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FS Schaeffler 48401 / p. 1 /24.6.
Thomas M. Schmidt /
Siegfried Wiedenhofer (Hg.)
Religiöse Erfahrung
VERLAG KARL ALBER
A
FS Schaeffler 48401 / p. 2 /24.6.
Der Titel der Festschrift zum 80. Geburtstag von Richard Schaeffler
deutet an, was immer mehr zum Zentrum der religionsphilosophischen Arbeit von Richard Schaeffler geworden ist: das Problem der
religiösen Erfahrung. Unter diesem Titel soll in einem Gespräch mit
Richard Schaeffler die große Bedeutung seiner philosophischen Konzeption für Religionsphilosophie und Theologie gewürdigt werden.
Das geschieht zum einen durch einzelne Beiträge, die die religionsphilosophische Gesamtkonzeption oder einzelne Aspekte diskutieren. Das
geschieht zum anderen auch dadurch, dass der Jubilar selbst einen
wichtigen zusammenfassenden Beitrag zu seinem philosophischen
Ansatz sowie auch weiterführende Antworten auf einzelne Beiträge
beigesteuert hat. Unter Einschluss einer umfassenden Bibliographie
Richard Schaefflers soll der Band nicht nur dem Jubilar zu seinem
80. Geburtstag gratulieren, sondern auch zur weiteren Auseinandersetzung mit diesem sowohl für die Philosophie als auch für die Theologie zukunftsweisenden theoretischen Ansatz ermuntern.
Die Herausgeber:
Prof. em. Dr. Siegfried Wiedenhofer, geb. 1941, von 1981 bis 2007 Professor für Systematische Theologie an der J. W. Goethe-Universität
Frankfurt a. M.
Prof. Dr. Thomas M. Schmidt, geb. 1960, seit 2003 Professor für Religionsphilosophie am Fachbereich Katholische Theologie und kooptierter Professor am Institut für Philosophie der Johann Wolfgang GoetheUniversität Frankfurt, seit 2003 Direktor des Instituts für Religionsphilosophische Forschung (IRF).
FS Schaeffler 48401 / p. 3 /24.6.
Thomas M. Schmidt /
Siegfried Wiedenhofer (Hg.)
Religiöse
Erfahrung
Richard Schaefflers Beitrag
zu Religionsphilosophie
und Theologie
Verlag Karl Alber Freiburg / München
FS Schaeffler 48401 / p. 4 /24.6.
Originalausgabe
© VERLAG KARL ALBER
in der Verlag Herder GmbH, Freiburg im Breisgau 2010
Alle Rechte vorbehalten
www.verlag-alber.de
Satz: SatzWeise, Föhren
Druck und Bindung: Difo-Druck, Bamberg
Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier (säurefrei)
Printed on acid-free paper
Printed in Germany
ISBN 978-3-495-48401-2
FS Schaeffler 48401 / p. 5 /24.6.
FS Schaeffler 48401 / p. 6 /24.6.
FS Schaeffler 48401 / p. 7 /24.6.
Inhaltsverzeichnis
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
9
Richard Schaeffler: »Die Transzendentale Theologie ist der
höchste Punkt der Transzendentalphilosophie«
(Kant, opus postumum) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
11
Gunther Ludwig: Richard Schaefflers Theorie der religiösen
Erfahrung und der interreligiöse Dialog – Zwei Anmerkungen im
Kontext des Dialogs mit dem Hinduismus . . . . . . . . . . . .
25
Hansjürgen Verweyen: Um einen neuen Humanismus . . . . . .
45
William J. Hoye: Hermeneutische Überlegungen über die zwei
von Gott verfaßten Bücher . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
56
Oliver J. Wiertz: Richard Schaefflers Religionsphilosophie nach
der sprachanalytischen Wende . . . . . . . . . . . . . . . . .
85
Günter Kruck: Philosophische Einübung in die Theologie –
ein Oxymoron? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
108
Friedo Ricken: Lesen im Buch der Welt?
Zum Verhältnis von religiösem Glauben und Philosophie . . . . .
