Gegen die politische Philosophie?

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Gegen die politische Philosophie?
Theorien politischer Eskalation im 20. Jahrhundert und der Gegenwart
von Martin Heidegger bis Alain Badiou
Dominik Finkelde
Alain Badiou: Über Metapolitik. Zürich / Berlin 2003. Diaphanes Verlag. 193 S.
(MP)
Alain Badiou: Gott ist tot: kurze Abhandlung über eine Ontologie des Übergangs.
Wien 2002. Turia & Kant. 205 S. (GT)
Alain Badiou: Ist Politik denkbar. Berlin 2010. Merve Verlag. 168 S. (PD)
Alain Badiou: Ethik: Versuch über das Bewusstsein des Bösen. Wien 2003. Turia &
Kant. 155 S. (E)
Chantal Mouffe: Das demokratische Paradox. Wien 2008. Turia & Kant. 139 S.
(DP)
Slavoj Žižek: Die Tücke des Subjekts. Frankfurt a. M. 2001. Suhrkamp Verlag.
547 S. (TS)
1. Einleitung
Im zweiten Teil seiner Schrift Der Streit der Fakultäten drückt Immanuel
Kant seine Hochschätzung gegenüber der Französischen Revolution aus.
Sie habe »Enthusiasm« in Europa verbreitet und das Vermögen im Fortschreiten zum Besseren in der menschlichen Natur aufgedeckt. Diese Verehrung, die Kant der Revolution auch unter Berücksichtigung des Jacobiner-Terrors erweist, steht in Spannung zu seiner Behauptung aus der
Metaphysik der Sitten, dass Revolutionäre jeder Zeit und immer zu verurteilen seien1. Ist es vertretbar, sich von denjenigen begeistern zu lassen, denen
man gleichzeitig die Todesstrafe zuerkennen muss? Auf eine ähnliche
Spannung weist Johann Georg Hamann hin, wenn er Kants Begriff »selbstverschuldeter Unmündigkeit« kritisiert. Denn wenn Kant in seiner Schrift
Was ist Aufklärung? »den Unmündigen«, wie Hamann schreibt, »ihre Feigheit vor[wirft]«, gestehe er nicht ein, dass hinter ihm selbst, dem angeblich
Mündigen »ein wohldiscipliniertes zahlreiches Heer zum Bürgen seiner
Infallibilität und Orthodoxie« stehe. Wahre Mündigkeit, die sich durch
»Muth«, »Wille« und »Entschließung« 2 kundtue, werde Kant gerade durch
die Staatsmacht im Rücken abgenommen. Das hat für Hamann zur Folge,
in Kant nur einen »blinden Vormund« und keinen mit wirklich moralischer
1
Immanuel Kant: Die Metaphysik der Sitten, in: Ders., Kants gesammelte Schriften, Hg.
Königlich Deutsche Akademie der Wissenschaften, De Gruyter Verlag: Berlin 1902-),
Vol. 6, S. 333–334.
2
Zitiert nach Oswald Bayer: Vernunft ist Sprache: Hamanns Metakritik Kants, Frommann-Holzboog; Stuttgart 2002, S. 434 f.
Philosophische Rundschau, Band 57 (2010) S. 322–341
© 2010 Mohr Siebeck – ISSN 0031-8159
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d. h. politischer Autorität Sprechenden zu sehen. Kant legt so, wie Hamann
behauptet, die Spannung offen zwischen der Freiheit des Denkenden und
der Pfl icht des Gehorchenden bzw. die Spannung zwischen dem Enthusiasmus eines Beobachters für eine politische Bewegung und der Ablehnung
gegenüber einem konkreten, mutigen, die politische Ordnung auch verletzenden Handeln. Und diese Spannung ist sicher nicht nur für Hamann
unbefriedigend.
Der Verweis auf Kant ist hier einleitend gewählt worden, weil Verantwortungsethiken in kantischer Traditionen zurzeit stark unter eine ähnliche Kritik fallen, wie sie Hamann gegenüber Kant äußert. Diese Kritik
an Kant bzw. genauer am Kantianismus in seinen sich stark ausdifferenzierenden Erscheinungen erfährt eine verblüffende Renaissance. Aber schon
in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts gab es bekanntlich eine ähnliche,
wenn auch anders gewichtete Kritik an kantischen Traditionen, die unter
anderem den Bereich der Erkenntniskritik und den der Rechtsphilosophie
betrafen. Man könnte daher beinahe den Eindruck bekommen, dass in
Zeiten politischer Krisen – zu denen auch unsere Gegenwart als eine unter
unüberschaubaren Globalisierungsschüben leidende gerechnet werden
kann – das Erbe der Kantischen Philosophie unter Druck gerät. Warum?
Unter anderem z. B. aufgrund der oben erwähnten Spannung zwischen
einer sich mündig gebärdenden praktischen Philosophie und einer Gehorsamspfl icht gegenüber der etablierten, aber nicht selten auch aporienreich
erscheinenden politischen Ordnung.
Um diese Frage und um die sich daran anknüpfende Kritik an einer
kantisch ausgerichteten politischen Philosophie durch zeitgenössische Philosophen geht es in diesem Artikel. Dabei zeigt sich, dass diese zeitgenössischen Philosophen politische Erben von Philosophen des 20. Jahrhunderts sind. Heideggers Philosophie der Gelassenheit, Carl Schmitts
Freund-Feind-Theorie und Walter Benjamins Gewalttheorie setzen sich
von Ethiken verantwortlichen Handelns in der Tradition des Neukantianismus (Cohen, Stammler, Natorp) und der Lebensphilosophie (Simmel,
Dilthey) in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts ab. Es soll hier gezeigt
werden, inwiefern diese Theorien (besonders von Heidegger und Schmitt)
von der traumatischen Unmöglichkeit einer Ordnung des politischen
Raumes ausgehen und dabei Argumentationsstrategien politischer (antikantischer) Philosophen der Gegenwart antizipieren, die eine hier »Ethik
der existentiellen Zuspitzung« genannte philosophiepolitische Position
annehmen.
Wenn hier von Philosophen der Gegenwart die Rede ist, so sind hier besonders
die Anhänger einer an Jacques Lacans Metapsychologie ausgerichteten politischen
Philosophie gemeint: Chantal Mouffe, Ernesto Laclau, Alain Badiou und Slavoj
Žižek. So wie sich die Autoren der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts Denktradi-
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tionen des Neukantianismus und der Lebensphilosophie widersetzten, so setzen
sich die gerade erwähnten Autoren der Gegenwart von philosophischen Theorien
des Kommunitarismus, der Vertragstheorie und der Diskursethik ab, die bekanntlich ebenso im Kantianismus ihre Wurzeln haben. Die zuletzt genannten Philosophen der Gegenwart sind, so die hier vertretene These, neo-hegelianische Vertreter einer Ethik der Eskalation, einer Eskalation, die sie zum eigentlichen Wesen
des Politischen rechnen und womit sie sich stark von versöhnungs- und ausgleichstheoretischen Ansätzen absetzen. Sie tun dies aufgrund einer aus ihrer
Sicht mit der Gegenwart assoziierten Reduzierung philosophiepolitischen Denkens durch eine Fixierung auf einen sehr begrenzten Demokratie-, Ethik- und
Diskursbegriff. Was z. B. politisch-philosophische Traditionen wie Diskursethik,
Kommunitarismus strukturell aus der Sicht dieser Philosophen nicht denken können ist – so die von diesen Autoren immer wieder dominant vorgebrachte Kritik
– ein neues Demokratieverständnis, das nicht mehr Politik »im Hinblick auf kommunitäre Prädikate oder Prädikate von Teilmengen normiert.« (MP, 106) Was
diese von Alain Badiou stammenden Worte im Detail meinen, wird im Laufe
dieses Artikels noch deutlicher.
Neben der Herausarbeitung der hier genannten »Ethiken existentieller
Zuspitzung« ist die Frage zu klären, wie genau die Autoren der Gegenwart
in der Tradition philosophischer Ansätze des 20. Jahrhunderts stehen und
ob Eskalation bzw. existentielle Zuspitzung als Wesen des Politischen eine
ernstzunehmende philosophiepolitische Position sein kann. Denn es ist
klar, dass sich eine Ethik der Eskalation schon von einem klassischen
Ethik-Verständnis als Disziplin allgemeingültiger Begründbarkeit sittlichen Handelns absetzt. Die klassische Ethik versucht schließlich einer
existentiellen Krise bzw. einer Eskalation vorauszugehen und diese gerade
unmöglich zu machen. Eine weitere Leitfrage ist, ob sich hinter diesen
Theorien der Versuch verbirgt, das dominierende Selbstbild der westlichen Demokratien zu trüben: ein rein weltliches Weltbild, das mit dem
Ideal eines gerechten dialog- und vernunftgelenkten Interessensaustausches auf nationaler aber auch globaler Ebene operiert. Die hier besprochenen Autoren haben zum Teil wenig Sympathie für dieses Bild; ihr Ziel
ist es, seine Instabilität zu zeigen. Ähnlich wie ihre Vorgänger in der ersten
Hälfte des 20. Jahrhunderts haben die Theorien apokalyptischen Charakter im Wortsinn des griechischen ›apokalypto‹, das als »sich zeigen« und
»sich offenbaren« übersetzt werden kann. Apokalyptisches Denken meint
dann nicht die Prophezeiung des Untergangs, sondern verweist auf ein
Sichoffenbaren dessen, was die praktische Vernunft (noch) nicht sehen
kann, nicht abzuleiten und nicht zu setzen vermag.
