "Doch, beim Zeus, sicher sagen wir das." "Und das absolut Schöne und Gute?" "Natürlich." "Nun, hast du schon irgendwann eines von den derartigen Dingen mit deinen Augen gesehen?" "Niemals", sagte Simmias. "Und hast du sie je mit einem anderen körperlichen Sinn erfasst? Ich spreche von allen (solchen) Dingen, wie Größe, Gesundheit, Stärke – in einem Wort: vom Wesen aller Dinge, was [65e] jedes einzelne wirklich ist. Wird das Wahrhaftigste an ihnen mittels des Körpers betrachtet, oder verhält es sich so: Wer von uns sich am besten und genauesten darauf vorbereitet, gedanklich das Wesen dessen zu erfassen (διανοηθῆναι), was er untersucht, der wird dem Erkennen (τοῦ γνῶναι) eines jeden Dings am nächsten kommen?" "In der Tat." "Tut das nun nicht der in der reinsten Form, der am meisten mit dem Verstand (τῇ διανοίᾳ) selbst den Dingen gegenübertritt und dabei beim Denken (ἐν τῷ διανοεῖσθαι) weder das Sehen zu Hilfe nimmt noch einen anderen [66a] Sinn bei seinen Überlegungen (μετὰ τοῦ λογισμοῦ) heranzieht, sondern sich des Denkens (τῇ διανοίᾳ) in seiner reinen Form bedient und so versucht, den einzelnen existierenden Dingen in ihrer reinen Form auf die Spur zu kommen, indem er sich so weit wie möglich von seinen Augen und Ohren, und kurz gesagt, von seinem ganzen Körper freimacht, weil er überzeugt ist, dass dieser als Weggefährte die Seele stört und verhindert, dass sie Wahrheit und Einsicht (φρόνησιν) gewinnt? Ist es nicht dieser Mensch, Simmias, der, wenn überhaupt jemand, dem wahrhaftigen Sein begegnen wird?" "Es ist nur allzu wahr, was du sagst, Sokrates", sagte Simmias. [66b] "Dann ist es notwendig, nicht wahr", sagte Sokrates, "dass sich aus all diesen Dingen eine derartige Einstellung bei den wahren Philosophen entwickelt, dass sie unter anderem etwa zueinander sagen: 'Es sieht in der Tat so aus, dass uns gewissermaßen eine Abkürzung (aus diesen Schwierigkeiten; μετὰ τοῦ λόγου ἐν τῇ σκέψει in den nächsten Teil geschoben) herausführen kann: Solange wir den Körper als Teilhaber der Gedanken bei unseren Überlegungen haben und unsere Seele mit einem solchen Übel heillos vermischt ist, werden wir niemals in angemessener Weise das erreichen, was wir wünschen, und damit meinen wir die Wahrheit. Denn der Körper hält uns tausendfach beschäftigt, weil er [66c] versorgt werden muss, und weiterhin verhindern Krankheiten, wenn sie dazukommen, unsere Jagd nach der Wirklichkeit. Und der Körper erfüllt uns mit Begierden, Ängsten, verschiedensten Einbildungen und einer Menge Dummheiten, so dass auf uns im allerwahrsten Sinne (ὡς ἀληθῶς τῷ ὄντι) die Redensart zutrifft, dass man durch ihn überhaupt nicht mehr zum Denken (φρονῆσαι) kommt. Auch Kriege, Parteikämpfe und Schlachten verursacht ja niemand anders als der Körper und seine Begierden. Denn um Geldes und Besitzes willen entstehen alle Kriege, und [66d] wegen des Körpers sind wir gezwungen, dieses Geld zu verdienen, Sklaven seiner Versorgung; und deshalb, wegen alledem, sind wir ständig zu beschäftigt, um zu philosophieren (ἀσχολίαν ἄγομεν φιλοσοφίας πέρι). Und das Schlimmste von all dem ist: Wenn wir doch einmal etwas Ruhe von ihm haben und uns der Betrachtung (τὸ σκοπεῖν) von irgendetwas zuwenden, mischt er sich während unserer Überlegungen (ἐν ταῖς ζητήσεσιν) überall ein, stiftet Lärm und Unruhe und versetzt uns in Aufregung, so dass wir seinetwegen nicht mehr imstande sind, die Wahrheit noch zu sehen. Es hat sich gezeigt, dass wir, wenn wir jemals etwas in reiner Weise wissen (εἴσεσθαι) wollen, [66e] uns von ihm lösen müssen und mit der Seele selbst die Dinge selbst betrachten müssen. Dann werden wir wahrscheinlich das haben, was wir uns wünschen und brennend zu lieben behaupten, nämlich das Erkennen (φρονήσεως): wenn wir sterben, wie es die Überlegung (ὁ λόγος) zeigt, und nicht, solange wir leben. Denn wenn es nicht möglich ist, in Gemeinschaft mit dem Körper irgendetwas rein zu erkennen (γνῶναι), gibt es nur eine von zwei Möglichkeiten: entweder ist es uns überhaupt nicht möglich, Erkenntnis (τὸ εἰδέναι) zu gewinnen, oder erst dann, wenn wir gestorben sind. [67a] Denn dann wird die Seele für sich selbst sein, ohne den Körper, vorher aber nicht. Und solange wir leben, werden wir dem Erkennen (τοῦ εἰδέναι) am nächsten sein, wenn wir, soweit es möglich ist, nichts mit dem Körper zu tun oder gemein haben, was nicht absolute Notwendigkeit ist, und uns von seiner Natur nicht erfüllen lassen, sondern uns von ihm reinhalten, bis die Gottheit selbst uns erlöst. Und so, wenn wir uns in Reinheit von der Unvernunft (ἀφροσύνης) des Körpers befreien, werden wir wahrscheinlich mit ähnlichen Menschen zusammensein und durch uns selbst alles Reine erkennen (γνωσόμεθα) (mit Athetese von τοῦτο δ' ἐστὶν ἴσως τὸ ἀληθές; vgl. 66b). [67b] Denn es ist sicher nicht von der Gottheit so vorgesehen, dass ein Unreiner das Reine berührt.' Das in etwa, Simmias, glaube ich, werden alle die, die in richtiger Weise die Erkenntnis lieben (τοὺς ὀρθῶς φιλομαθεῖς), zwangsläufig zueinander sagen. Oder scheint es dir nicht so?" "Doch, bestimmt, Sokrates." "Nicht wahr", sagte Sokrates, "wenn das wahr ist, mein Freund, besteht große Hoffnung für mich, dass ich bei der Ankunft an dem Ort, wo ich hingehe, wenn überhaupt irgendwo, in reichem Maße das gewinne, worum wir uns im vergangenen Leben so sehr bemüht haben, so dass die [67c] Reise, die mir jetzt auferlegt ist, für mich mit guter Hoffnung verbunden ist - und auch für jeden anderen Mann, der glaubt, sein Erkenntnisvermögen (τὴν διάνοιαν) gleichsam gereinigt und damit bereitgemacht zu haben." "Ganz gewiss", sagte Simmias. "Ist Reinigung also nicht genau das, was immer in unseren Gesprächen gesagt wurde, nämlich die Seele weitestmöglich vom Körper zu trennen und sie daran zu gewöhnen, sich von überall her aus dem Körper zusammenzufinden und zu sammeln und nach Möglichkeit jetzt und in [67d] Zukunft allein und für sich zu leben, vom Körper befreit wie von Fesseln?" "Auf jeden Fall", sagte Simmias. "Und nicht wahr, das nennt man Tod: die Lösung und Trennung der Seele vom Körper?" "Ganz richtig", sagte Simmias. "Und die Seele zu befreien, wie wir es ausdrücken, empfehlen immer am meisten und allein die wahren Philosophen, und diese Übung selbst ist charakteristisch für die Philosophen, nämlich die Lösung und Trennung der Seele vom Leib – oder nicht?" "So scheint es." "Und wäre es nun, wie wir anfangs sagten, nicht lächerlich, wenn ein Mann, nachdem er [67e] sich in seinem Leben immer darauf vorbereitet hat, so zu leben, als sei er dem Tode ganz nah, dann, wenn der Tod zu ihm kommt, unwillig ist?" "Ja, das wäre lächerlich - was sonst?" "In Wahrheit also, Simmias", sagte Sokrates, "üben die wahren Philosophen das Sterben, und ihnen macht von allen Menschen der Tod am wenigsten Angst. Betrachte es aufgrund folgender Überlegung (ἐκ τῶνδε): Wenn sie in jeder Weise mit dem Körper im Widerstreit liegen (von ihm verraten werden) und sich wünschen, die Seele für sich allein zu haben, dann aber, wenn dies eintrifft, es fürchteten und widerwillig wären, wäre das nicht ganz absurd – wenn sie nicht [68a] gern dorthin gingen, wo sie die Hoffnung haben, bei ihrer Ankunft das zu finden, was sie ihr Leben lang brennend begehrt haben – sie begehrten ja die Erkenntnis (φρονήσεως) –, und wenn sie von der Gemeinschaft mit dem befreit werden, womit sie im Streit lagen? Wenn menschliche Geliebte, Frauen und Söhne sterben, wollen viele Menschen ihnen gern freiwillig in den Hades nachfolgen, von der Hoffnung geleitet, dort die wiederzusehen, nach denen sie sich sehnten, und mit ihnen zusammenzusein. Wer aber wahrhaftig die Erkenntnis (φρονήσεως) liebt und entschlossen diese selbe Hoffnung gefasst hat, dass er der Erkenntnis (αὐτῇ) nirgendwoanders [68b] in nennenswerter Weise begegnen wird als im Hades, wird der unwillig sein, wenn er stirbt, und nicht gern dorthin gehen? Man muss es doch glauben, mein Freund, wenn er ein wahrer Philosoph ist, denn er wird der festen Überzeugung sein, dass er nirgendwo anders in reiner Weise Erkenntnis (φρονήσει) finden wird als dort. Wenn das aber so ist, wie ich nun gesagt habe, wäre es dann nicht sehr unvernünftig, wenn ein solcher Mann den Tod fürchtete?" "Wirklich sehr unvernünftig, beim Zeus", sagte Simmias. "Nicht wahr, es wäre für dich ein hinreichender Beweis an einem Mann, von dem du siehst, wie er sich grämt, wenn er im Begriff ist zu sterben, dass er also kein [68c] Philosoph, ein 'Weisheitsliebender' ist, sondern gewissermaßen ein Philosomat, ein 'Körperliebender'? Und dieser selbe Mann ist wohl auch ein Geldliebender und Ehrliebender, entweder