117
Vorwort
Bernd Irlenborn: Religiöse Erfahrung und postulatorischer
Vernunftglaube. Zum Konzept und zur Tragfähigkeit von Schaefflers
Erfahrungstheorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 123
Klaus Müller: Transzendentalität und Geschichtlichkeit.
Überlegungen im Anschluss an Richard Schaefflers
theologiesensiblen Vernunftbegriff . . . . . . . . . . . . . . . .
Tobias Trappe: Kleines Fragment über das Vertrauen
142
. . . . . . 161
7
FS Schaeffler 48401 / p. 8 /24.6.
Inhaltsverzeichnis
Bernhard Nitsche: Jüdische Dimensionen im Denken
Richard Schaefflers . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
178
Thomas M. Schmidt: Religiöses Bewusstsein und philosophischer
Gottesbegriff . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
197
Siegfried Wiedenhofer: Kirche als Kommunikations- und Überlieferungsgemeinschaft. Zur transzendentalen Rekonstruktion des
christlichen Kirchenverständnisses bei Richard Schaeffler . . . .
218
Jürg Wüst-Lückl: Impulse und Anregungen für eine Theologie
des Gebetes. Über die Bedeutung sprachphilosophischer
Betrachtungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
242
Richard Schaeffler: Danksagung und Versuche, das Gespräch
fortzusetzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
259
Richard Schaeffler, Schriftenverzeichnis
. . . . . . . . . . . . . 285
Autorenverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
8
310
FS Schaeffler 48401 / p. 9 /24.6.
Vorwort
Richard Schaeffler gehört längst zu den wichtigsten Religionsphilosophen im deutschsprachigen Raum. Das 1999 an der Goethe-Universität
Frankfurt am Main gegründete Institut für Religionsphilosophische
Forschung (IRF) war deshalb froh und stolz, Richard Schaeffler für seinen wissenschaftlichen Beirat gewinnen zu können. Diese Verbindung
ist in vielerlei Weise fruchtbar geworden: durch Gastvorlesungen, Tagungsvorträge und nicht zuletzt durch ein Symposium, das anlässlich
des 80. Geburtstages von Richard Schaeffler (20. 12. 2006) am 11.–12.
Mai 2007 stattgefunden hat und das sich unter dem Titel »Philosophische Einübung in die Theologie« dem Gespräch mit seinem philosophischen Ansatz und dessen Bedeutung für die Theologie widmete. Die
Vorträge dieses Symposiums werden nun, erweitert durch eine Reihe
weiterer Beiträge zu seinem Werk, als Festschrift zum 80. Geburtstag
von Richard Schaeffler vorgelegt. Als Festschrift kommt der Band
etwas verspätet. Aber dafür handelt es sich auch nicht um eine übliche
Festschrift, sondern um einen neuen Schritt im Gespräch mit der Religionsphilosophie Richard Schaefflers und der darin immer wieder neu
unternommenen philosophischen Einübung in die Theologie. Zu diesem Gespräch hat Schaeffler dankenswerterweise nicht nur selbst einen
wichtigen zusammenfassenden Beitrag zu seinem philosophischen Ansatz, sondern auch weiterführende Antworten auf einzelne Beiträge
beigesteuert. Unter Einschluss einer umfassenden Bibliographie Richard Schaefflers soll der Band nicht nur dem Jubilar zu seinem 80. Geburtstag gratulieren, sondern auch zur weiteren Auseinandersetzung
mit diesem sowohl für die Philosophie als auch für die Theologie zukunftsweisenden theoretischen Ansatz ermuntern. Ermöglicht wurde
die Veröffentlichung dieser philosophisch-theologischen Debatte mit
Richard Schaeffler durch die großzügige Förderung der NoMaNi-Stiftung zu Köln und durch die Unterstützung der Erzdiözese München,
der Diözese Limburg und der Diözese Mainz. Die Herausgeber sind
allen Förderern sehr verbunden und danken ihnen herzlich.
9
FS Schaeffler 48401 / p. 10 /24.6.
FS Schaeffler 48401 / p. 11 /24.6.