Die hier präsentierten Autoren brechen in sehr unterschiedlichen historischen
Kontexten mit einer bestimmten Ethik verantwortlichen Handelns, weil für sie
die Legitimität eines verantwortlichen bzw. im Rahmen der rechtsstaatlichen
Prämissen organisierten Handelns 1.) rechtsphilosophisch selbst de-legitimiert ist
aufgrund eines ursprünglichen nicht-legitimierten Ursprungs der Gewalt, die das
Recht selbst nicht im Recht stehen lässt, 2.) durch eine Technikfi xierung funda-
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mental am Seinsgeschick vorbeihandelt, und 3.) nur den Raum des politisch
Etablierten verteidigt, anstatt diesen Raum auf neue Alternativen hin zu erweitern. Dabei stehen so gegensätzliche Haltungen wie »Gelassenheit«, revolutionäre
Gewalt und neomarxistische Freund-Feind-Dichotomie zusammen, um philosophiepolitisch existenzielle Zuspitzung als Bedingung zum Durchbruch neuen
politischen Handelns zu denken.
In den folgenden Abschnitten werden die Theorien politischer Eskalation jeweils an Autoren der verschiedenen Epochen in ein Verhältnis erhellender Wechselbeziehung gebracht. Chantal Mouffes Position soll deutlich werden in ihrer
Auseinandersetzung mit John Rawls ebenso wie durch ihre eigentümliche Carl
Schmitt-Rezeption. Alain Badious Theorie wird erläutert in einem Rückbezug
auf Heideggers Theorie der Gelassenheit und einer von Slavoj Žižek gelieferten
Verteidigung von Heideggers politischem Engagement in den 30er Jahren. Aufgrund Heideggers philosophischer Vormachtstellung wollen wir mit ihm beginnen und anschließend den Bezug zur Gegenwart eröffnen.
2. Gelassenheit, Seinsgeschick und die Eruption des Subjekts
In Martin Heideggers Philosophie läßt sich so etwas wie eine »Ethik der
Eskalation« herausarbeiten. Diese These soll durch den Aufweis einer inhärenten Spannung zwischen Heideggers Früh- und Spätwerk und einige
Bemerkungen Slavoj Žižeks zur politischen Dimension von Heideggers
Ontologie offengelegt werden.
In seiner Distanzierung vom Neukantianismus der Marburger Schule, die er
öffentlich 1929 im Disput mit Ernst Cassirer vollzog, brachte Heidegger den Gedanken vor, dass der Neukantianismus noch zu undifferenziert von einem Menschenbild ausgehe, in dem der Mensch wie im Selbstbesitz seines Wesen- und
Vernunftkernes verstanden werde. Heidegger verweist gegenüber der Unterteilung zwischen einer sinnlichen Rezeptivität und der Spontaneität begriffl icher
Verstandestätigkeit auf ein grundlegendes Missverständnis hin. Was dieser Unterteilung entgeht, ist die unthematische Bezogenheit der Umwelt auf den Einzelnen in seiner existentiellen »Geworfenheit«. Der Mensch stehe wesensmäßig immer ein klein wenig neben sich als Menschen in einem ihm gegenüber sich als
unverfügbar erweisenden Seinsgeschick. Diese Diagnose betrifft die praktische
Philosophie, die Heidegger wesentlich als eine denkende Praxis versteht und
nicht im klassischen Sinne als eine philosophische Anleitung zum praktischen
Handeln. Immer dann, wenn der Mensch geschichtlich handelt, begradigt er etwas nicht-zu-Begradigendes. Er greift ein in ein Seinsgeschick, das ihm unverfügbar bleibt und mit dem er über den Umweg der Außenwelt, die ihm immer
schon als Ankunftsort der eigenen Geworfenheit vorausgeht, sein eigenes Wesen
zu begradigen sucht.
Ist damit jedoch Handeln ganz und gar ein vergebliches Unterfangen?
Und ist nur noch strikt genommen »Denken« ein Handeln, »indem es [das
Denken] denkt«3, wie der späte Heidegger im Brief Über den Humanismus
3
Martin Heidegger: Über den Humanismus, Vittorio Klostermann: Frankfurt a. M.
1991 (9. Aufl age), S. 5.
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sagt? Ist der Mensch in seiner »Ek-sistenz« nur noch dem Seinsgeschick
ausgeliefert? Für den Heidegger von Sein und Zeit und der Nietzsche-Vorlesungen ist dies, so viel lässt sich sagen, nicht der Fall. Dort spricht Heidegger noch von einer Form aktiven Handelns, die er als authentische Übernahme des eigenen ›Geschicks‹ verstanden wissen will.
Diese Übernahme des eigenen Geschicks mag erklären, wieso Heidegger sich
in den 1930er Jahren der nationalsozialistischen Bewegung andienen wollte. Sie
gab Heidegger die Hoffnung, als kollektive und völkische Bewegung ein »geeignete[r] metaphysische[r] Vorgang«4 zu sein, wo ein »ganzes Volk [. . .] selbst ein
Element des Gesamthandelns [. . . ist].« 5 Dieses »Gesamthandeln« 6 eines Volkes
wirkt dem individuierten »Man« der modernen technischen Gesellschaft entgegen und zwar nicht durch Technikverneinung von – in landwirtschaftlicher Idylle lebenden – Schwarzwaldbauern, sondern durch einen authentischen Akt heldenhafter Übernahme der Technik7. Heideggers Dasein als »Mitsein mit
Anderen« 8 ist wesentlich (noch) ein kollektives Geschehen. Er bestimmt es als
»Geschick«, und er schreibt: »Im Miteinandersein in derselben Welt und in der
Entschlossenheit für bestimmte Möglichkeiten sind die Schicksale [der Menschen, D. F.] im vorhinein schon geleitet. In der Mitteilung und im Kampf [sic!]
wird die Macht des Geschickes erst frei.« 9
Eine weit verbreitete These, die Heideggers angebliche Fehlhandlung in den
30er Jahren zu erklären versucht, deutet Karl Jaspers in seinen posthum erschienen Notizen zu Martin Heidegger 10 an. Darin interpretiert Jaspers die von Heidegger herausgearbeitete Existenzialität als ein »Stahlgerüst«, das letztlich Ausdruck
der Unangemessenheit der Analyse sei und die innere Verwandtschaft zur Mentalität der 30er Jahre aufweist. Dieser Kritik schließt sich einige Jahrzehnte später
– wenn auch nur indirekt – Ernst Tugendhat an. Er sieht in Heideggers Konzept
der »Gelassenheit« die Krux der Heideggerschen Seinsphilosophie. Sie nimmt
dem Subjekt die Verantwortung für sein Handeln. Und Tugendhat führt aus, bei
Heidegger sei bedauerlicherweise die »Seinsfrage [. . .] an die Stelle der Ethik getreten, ist Ethikersatz.« Tugendhat fährt fort: »Wenngleich sich der späte Heidegger, der die milde Gelassenheit zur Wahrheit des Seins beschwört, wieder vom
Faschismus entfernt hat, muß eine Position, die Verantwortlichkeit, Freiheit und
Wahrheit nicht nur auslässt, sondern durch anderes ersetzt, immer Faschismusanfällig bleiben.«11
Zu dieser traditionellen, etwa auch durch das Buch von Victor Farias
weit verbreiteten Kritik an Heidegger, analysiert Žižek eine andere stuktu4
Martin Heidegger: Nietzsche. Der europäische Nihilismus. Freiburger Vorlesung 1940,
Gesamtausgabe Bd. 48, Vittorio Klostermann: Frankfurt a. M. 1986, S. 333.
5
Ebenda S. 333.
6
Ebenda. S. 333.
7
Erst später diagnostiziert Heidegger den Nationalsozialismus als letzte Ausgeburt des
humanistischen Nihilismus.
8
Martin Heidegger: Sein und Zeit, Max Niemeyer Verlag: Tübingen 2001 (18. Auflage), S. 384.