eins von beiden oder beides." "Es ist ganz so, wie du sagst", erwiderte Simmias. "Nun, Simmias, ist nicht der sogenannte Mut typisch für Menschen mit einer solchen Einstellung (= Philosophen)?" "Auf jeden Fall", antwortete Simmias. "Und Selbstdisziplin, das, was auch die Leute Selbstdisziplin nennen, nämlich sich nicht von Leidenschaften erschüttern zu lassen, sondern gelassen zu bleiben und den Anstand zu wahren – ist das nicht allein für diejenigen typisch, die den Körper am geringsten achten und in der Philosophie leben?" [68d] "Zwangsläufig", sagte Simmias. "Wenn du dir nämlich die Mühe machst", sagte Sokrates, "den Mut und die Selbstbeherrschung der anderen Menschen genau anzuschauen (ἐννοῆσαι), werden sie dir absurd erscheinen." "Wie denn das?", fragte Simmias. "Du weißt doch", sagte Sokrates, "dass alle anderen Menschen den Tod zu den größten Übeln zählen?" "Aber ja doch", antwortete Simmias. "Und nicht wahr – die Mutigen unter ihnen nehmen den Tod aus Angst vor noch größeren Übeln in Kauf, wenn sie ihn in Kauf nehmen?" "So ist es." "Aus Furcht und Angst also sind alle Menschen mutig außer den Philosophen; aber es ist doch absurd, wenn jemand aus Angst und Feigheit mutig ist." [68e] "Das ist richtig." "Und was ist mit denen von ihnen, die den Anstand wahren? Geht es ihnen nicht genauso? Sie sind aus einer gewissen Unbeherrschtheit heraus diszipliniert. Wir sagen zwar, dass das unmöglich ist, aber dennoch geht es ihnen mit dieser naive Selbstbeherrschung ganz ähnlich wie mit dem anderen (vorher Gesagten). Denn aus Angst, der Erfüllung bestimmter Lüste verlustig zu gehen, und weil sie diese heftig begehren, halten sie sich von den einen Lüsten fern, indem sie sich von anderen beherrschen lassen. Und man nennt es zwar Zügellosigkeit, [69a] sich von Lust beherrschen zu lassen, aber dennoch beherrschen sie bestimmte Lüste nur, weil sie von anderen beherrscht werden. Das aber ist etwa das gleiche wie das, was ich eben sagte: dass sie gewissermaßen durch eine Art von Unbeherrschtheit beherrscht sind." "So scheint es." "Guter Simmias, ich fürchte, dass das nicht der richtige Weg ist, Tugend zu kaufen: Lust gegen Lust, Leid gegen Leid und Angst gegen Angst einzutauschen und ein Mehr für ein Weniger, als seien es Münzen, sondern ich glaube, dass nur diese eine Münze echte Währung ist, gegen die man alle diese Dinge eintauschen muss: die Erkenntnis (φρόνησις). [69b] Und ich glaube, dass nur damit in Wahrheit Mut, Selbstbeherrschung, Gerechtigkeit und Tugend überhaupt existieren: im Verein mit Erkenntnis (μετὰ φρονήσεως), auch wenn Lüste und Ängste und alle anderen derartigen Dinge dazu- oder abhandenkommen, und dass, wenn sie von der Erkenntnis abgespalten (χωριζόμενα φρονήσεως) gegeneinander eingetauscht werden, eine solche 'Tugend' nur ein schattenhaftes Abbild und in Wirklichkeit sklavenhaft ist und nichts Gesundes oder Wahrhaftiges an sich hat, und dass hingegen die Wahrheit in Wirklichkeit [69c] eine Reinigung von allen derartigen Dingen ist und dass Selbstbeherrschung, Gerechtigkeit, Mut und auch die Erkenntnis (φρόνησις) selbst eine Art Reinigung sind. Und mir scheinen auch diejenigen Leute, die uns die Einweihungsriten geschaffen haben, keine Dummköpfe gewesen zu sein, sondern uns in Wahrheit schon seit alters her in rätselhaften Worten angedeutet zu haben, dass der, welcher ungeheiligt und uneingeweiht in den Hades eingeht, im Schlamm liegen wird, wer aber gereinigt und eingeweiht dort hingelangt, bei den Göttern wohnen wird. Denn es gibt ja, wie man in den Mysterien sagt, [69d] 'viele Thyrsosträger, doch wenige (wahre) Bacchosbegeisterte'; das aber sind meiner Meinung nach keine anderen als die, die in rechter Weise Philosophen gewesen sind. Zu diesen zu gehören habe ja auch ich in meinen Leben, so gut ich es vermochte, nichts ungetan gelassen, sondern mich auf jede Weise bemüht; und ob ich mich in rechter Weise angestrengt habe und etwas erreicht habe, werde ich sicher wissen, wenn ich dort ankomme, wenn es der Gott will – schon sehr bald, wie mir scheint. Das also, Simmias und Kebes, ist meine Verteidigungsrede (dafür), dass ich es mit guten Grund nicht [69e] schwer nehme oder Schmerz darüber empfinde, euch und die hiesigen Herren zu verlassen, weil ich glaube, dass ich auch dort nicht weniger als hier gute Herren und Freunde finden werde. Wenn nun meine Verteidigung euch mehr überzeugt als die athenischen Richter, ist es gut." 2.1.2 ERSTER BEWEIS FÜR DIE UNSTERBLICHKEIT DER SEELE: ALLES ENTSTEHT AUS SEINEM GEGENTEIL (69E-72E) Als Sokrates das gesagt hatte, ergriff Kebes das Wort und sprach: "Sokrates, alles Übrige, was du gesagt hast, ist meiner Meinung nach richtig, [70a] aber die Sache mit der Seele lässt die Menschen doch stark zweifeln: ob sie nicht vielmehr, sobald sie sich vom Körper getrennt hat, nirgends mehr ist, sondern an diesem Tag vernichtet wird und zugrundegeht, an welchem der Mensch stirbt, indem sie sich auf der Stelle vom Körper trennt und im Austreten, wie Atem oder Rauch zerstiebend, schon verflogen und nirgends und nichts mehr ist. Wenn sie aber wirklich irgendwo existiert, für sich allein sich zusammenhaltend und frei von den Übeln, die du gerade aufgezählt hast, dann könnte guter Grund zu der schönen Hoffnung bestehen, [70b] Sokrates, dass es wahr ist, was du sagst. Jedoch sind dafür wahrscheinlich eine Menge Überzeugungsarbeit und Beweise nötig, dass die Seele nach dem Tod des Menschen noch exisistiert und irgendwelche Kraft und Denkvermögen (φρόνησιv) besitzt." "Du sagst die Wahrheit, Kebes", sagte Sokrates, "was sollen wir also nun tun? Sollen wir weiter darüber sprechen, ob es wahrscheinlich ist, dass es sich so verhält, oder nicht?" "Ich für meinen Teil", sagte Kebes, "würde gern hören, welche Meinung du dazu hast." "Ich glaube jedenfalls nicht", sagte Sokrates, "dass irgendwer, der das jetzt hören würde, [70c] selbst wenn er ein Komödiendichter wäre, behaupten würde, dass ich frivol daherrede und über unpassende Themen spreche. Wenn es dir also richtig erscheint, müssen wir die Sache bis zum Ende prüfen. Betrachten wir sie einmal unter diesem Gesichtspunkt: ob die Seelen im Hades sind, nachdem die Menschen gestorben sind, oder nicht. Es gibt ja nun eine alte Geschichte, an die wir uns erinnern, dass sie von hier aus dorthin gelangen und wiederum von dort hierher kommen und aus den Toten entstehen. Und wenn das so ist, dass die Lebenden aus den Toten wiedererstehen, dann existierten [70d] unsere Seelen doch wohl dort – was sonst? Sie könnten ja nicht wiedererstehen, wenn sie nicht existierten, und das wäre ein hinreichender Beweis dafür, dass es so ist, wenn es wirklich offenkundig würde, dass die Lebenden nirgendwo anders herkommen als aus den Toten. Wenn das aber nicht so ist, brauchen wir wohl ein anderes Argument." "Sicherlich", sagte Kebes. "Betrachte diese Sache nun nicht nur bei den Menschen", fuhr Sokrates fort, "wenn du sie leichter begreifen willst, sondern [70e] lass uns auch auch bei allen Tieren und Pflanzen und überhaupt allem, was eine Entstehung hat, sehen, ob alle Dinge auf diese Weise entstehen, nicht anderswoher als Gegensätze aus Gegensätzen, wenn sie so etwas (ein Gegenteil) haben, so wie das Schöne das Gegenteil des Hässlichen ist und das Gerechte das des Ungerechten, und wie Tausende andere Dinge sich so verhalten. Das wollen wir also prüfen, ob es notwendigerweise so ist, dass alle Dinge, die ein Gegenteil haben, nirgendwoandersher entstehen als jedes aus seinem Gegenteil. Wenn zum Beispiel etwas größer wird, muss es doch wohl zwangsläufig aus etwas, was vorher kleiner gewesen ist, größer werden?" "Ja." "Und nicht wahr, wenn es kleiner wird, wird es aus etwas, was vorher größer gewesen ist, [71a] danach kleiner werden?" "So ist es", sagte Kebes. "Und aus etwas Stärkerem entsteht das Schwächere und aus etwas Langsamerem das Schnellere?" "Ganz richtig." "Und wenn etwas schlechter wird, wird es das nicht aus etwas Besserem heraus, und wenn es gerechter wird, aus etwas Ungerechterem?" "Auf jeden Fall." "Dann haben wir das also hinreichend gesichert, dass alles so entsteht: Gegensätzliches aus Gegensätzlichem?" "Richtig." "Wie steht es dann weiterhin hiermit: Gibt es dabei zwischen all diesen Gegensatzpaaren, da es ja jeweils zwei Dinge sind, auch so etwas wie zwei Entstehungsprozesse, [71b] vom ersten zum zweiten und umgekehrt wieder vom zweiten zum ersten? Zwischen einem größeren und einem kleineren Ding gibt es in der Mitte Wachstum und Abnahme, und so nennen wir das eine Wachsen, das andere Abnehmen, nicht wahr?" "Ja", sagte Kebes. "Und