»Die Transzendentale Theologie ist der
hchste Punkt der Transzendentalphilosophie«
(Kant, opus postumum)
Vortrag Frankfurt a. M. 12. Mai 2007
Richard Schaeffler
Zum Thema:
Das einleitende Zitat aus Kants »Opus Postumum« 1 steht nicht
hier, um eine Kant-Exegese einzuleiten, sondern um ein über Kant
hinausgehendes Programm anzuzeigen. Dieser Programmstellung
liegt die These zugrunde: Der Terminus »Transzendentalphilosophie«
bezeichnet primär nicht eine bestimmte philosophische Position, sondern eine Fragestellung. In der Geschichte der Transzendentalphilosophie aber wurde nicht nur ein gleichbleibendes Problem auf je verschiedene Weise gelöst; vielmehr hat auch die Problemstellung selbst
sich historisch verändert.
Zur Begründung dieser These sei zunächst ein historischer Hinweis gegeben. Wir verbinden gewöhnlich den Ausdruck »Transzendentalphilosophie« mit dem Namen Immanuel Kant. Und in der Tat läßt
dieser Titel sich als kurze Charakterisierung der gesamten kantischen
Philosophie verstehen. Aber Kant selbst hat ausdrücklich auf die
»Transzendentalphilosophie der Alten« Bezug genommen, freilich so,
daß er deren wichtigste Sätze, »Omne ens est verum, bonum unum«
auf neue Weise »dolmetschen« wollte. 2 Diese Neu-Interpretation der
»Transzendentalphilosophie der Alten« schloß freilich eine radikale
Veränderung der Fragestellung ein. Die »Transzendentalphilosophie
der Alten« ist Ontologie gewesen und hat nach Prädikaten gesucht,
die von jedem Seienden ausgesagt werden können. Diese »Passiones
generales entis« hießen »Transzendentalien«, weil sie alle Differenzen
der Kategorien, durch die die Arten des Seienden bestimmt werden,
»transzendieren«, d. h. überschreiten und hinter sich lassen. Für die
1
2
Kant, Opus Postumum, 7. Konvolut, Blatt 5.
Kant, KdrV B § 12.
11
FS Schaeffler 48401 / p. 12 /24.6.
Richard Schaeffler
neue Transzendentalphilosophie Kants dagegen »muß […] der stolze
Name der Ontologie dem bescheidenen einer Analytik des reinen Verstandes Platz machen« 3 . Wenn man also Kant keine bloße Äquivokation im Gebrauch des Begriffs »Transzendentalphilosophie« unterstellen
will, muß man annehmen, daß es auch bei radikaler Veränderung der
Fragestellung etwas gibt, das erhalten bleibt und es rechtfertigt, für
recht unterschiedliche Weisen des Philosophierens den gleichen Namen »Transzendentalphilosophie« zu gebrauchen. Nur dann hat die
Transzendentalphilosophie eine Geschichte. Dann freilich kann man
weiterhin fragen, ob diese Geschichte mit der einen Wendung von der
»alten« zur kantischen Transzendentalphilosophie abgeschlossen ist. In
den folgenden Ausführungen wird die gegenteilige These vertreten
werden: Die transzendentale Frage hat auch weiterhin noch eine offene
Geschichte vor sich.
Dann aber ist auch für die jeweils neuen Phasen in dieser Geschichte immer neu zu bestimmen, worin der »höchste Punkt« einer
weiterentwickelten Transzendentalphilosophie besteht. Und wenn
trotz aller historischen Veränderung Kants Satz auch heute noch gelten
sollte, dann müßte auch die »Transzendentale Theologie«, die nach wie
vor diesen »höchsten Ort« einnehmen soll, bei jeweils veränderter
transzendentaler Fragestellung neu konzipiert werden.
Daraus folgt eine doppelte Problem-Perspektive: Wie muß eine
Transzendentalphilosophie aussehen, wenn verständlich werden soll,
daß die transzendentale Theologie ihr »höchster Punkt« ist? Und wie
muß eine transzendentale Theologie aussehen, wenn sie, auch bei veränderten Weisen, die transzendentale Frage zu stellen, immer wieder
den »höchsten Punkt« der Transzendentalphilosphie darstellen soll?