9
Ebenda. S. 384.
10
Karl Jaspers: Notizen zu Martin Heidegger, Hg. Hans Saner, Piper Verlag: München
1978.
11
Ernst Tugendhat: Philosophische Aufsätze, Suhrkamp Verlag: Frankfurt a. M. 1992,
S. 135.
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rimmanente Verbindung zwischen Heideggers Werk und Heideggers politischem Engagement der 30er Jahre. Nach Žižek zeige Heideggers frühes
Engagement für das nationalsozialistische Projekt eine Art Wagnis des frühen Heideggers im Versuch, durch eine völkisch gelenkte Überformung
der Technik die Öffentlichkeit des »Man« zu durchbrechen. Der frühe Heidegger habe sich gerade nicht auf eine Heimatidylle eingerichtet, sondern
das nationalsozialistische Projekt als »metaphysischen Vorgang«12 gedeutet,
um der Technisierung der Alltagswelt in einer durch die völkische Gemeinschaft gelenkten Technik in ein Verhältnis des »Geschicks« zu bringen. Dass das Projekt schief ging oder schief gehen musste, entwerte aber
nicht zwangsläufig das Wagnis konkreten philosophie-politischen Handelns. Das frühe Engagement Heideggers fi ndet Žižek demnach legitim. Es
kommt einer politischen Dezision gleich, weil sie eine Hoffnung auf Veränderung in ein politisches Ereignis von nicht dagewesener Radikalität
anstrebt. Žižek wirft Heidegger allerdings vor, den eigentlichen Mechanismus der nationalsozialistischen Ideologie nicht durchschaut zu haben und
zeigt, inwiefern es eine neuralgische Blockierung im philosophischen
Werk Heideggers selbst gegenüber jedem politischen Engagement gibt.
Diese Blockierung habe seine politische Urteilskraft beschädigt.
»Heidegger engagierte sich nicht ›trotz‹ seines ontologisch philosophischen
Ansatzes für das politische Projekt des Nationalsozialismus, sondern gerade aufgrund dieses Ansatzes.« (TS, 22) Aber Heidegger hatte dem Projekt des Nationalsozialismus eine »innere Größe« zugesprochen und gleichzeitig den grundlegend
ideologischen Rassismus derselben Lehre für eine Verfehlung an der Oberfläche
gehalten. Der Rassismus des Nationalsozialismus sei »bloß« ideologisch, während
die »innere Größe« ideologiefrei gewesen sei. »Eine solche Erwartung [dass die
›innere Größe‹ ideologiefrei sei, D. F.] bleibt in sich selbst zutiefst metaphysisch,
insofern sie missversteht, dass die Lücke, die die unvermittelte ideologische Legitimierung einer Bewegung von ihrer ›inneren Größe‹ (ihrem historisch-ontologischen Wesen) trennt, die konstitutive Bedingung, die positive Bedingung ihres
›Funktionierens‹ ist.«13 Heidegger hätte demnach erwartet, dass diese nationalsozialistische Bewegung sich selbst durch ein unmittelbares Bewusstsein ihrer ›inneren Größe‹ legitimieren würde. Genau dieser Glaube sei jedoch sein Verhängnis gewesen. »Durch genau dieses Insistieren darauf, dass der Grund, an dem wir
festhalten, kein ›bloß‹ ideologischer sei, behält uns aber die Ideologie immer fest
im Griff.« (TS, 23)
Im weiteren Verlauf von Žižeks Anmerkungen weist er auf, dass Heideggers philosophischer Denkweg gerade nicht politisches Engagement
gleichzeitig mit der ontologischen Fragestellung denken kann, weil das politische Engagement sofort dem Diktum der »Unwürdigkeit« verfällt,
wenn es in das Seinsgeschick einzugreifen versucht. Überspitzt formuliert
12
Martin Heidegger: Nietzsche. Der europäische Nihilismus. Freiburger Vorlesung 1940,
Gesamtausgabe Bd. 48, Vittorio Klostermann: Frankfurt a. M. 1986, S. 333
13
Ebenda, S. 23.
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könnte man daher sagen: um auf ›ontischem Niveau‹ wirksam sein zu
können, muss der ontologische Horizont der eigenen Aktivität ignoriert
werden. Das eine Mal, als Heidegger wagte, sich für ein politisches Projekt
zu engagieren, konnte er dies nur aufgrund der oben schon erwähnten
Annahme, dass es angeblich trotz rassistischer Oberflächenphänomene in
der Nationalsozialistischen Bewegung doch einen »inneren guten Kern«
gäbe, der von diesen unschönen Oberflächephänomenen abtrennbar sei.
Andererseits legitimiert aber auch, wie gesagt, Žižek indirekt Heideggers
»ontische Blindheit« während seines politischen Engagements, wenn er,
Žižek, behauptet, dass »[o]ntologische Einsicht [. . .] notwendigerweise
ontische Blindheit und ontischen Irrtum mit sich [bringt] und umgekehrt.« (ebd.)
Diese These ist verblüffend, weil sie kluges politisches Handeln nahezu auszuschließen scheint, oder konkretes Handeln gleichzeitig mit verfehlter Einsicht in
die ontologische Realität kombiniert. Dennoch behauptet Žižek, dass Heidegger
genau dieses Paradox als erster theoretisch erkannt hätte. In diesem Sinne sei
Heideggers Bemerkung zu verstehen, dass die Wissenschaft ›nicht denke‹. Gerade
dass die Wissenschaft nicht denkt, dass sie sich nicht die ontologische Fragestellung nahegehen lässt, sei der eigentliche Motor ihres großartigen und leistungsintensiven Funktionierens. Worauf Žižek hinweist ist, dass Heideggers Philosophie
in ihrem theoretischen und von Heidegger schließlich selbst gesehenen Ansatz
blind gegenüber dem politischen Engagement ist, oder besser sein muss, weil sie
nur aus der radikalen Trennung und strukturellen Nichtvereinbarkeit zwischen
»ontischem Aktionismus« und ontologischer Fragestellung heraus denken kann.
Die Kluft ist wesentlich für das Gelingen der eigenen Heideggerschen Philosophie. Man könnte sagen, dass Žižek Heidegger im gewissen Sinne freispricht von
seinem Verfehlen, dem Nationalsozialismus einige Zeit lang angehangen zu haben: das Subjekt Heidegger, das eine Philosophie des Seinsgeschicks entwirft,
muss »ontisch blind« sein, weil nur die Kluft zwischen ontischer Aktion und einer
Philosophie des Seinsgeschick die letztere zu ihrer philosophischen Hochleistung
bringt. »Diejenigen, die der ontologischen Wahrheit am nächsten kamen, sind
dazu verdammt, auf ontischem Niveau zu irren . . . aber: sich worüber zu irren?
Genau über die Trennungslinie zwischen dem Ontischen und dem Ontologischen.«14
Žižek legt Wert darauf, dass Heidegger selbst genau diese Gefahr kannte: ja, dass er diese Gefahr zu genau dem Geburtsfehler abendländischer
Seinsphilosophie deklarierte. Im Humanismusbrief warnt ja gerade Heidegger vor einem politischen Engagement, das allzu sehr die Würde des Seinsgeschicks verfehlt, wenn es das Rätsel oder das Geheimnis der ontisch-ontologischen Differenz nicht gleichzeitig denke. Jede vom Subjekt geleitete
angebliche Weltverbesserung, z. B. jeder Versuch, die Ökokrise durch
noch bessere Öko-Technik einzudämmen, verschlimmere angeblich – so
Heideggers melancholisch-nihilistische Prophezeiungen im Humanismus14
Ebenda, S. 21.
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brief – nur die Krise moderner Technik. Gerade der Humanismusbrief ist ein
gutes Beispiel dafür, wie skeptisch der späte Heidegger gegenüber einem
Engagement ist, das glaubt, die Krise z. B. durch eine Radikalisierung vernunftgeleiteter technischer Erneuerungen zu revidieren. Diese Skepsis gegenüber einem geschichtsmächtigen und selbst von auf klärerischen Prämissen gelenkten Handeln (vernünftig, allgemeinverständlich, antiautoritär,
kommunitaristisch) erklärt Heideggers fehlendes Engagement für Demokratie und Menschenrechte. Noch in seinem Spiegelinterview sagt Heidegger: »Es ist für mich heute eine entscheidende Frage, wie dem heutigen
technischen Zeitalter überhaupt ein – und welches – politisches System
zugeordnet werden kann. Auf diese Frage weiß ich keine Antwort. Ich bin
nicht überzeugt, dass es die Demokratie ist.« (TS, 21)
Es ist daher, wie auch dieses Zitat nahelegt, der »späte« Heidegger, der
über die machtlose Mächtigkeit des Menschen raisonniert. Und man
könnte beinahe behaupten, Heidegger vertrete auf diese Weise und analog
zu Freuds Metapsychologie eine Theorie des politisch Unbewussten. Jede
Form der Seinsbestimmung durch den geschichtsmächtigen Menschen
oder durch die geschichtsmächtige Volksgemeinschaft15 entspräche dann
der Oberflächlichkeit des sich selbst wahrnehmenden nach Außen gerichteten Ichs, das auf einem unthematischen Urgrund verschiedener Begehren bzw. Seinsgeschicke in der Tiefe aufl iegt. Die Oberfläche mag ruhig
und geordnet sein, aber zu ihrem Wesen gehört die obszöne Unterseite des
Verborgenen, oder wie Heidegger vielleicht sagen würde: des Verschlossenen. Die Oberfläche der politischen Struktur ist nie je dem Menschen
ganz und gar in seinem Besitz: sie ist in ständiger Labilität durch das Nochnicht-Sein dessen, was die Faktizität der Oberfläche ausschließen musste,
um sich instanziieren zu können.