nicht wahr, auch Trennen und Mischen, Kühlen und Erwärmen und alle anderen (Gegensätze) verhalten sich so, und auch wenn wir nicht in jedem Einzelfall Begriffe dafür haben, verhält es sich dennoch notwendigerweise überall so, dass sie auseinander entstehen und dass es jeweils einen Entstehungsprozess vom einen zum anderen gibt?" "Ganz gewiss", sagte Kebes. [71c] "Wie also ist es damit:", fuhr Sokrates fort, "Ist dem Leben etwas entgegengesetzt, so wie dem Wachsein das Schlafen?" "Natürlich", sagte Kebes. "Was denn?" "Das Totsein", antwortete Kebes. "Nicht wahr, dann entstehen diese Dinge auch aus einander, wenn sie wirklich Gegensätze sind, und die Entstehungsprozesse zwischen ihnen sind zwei, da es ja zwei Dinge sind?" "So muss es sein." "Ich werde dir", sagte Sokrates, "nun einmal das eine von den Gegensatzpaaren, die ich eben erwähnt habe, benennen, es selbst und seine Entstehungsprozesse, und du sollst mir das andere nennen. Ich nenne das eine Schlafen, das andere Wachsein, und ich sage, dass aus dem Schlafen das Wachsein entsteht und [71d] aus dem Wachsein das Schlafen und dass die Entstehungsprozesse der beiden das Einschlafen und das Aufwachen sind. Ist das für dich hinreichend benannt oder nicht?" "Doch, sicher." "So sprich du jetzt zu mir", sagte Sokrates, "genauso über das Leben und den Tod. Sagst du nicht, dass das Leben das Gegenteil des Totseins ist?" "Doch, das sage ich." "Und dass sie aus einander entstehen?" "Ja." "Was ist also das, was aus dem Lebenden entsteht?" "Das Tote", sagte Kebes. "Und was", fragte Sokrates, "ist es, was aus dem Toten entsteht?" "Ich sehe mich gezwungen, zuzugeben, dass es das Lebendige ist." "Aus Totem, Kebes, entstehen also die lebenden Dinge und auch die lebenden Menschen?" [71e] "So sieht es aus", sagte Kebes. "Also", sagte Sokrates, "existieren unsere Seelen im Hades." "Es scheint so." "Und nicht wahr, von den beiden Entstehungsprozessen, die es dabei gibt, ist der eine ganz offenkundig? Das Sterben ist ja eine offensichtliche Sache, oder nicht?" "Gewiss", antwortete Kebes. "Wie", sagte Sokrates, "sollen wir nun weiter vorgehen? Werden wir den umgekehrten Entstehungsprozess nicht entsprechend zugestehen, sondern soll die Natur in diesem Falle auf einem Bein hinken? Oder ist es notwendig, einen Prozess einzuräumen, der dem Sterben entgegengesetzt ist?" "Das müssen wir wohl", sagte Kebes. "Und welchen?" "Das WiederLeben." "Nun also", sagte Sokrates, "wenn es das Wiederleben gibt, [72a] dann ist dieses Wiederleben also wohl das Werden der Lebenden aus den Toten?" "Sicherlich." "Wir sind uns also einig, dass auf diese Weise die Lebenden aus den Toten entstanden sind, ganz genauso wie die Toten aus den Lebenden, und weil das so ist, scheint es ein hinreichender Beweis dafür zu sein, dass notwendigerweise die Seelen der Toten irgendwo sein müssen, woher sie ja wieder (lebendig) werden." "Mir scheint, Sokrates", sagte Kebes, "dass es aufgrund dessen, was wir zugegeben haben, notwendigerweise so ist." "Sieh nun auch, Kebes", sagte Sokrates, "dass wir zu dieser Einigung nicht zu Unrecht gekommen sind, wie mir scheint. Denn wenn nicht ständig [72b] die einen Dinge den anderen, während sie entstehen, auch ihrerseits die Gegenleistung erbringen würden, wie wenn sie sich im Kreis herumbewegen würden, sondern die Entstehung nur geradeaus gerichtet wäre, nur vom einen zum Gegenüberliegenden, und sich nicht wieder umkehren würde zum ersten und keine Wende vollziehen würde, so weißt du ja sicher, dass alle Dinge am Ende dieselbe Gestalt bekämen und dasselbe mit ihnen geschähe und sie aufhören würden, zu werden." "Wie meinst du das?" fragte Kebes. "Es ist nicht schwer, zu verstehen, was ich meine", sagte Sokrates. Wenn es zum Beispiel zwar das Einschlafen gäbe, das Aufwachen aber nicht die Gegenleistung erbrächte, indem es aus dem Schlafenden entstünde, so sei sicher, dass am Ende alles [72c] wohl den schlafenden Endymion als albern erweisen würde und dass er nirgends mehr auffallen würde, weil es allem anderen genauso erginge wie ihm: nämlich dass es schliefe. Und wenn alles vermischt würde, aber nicht wieder getrennt, dann wäre wahrscheinlich bald das Wort des Anaxagoras Wirklichkeit: "Alle Dinge sind zugleich." Und genauso, lieber Kebes, wenn alles, was am Leben teilhat, sterben würde und nach dem Tod das Tote in dieser Gestalt bliebe und nicht wiederleben würde, wäre es dann nicht ganz zwangsläufig so, dass alles [72d] tot wäre und nichts lebte? Denn wenn das, was lebt, aus dem anderen (τῶν μὴ τεθνεώτων) entstünde, das Lebende aber stürbe, was könnte dann verhindern, dass alles gänzlich im Totsein gefangen würde?" "Gar nichts, wie mir scheint, Sokrates", erwiderte Kebes, "sondern es scheint mir vollkommen wahr zu sein, was du sagst." "Es ist ja auch", sagte Sokrates, "durchaus so, Kebes, und wir täuschen uns nicht, wenn wir uns darin einig sind, sondern das Wiederleben ist eine Tatsache und auch, dass aus den Toten die Lebenden entstehen und dass die Seelen der Toten [72e] existieren." 2.1.3 ZWEITER BEWEIS: ERKENNEN DES 'AN SICH SEIENDEN' IST ERINNERUNG AN VORGEBURTLICHES WISSEN (72E-78A) "Aber", fiel Kebes ein, "auch entsprechend dem Grundsatz, Sokrates, wenn er denn wahr ist, den du oft zu nennen pflegtest, dass unser Lernen (μάθησις) nichts anderes ist als Erinnerung – auch diesem entsprechend ist es notwendig, dass wir zu einer früheren Zeit das gelernt haben (μεμαθηκέναι), woran wir uns jetzt erinnern. Das ist aber [73a] unmöglich, wenn unsere Seele nicht irgendwo war, bevor sie in diese menschliche Gestalt kam; und so scheint es, dass auch auf diese Weise betrachtet die Seele etwas Unsterbliches ist." "Aber, Kebes", hielt Simmias dagegen, "was für Beweise gab es dafür? Erinnere mich, denn ich weiß es gerade nicht mehr so recht." "Ich nenne dir einen kurzen, aber sehr schlagenden Grund", erwiderte Kebes. "Wenn Menschen befragt werden und man die Frage gut stellt, sagen sie ganz von selbst alles so, wie es sich tatsächlich verhält – und wenn nicht ein Wissen (ἐπιστήμη) und eine richtige Denkweise (ὀρθὸς λόγος) bereits in ihnen wäre, wären sie doch nicht imstande, das zu tun. [73b] Und wenn man sie weiterhin an geometrische Zeichnungen oder derartige Dinge heranführt, kann man ganz klar beweisen, dass es sich so verhält." "Wenn du dich so nicht überzeugen lässt, Simmias", sagte Sokrates, "schau, ob du vielleicht zustimmst, wenn du es auf folgende Weise betrachtest. Du zweifelst also, wie das sogenannte Lernen (μάθησις) Erinnerung sein soll?" "Ich bezweifle es nicht", sagte Simmias, "ich bedarf nur gerade genau der Erfahrung, um die es in unserem Gespräch geht: erinnert zu werden. Bereits aus dem, was Kebes versucht hat zu sagen, erinnere ich mich beinahe und lasse mich fast überzeugen; allerdings möchte ich trotzdem jetzt gern hören, wie du angesetzt hast, es zu erklären." [73c] "Folgendermaßen", sagte Sokrates. "Wir sind uns ja wohl einig, dass, wenn jemand sich an etwas erinnern soll, er diese Sache früher irgendwann gewusst haben (ἐπίστασθαι) muss?" "Sicherlich", sagte Simmias. "Sind wir uns auch darin einig, dass Wissen (ἐπιστήμη), wenn sich auf diese Weise einstellt, Erinnerung ist? Wie soll ich es erklären? Vielleicht so. Wenn jemand ein Ding sieht, hört oder mit Hilfe eines anderen Sinns wahrnimmt und dann nicht nur dieses Ding erkennt (γνῷ), sondern auch eine Vorstellung von einem anderen Ding gewinnt (ἐννοήσῃ), von dem das Wissen (ἐπιστήμη) nicht dasselbe ist, sondern ein anderes, sagen wir dann nicht mit Recht, dass er sich an das erinnert hat, wovon er die Vorstellung [73d] gewonnen hat (τὴν ἔννοιαν ἔλαβεν)?" "Wie meinst du das?" "Folgendes Beispiel: Das Wissen (ἐπιστήμη) von einem Menschen ist ein anderes als das von einer Lyra." "Natürlich." "Nun, du weißt ja wohl, dass Liebhaber, wenn sie eine Lyra sehen oder ein Gewand oder irgendetwas anderes, was ihr Geliebter zu benutzen pflegt, dies erleben: Sie erkennen (ἔγνωσαν) die Lyra, und in ihrer Vorstellung empfangen sie (ἐν τῇ διανοίᾳ ἔλαβον) das Bild des Knaben, dem die Lyra gehört, nicht wahr? Das aber ist Erinnerung; so wie man, wenn man Simmias sieht, oftmals an Kebes denkt, und es gibt wahrscheinlich Tausende andere solche Beispiele." "Die gibt es wohl", sagte Simmias. [73e] "Nicht wahr", sagte Sokrates, "so etwas ist eine Art von Erinnerung? Vor allem dann, wenn man es bei Dingen erlebt, die in Vergessenheit geraten sind, weil viel Zeit vergangen ist und man nicht mehr an sie gedacht hat?" "Ganz sicher", antwortete Simmias. "Nun", sagte Sokrates, "ist es möglich, dass man, wenn man ein Bild von einem Pferd