Eine Leitfrage der Transzendentalphilosophie
Man kann versuchen, das Bleibende, das die Geschichte der Transzendentalphilosophie zu einem kontinuierlichen Vorgang zusammenhält,
in einer identischen Leitfrage zu suchen, die freilich im Laufe der Geschichte eine je spezifische Gestalt gewinnt. Ein solcher Versuch wird
freilich zunächst sehr formal ausfallen. Eine solche Formulierung
könnte lauten: Gibt es schlechthin allgemein geltende und doch nicht
3
Kant, KdrV A 247.
12
FS Schaeffler 48401 / p. 13 /24.6.
»Transzendentale Theologie ist der hchste Punkt der Transzendentalphilosophie«
bloß formale Aussagen? In einer historisch bestimmten Gestalt lautet
sie dann: Gibt es »synthetische Sätze apriori«? Der Grund dafür, so zu
fragen, liegt in der Erfahrung: Die undurchschaute Vielfalt dessen, was
sich zeigt, verwirrt. Sie verhindert nicht nur das Wissen, sondern schon
das gezielte Fragen. Schon die vorsokratische Philosophie hat diese
Erfahrung auf die Formel gebracht: »Polymathia noun echein ou
didaskei.« 4
Wer diese Erfahrung gemacht hat, wird feststellen: Orientierung
in der Fülle des Gewußten oder auch bloß Vermeinten gibt es nur in
Zusammenhängen. Dabei verweisen partikuläre Zusammenhänge auf
je allgemeinere. Daraus entsteht die Frage: Gibt es einen schlechthin
allgemeinen Zusammenhang, in den wir alles Partikuläre einordnen
müssen, um uns zu orientieren? Schlechthin allgemeine und doch mit
Inhalt gefüllte Sätze werden gesucht, um diesen allumfassenden Zusammenhang zu beschreiben.
Die Transzendentalphilosophie der Alten
Die Transzendentalphilosophie der Antike und des Mittelalters beantwortete diese Frage auf folgende Weise: Sie suchte die schlechthin allgemeingültigen und doch nicht rein formalen Sätze in Aussagen über
»das Seiende« und seine »Passiones generales«.
Was will man wissen, wenn man so fragt? Man orientiert sich am
Aussagesatz »So ist es« und hofft, Kriterien zu finden, die es gestatten,
zwischen »So ist es« und »So scheint es nur« zu unterscheiden: Nur das
Wahre (nicht das Trügerische), das Gute (nicht das Verführende), das
Eine (nicht das Widersprüchliche) ist »seiend«. Aber auch das Umgekehrte gilt: Nur das Seiende, nicht das bloß Scheinende ist wahr, gut
und eins.
Wie kommt das Thema »Gott« in die so verstandene Transzendentalphilosophie? Der Übergang von der allgemeinen Ontologie zu
einer philosophischen Rede von Gott scheint durch eine weitere Erfahrung veranlaßt zu sein: Nicht nur die Vielfalt dessen, was sich zeigt,
steht der Orientierung im Wege, sondern auch und vor allem die Zweideutigkeit dessen, was »herumwogt zwischen Nichtsein und reinem
4
Heraklit B 40.
13
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Richard Schaeffler
Sein.« 5 »Sich-Orientieren« heißt dann: alles Erscheinende aus der Beziehung zum absolut (»rein«) Seienden begreifen. Nicht nur die Differenz will gesehen, auch die Beziehung will verstanden sein. Dann ist
ein »Gott« diejenige Wirklichkeit, auf die die transzendentalen Begriffe uneingeschränkt zutreffen. Nur er ist im vollen Sinne seiend und
deswegen auch uneingeschränkt wahr, gut und eins. Alles Welthafte
ist »seiend« nur »per participationem« sive »attributionem«. Die transzendentale Theologie ist nur dann der »höchste Punkt« der Transzendentalphilosophie, wenn sie zeigen kann: Auf welche Weise kann das
»reine Sein« allem welthaft Seienden sein abgeleitetes Sein und damit
sein abgeleitetes Wahrsein, Gutsein und Einssein »attribuieren«? Und
auf welche Weise kann das welthafte Seiende durch diese »Zuteilung«
(Attribution) seinen »Halt gewinnen«, an ihm »met-échein«?