Der späte Heidegger ist, wie gesagt, reserviert gegenüber der Beurteilung des Einflusses des Menschen auf das Seinsgeschick. Diesem anonymen
und mysteriösen Seinsgeschick gegenüber definiert er den Menschen als
demütig Horchenden, als denjenigen, der der schicksalhaften Stimme des
Seins lauscht.
An verschiedenen Stellen in seinem Spätwerk behauptet Heidegger nun sogar,
dass selbst der Zweite Weltkrieg nur einem Oberflächenphänomen entspräche,
verglichen mit einer sich sehr viel bedrohlicher entwickelnden neuen »Heimatlosigkeit« der Menschheit. Letztere bildete sich aufgrund der Dominanz eines technisierten Weltbildes zu einem neuen »Weltschicksal«16 aus. In seinem Text »Zur
Seinsfrage« schreibt er: »Mit ihr [i.e. mit der global werdenden Technisierung von
Lebensverhältnissen, D. F.] verglichen, bleiben Weltkriege vordergründig. Sie
15
Heidegger spricht von einem »Miteinandersein als ein Zusammenvorkommen mehrerer Subjekte« (SuZ, S. 384)
16
Heidegger: Über den Humanismus, S. 30
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vermögen immer weniger zu entscheiden, je technischer sie sich rüsten.«17 Heidegger diagnostiziert diesen Umstand nahezu resignativ.
Performativ-widersprüchlich dagegen wirkt ein wenig sein eigener elegischer Schreibstil der Katastrophenwarnung. Es scheint, als sehe Heidegger doch zumindest die denkerische Möglichkeit einer elitären Minorität
– oder einer Volksgemeinschaft wie den Deutschen – sich im mentalen
Widerstand zu trainieren vor dieser zukünftigen, durch die Technisierung
der Alltagsverhältnisse geprägten Heimatlosigkeit. Die Zukunft sieht er
drohend im sowjetischen Sozialismus aber auch im neuen »Amerikanismus«18 sich allmählich verwirklichen. Wie dieser Bedrohung aber konkret
standhalten? Die Antwort fi ndet sich in Heideggers Einführung in die Metaphysik: »Der Bezug zum Sein aber ist das Lassen. Dass alles Wollen im
Lassen gründen soll, befremdet den Verstand.«19 Dieses »Lassen« bzw. dieser Verweis auf Gelassenheit grenzt sich von der heroischen Übernahme
der eigenen Geworfenheit des frühen Heidegger ab. Aber dieser Verweis
auf das »Lassen« meint nicht zwangsläufig resignativen Quietismus20. Gelassenheit ist für Heidegger die bewusste Beobachtung dessen, was »das
Sein schickt«, und sei dies z. B. die politische Eskalation.
Heideggers Rede von Gelassenheit und seine Zelebrierung denkerischer
Innerlichkeit sind das politische Gegenprogramm zum neukantischen Autonomieverständnis und Teil von Heideggers nichtgeschriebener und nur
angedeuteter praktischer Philosophie. Dies meint nicht eine an Shakespeares
Prospero abgeschaute Weltabgewandtheit des Philosophen. Heidegger will
eine Haltung, die so etwas wie dem »Seinsgeschick« gegenüber ein Sichöffnen und eine Offenheit lebt. Denn es ist »[d]as Sein als Geschick,« wie
Heidegger schreibt, »das Wahrheit schickt«21. Heideggers Rede von »Gelassenheit« steht für die Distanz gegenüber Gewalten im »Weltschicksal«,
die sich jeder rationalen Einflussnahme entziehen, aber Gelassenheit in
Innerlichkeit ist für ihn gleichzeitig die Geisteshaltung des Wartens auf
eine Wahrheit, die sich trotzdem offenbaren kann, und sei dies durch eine
17
Heidegger: Wegmarken, Vittorio Klostermann: Frankfurt a. M. 1996 (3. Aufl age)
S. 424 f.
18
Heidegger, Über den Humanismus, S. 33.
19
Heidegger: Einführung in die Metaphysik, Gesamtausgabe Bd. 40, Vittorio Klostermann: Frankfurt a. M. 1983, S. 23.
20
Heideggers Beiträge zur Philosophie. Vom Ereignis (1936–38) gilt als Werk, das das Thema der Gelassenheit bei Heidegger einführt gegenüber dem »Willen zum Ereignis«. Und
in seiner Einführung in die Metaphysik, einem Schlüsseltext der Übergangszeit vom Dezisionismus heroischer Geworfenheit zum hörenden Wesen menschlicher Existenz, schreibt
Heidegger: »Aber das Wesen der Ent-schlossenheit liegt in der Ent-borgenheit des menschlichen Daseins für die Lichtung des Seins und keineswegs in einer Kraftspeicherung des
›Agieren‹. [sic] [. . .] der Bezug zum Sein aber ist das Lassen. Daß alles Wollen im Lassen
gründen soll, befremdet den Verstand.« (Heidegger, Einführung in die Metaphysik, Gesamtausgabe Bd. 40, S. 23)
21
Heidegger: Über den Humanismus, S. 30.
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existentielle Zuspitzung wie sie eine ökologische Krise oder so ein ›Oberflächenphänomen‹ wie ein Weltkrieg offenbaren kann.
Was Heideggers Theorie der Gelassenheit promoviert, ist ein horchendes Warten auf das »Geschick des Seins«. Man kann es auch als das
aufmerksame Warten auf das Eintreten einer produktiven Katastrophe beschreiben. Denn das Sein »schickt seine Wahrheit«. Das Sein kann vom
Menschen vergessen werden, der Leidtragende dabei ist jedoch weniger
das Sein, sondern der Mensch selbst. Er wird Partikel einer technisierten,
naturalistischen Weltsicht und verausgabt sich autoaffiziert durch neue
technische Errungenschaften in der leeren Konstruktion immer neuer
Weltbilder. Aber die »Entbergungen« folgen, und sei es durch die Katastrophe, die der Gelassene vielleicht hat kommen sehen. Oder mit Hölderlin ins Positive gewendet: »Wo aber Gefahr ist, wächst das Rettende auch.«
Wenn Heidegger daher schließlich in seinem Spiegelinterview sagt »Uns
kann nur noch ein Gott retten«, dann sagt er damit vielleicht auch, dass
– wenn die Götter auftreten – die Stunde da ist, in der der Mensch vielleicht handeln kann. Erst wenn die Paradigmen oder Weltbilder wanken,
scheinen gestaltende Kraft und Verantwortlichkeit bzw. Gemeinschaftsgeschick Bedeutung zu haben. Zuvor aber ist die Welt der »Öffentlichkeit« und die Welt des »Man« blind gegenüber den eigentlichen Anforderungen des Tages. Gelassenheit ist politische Agenda, ist so etwas wie
politische Aktion.
Alain Badiou, ebenso wie Heidegger ein Kritiker (neu)kantischer Philosophietraditionen, teilt dessen Meinung zur Gelassenhalt als politischer
Haltung nicht. Ja, Badiou kritisiert sogar explizit »heideggerianische
Schicksalhaftigkeit« (GT, 25). Und dennoch artikuliert auch er eine Ethik
existentieller Zuspitzung als Bereich praktischer politischer Philosophie,
wie wir sie im vorhergehenden Abschnitt am Beispiel von Heideggers
Gelassenheits-Rede zu spezifizieren versucht haben. Bevor wir jedoch auf
die intellektuelle Verwandtschaft zwischen diesen zwei Ethiken existentieller Zuspitzung eingehen wollen, soll in einem ersten Schritt deutlich
werden, warum Badiou Heidegger kritisiert.