oder einer Leier sieht, sich an einen Menschen erinnert, und wenn man ein Bild von Simmias sieht, sich an Kebes erinnert?" "Natürlich", sagte Simmias. "Und man kann sich auch, wenn man ein Bild von Simmias sieht, an Simmias selbst erinnern?" [74a] "Aber ja", erwiderte Simmias. "Erinnerung entsteht also, wenn man nach all diesen Beispielen geht, einmal durch gleiche, dann wieder durch ungleiche Dinge, nicht wahr?" "Ja." "Und wenn sich jemand aufgrund von gleichen Dingen an etwas erinnert, wird es ihm nicht zusätzlich so gehen, dass er überlegt (ἐννοεῖν), ob diesen zur Gleichheit mit demjenigen Ding, an das er sich erinnert, noch etwas fehlt, oder nicht?" "Zwangsläufig", sagte Simmias. "Betrachte also", sagte Sokrates, "ob dies sich so verhält. Sagen wir wohl, dass es etwas Gleiches gibt? Ich meine nicht Holz, das Holz gleicht, oder einen Stein, der einem Stein gleicht oder etwas anderes Derartiges, sondern etwas anderes abseits von all diesen Dingen: das Gleiche an sich – sagen wir, dass es das gibt oder nicht?" [74b] "Das wollen wir behaupten", sagte Simmias, "sogar ganz entschieden." "Und wissen wir (ἐπιστάμεθα), was es ist?" "Natürlich", antwortete Simmias. "Und woher haben wir dabei das Wissen (ἐπιστήμην) davon gewonnen? Doch wohl aus dem, wovon wir gerade sprachen? Wir haben doch, indem wir gleiche Holzstücke oder Steine oder andere Dinge gesehen haben, daraus eine Vorstellung davon gewonnen, obwohl es etwas anderes ist als sie? Oder meinst du nicht, dass es etwas anderes ist? Betrachte es einmal so: Erscheinen uns nicht gleiche Steine oder Holzstücke, auch wenn sie dieselben bleiben, manchmal in einer Hinsicht gleich, in der anderen nicht?" "Sicher." [74c] "Und erscheint dir das Gleiche an sich manchmal als Ungleiches, oder die Gleichheit als Ungleichheit?" "Niemals, Sokrates." "Also ist es nicht dasselbe", sagte Sokrates, "diese einander gleichen Dinge und das Gleiche an sich." "Ganz und gar nicht, wie mir scheint, Sokrates." "Aber hast du nicht nicht", sagte Sokrates, "genau daraus, aus den gleichen Dingen, auch wenn sie etwas anderes sind als das Gleiche an sich, dennoch die Kenntnis (ἐπιστήμην) davon in deiner Vorstellung gewonnen (ἐννενόηκας) und erlangt (εἴληφας)?" "Das ist allerdings wahr", sagte Simmias. "Und entweder weil es ihnen gleich ist oder weil es ihnen ungleich ist?" "Sicherlich." "Es macht auch gar keinen Unterschied", sagte Sokrates, "Wenn du dir beim Anblick von etwas durch [74d] diesen Anblick etwas anderes vorstellst (ἐννοήσῃς), sei es gleich oder ungleich, dann ist das notwendigerweise Erinnerung." "Gewiss." "Nun", sagte Sokrates, "geht es uns mit den Holzstücken und den gleichen Dingen, über die wir gerade sprachen, auch so? Scheinen sie uns in derselben Weise gleich wie (das Gleiche) an sich, was es wirklich ist, oder fehlt ihnen irgendetwas daran, so zu sein wie das Gleiche, oder fehlt nichts?" "Es fehlt sogar ziemlich viel", sagte Simmias. "Sind wir uns denn einig, dass, wenn jemand beim Anblick eines Dings denkt (ἐννοήσῃ): 'Dieses Ding, das ich gerade anschaue, will wie etwas anderes sein, das existiert, [74e] aber es fehlt ihm etwas dazu und es kann nicht so wie dieses andere sein, sondern ist minderwertig' – dass dann notwendigerweise derjenige, der das denkt (τὸν τοῦτο ἐννοοῦντα), dasjenige vorher gekannt hat (τυχεῖν προειδότα), von dem er sagt, dass der angeschaute Gegenstand ihm zwar ähnlich ist, aber doch dahinter zurückbleibt?" "So muss es sein." "Und geht es uns mit den gleichen Dingen und dem Gleichen an sich auch so?" "Auf jeden Fall." "Also kannten (προειδέναι) wir notwendigerweise das Gleiche schon vor dem [75a] Zeitpunkt, als wir zum ersten Mal beim Anblick der besagten gleichen Dinge dachten (ἐνενοήσαμεν): 'Alle diese Dinge streben danach, wie das Gleiche zu sein, aber sie bleiben dahinter zurück.'" "So ist es." "Und wir sind auch darin einig, nicht anderswoher eine Vorstellung davon zu besitzen (ἐννενοηκέναι), und dass es auch nicht möglich ist, auf anderem Weg zu dieser Vorstellung zu kommen (ἐννοῆσαι), als durch das Sehen oder Berühren oder einen anderen Sinn? Ich gehe dabei davon aus, dass die Sinne alle einerlei sind." "Ja, Sokrates, sie sind einerlei, jedenfalls für das, was diese Argumentation aufklären will." "Also müssen wir aufgrund unserer Sinneswahrnehmungen zu dem Gedanken gekommen sein (ἐννοῆσαι), dass [75b] alles, was im Bereich der Sinneswahrnehmung liegt, nach dem Gleichen an sich strebt und dahinter zurückbleibt? Oder wie sollen wir es sagen?" "Genau so." "Bevor wir also angefangen haben, zu sehen, zu hören und sonst wahrzunehmen, müssen wir irgendwoher schon Kenntnis vom Gleichen an sich erlangt haben (τυχεῖν εἰληφότας ἐπιστήμην), was es ist, wenn wir dann das Gleiche, das wir mit den Sinnen wahrnahmen, in eine Beziehung dazu setzten, nämlich dass alle derartigen Dinge das Bestreben haben, wie dieses zu sein, aber ihm gegenüber minderwertig sind." "Das folgt zwangsläufig aus dem, was wir vorher gesagt haben, Sokrates." "Nun, haben wir nicht gleich nach der Geburt schon gesehen und gehört und die übrigen Sinne gehabt?" "Sicherlich." [75c] "Es war aber nötig, sagten wir, dass wir schon davor Kenntnis von dem Gleichen hatten (ἐπιστήμην εἰληφέναι)?" "Ja." "Vor der Geburt also, so scheint es, müssen wir sie erlangt haben (εἰληφέναι)." "So scheint es, ja." "Wenn wir sie vor der Geburt gewonnen haben (λαβόντες) und mit ihr geboren wurden, dann haben wir auch vor und bei unserer Geburt schon nicht nur das Gleiche und das Größere und das Kleinere gekannt (ἠπιστάμεθα), sondern auch alle anderen derartigen Dinge, nicht wahr? Denn unsere Argumentation betrifft ja ebenso wie die Gleichheit auch die Schönheit selbst, [75d] das Gute selbst, das Gerechte, das Heilige und, wie ich sagte, alles, dem wir in der dialektischen Untersuchung das Siegel 'das Ding an sich, was es wirklich ist' aufprägen, sowohl wenn wir fragen, als auch, wenn wir antworten. Daher muss es notwendigerweise so sein, dass wir das Wissen von all diesen Dingen vor unserer Geburt gewonnen haben (ἐπιστήμας εἰληφέναι)." "So ist es." "Und dass wir, wenn wir es nicht jedesmal vergessen, nachdem wir es ja gewonnen haben (λαβόντες), immer als Wissende geboren werden (εἰδότας γίγνεσθαι) und immer durch unser ganzes Leben hindurch Wissende bleiben (εἰδέναι); denn Wissen (τὸ εἰδέναι) bedeutet, Kenntnis von etwas zu gewinnen, zu bewahren und nicht mehr zu verlieren (λαβόντα του ἐπιστήμην ἔχειν καὶ μὴ ἀπολωλεκέναι). Oder nennen wir das nicht Vergessen, Simmias: den Verlust von Wissen (ἐπιστήμης ἀποβολήν)?" [75e] "Auf jeden Fall wohl, Sokrates", sagte Simmias. "Ich meine aber: Wenn wir es, nachdem wir es vor unserer Geburt gewonnen haben, mit der Geburt verlieren, dann aber später mittels der Sinne in der Gegenwart dieser Erscheinungen (περὶ αὐτά, vgl. 79d) das Wissen wieder aufnehmen (ἀναλαμβάνομεν τὰς ἐπιστήμας), das wir früher schon einmal hatten, bedeutet dann nicht vielleicht das, was wir Lernen (μανθάνειν) nennen, Wissen wieder aufzunehmen (ἐπιστήμην ἀναλαμβάνειν), das uns bereits angehört? Und wenn wir dies Erinnerung nennen, benennen wir es dann wohl richtig?" "Ganz gewiss." [76a] "Es hat sich ja auch als möglich erwiesen, dass man, wenn man durch Sehen, Hören oder mit Hilfe eines anderen Sinns etwas wahrnimmt, daraus die Vorstellung von etwas anderem gewinnt (ἐννοῆσαι), das man vergessen hatte, mit dem dieses Ding verbunden ist, ob es ihm nun unähnlich oder ähnlich ist. Daher muss, wie gesagt, eins von beiden der Fall sein: Entweder sind wir als Wissende (ἐπιστάμενοι) geboren und bleiben alle unser ganzes Leben hindurch Wissende (ἐπιστάμεθα), oder diejenigen, von denen wir sagen, dass sie lernen (μανθάνειν), erinnern sich später nur, und dann wäre Lernen (μάθησις) Erinnerung." "So ist es ganz sicher, Sokrates." "Welche Möglichkeit wählst du also, Simmias? Dass wir als Wissende (ἐπισταμένους) geboren sind [76b] oder dass wir uns später an Dinge erinnern, von denen wir vor der Geburt Wissen besaßen (ἐπιστήμην εἰληφότες ἦμεν)?" "Ich kann zu diesem Zeitpunkt keine Wahl treffen, Sokrates." "Nun, kannst du denn in folgender Frage eine Wahl treffen, und hast du irgendeine Meinung dazu: Wenn ein Mann etwas weiß (ἐπιστάμενος), kann er dann über das, was er weiß (ἐπίσταται), Auskunft geben oder nicht?" "Zwangsläufig kann er das dann, Sokrates", sagte Simmias. "Und denkst du, dass alle Menschen Auskunft über das geben können, worüber wir eben gesprochen haben?" "Schön wäre es", sagte Simmias, "aber ich fürchte vielmehr, dass es schon morgen um diese Zeit keinen Menschen mehr geben wird, der imstande