Die Krise der »Transzendentalphilosophie der Alten« und
die Entstehung einer neuen Transzendentalphilosophie
Die »Transzendentalphilosophie der Alten« geriet in eine Krise durch
diejenigen Erfahrungen, aus denen die neuzeitliche Naturwissenschaft
hervorgegangen ist. Diese Erfahrungen machten deutlich: Die Welt,
die sich uns optisch erschließt, ist perspektivisch auf unseren Standort
bezogen und durch die Eigenart unserer Sinnesorgane bedingt. Diese
Erfahrung machte zwei methodische Folgerungen unausweichlich:
(1) Diese Perspektivität ist nicht zu vermeiden. Aber sie hört auf,
uns zu täuschen, wenn es uns gelingt, unseren Standort so zu bestimmen, daß wir den Eindruck, den wir empfangen, aus ihm herleiten
können. (2) Die Orte und Bahnen der Sterne so zu erkennen, »wie sie
wirklich sind«, bedeutet: mathematische Modelle konstruieren, in die
wir unsere Sinneseindrücke als »Meßdaten« eintragen, und in dem so
gewonnenen Modell auch unseren eigenen Standort bestimmen.
Aus diesen methodischen Einsichten war eine Folgerung zu ziehen: Was als »objektiv gültig« anerkannt werden kann, wird von uns
im Wechselspiel von Modell und Meßdatum erst hervorgebracht. Wir
kritisieren den subjektiven Eindruck durch den Versuch, ihn in Modelle
eintragen, die wir selbst konstruieren. Und wir kritisieren diese Model-
5
Platon, Politeia 479d.
14
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»Transzendentale Theologie ist der hchste Punkt der Transzendentalphilosophie«
le und »bauen sie um«, wenn diese Eintragung zunächst mißlingt. Ein
Beispiel dafür: Auf solche Weise kam die Astronomie vom Modell konzentrischer Kreisbahnen zum Modell der Ellipsen. Für die Transzendentalphilosophie aber folgt daraus: Die gesuchten schlechthin allgemeingültigen Sätze sind Anweisungen, durch dieses Wechselspiel
von konstruiertem Modell und eingetragenen Meßdaten die Welt der
Objekte erst aufzubauen.
Damit aber wird nicht nur auf eine alte Frage eine neue Antwort
gegeben, sondern die Frage selbst hat sich verändert: Aus der Frage
nach den allgemeinsten Prädikaten, die von jedem Seienden ausgesagt
werden können, ist die Frage nach den obersten Regeln der Gegenstands-Konstitution geworden. Die »neue Transzendentalphilosophie«
erweist sich so als philosophischer Nachvollzug der »kopernikanischen
Wendung«, die zunächst auf dem Felde der Astronomie vollzogen worden war. Darum ist die Wendung von der Transzendentalphilosophie
der Alten zur neuen Transzendentalphilosophie ebenso irreversibel wie
die Wendung von der ptolemäischen zur kopernikanischen Astronomie. Denn beiden Arten der »kopernikanischen Wende«, der astronomischen und der philosophischen, liegt die gleiche Entdeckung zugrunde: die Entdeckung, daß für die Weise, wie die Wirklichkeit sich
uns zeigt – und zwar unserem Verstand ebenso wie unseren Sinnen –
unsere subjektive Eigentätigkeit konstitutiv ist.
Fragen wir auch in diesem Falle: Was wollen wir wissen, wenn wir
in solcher Weise Transzendentalphilosophie treiben?, dann wird die
Antwort lauten müssen: Wir wollen verstehen, auf welche Weise das,
was wir selbst hervorgebracht haben, uns zugleich als Maß unserer
Selbstbeurteilung gegenübertritt.