Er tut dies unter anderem in seinem Buch Gott ist tot: kurze Abhandlung über eine
Ontologie des Übergangs. Dort wirft er Heideggers Ausspruch, dass »allein ein Gott
uns retten kann« vor, für eine nostalgische Verklärung zu stehen, da »die Chancen
einer Wiederverzauberung der Welt in der Melancholie durch die unmögliche
Rückkehr der Götter anvisiert« (GT, 17) wird. In Heideggers Einführung in die
Metaphysik zeige sich das Motiv einer Verdunkelung der Welt auf der Erde durch
eine Liste »der wesentlichen Ereignisse des Verdüsterns«: die Flucht der Götter,
»die Zerstörung der Erde, die Vermassung des Menschen, der Vorrang des Mittelmäßigen«. (S. 25) Heideggers Uneigentlichkeit des »Man«, die Verlassenheit
des Daseins und seine Analyse der Angst gruppieren sich um das Leitmotiv der
Endlichkeit, die den melancholischen und teils nihilistischen Grundton seiner
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späten Schriften bestimmt. Fixierung auf Endlichkeit und die – wenn auch nur
anekdotenähnliche Erwartung der Rückkehr »des Gottes« – steht bei Badiou für
die »Ablösung des Gottes der Religion und des metaphysischen Gottes« (S. 28)
hin zum »Gott des Gedichtes«. (S. 18) Aber Badiou lehnt auch diesen dritten Gott
ab, wenn er die »dreifache Absetzung der Götter« (S. 21) bejaht: d. h. die Absetzung der religiösen, metaphysischen und dichterischen Götter.
»Da wir uns auf die dreifache Absetzung der Götter eingelassen haben, können
wir bereits sagen, wir, die Bewohner der unendlichen Dauer der Erde, daß alles
hier, immer hier ist und daß die Kraft des Gedankens in der egalitären Fadheit
liegt, die eine feste und erklärte Erfahrung dessen hat, was uns hier zukommt.
Hier ist der Ort des Werdens der Wahrheiten. Hier sind wir unendlich. Hier ist
uns nichts versprochen, als dem, was auf uns zukommt, treu zu sein.« (S. 21)
Badious Rede vom »Hier« als Ort des Ereignisses stellt gegen Heideggers »Verdüstern« und gegen Heideggers Entautonomisierung des Subjekts
im Begriff des Daseins eine »Erhellung«. Ereignisse bilden für Badiou den
Rand, den Saum für das »Hier«, in dem wir leben, aber in dem wir auch
unsere gegenwärtigen Situationen überschreiten. So schreibt Badiou explizit gegen Heideggers unverhohlenen Pessimismus, »dass die Zerstörung
der Erde auch ihre Herrichtung als für das aktive Denken gültige Schicklichkeit ist; derart dass die Hordenbildung auch der egalitäre Einbruch der
Massen auf die Bühne der Geschichte ist; derart dass das Vorherrschen des
Mittelmäßigen auch der Glanz und die Dichte dessen ist, was Mallarmé
die eingeschränkte Handlung nannte.« (S. 25)
Was sich in dieser Uminterpretation von Heideggerschen Motiven
schon abzeichnet, ist ein zentraler Aspekt von Badious Denken. Wenn
Heidegger eine Ethik der Gelassenheit als existentielle Zuspitzung hin zu
einer neuen Öffnung auf das Seinsgeschick eher aus der Position der Gelassenheit oder des Auf-sich-Zukommenlassens denkt, so denkt Badiou
die Krise als Bedingung neuer politischer Horizonte bzw. das »Hier« des
Ereignisses als transzendentaler Kollaps der Unterscheidung von Wirklichkeit und Möglichkeit, für den ein Subjekt gerade einstehen kann. Die
»Subjektivierung« (E, 23) dessen, was Heidegger »Seinsgeschick« nennt,
macht für Badiou den Menschen als politisch Handelnden aus, weil sich
genau in der Subjektivierung eines politischen Ereignisses der Mensch unvorhergesehenerweise fähig zeigt, den Saum für das »Hier« – in dem sein
Leben siedelt und dem »Man«, der Uneigentlichkeit und der Götterlosigkeit verschrieben ist – auf eine neue, durch die krisenreiche Zuspitzung
bedingte Situation hin zu überschreiten. Gelassenheit und vom Subjekt
erzeugter Kollaps der Trennung von Möglichkeit und Wirklichkeit scheinen Welten voneinander getrennt zu sein, und doch stehen beide Modelle
für eine bestimmte Ethik der Eskalation als Bedingung der Erweiterung
menschlichen Handelns in neue potentielle Welten.
Schon in seiner frühen Essaysammlung Ist Politik denkbar (2010, frz.
57 (2010)
Gegen die politische Philosophie?
333
1985) erkennt man daher sehr deutlich, dass Badiou – ebenso wie Heidegger – wenn auch in einem anderen Bereich, nämlich dem seiner SubjektPhilosophie, eine bestimmte Vorstellung der Kreativität produktiver Krisen bzw. das, was hier Ethik der Eskalation genannt wird, entwickelt.
Diese Produktivität existentieller Zuspitzung ist für Badiou das, was er
einen Exzess des Politischen nennt. Wird dieser Exzess domestiziert im
Glauben, z. B. unter die Geschichte des Marxismus einen »Schlussstrich«
(S. 36) ziehen zu können, dann ist gerade das eingetreten, was man nicht
wünschen kann: »dass heutzutage sehr wenig [. . .] Politik zirkuliert, und
dass sie sich ganz besonders an den Rändern der Inexistenz befindet [. . .].«
(S. 78)
Badiou verweist immer wieder auf den Marxismus, und es ist dabei nicht immer eindeutig, wie er den Begriff verstanden wissen möchte. Nicht selten hat man
den Eindruck, Marxismus werde von ihm abgelöst vom historischen leninistischen Marxismus und hauptsächlich als »Idee des Sieges [. . .] in der Versammlung«
der aus dem politischen Diskurs Ausgeschlossenen verstanden. Den Untergang
des Marxismus, den nicht nur Kritiker des Marxismus sondern »moderne Marxisten« nach Badiou selbst betreiben, (S. 64) sieht Badiou als eine Geste der Entpolitisierung, da es dem Marxismus – wie immer man auch dazu stehen mag – angeblich gelungen war »in der Geschichte die Unterdrückten« (S. 33) um die »Idee des
Sieges« zu versammeln. Und er schreibt: »Ich sage klarerweise nicht, dass man an
den Marxismus ›glauben‹ muss, um ihn zu kritisieren. Was mich anbelangt, so
glaube ich überhaupt nicht an den Marxismus. Ich stelle keine Glaubens- oder
Bündnishypothese auf. Der Marxismus ist in keiner Weise eine große Erzählung.
Der Marxismus ist die Konsistenz eines politischen Subjekts, einer heterogenen
politischen Fähigkeit. Er ist das Leben einer Hypothese.« (S. 63) Das Zitat verdeutlicht, wie Badiou hier im Gewand des Marxismus wandelt, um darin eine
bestimmte Geschichtsmächtigkeit des Subjekts, das auch ein Kollektiv sein kann,
denken zu wollen, und weniger die Wiederaufnahme eines marxistisch-leninistischen Weltbildes anstrebt.
Dabei klingt bei ihm eine ähnliche Demokratie-Skepsis an, wie sie dem
späten Heidegger eigen ist. Demokratie steht für ihn wesentlich für das
Prozedere »parlamentarischer Abläufe.« Dagegen ist »unbestreitbar, dass es
das Politische war, das sich im Herzen des Jahrhundert, in seinem sowjetischen Paradigma, als universeller Anspruch des Staates entfaltet hat.«
(S. 25) Worauf Badiou in seinem egalisierenden Vergleichen von Demokratie und Totalitarismus hinaus will, ist die Loskopplung des Politischen
von Begründungen, die von einem Begriff des »guten Lebens« ausgehen.
Die Etablierung von Recht legitimiert sich nicht durch das Maß, wie sehr
dieses Recht sich moralisch legitimiert in der Herausarbeitung von Gesellschaftsbedingungen, die das »gute Leben« befördern, sondern die Etablierung einer Moral erscheint nachträglich auf dem Feld der politischen Entscheidung für eine bestimmte politische »Hypothese.« (S. 26) Nicht einmal
die Alternative von »Despotismus« und »Freiheit« – so Badiou – ist auf der
334
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PhR
Ebene moralischer Abwägung anzusiedeln, sondern erscheint immer schon
im Bereich des Politischen. »Die Politik ist die bewegliche Gelegenheit
einer Hypothese. Ihr Prozess ist nicht von der Ordnung der Legitimation,
sondern von der Ordnung der Konsequenz.« (ebd.) Politik legitimiert sich
immer »aus der Fiktion ihrer Wahrheiten«. (S. 27) Und wahre politische
Beweglichkeit erweist sich erst dort, wo sie sich als »eine Unterbrechung
des Verhältnisses, als eine Entgleisung« (ebd.) erweist. »Das Politische ist
immer nur die Fiktion gewesen, in welche die Politik das Loch des Ereignisses schlägt.« (S. 18) Aus diesen Formulierungen lässt sich erkennen, was
das eigentliche Ziel Badious ist. Politik ist für ihn wesentlich ein Ort, in
dem die Fiktionen der Wahrheiten aufeinanderstoßen. Es ist nicht die
Arena der öffentlichen vernunftgeleiteten Diskussion im Kampf um das
bessere Argument. »Schlimmer als die Verkennung ist die Anerkennung«
(S. 23).