wäre, das in angemessener Weise zu tun." [76c] "Also glaubst du, Simmias, dass nicht alle Menschen diese Dinge wissen (ἐπίστασθαι)?" "Auf keinen Fall." "Sie erinnern sich also an das, was sie einmal gelernt haben (ἔμαθον)?" "So muss es sein." "Wann erlangen dabei unsere Seelen das Wissen davon (λαβοῦσαι τὴν ἐπιστήμην)? Doch gewiss nicht erst nach dem Zeitpunkt, wo wir als Menschen geboren sind." "Sicher nicht." "Also davor." "Ja." "Also, Simmias, existierten unsere Seelen auch davor, bevor sie in menschlicher Gestalt waren, getrennt von den Körpern, und hatten Erkenntnisvermögen (φρόνησιν)." "Es sei denn, dass wir dieses Wissen zeitgleich mit der Geburt empfangen (λαμβάνομεν ταύτας τὰς ἐπιστήμας), Sokrates, diese Zeit ist ja noch übrig." [76d] "Gut, mein Freund; aber zu welcher anderen Zeit verlieren wir es dann (ἀπόλλυμεν)? Denn wir haben es bei unserer Geburt ja nicht zur Verfügung (ἔχοντες), wie wir eben übereinstimmten. Verlieren wir es (ἀπόλλυμεν) genau im selben Moment, in dem wir es empfangen (λαμβάνομεν)? Oder kannst du einen anderen Zeitpunkt nennen?" "Keinesfalls, Sokrates – ich habe Unsinn geredet, ohne es zu merken." "Nicht wahr, die Sache steht für uns so, Simmias", sagte Sokrates. "Wenn das existiert, wovon wir wieder und wieder sprachen, das Gute und das Schöne und jedes derartige wahre Sein der Dinge (πᾶσα ἡ τοιαύτη οὐσία), und wenn wir darauf (ἐπὶ ταύτην) alles beziehen, was wir mit den Sinnen wahrnehmen, [76e] indem wir finden, dass es vorher schon da war und uns eigen ist, und wenn wir das (ταῦτα – diese Beziehung?) damit (ἐκείνῃ – mit der Seele?) vergleichen, ist es dann nicht notwendigerweise der Fall, dass so wie das (ταῦτα) existiert, auch unsere Seele schon existiert hat, bevor wir geboren werden? Und wenn es nicht existiert, dass dann diese Argumentation umsonst ist? Ist es so, und besteht dieselbe Notwendigkeit dafür, dass das (ταῦτα) existiert und dann auch unsere Seelen vor der Geburt existieren, wie dafür, dass, wenn das (ταῦτα) nicht existiert, auch dies hier (τάδε – die vorliegende Hypothese, dass die Seele vor der Geburt existiert?) nicht sein muss?" "Die Notwendigkeit dazu", sagte Simmias, "scheint mir übermächtig zu sein, und unsere Argumentation rettet sich zu dem schönen Schluss, [77a] dass sowohl unsere Seelen vor der Geburt schon existiert haben als auch, dass das wahre Sein existiert, von dem du gerade gesprochen hast. Ich habe ja nichts, was mir so klar ist wie dies: dass alle diese derartigen Dinge so sicher existieren, wie es nur möglich ist, das Schöne und das Gute und alles andere, was du gerade genannt hast; und der Beweis scheint mir hinreichend erbracht zu sein." "Und was ist mit Kebes?" fragte Sokrates. "Wir müssen ja auch Kebes überzeugen." "Es ist für ihn auch hinreichend, glaube ich", sagte Simmias. "Allerdings ist er der hartnäckigste von allen Menschen, wenn es um das Bezweifeln von Argumenten geht. Dennoch glaube ich, dass er durchaus davon überzeugt ist, dass vor unserer Geburt [77b] unsere Seele schon da war. Ob sie aber auch noch da sein wird, wenn wir sterben, das, Sokrates", fuhr er fort, "scheint auch mir selbst noch nicht erwiesen zu sein. Vielmehr steht noch im Raum, was Kebes vorhin sagte: die Befürchtung der Leute, dass die Seele, wenn der Mensch stirbt, sich auch selbst verflüchtigt und dass dies das Ende ihrer Existenz ist. Denn was spricht dagegen, dass sie zwar entsteht und sich irgendwo anders her zusammensetzt und so existiert, bevor sie in einen menschlichen Körper gelangt, wenn sie aber hineingelangt ist und sich von ihm wieder trennt, dann auch selbst stirbt und zugrundegeht?" [77c] "Du hast recht, Simmias", sagte Kebes. "Es scheint ja, dass gleichsam nur die Hälfte von dem bewiesen ist, was bewiesen werden muss, nämlich dass unsere Seele vor der Geburt existiert hat. Wir müssen zusätzlich beweisen, dass sie ebenso nach dem Tod noch existieren wird wie vor der Geburt, wenn die Beweisführung zum Ziel kommen soll." "Das ist schon bewiesen, Simmias und Kebes", sagte Sokrates, "wenn ihr diesen Beweis mit dem verbinden wollt, über den wir uns vor diesem hier einig geworden sind, nämlich dass alles Lebende aus dem Toten kommt. Wenn nämlich [77d] die Seele vor der Geburt existiert und zwangsläufig nirgendwoanders her ins Leben kommt und entsteht als aus dem Tod und dem Totsein, wie kann es dann anders sein, als dass sie zwangsläufig auch nach dem Tod noch existiert, da sie doch wieder entstehen muss? Also ist bewiesen, was ihr eben gesagt habt. Aber ich habe den Eindruck, dass ihr, du und Simmias, auch diese Argumentation noch weiter genau durchsprechen wollt, und dass ihr die typische kindliche Furcht habt, dass wirklich der Wind sie zerbläst und zerstreut, wenn sie aus dem Körper austritt – [77e] ganz besonders dann, wenn man nicht während einer Windstille stirbt, sondern während eines heftigen Sturms." Und Kebes lachte und sagte: "Dann versuche, Sokrates, es uns zu erklären, als hätten wir Angst – oder noch besser, nicht als hätten wir Angst, sondern vielleicht so, als wäre in uns ein kleiner Junge, der vor solchen Dingen Angst hat. Diesen versuche umzustimmen, so dass er den Tod nicht mehr fürchtet wie ein Schreckgespenst." "Nun", sagte Sokrates, "dann müsst ihr jeden Tag Zaubersprüche für ihn singen, bis ihr die Angst hinausgesungen habt." [78a] "Woher aber, Sokrates", fragte Kebes, "sollen wir einen tüchtigen Zauberer für solche Sprüche nehmen – da doch du", fuhr er fort, "uns verlässt?" "Hellas ist groß", sagte Sokrates, "und es leben viele tüchtige Männer darin und viele Barbarenstämme, die man alle durchforschen muss, wenn man einen solchen Zaubersänger sucht, ohne Geld und Mühen zu scheuen, denn für nichts könntet ihr euer Geld sinnvoller anlegen als dafür. Ihr müsst aber auch unter euch suchen, denn vielleicht könnt ihr gar nicht so leicht jemanden findet, der besser als ihr selbst in der Lage wäre, das zu tun." 2.1.4 DRITTER BEWEIS: DIE SEELE IST DEN 'DINGEN AN SICH' WESENSÄHNLICH UND ALSO UNVERGÄNGLICH (78A-80D) "Das wird geschehen", sagte Kebes. "Aber [78b] lasst uns an den Punkt zurückkehren, von wo aus wir abgeschweift sind, wenn es dir recht ist." "Aber ja, es ist mir recht, warum sollte es das nicht?" "Sehr gut", sagte Kebes. "Nicht wahr", sagte Sokrates, "wir müssen uns selbst etwa folgende Frage stellen: Zu welcher Sorte von Ding passt es, dass es ihm so ergeht, zerstreut zu werden, und bei welcher Sorte von Ding muss man also befürchten, dass es ihm so ergeht, und bei welcher Sorte nicht? Und danach müssen wir prüfen, zu welcher Sorte die Seele gehört, und aufgrund dieser Überlegungen entweder zuversichtlich sein oder besorgt im Bezug auf unsere Seelen." "Du sagst die Wahrheit", sagte Kebes. [78c] "Nun also, zum Zusammengesetzten und von Natur aus Mehrteiligen passt es, dass ihm das passiert, auf dieselbe Weise auseinandergenommen zu werden, wie es zusammengesetzt wurde. Wenn aber etwas nicht zusammengesetzt ist, dann passt es zu diesem allein, wenn überhaupt zu irgendetwas, dass ihm das nicht widerfährt, oder?" "Ich denke, so ist es", sagte Kebes. "Nicht wahr, das, was immer dasselbe und gleich ist, das ist am wahrscheinlichsten das NichtZusammengesetzte, das aber, was immer wieder anders ist und niemals gleich bleibt, das Zusammengesetzte?" "Ich glaube schon." "Gehen wir dann doch", sagte Sokrates, "zu demselben Punkt wie in der vorigen [78d] Argumentation. Das Wesen der Dinge selbst, von dem wir in unseren dialektischen Untersuchungen aussagen, dass es das Sein schlechthin ist, ist das immer gleich oder einmal so, dann wieder so? Das Gleiche an sich, das Schöne an sich, jedes Ding an sich, was es wirklich ist – nimmt das jemals eine Veränderung hin, was auch immer das für eine wäre? Oder bleibt jedes von ihnen immer das, was es ist, von einer einzigen Gestalt, in sich abgeschlossen, immer ganz gleich, und nimmt niemals, nirgends und auf keine Weise irgendeine Veränderung hin?" "Es muss notwendigerweise immer ganz gleich bleiben, Sokrates", sagte Kebes. "Was ist aber mit den vielen guten Dingen, wie Menschen oder Pferden oder [78e] Kleidern oder was auch immer sonst – oder den vielen gleichen Dingen oder all denen, die dieselben Bezeichnungen tragen wie jene (die Dinge an sich)? Bleiben sie immer gleich, oder sind sie ganz im Gegensatz zu jenen niemals gleich, weder mit sich selbst noch untereinander, also sozusagen auf keine Weise?" "So ist es", antwortete Kebes, "sie sind niemals gleich." [79a] "Und diese Dinge kannst du berühren und sehen und mit den anderen Sinnen wahrnehmen, die aber, die gleich bleiben, kannst du auf keinem anderen Wege erfassen als durch die Denktätigkeit des Verstands (τῷ τῆς διανοίας λογισμῷ), sondern diese Art von Dingen ist verborgen und nicht sichtbar?" "Du hast vollkommen recht", sagte Kebes. "Lass uns nun einmal", sagte Sokrates, "zwei Klassen (εἴδη) von existierenden Dingen annehmen, nämlich das Sichtbare und das Unsichtbare." "Einverstanden", sagte Kebes. "Und wollen wir dabei das Unsichtbare als etwas immer Gleichbleibendes annehmen, das Sichtbare aber als etwas, was nie gleichbleibt?" "Nehmen wir auch das an", stimmte Kebes zu. [79b] "Und weiter", sagte Sokrates, "ist nicht ein Teil von uns der Körper, der andere die Seele?" "So ist es", sagte Kebes. "Welcher von beiden Klassen (εἴδει), sollen wir sagen, ist nun der Körper ähnlicher und verwandter?" "Es dürfte wohl jedem klar sein", sagte Kebes, "dass es das Sichtbare ist." "Und die Seele? Ist sie sichtbar oder unsichtbar?" "Zumindest nicht für die Menschen sichtbar, Sokrates", sagte Kebes. "Wir sprachen aber vom Sichtbaren und Unsichtbare für die menschliche Natur – oder für irgendeine andere?" "Nein, die menschliche." "Was können wir von der Seele sagen? Dass sie sichtbar ist oder unsichtbar?" "Sie ist nicht sichtbar." "Also unsichtbar?" "Ja." "Also ist die Seele dem Unsichtbaren ähnlicher als der Körper, dieser aber dem Sichtbaren ähnlicher." [79c] "Auf jeden Fall, Sokrates." "Sagen wir nicht auch schon lange, dass die Seele, wenn sie den Körper zu einer Untersuchung hinzuzieht, durch das Sehen oder das Hören oder sonst einen Sinn – denn 'mittels des Körpers' bedeutet ja: etwas mittels der Sinne zu untersuchen – dass sie dann vom Körper zu den Dingen hingeschleppt wird, die niemals gleich bleiben, und dann herumirrt und verwirrt ist und taumelt, als wäre sie betrunken, weil sie ja mit ebensolchen Dingen in Berührung steht?" "Gewiss." [79d] "Wenn sie aber für sich allein etwas untersucht, geht sie fort in das Reine, Immerseiende, Unsterbliche und Gleichbleibende, und weil sie sich diesem verwandt fühlt, bleibt sie immer bei ihm, wann immer sie für sich allein ist und es ihr möglich ist, und ruht sich von dem Herumirren aus und bleibt in der Gegenwart dieser Dinge (περὶ ἐκεῖνα, vgl. 75e) sich immer ganz gleich, weil sie ja mit ebensolchen Dingen in Berührung ist; und dieser Zustand der Seele wird Vernunft (φρόνησις) genannt, nicht wahr?" "Es ist vollkommen richtig und wahr, was du da sagst, Sokrates", sagte Kebes. "Welcher von beiden Klassen (εἴδει) scheint dir nach dem, was wir vorhin und [79e] gesagt haben, die Seele ähnlicher und verwandter zu sein?" "Ich glaube, Sokrates", sagte Kebes, "dass jeder, auch der begriffsstutzigste Mensch, nach diesem Gang der Überlegung wohl zustimmen wird, dass die Seele ganz und gar und in jeder Hinsicht dem ähnlicher ist, was immer gleich ist, als dem, was es nicht ist." "Und der Körper?" "Der ist dem anderen ähnlicher." "Sieh es dann auch einmal auf folgende Weise an. Wenn die Seele und [80a] der Körper zusammen sind, befiehlt die Natur diesem, zu dienen und sich beherrschen zu lassen, und jener, zu herrschen und zu gebieten. Welches von beiden, denkst du, ist dementsprechend dem Göttlichen ähnlich und welches dem Sterblichen? Meinst du nicht, dass das Göttliche seiner Natur nach zum Herrschen und Führen geeignet ist, das Sterbliche dagegen zum Beherrschtwerden und Dienen?" "Doch, das meine ich." "Welchem von beiden gleicht nun die Seele?" "Ganz offensichtlich, Sokrates, gleicht die Seele dem Göttlichen und der Körper dem Sterblichen." "Prüfe also, Kebes", sagte Sokrates, "ob aufgrund von allem, was wir gesagt haben, [80b] wir zu dem Ergebnis kommen, dass dem Göttlichen, Unsterblichen, Denkbaren, Eingestaltigen, Unzerstörbaren und immer sich selbst Gleichbleibenden die Seele am ähnlichsten ist, dagegen dem Menschlichen, Vielgestaltigen, Nicht-Denkbaren, Zerstörbaren und niemals sich Gleichbleibendem der Körper am ähnlichsten ist. Können wir noch etwas anderes dagegen sagen, lieber Kebes, oder verhält es sich nicht so?" "Wir können es nicht." "Also dann – wenn das so ist, passt es dann nicht zum Körper, schnell zerstört zu werden, und andererseits zur Seele, unzerstörbar zu sein, oder zumindest nahezu?" [80c] "So muss es sein." "Und du merkst ja auch", sagte Sokrates, "dass nach dem Tod eines Menschen seinem sichtbaren Teil, dem Körper, der in der sichtbaren Welt daliegt, den wir ja 'Leichnam' nennen und zu dem es passt, sich aufzulösen, zu zerfallen und zu zerwehen – dass dem nichts davon sofort passiert, sondern dass er einige Zeit noch so bleibt, und sogar recht lange Zeit, wenn jemand in einem günstigen körperlichen Zustand stirbt und ein einer ebensolchen Jahreszeit; und wenn der Körper zusammengefallen ist und einbalsamiert worden ist, wie die Mumien in Ägypten, dass er dann er nahezu unabsehbar lange intakt bleibt, [80d] und auch wenn er verwest, einige Körperteile – Knochen, Sehnen und alles Derartige – so gut wie unsterblich sind. Oder?" "Ja." "Die Seele aber, das Unsichtbare, das, was an einen anderen in gleicher Weise edlen, reinen und unsichtbaren Ort geht, nämlich im wahrsten Sinne des Wortes ins Reich des 'Hades', des 'Unsichtbaren', zu diesem guten und weisen (φρόνιμον) Gott, wohin auch meine Seele bald hingehen soll, wenn der Gott es will – diese Seele, die so ist und eine solche Natur hat, soll, wenn sie sich vom Körper trennt, sofort verweht und vernichtet sein, wie die Leute sagen? 2.1.5 ETHISCHE KONSEQUENZ: DER PHILOSOPH LEBT ENTSPRECHEND DER NATUR DER SEELE MÖGLICHST UNABHÄNGIG VOM KÖRPER (80E-84A) [80e] Weit gefehlt, meine lieben Freunde Kebes und Simmias. Vielmehr ist es so: Wenn sie sich rein ablöst, indem sie nichts vom Körper mit sich zieht, weil sie im Leben in keiner Weise freiwillig mit ihm Gemeinschaft pflegte, sondern ihm immer zu entkommen und sich für sich allein zu sammeln suchte, weil sie das immer geübt hat – und das bedeutet nichts anderes, als dass sie in rechter Weise philosophiert hat und wahrhaftig [81a] geübt hat, mühelos in einem Zustand des Todes zu sein – oder ist das etwa nicht eine Todes-Übung?" "Doch, auf jeden Fall." "– also wenn sie in dieser Verfassung ist, geht sie in das Unsichtbare fort, das ihr ähnlich ist: das Göttliche, Unsterbliche und Vernünftige (φρόνιμον), wo sie bei ihrer Ankunft wahrhaft glücklich sein darf, von dem Herumirren (vgl. 79cd), von Unvernunft, Ängsten, wilden Leidenschaften und den anderen menschlichen Übeln befreit und, wie es bei den Eingeweihten heißt, in Zukunft wahrhaftig mit den Göttern lebend? Sollen wir es so sagen, Kebes, oder anders?" "So wollen wir es sagen, beim Zeus", stimmte Kebes zu. [81b] "Wenn sie sich aber beschmutzt und ungereinigt vom Körper trennt, weil sie immer mit dem Körper Gemeinschaft hielt, ihm diente, ihn liebte und sich von ihm und von seinen Begierden und Lüsten bezaubern ließ, so dass sie nichts anderes für wirklich hielt als das Körperliche, was man berühren, sehen, trinken, essen und für sexuelle Freuden brauchen kann, während sie das, was für die Augen schattenhaft und unsichtbar ist, aber dem Denken zugänglich und für die Philosophie fassbar, zu hassen, zu fürchten und zu fliehen gewohnt war, [81c] – glaubst du, dass eine Seele in dieser Verfassung sich für sich allein, gereinigt vom Körperlichen, lösen wird?" "Auf keine Weise", sagte Kebes. "Sondern sie wird fest im Griff des Körperlichen sein, das der Umgang und die Gemeinschaft mit dem Körper zum Teil ihrer Natur gemacht haben, weil sie immer mit diesem zusammen war und sich immerfort um ihn gekümmert hat?" "Ganz bestimmt." "Dieses Körperliche aber, so müssen wir glauben, mein Freund, ist drückend, schwer, erdhaft und sichtbar, und eine solche Seele hat dieses alles auch an sich und wird davon niedergedrückt und wieder zur sichtbaren Welt hingezogen, aus Angst vor dem Unsichtbaren und vor dem Hades, und wandert, [81d] wie man sagt, um die Gedenksteine und Gräber herum, in deren Umgebung man ja schattenhafte Erscheinungen von Seelen sehen kann, Abbilder, wie solche Seelen sie darbieten, die sich nicht auf reine Weise gelöst haben, sondern noch am Sichtbaren teilhaben, weshalb sie auch noch sichtbar sind." "Wahrscheinlich, Sokrates." "Allerdings wahrscheinlich, Kebes; und auch, dass das nicht die Seelen der guten Menschen sind, sondern die der schlechten, die getrieben werden, an solchen Orten umherzuirren und damit für ihre frühere schlechte Lebensweise zu büßen. Und sie irren so lange herum, bis sie von der Begierde nach [81e] dem, was ihnen immer auf dem Fuß folgt, dem Körperlichen, wieder in einen Körper gefesselt werden, und wie man sich