2. Chantal Mouffe und Carl Schmitt: Kritiker des Liberalismus
Die Motive einer Kantianismuskritik und einer Ethik der Krise bzw.
Ethik existentieller Zuspitzung spielen auch in den folgenden Ausführungen eine Rolle, diesmal in der politischen Philosophie einer zeitgenössischen Philosophin und kritischen Wegbegleiterin Alain Badious: Chantal
Mouffe. In vielen ihrer Publikationen setzt sie sich mit bestimmten Vertrags- und Gerechtigkeitstheorien auseinander und bezieht sich dabei wiederholt auf den Liberalismus-Kritiker Carl Schmitt. Dabei wird wiederum
eine ambivalente Koinzidenz zwischen Denkmustern der Gegenwart und
der Zeit des Interbellums deutlich.
Wir wollen Mouffes Ethik existentieller Zuspitzung des Politischen am Beispiel ihrer Kritik an der Gerechtigkeitstheorie des amerikanischen Philosophen
John Rawls herausarbeiten. Dabei nimmt sie nicht die gesamte Gerechtigkeitstheorie Rawls in die Kritik, sondern nur Rawls Liberalismus-Begriff. Rawls entwickelt den Begriff des politischen Liberalismus unter anderem von der Frage her,
wie eine friedliche Koexistenz von Menschen gewährleistet werden kann, wenn
diese Menschen ihr Leben bekannterweise nach sehr unterschiedlichen Konzeptionen des Guten ausrichten. Eine klassisch liberale und auch von Rawls kritisierte Position bestand in der Verlagerung von einer inhaltlich kulturellen Bestimmung des Guten hin zu einem inhaltlosen »modus procedendi«, der das Gute in ein
Verfahren um die Bestimmung von Inhalten verwandelt. Ein wertneutrales prozedurales Verfahren, das durch z. B. staatlich garantierte strukturelle Grundbedingungen des freien Meinungsaustausches geschützt wird, soll zu einer inhaltlichen Bestimmung des Guten führen. Rawls kritisiert dieses Verständnis als
ungenügend, da eine liberal-demokratische Gesellschaft Formen eines Konsenses
benötigt, die über einen simplen neutralen Verfahrensmodus hinausgehen. Der
Versuch der Bestimmung einer Kernmoral soll diesem Misstand gerecht werden.
Aber dabei stellt sich die Frage, wie vom politischen Liberalismus aus eine solche
Kernmoral hergeleitet werden könne. Rawls schreibt: »Wie kann eine stabile und
57 (2010)
Gegen die politische Philosophie?
335
gerechte Gesellschaft freier und gleicher Bürger, die durch vernünftige und
gleichwohl einander ausschließende religiöse, philosophische und moralische
Lehren einschneidend voneinander getrennt sind, dauerhaft bestehen«? 22 Rawls
Lösung dieser Frage impliziert, zwischen einem »einfachen« und einem »vernünftigen« Pluralismus23 zu unterscheiden. Diese Unterscheidung soll den moralischen
Charakter des Konsenses bezüglich der Gerechtigkeit sichern.
Es ist genau diese Charakterisierung des Moralischen als einem nahezu
vorpolitischen Bereich, die Mouffes Kritik auf sich zieht, die sie unter dem
Titel Das demokratische Prinzip (2008) vorgetragen hat. Was Rawls als »moralisch« klassifiziert, beruhe, so Mouffe, nicht auf einer mit dem Bereich
der Moral in metaphysischer Verbindung stehenden göttlichen Eingebung,
sondern auf einer politischen Entscheidung, die all diejenigen, die sich der
von Rawls bevorzugten Einteilung widersetzen, in einen Bereich jenseits
des Politischen stellt. Wir merken hier schon, dass Mouffe, ähnlich wie
Alain Badiou, den weitverbreiteten Meinungen zu Liberalismus und Demokratie skeptisch gegenübersteht.
Für Rawls sind vernünftige Personen solche, »die ihre beiden moralischen Vermögen in hinreichendem Grade entwickelt haben, um freie und
gleiche Bürger in einer konstitutionellen Ordnung zu sein und anhaltend
den Wunsch haben, faire Kooperationsbedingungen zu achten und ein
uneingeschränktes kooperatives Gesellschaftsmitglied zu sein.« (a.a.O.,
S. 128) Für Mouffe verbürgt sich hier eine letztlich zirkuläre und mit der
Macht der Definition assoziierte Geste, die besagt, dass nur wer vernünftigerweise die fundamentalen Grundsätze des Liberalismus akzeptiert, in
einer liberalen Gesellschaft leben darf. Mouffe lehnt diese Entscheidung
selbst nicht ab. Ja sie teilt sie sogar explizit. Sie kritisiert nur, dass Rawls
seine Einteilung mit den Begriffen »vernünftig« und »unvernünftig« etikettiert. Wenn Rawls behauptet, dass die Prinzipien, die dem Liberalismus
zuwider laufen, ausgeschlossen werden müssen, dann ist dieser Ausschluss
– so Mouffe – eine politische Entscheidung und kein moralisches Erfordernis. »Unvernünftig« sind ja nur diejenigen Menschen, die nicht die
Prämissen des Liberalismus teilen. Aber diese Unterscheidung leitet sich
nur von den zirkulären Prämissen des von Rawls favorisierten Liberalismus
ab, weil »antagonistische Legitimitätsprinzipien nicht innerhalb derselben
politischen Assoziation koexistieren können, ohne die politische Realität
des Staates in Frage zu stellen.« (DP, 40) Was Mouffe kritisiert, ist der
Kategorienfehler im Rawlschen Vokabular im Akt begriffl icher Grenzziehung. Sie will diese Grenzziehung allein – ohne Verweis auf einen Metarahmen des Moralischen – denken. »Rawls will das Problem vermeiden,
indem er seine Priorität des Rechts gegenüber dem Guten als moralische
22
23
John Rawls: Politischer Liberalismus, Suhrkamp: Frankfurt a. M. 2003, S. 14.
Chantal Mouffe: Das demokratische Paradox, Wien: Turia & Kant 2008, S. 39.
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Unterscheidung präsentiert. Aber dies löst nicht das Problem.« (ebd.) Rawls
dürfe die Annahme der Priorität des Rechts gegenüber dem Guten nicht
aus seiner Lehre ableiten, weil sie Teil der »Grammatik« derselben Lehre
ist. So bleibt Rawls in einem Zirkel seiner Theorie befangen: »politischer
Liberalismus könne einen Konsens zwischen vernünftigen Personen herbeiführen, die als Personen definiert werden, welche die Prinzipien des
politischen Liberalismus akzeptieren.« (S. 41) Rawls’ Theorie biete das Bild
einer Gesellschaft, in der Antagonismen und Gewalt verschwunden sind.
Doch, so Mouffe, »sie wurden nur mithilfe einer cleveren List unsichtbar gemacht: der Unterschied zwischen ›einfachem‹ und ›vernünftigem‹ Pluralismus.
Auf diese Weise können Ausschlüsse verleugnet werden, indem behauptet wird,
sie seien das Produkt des ›freien Gebrauchs praktischer Vernunft‹, der die Grenzen
jedes möglichen Konsenses absteckt.« (S. 45) »Hat der Liberalismus erst einmal
einen Rahmen errichtet, in dem die Dynamiken des Politischen nicht mehr gesehen werden können und die Institutionen und Diskurse fehlen, die es potentiellen Antagonismen ermöglichen würden, sich im agonistischen Modus zu manifestieren, besteht die Gefahr, dass anstelle eines Kampfes zwischen Gegnern ein
Krieg zwischen Feinden ausgetragen wird.« (S. 45 f.)