denken kann, werden sie in solche Wesen gefesselt, wie sie ihren früheren Lebensgewohnheiten entsprechen." "Was für Wesen meinst du damit, Sokrates?" "Zum Beispiel, dass die, die Völlerei, Unverschämtheit und Trunksucht gewohnt waren und dabei nichts ausgelassen haben, wahrscheinlich die Gestalt von Eseln [82a] und solchen Arten von Tieren annehmen. Oder glaubst du nicht?" "Doch, das scheint mir sehr einleuchtend." "Und die, die Unrecht, Herrschsucht und Raub bevorzugten, werden zu Wölfen, Habichten und Milanen – wo sonst, sollten wir sagen, gehen solche Seelen hin?" "Zweifellos", sagte Kebes, "in solche Gestalten." "Und es ist wohl auch sonst klar", sagte Sokrates, "wo die einzelnen Seelen hingehen, jeweils entprechend der Ähnlichkeit mit ihrer Lebensweise?" "Ja", sagte Kebes, "natürlich." "Und die Glücklichsten von ihnen", sagte Sokrates, "und die, die an den besten Ort kommen, sind die, die sich um die volkstümliche und bürgerliche [82b] Tugend bemüht haben, die man Selbstbeherrschung und Gerechtigkeit nennt, die allerdings nur aus ihrer Natur und aus Gewohnheit heraus entsteht, ohne Philosophie oder Vernunft (νοῦ), nicht wahr?" "Auf welche Weise sind das die Glücklichsten?" "Weil es wahrscheinlich ist, dass sie wiederum zu einer ebenso beschaffenen, geselligen und sanften Art kommen, zum Beispiel zu Bienen, Wespen oder Ameisen, oder auch wieder zum Menschengeschlecht selbst, und dass aus ihnen anständige Männer werden." "Das stimmt." "Zum Göttergeschlecht zu gelangen aber ist für jemand, wenn er nicht philosophiert hat und ganz und gar [82c] rein fortgegangen ist, nicht erlaubt, sondern nur dem, der die Erkenntnis liebt (τῷ φιλομαθεῖ). Und darum, Simmias und Kebes, halten sich die, die in rechter Weise philosophieren, von allen körperlichen Begierden fern, zügeln sie und überlassen sich ihnen nicht – nicht weil sie den Verfall ihrer Häuser und die Armut fürchten, so wie die habsüchtige Masse. Und sie halten sich auch nicht deshalb davon fern, weil sie Ehrverlust und schlechten Ruf aufgrund von Schlechtigkeit fürchten, wie die Machthungrigen und Ehrgeizigen." "Das würde auch nicht zu ihnen passen, Sokrates", sagte Kebes. [82d] "Allerdings nicht, beim Zeus", sagte Sokrates. "Denn um all diese Leute, Kebes, kümmern sich diejenigen nicht, denen etwas an ihrer Seele liegt und die nicht als Diener ihres Körpers leben, und wandern nicht auf demselben Weg wie sie, weil sie der Meinung sind, dass diese Menschen nicht wissen, wohin sie gehen. Sie selbst aber, überzeugt, dass man nichts tun darf, was der Philosophie entgegensteht und der Befreiung und Reinigung, die sie bietet, wenden sich um und folgen dorthin, wohin sie sie führt." "Wie das, Sokrates?" "Ich werde es erklären", sagte Sokrates. "Diejenigen, die die Erkenntnis lieben, (οἱ φιλομαθεῖς) erkennen (γιγνώσκουσι) nämlich, [82e] dass die Philosophie, wenn sie ihre Seele ergreift, gefangen im Körper und darangeklebt, gezwungen, die existierenden Dinge wie durch Gitterstäbe durch ihn zu betrachten und nicht durch sich selbst, in völliger Unvernunft sich herumwälzend, und wenn sie durchschaut (κατιδοῦσα), dass die Macht des Gefängnisses in den Begierden besteht, so dass der Gefangene selbst der größte Komplize [83a] seiner Gefangensetzung ist, – die Erkenntnisliebenden (οἱ φιλομαθεῖς) also erkennen (γιγνώσκουσιν), wie gesagt: Wenn die Philosophie ihre Seele in diesem Zustand ergreift und hält, dass sie ihr dann leise zuspricht und versucht, sie zu befreien, indem sie ihnen zu zeigen versucht, dass die Betrachtung mittels der Augen voller Täuschung ist und ebenso die mittels der Ohren und der anderen Sinne, und indem sie sie zu überzeugen versucht, sich daraus zurückzuziehen, soweit es nicht unbedingt notwendig ist, sie zu benutzen, und mahnt, dass sie sich stattdessen für sich selbst sammeln und konzentrieren solle und nichts anderem vertrauen solle als [83b] sich selbst, was auch immer sie, für sich selbst, von den existierenden Dingen, jedem für sich selbst, gedanklich bemerkt (νοήσῃ). Was auch immer aber sie mit fremden Mitteln betrachte, bei Dingen, die ihrerseits auch nicht bei sich selbst bleiben, davon solle sie nichts für wahr halten. Denn so etwas sei sinnlich wahrnehmbar und sichtbar, das aber, was sie selbst sieht, durch das Denken wahrnehmbar und unsichtbar. Und weil die Seele des wahren Philosophen glaubt, dass sie dieser Befreiung nichts entgegensetzen darf, hält sie sich so von den Freuden, den Begierden und den Beschwernissen fern, so weit sie es vermag, weil sie sich denkt, dass, wenn jemand starke Freude, Angst oder Lust empfindet, er dadurch nicht negative Konsequenzen von dem Ausmaß erfährt [83c], wie er es sich wohl denkt – wie wenn er durch die Begierden krank würde oder Geld verlöre –, sondern das erleidet, was das größte und extremste aller Übel ist, und es gar nicht in Betracht zieht." "Welches Übel ist das, Sokrates?" fragte Kebes. "Dass die Seele jedes Menschen, wenn sie sich über irgendetwas heftig freut oder heftig trauert, gezwungen ist, zu glauben, dass das, was diese Empfindungen hauptsächlich auslöst, ganz deutlich und wahr sei, obwohl es nicht so ist. Das aber sind vor allem die sichtbaren Dinge, oder nicht?" "Doch, sicherlich." [83d] "In diesem Zustand ist die Seele ganz besonders vom Körper gefesselt, nicht wahr?" "Warum?" "Weil jedes einzelne Vergnügen und jeder Schmerz sie wie mit einem Nagel an den Körper nagelt und sie daranzimmert und sie körperartig macht, weil sie dann glaubt, dass genau das wahr ist, was immer der Körper für wahr hält. Denn weil sie die gleichen Überzeugungen und Lustempfindungen hat wie der Körper, ist sie auch gezwungen, in ihrer Lebensweise und ihrer Nahrung ihm ähnlich zu werden und niemals rein in den Hades kommen, sondern sie wird immer voll von körperlichen Dingen fortgehen, so dass sie bald wieder [83d] in einem anderen Körper hineinfällt und, als sei sie hineingesät, in ihn hineinwächst, und deshalb des Göttlichen, Reinen und Eingestaltigen unteilhaftig bleibt." "Es ist nur zu wahr, was du sagst, Sokrates", sagte Kebes. "Aus diesem Grund also, Kebes, sind diejenigen, die auf die rechte Weise die Erkenntnis lieben (οἱ δικαίως φιλομαθεῖς) anständig und mutig, nicht aus dem Grund, aus dem die Leute behaupten, es zu sein. Oder glaubst du doch?" [84a] "Nein, sicher nicht." "Ganz sicher nicht, sondern die Seele eines Philosophen wird wohl so denken und nicht glauben, dass die Philosophie sie zwar befreien solle, zugleich aber, während sie sie befreit, sie selbst sich immer wieder den Vergnügungen und Schmerzen zum Fesseln übergeben und eine niemals vollendete Arbeit tun solle, indem sie den Webstuhl der Penelope auf entgegengesetzte Weise bearbeitet. Vielmehr glaubt sie, indem sie sich Ruhe vor diesen Dingen verschafft, dem vernünftigen Denken (τῷ λογισμῷ) folgt und immer dabei bleibt, das Wahre, Göttliche und nicht reiner Vermutung Unterworfene [84b] betrachtend und von ihm sich nährend, dass sie so leben muss, solange sie lebt, und dass sie nach dem Tod zu dem kommt, was ihr verwandt und ähnlich ist, und von den menschlichen Übeln befreit ist. Nach einer solchen Ernährungsweise aber, Simmias und Kebes, muss sie wirklich nicht befürchten, bei der Trennung vom Körper zerrissen und von den Winden zerweht zu werden, ins Nichts davonzufliegen und nirgends mehr zu sein." 2.1.6 EINWAND VON SIMMIAS: DIE SEELE KÖNNTE NUR EINE 'STIMMUNG' DES KÖRPERS SEIN UND DAMIT DOCH STERBLICH (BEISPIEL VON DER LYRA) (84C-86D) [84c] Als Sokrates das gesagt hatte, wurde es für längere Zeit still, und sowohl er selbst, wie man sehen konnte, hing dem Gesagten noch nach als auch die meisten von uns. Kebes und Simmias aber sprachen eine kurze Weile miteinander. Und als Sokrates das sah, fragte er die beiden: "Was ist – sollte euch das Gesagte noch nicht genug erscheinen? Es bietet ja auch noch viel Raum für Zweifel und Widerspruch, wenn man es gründlich genug durchgehen will. Wenn ihr beide nun gerade etwas anderes betrachtet, will ich nichts gesagt haben, aber wenn ihr noch wegen irgendetwas von dem eben Gesagten nicht weiter wisst, zögert nicht, es selbst zu sagen und [84d] zu erklären, wenn ihr glaubt, dass es von euch besser gesagt werden kann, oder auch mich dazuzuholen, wenn ihr glaubt, dass ihr mit mir zusammen den Weg besser finden werdet." Und Simmias sagte: "Also gut, Sokrates, ich werde dir die Wahrheit sagen. Schon lange hat jeder von uns seine Zweifel und schiebt den anderen vor und drängt ihn zu fragen, weil wir gern deine Antwort hören würden, uns aber scheuen, dir zur Last zu fallen, weil wir fürchten, dass