Was Mouffes Kritik an Rawls offenlegt, ist – ähnlich wie bei Badiou,
aber indirekt auch bei Heidegger – ihre Betonung der Unauflösbarkeit des
politischen Antagonismus’, dessen theoretische Durchdringung schon in
ihrem mit Ernesto Laclau verfassten Buch Hegemonie und radikale Demokratie. Zur Dekonstruktion des Marxismus (1985) eine Rolle gespielt hat. Mit
dem Verweis auf diesen Antagonismus will sie kantischen Traditionen
verschriebene Versöhnungstheorien entmachten. Der Verweis auf Moral
und Vernunft eliminiere in der Sehnsucht nach allgemeinem Konsens die
Spaltung zwischen Gerechtigkeit und Recht und genau dieser zwischen
den beiden Begriffen sich befindende Spalt sei eben nicht zu schließen,
sondern Bedingung der Demokratie. »Das Konzept des ›konstitutiven Außen‹ zwingt uns, mit der Idee zurande zu kommen, dass Pluralismus die
Permanenz von Konfl ikt und Antagonismus beinhaltet.« (DP, 47) Nach
Mouffes Meinung schützt gerade ihr Konzept der »radikalen Demokratie«
dieses demokratische Ideal, durch die theoretische Verweigerung einer
Schließung des Politischen. Man dürfe nicht vom Faktum pluraler Meinungen auf einer rein empirischen Ebene im politischen Bereich ausgehen, sondern müsse erkennen, dass die Differenz politischer Meinungen
auf symbolischer Ebene des Politischen liegt. Der klassische Liberalismus
denke Demokratie durch Prozeduren der Differenzbehandlung. (S. 35)
Pluralismus sei aber nicht als ein Faktum auf empirischer Basis zu interpretieren. Stattdessen solle er auf symbolischer Ebene gesehen werden.
Wenn Mouffe in diesem Zusammenhang vom »demokratischen Paradox« spricht, so meint sie damit eine repräsentative und konstitutionelle
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Demokratie, die sich immer mehr oder weniger als fi ktiv erweist und ihre
Fiktivität eingesteht. Der Pluralismus, den Mouffe zu vertreten vorgibt,
stellt also die Objektivität der Homogenität als regulativen Zielhorizont
der politischen Deliberation in Frage. Er stellt aber auch, wie Mouffe explizit betont, gleichzeitig einen extremen Pluralismus in Frage, der Heterogenität und Inkommensurabilität betonend gar keine Grenzen besitzt.
Mouffe will sich daher von zwei politischen Positionen rechts und links
zugleich abgrenzen. Ihr Verständnis radikaler Demokratie will sich einerseits grade nicht als ein extremer Pluralismus verstehen, weil ein solcher –
auf Heterogenität abzielender – Pluralismus ebenso wie der zuvor von ihr
als Differenz-verneinend charakterisierte liberale Pluralismus – die Dimension des Politischen verkennt. Warum? Weil der extreme Pluralismus
in seiner Weigerung ein »wir« zu konstituieren, der Illusion einer gegenseitigen Anerkennung von partikulären Wir-Gemeinschaften ohne Antagonismus anhängt. Der liberale Pluralismus wiederum glaube, Differenzen im Kampf der Argumente um das beste Argument zu überwinden.
Schon in Hegemonie und radikale Demokratie hatte Mouffe mit Ernesto Laclau
ihre Theorie entwickelt, dass jede soziale Objektivität durch Akte der Macht
konstituiert wird, d. h. dass jede soziale Objektivität politisch sei und sich durch
Ausschließungsakte defi niere. Jede Einnahme einer politischen Position führe zur
Konstituierung eines Außen. Es gibt keinen Ort im Bereich des Politischen, in
dem die Konstruktion einer sozialen Objektivität nicht durch eine Differenz erschaffen wird. Folglich gibt es keine soziale Objektivität, die nicht durch das, was
sie ausschließt »im Innern [ihrer selbst, D. F.] als dessen immer reale Möglichkeit«
(S. 36) bedroht wird. Identität ist durch dieses Verhältnis gänzlich kontingent 24.
Aus diesem Grund sieht Mouffe nun auch die eigentliche Gefahr für die Demokratie darin, genau dieses Moment von Gewalt im »innern« politischer Objektivität zu negieren im Verweis auf die »Rationalität«, der z. B. von einer bestimmten
Partei vertretenen politischen Position. Mouffe schreibt: »Tatsächlich kann es dazu
führen, dass Gewalt nicht erkannt wird und hinter den Aufrufen zur ›Rationalität
verborgen bleibt.« (ebd.) Jeweils wird die eigene politische Position im Verweis
auf die »Rationalität« legitimiert. Entscheidend ist jedoch nicht die Rationalität
der eigenen Erklärungskette, sondern die Prämisse im Hintergrund derselben. Die
Prämisse defi niert sich durch die Konstitution eines Außen. Sie ist nicht selbst ein
Hort politischer Neutralität, sondern strukturiert den politischen Raum in dem
einige Argumente als »rational« gelten und andere als verantwortungslos25.
24
Aus dieser guten Beschreibung eines nicht harmonisierbaren politischen Diskursraums zieht Mouffe jedoch die wenig überzeugende Konsequenz, dass Demokratie »nur
existieren kann, wenn kein sozialer Akteur den Anspruch erheben kann, das Fundament
der Gesellschaft zu meistern.« (Mouffe, Das demokratische Paradox, S. 37)
25
Mouffe glaubt nun diese gefährliche Konsequenz eines ihrer Meinung nach
»rationalistische[n] Ansatz[es]« dadurch entkräften zu können, in dem sie angeblich einer
»Logik des Sozialen« anhängt, in der »Sein« nicht mehr als »Präsenz« gedacht wird.
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Aber kann Mouffes Projekt überzeugen, wenn sie glaubt, dass der politische Kampf unter Abzug des »utopischen Projektes«, nämlich Harmonie
und Totalität im Bereich des Politischen zu etablieren, wirklich geführt
werden kann? Denn zumindest in ihrer Auseinandersetzung mit Rawls ist
das ihr philosophiepolitisches Ziel. Gerade deshalb jedoch stellt sich die
Frage, ob dies nicht eine wiederum allzu traditionell liberale Utopie ist,
der sie anhängt. Mouffe behauptet, wir müssten »die Vorstellung der vollständigen Reabsorption von Alterität in Einheit und Harmonie aufgeben.«
(S. 47) Die Frage ist aber, ob nicht die Absorption von Alterität und das
Ziel von Einheit und Harmonie der wesentliche Antrieb politischer Aktion im Feld des Politischen ist. Die Frage ist, ob Mouffe zwar deskriptiv
sehr treffend eine Theorie paradoxaler Demokratie entwirft, aber dort mit
ihrer Theorie »radikaler Demokratie« in einen performativen Selbstwiderspruch kommt, wo sie den von ihr betonten Antagonismus im Verweis auf
Politiker aufzuheben versucht, die den Raum des Politischen als einen
nicht totalisierbaren – weil durch einen konstitutiven Spalt bedingten –
erkennen sollen. Die Frage ist, ob dieser von Mouffe wesentlich gesehene
»nicht zu schließende Spalt« für den Bereich des Politischen – wie hier
gegen Mouffe behauptet werden soll – konstitutiv verdrängt werden muss,
damit überhaupt politisches Handeln möglich ist. Ist Demokratie nicht
auch immer wieder dem paradoxalen Umstand verpfl ichtet, dass der politischer Gegner gerade nicht diskursiv überzeugt werden kann und auf der
politischen Bühne nur als politischer Gegner sich instanziiert? Unterminiert Mouffe nicht gerade das Politische, indem sie den konstitutiven Spalt,
der Recht und Moral voneinander trennt, gerade nicht als einen verdrängungsnotwendigen Spalt denken will?
Dieser Frage wollen wir hier nicht weiter nachgehen. Vielmehr wollen
wir auf Mouffes Rezeption der Philosophie Carl Schmitts eingehen. Sie
macht noch einmal deutlich, inwiefern sie sich von bestimmten Grundannahmen des Liberalismus absetzt. Der Verweis auf Carl Schmitt ist auch
deshalb interessant, weil sich der Staatsrechtslehre der Weimarer Republik
lange vor Alain Badiou, Ernesto Laclau und Chantal Mouffe von einem
kantischen Liberalismus-Verständnis philosophiepolitischer Traditionen
abgesetzt hatte. Carl Schmitt artikuliert dabei seine fundamentale Kritik
an der parlamentarischen Demokratie in Auseinandersetzung mit dem der
Marburger Schule zugerechneten österreichischen Rechtspositivisten
Hans Kelsen.
Im Vorwort zur zweiten Ausgabe von seinem Werk Die geistesgeschichtliche Lage des heutigen Parlamentarismus schreibt Schmitt: »Jede wirkliche
Demokratie beruht darauf, dass nicht nur Gleiches gleich, sondern, mit
unvermeidlicher Konsequenz, das Nichtgleiche nicht gleich behandelt
wird. Zur Demokratie gehört also notwendig erstens Homogenität und
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Gegen die politische Philosophie?
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zweitens – nötigenfalls die Ausscheidung oder Vernichtung des Heterogenen.« 26
Schmitt behauptet gegenüber dem Liberalismus, dass es so etwas wie
eine allgemeine und abstrakte Gleichheit aller Menschen in einer Regierungsform nicht geben könne, da eine solche Gleichheit dem Politischen
selbst widerspräche. »Die Gleichheit aller Menschen als Menschen ist nicht
Demokratie sondern eine bestimmte Art des Liberalismus, nicht Staatsform, sondern individualistisch-humanitäre Moral und Weltanschauung.
Auf der unklaren Verbindung beider beruht die moderne Massendemokratie.« (ebd., S. 14) Die moderne Massendemokratie leide daher unter
einer Vermischung von Liberalismus und Demokratie ohne zu erkennen,
dass der Liberalismus evtl. eine humanitäre globale Moral vertreten wolle,
aber letztlich um den Preis der politischen Realisierbarkeit derselben dazu
gerade nicht fähig sei. Warum? Weil genau eine globale Moral allgemeiner Humanität nichts mehr mit Politik und mit dem Feld des Politischen
zu tun hat, sondern eher mit Metaphysik. Demokratie beruhe auf einem
Begriff der Homogenität, der nicht ablösbar ist von einer Freund-FeindDichotomie. Um als Gleiche behandelt zu werden, müssen Bürger, so
Schmitt, an einer gemeinsamen »Substanz« teilhaben. »Immer ist die
Gleichheit nur solange politisch interessant und wertvoll, als sie eine Substanz hat.« (DP, 51) Ein radikal verstandener Liberalismus negiert Demokratie, weil sein Gleichheitsverständnis sich dem Bereich des Politischen
entzieht.
Daher gäbe es unter dem Oberbegriff der Demokratie zwei sehr unterschiedliche Ausgestaltungen: die liberale, von Schmitt bekämpfte und die dem FreundFeind-Schema und dem Konzept der Homogenität verschriebene demokratische.
Letztere defi niere sich durch Ausschluss des Heterogenen, weil Demokratie nur
innerhalb partikulärer Gruppierungen existieren könne. Die liberale Demokratie-Idee, die von einer sehr viel weiteren, nämlich globalen Gleichheit unter
»allen Menschen« ausgeht, vertrete eine apolitische, ja eher mit der »politischen
Romantik« assoziierte falsche politische Abstraktionsform. Demokratie beruhe
auf der Unterscheidung zwischen denjenigen, die »zum Demos gehören« und
solchen, die außerhalb desselben stehen. Demokratie könne nur als auf Homogenität und damit auf dem Freund-Feind-Schema beruhende »politische« Demokratie existieren, nie aber – und nicht einmal auf der Ebene politikphilosophischer
Abstraktion – auf der Idee einer Allgemeinheit der ganzen Menschheit. Vor diesem Hintergrund ist die Bedeutung des Konzeptes des »Volks« für Schmitt von
grundlegender Bedeutung. »Volk« ist kein Teil einer Rassenterminologie, sondern beinhaltet das Motiv der Abgrenzung einer partikulären politischen Gemeinschaft hin auf ein »Wir«. Nur eine durch ein »Wir« auf Homogenität hin
ausgerichtete »politische« Demokratie kann für Schmitt überhaupt erst demokratische Gleichheit stiften. Globale Gleichheit kann dies nicht, weil sie sich über
26
Carl Schmitt: Die geistesgeschichtliche Lage des heutigen Parlamentarismus, Duncker &
Humblot: Berlin 1929, S. 13–14.
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den Bereich des Empirischen als einen wesentlich durch politische Wir-und-DieDifferenzierungen geprägten erhebt. Vertreter liberaler Demokratie höhlten daher gerade ihre eigene politische Wirkmächtigkeit aus, wenn sie von »Menschheit« als globale Fiktion und nicht vom »Volk« als partikulären politischen
Nukleus sprechen.
Was Mouffe an Schmitts Position fasziniert, ist, dass er noch vor dem
Auftauchen der differenz-philosophischen Terminologie in den 1980er
Jahren schon selbst eine Differenz-Theorie avant la lettre über den Raum
des Politischen entwickelt hat. Diese geht von einem nicht einmal auf
theoretisch-abstrakter Ebene harmonisierbaren Bereich des Politischen
aus. Schmitt denkt wesentlich aus dem Antagonismus von verschieden
»Wir«-Gruppen heraus. Dabei legt seine Theorie die traumatische Unmöglichkeit des Politischen auf globaler Ebene offen, den er, wie gesagt,
nicht einmal durch den Verweis auf eine abstrakte Gerechtigkeits- oder
Gleichheitsidee hin harmonisieren möchte. Gegen kantische Traditionen
politischer Philosophie, wie Rawls Theory of Justice, die den Blick weg vom
Empirischen und Kontingenten des Politischen lenken wollen und zwar
hin zur empiriefreien und vernünftigen Gerechtigkeitsprozedur, bleibt
Mouffe lieber auf der Seite der Freund-Feind-Differenz. Schmitts begriffliches Instrumentarium nimmt den traumatischen, nicht harmonisierenden
Kampf um den Bereich des »Wir« mit in den Raum des Politischen. Dieser
etabliere sich nicht im Verweis auf eine abstrakte Gleichheit der politischen
Teilnehmer, z. B. in einer idealen Kommunikationsgemeinschaft, sondern
er etabliert sich erst durch die inhärente Differenzstruktur, mit der sich
politische Partikulargruppen konstituieren.
Wie Schmitt sagt, im »Bereich des Politischen stehen sich die Menschen nicht
abstrakt als Menschen, sondern als politisch interessierte und politisch determinierte Menschen gegenüber [. . .].« 27 Selbst wo eine politische Scheingleichheit
evtl. umgesetzt wird – man denke an die frühere Sowjetunion oder die Europäische Union unserer Tage – d. h. selbst dort, wo man sich um eine politische
abstrakte Gleichheit unter Zurücksetzung traditioneller nationalstaatlicher Abgrenzungsrituale bemüht, trifft man auf neue Abgrenzungsmechanismen. Sie
verlagern sich z. B. »vom Poltischen ins Wirtschaftliche« (ebd., S. 18). Carl
Schmitt: »Die substanziellen Ungleichen [unter Volksgruppen oder anderen politischen Einheiten, D. F.] würden keineswegs aus der Welt und aus dem Staat verschwinden.« (ebd.) Während daher Rawls Gerechtigkeitstheorie einem liberalen
Demokratieverständnis verpfl ichtet ist, welches, wie Mouffe aufgewiesen hat,
den Ausschluss des Heterogenen theoretisch verdrängen muss (nämlich durch den
Verweis auf die »Unvernunft« der nicht mit dem Liberalismus Einverstandenen),
denkt Schmitt genau dies: dass Demokratie tatsächlich ein Moment der Schließung impliziert, nämlich der Schließung zwischen »uns« und »denen«. Mouffe
schreibt: »Indem [. . . Carl Schmitt] betont, dass die Identität einer demokratischen
politischen Gemeinschaft an der Möglichkeit hängt, eine Grenze zwischen ›uns‹
27
Schmitt: Die geistesgeschichtliche Lage des heutigen Parlamentarismus, S. 17
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und ›ihnen‹ zu ziehen, streicht Schmitt die Tatsache hervor, dass Demokratie
immer Verhältnisse von Inklusion-Exklusion zur Folge hat.« (DP, 55)
Mouffes Theorie paradoxaler Demokratie steht daher ähnlich wie Alain
Badious Theorie des Ereignisses für eine Ethik der politischen Zuspitzung. Ihr Bestreben besteht gerade darin, die Unmöglichkeit der Demokratie nicht theoretisch zu verleugnen durch die Bezugnahme auf neue
Abstraktionstheoreme wie die »ideale Kommunikationsgemeinschaft«
oder die »gerechte Gesellschaft.« Dennoch verfällt sie, wie oben schon
angedeutet, einer neuen Utopie, die Carl Schmitt gerade nicht teilt.
Fazit: Wesentlich ist diesen Theorien eine kritische Distanznahme zur
kantischen Tradition. Sie lehnen – in der Regel – Theorien abstrakter
Gleichheits- und Gerechtigkeitsmodelle ab und verweisen auf den unauflösbaren Antagonismus des politischen Feldes. In der traumatischen Unmöglichkeit einer homogenisierenden Ordnung des Politischen sehen sie
nicht das Scheitern der Politik, sondern ihre Bedingung zu neuen Gesellschaftsentwürfen.
Dominik Finkelde SJ
Hochschule für Philosophie München
Philosophische Fakultät SJ
Kaulbachstraße 31a
80539 München
Dominik.fi [email protected]
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