es dir in deinem gegenwärtigen Unglück unangenehm sein könnte." Und als Sokrates das hörte, lachte er leise auf und sagte: "Du meine Güte, Simmias, ich könnte wohl die übrigen Menschen nur schwer überzeugen, [84e] dass ich mein gegenwärtiges Schicksal nicht für ein Unglück halte, wenn ich ja nicht einmal euch überzeugen kann, sondern ihr vielmehr fürchtet, dass ich jetzt unleidlicher bin als früher in meinem Leben. Und ich glaube, ihr haltet mich im Prophezeien für schlechter als die Schwäne, die, wenn sie fühlen, dass sie sterben sollen, auch wenn sie auch in [85a] der vorangegangenen Zeit schon immer gesungen haben, dann am meisten und am inbrünstigsten (μάλιστα, nicht κάλλιστα) singen, aus Freude, dass sie gleich zu ebendem Gott gehen werden, dessen Diener sie sind. Die Menschen aber in ihrer Angst vor dem Tod machen sich eine falsche Vorstellung über die Schwäne und behaupten, dass sie ihr letztes Lied als Klagegesang aus Kummer über ihren Tod singen, und bedenken nicht (λογίζονται), dass kein Vogel singt, wenn er Hunger hat oder friert oder sonst ein Leid fühlt, auch nicht die Nachtigall und die Schwalbe und der Wiedehopf, von denen man doch sagt, dass sie aus Schmerz Klagelieder singen. Aber mir scheint, dass weder diese Vögel [85b] noch die Schwäne aus Schmerz singen, sondern ich glaube, da sie ja dem Apollon angehören, sind sie prophetisch begabt, und weil sie das Gute schon vorauswissen, das sie im Hades erwartet, singen sie und freuen sich an diesem Tage viel mehr als jemals zuvor. Und ich glaube, dass ich auch selbst gleichermaßen wie die Schwäne ein Diener und heiliges Eigentum dieses selben Gottes bin und nicht weniger als sie die Sehergabe von meinem Herrn habe und darum auch nicht weniger zuversichtlich als sie aus dem Leben scheide. Darum also dürft ihr ruhig sagen und fragen, was immer ihr wollt, solange die Elf Männer der Athener es erlauben." "Du hast recht", sagte Simmias, "und ich werde dir sagen, worin ich [85c] ratlos bin, und dann wird er seinerseits sagen, auf welche Weise er das, was gesagt wurde, nicht akzeptiert. Mir scheint es nämlich, Sokrates, wie dir vielleicht ebenso, dass es entweder unmöglich oder sehr schwer ist, über diese Art von Dingen etwas Sicheres in diesem Leben in Erfahrung zu bringen; dass allerdings auch, nicht auf jede Weise zu prüfen, was darüber gesagt wird, und davon nicht abzulassen, bevor man sich völlig damit verausgabt hat, sie auf allen Seiten zu prüfen, die Art eines ziemlich weichlichen Mannes ist. Denn ich meine, dass es nötig ist, eins von diesen Dingen zu tun: entweder lernen oder herausfinden, wie es sich verhält, oder, wenn das nicht möglich ist, die beste und am schwersten zu widerlegende menschliche Lehre darüber nehmen [85d] und auf dieser treibend wie auf einem Floß unter Gefahren durchs Leben segeln, falls man nicht in gefahrloserer Weise auf einem sichereren Gefährt, einem göttlichen Spruch, hindurchreisen kann. Und so will auch ich mich jetzt nicht scheuen zu fragen, da du das ja auch sagst (, dass ich das tun soll), und werde mir später nicht vorwerfen müssen, jetzt nicht gesagt zu haben, was meine Meinung ist. Denn wenn ich allein oder zusammen mit Kebes hier prüfe, was gesagt worden ist, scheint es uns nicht hinreichend geklärt." [85e] Und Sokrates sagte: "Vielleicht, mein Freund, ist dein Eindruck ja richtig. Also sag mir, auf welche Weise es dir nicht hinreichend erscheint." "In dieser Weise", sagte Simmias, "dass man ja über die das Verhältnis musikalischer Töne zueinander (die Stimmung, gr. ἁρμονία, was aber nichts mit gleichzeitigem Erklingen von Tönen zu tun hat) und die Lyra und ihre Saiten dasselbe sagen könnte: dass die Stimmung bei einer wohlgestimmten Lyra unsichtbar, körperlos und etwas vollkommen Schönes und [86a] Göttliches ist, die Lyra aber und ihre Saiten Körper und körperlich und zusammengesetzt und erdartig sind und dem Sterblichen verwandt. Wenn man nun die Lyra zerschlägt oder die Saiten zerschneidet oder zerreißt, wenn dann jemand mit demselben Argumentationsgang wie du behauptet, dass notwendigerweise jene (die Stimmung) immer noch da sein muss und nicht verloren ist – denn es sei ja nicht möglich, dass die Lyra und die Saiten noch da sein können, wenn die Saiten zerrissen sind, da sie von sterblicher Art sind, die Stimmung aber [86b] verlorengehen kann, die von derselben Natur wie das Göttliche und Unsterbliche und ihm verwandt ist, indem sie vor dem zugrundegeht, was sterblich ist – und vielmehr sagt, dass notwendigerweise die Stimmung noch irgendwo sein muss, und dass das Holz und die Saiten eher verrotten müssen, bevor jener etwas zustößt – Das scheint ein Anakoluth zu sein, so als würde hier etwa fehlen: ", dann haben wir jetzt folgendes Problem:" Denn ich glaube ja, Sokrates, dass auch du schon bemerkt hast, dass wir (Simmias und Kebes? oder generell viele Leute? nicht unbedingt die Pythagoreer) die Seele auch für etwas derartiges halten, so als sei unser Körper gespannt und zusammengehalten von Wärme und Kälte, Trockenheit und Feuchtigkeit und derlei Dingen und unsere Seele eine Mischung ebendieser Elemente und eine (schöne) Stimmung [86c], wenn diese (die Elemente) auf schöne Weise und im rechten Maß untereinander gemischt sind. Wenn also die Seele tatsächlich eine Art Stimmung ist, dann ist es klar, dass, wenn der Körper in schlechtem Maß zu sehr erschlafft oder sich anspannt, durch Krankheiten oder andere Übel, die Seele dann zwangsläufig sofort zugrundegehen muss, auch wenn sie noch so göttlich ist, genauso wie auch die anderen Verhältnisse bei den Klängen und in allen Werken der Künstler, dass aber die Überbleibsel eines jeden Körpers lange Zeit noch da bleiben, [86d] bis sie verbrannt werden oder verfaulen. Schau nun, was wir zu diesem Argument sagen sollen, wenn (also) jemand behauptet, dass die Seele als Mischungsverhältnis der Elemente im Körper bei dem, was man Tod nennt, als erste zugrundegeht." Und Sokrates blickte uns durchdringend an, wie er es oft zu tun pflegte, lächelte und sagte: "Simmias macht wirklich einen gerechtfertigten Einwand. Wenn einer von euch also schneller eine Antwort weiß als ich, warum antwortet er nicht? Er scheint sein Argument gar nicht schlecht angefasst zu haben. Allerdings meine ich, wir sollten vor der Antwort noch Kebes anhören, [86e] in welchem Punkt er unsere Argumentation in Frage stellt, damit wir Zeit gewinnen und überlegen können, was wir sagen werden, und dann, wenn wir es gehört haben, ihnen zustimmen, wenn sie mit uns in Einklang scheinen, wenn aber nicht, unser Argument dann verteidigen. Also, Kebes, sag uns, was es ist, was dich stört." 2.1.7 EINWAND VON KEBES: DIE PRÄ- UND POSTEXISTENZ DER SEELE BEWEISE NOCH NICHT IHRE UNSTERBLICHKEIT (86E-) "Ich sage es also", sagte Kebes. "Unser Argument scheint mir nämlich noch genau an demselben Punkt zu sein, wo wir vorher waren, und noch immer von genau demselben Einwand angreifbar, den ich vorhin vorbrachte. [87a] Ich bestreite ja nicht, dass es durchaus geschickt und, wenn es nicht zu hochmütig klingt, ganz hinreichend bewiesen zu sein, dass unsere Seele schon existiert hat, bevor sie in diese Gestalt kam. Aber dass sie, auch wenn wir gestorben sind, noch irgendwo ist, damit scheint es mir nicht so zu sein. Ich bin nicht mit Simmias Einwand einverstanden, dass die Seele nicht stärker und langlebiger sei als der Körper, denn ich glaube ja, dass sie in all diesen Dingen ihm weit überlegen ist. 'Aber was denn dann', könnte das Argument sagen, 'bezweifelst du dann noch, wenn du doch siehst, dass nach dem Tod des Menschen das Schwächere noch da ist? Meinst du nicht, dass das Langlebigere [87b] in dieser Zeit noch erhalten bleiben muss? Überlege außerdem, ob ich hiermit einen gerechtfertigten Einwand mache: Ich brauche, wie es aussieht, auch einen Vergleich, wie Simmias. Mir scheint das Argument nämlich genau das gleiche zu sein, wie wenn jemand es in Bezug auf einen alten Weber vorbringen würde: dass dieser nämlich nicht zugrundegegangen sei, sondern noch irgendwo existiere, und als Beweis dafür darlegen würde, dass sein Gewand, das er selbst gewebt und getragen habe, unversehrt und nicht zugrundegegangen sei. Und wenn man [87c] ihm nicht glauben wollte, könnte er fragen, ob ein Mensch langlebiger sei als ein Gewand, das abgenutzt und abgetragen ist, und wenn jemand antwortete, dass ein Mensch viel länger lebt, würde er glauben, dass es bewiesen sei, dass auf jeden Fall der Mensch unversehrt ist, da ja das Vergänglichere nicht zerstört ist. Aber ich glaube nicht, Simmias, dass das so ist; prüfe auch du, was ich sage.