Wie wird »Gott« zum Thema einer so verstandenen Transzendentalphilosophie? Auch hier liegt der Wendung zur theologischen Frage
eine Erfahrung zugrunde: Jede Leistung des Erkennens setzt ein klares
Erfassen seiner Aufgabe voraus. Die Zielvorstellungen von der Erfüllung dieser Aufgaben heißen »Ideen«. Diese Zielvorstellungen aber
haben eine dreifache Gestalt: Es gilt, die Vielfalt unserer Erkenntnisinhalte zur Einheit des Aktes »Ich denke« zu verknüpfen. Und es gilt,
die Vielfalt der Inhalte, die wir auf solche Weise erkennen, zur geordneten Ganzheit einer »Welt« zu verbinden. Dazu aber ist es drittens
nötig, die Fragen, die wir an die Erscheinungen stellen, auf die Gesamtheit aller Prädikate zu beziehen, die wir dem einzelnen Gegenstand
sodann bejahend oder verneinend zuschreiben. Damit tritt zu den bei15
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Richard Schaeffler
den Ideen des »Ich denke« und der »Welt« die dritte leitende Zielvorstellung hinzu: Die Aufgabe, einen Begriff von der Gesamtheit aller
positiven Prädikate zu entwickeln. Dieser aber ist der Begriff des »Ens
perfectissimum« oder der Gottesbegriff.
Der nchste Schritt zur Weiterentwicklung der transzendentalen
Frage: Die Dialektik der Vernunft und der bergang von der
Gottesidee zum Gottespostulat
Auch dieser Wendung liegen Erfahrungen zugrunde. Wir bemerken
zunächst: Sowohl die einzelnen Inhalte der wissenschaftlichen Empirie
als auch die einzelnen konkreten Pflichten wollen aus Zusammenhängen heraus verstanden sein. Aber der Gesamtzusammenhang aller verpflichtenden Handlungsziele, die »Welt der Zwecke«, ist von anderer
Art als der Gesamtzusammenhang aller Gegenstände wissenschaftlicher Empirie, die »Natur«. Zum Aufbau jeder dieser Welten sind spezifische Kategorien erforderlich (»Kategorien der Notwendigkeit« bzw.
»Kategorien der Freiheit«). Sodann aber bemerken wir, daß diese Welten untereinander interferieren: Was das sittliche Gebot uns aufträgt,
muß in eben jener Welt realisiert werden, die wir theoretisch erkennen. Die sittlich gebotenen »Zwecke« müssen so zugleich zu Teilen der
»Natur« werden können. Aber diese ist nach Regeln aufgebaut, die
weder für Freiheit noch für unbedingte Verpflichtung Raum lassen.
Daraus entsteht ein Widerspruch im Begriff der »Welt«; und in diesem
Widerspruch scheinen alle Ansprüche auf objektive Geltung sich aufzulösen.
Daraus entsteht eine neue Gestalt der transzendentalen Frage: Zur
Frage nach den obersten Regeln der Gegenstandskonstitution tritt die
Frage, wie die objektive Geltung der so konstituierten Gegenstände,
angesichts dieser Dialektik der Ideen, vor Selbstauflösung bewahrt
werden kann. (Bei Kant betrifft diese Frage insbesondere die objektive
Geltung der Pflichten, die den Inhalt unserer sittlichen Erfahrung bilden; sie treten einerseits uns erst gegenüber, wenn wir unsere subjektiven Handlungs-Antriebe unter die Bedingung des Kategorischen Imperativs gestellt haben, und sind uns doch so gegeben, daß wir an ihnen
auch unser sittliches Urteil kritisch messen.)
An früherer Stelle wurde gesagt: Die »kopernikanische Wendung«, die astronomische, aber auch die philosophische, kann nicht
16
FS Schaeffler 48401 / p. 17 /24.6.
»Transzendentale Theologie ist der hchste Punkt der Transzendentalphilosophie«
mehr rückgängig gemacht werden. Nun ist hinzuzufügen: Auch die
Entdeckung einer Mehrzahl strukturverschiedener »Welten« ist irreversibel. Darum führt auch kein Weg zurück hinter die Entdeckung der
Dialektik, die sich aus der Interferenz dieser Welten ergibt. Und die
Frage, wie diese Dialektik aufzulösen sei, bleibt auch jeder kommenden
Transzendentalphilosophie gestellt.
Was wollen wir wissen, wenn wir unter diesen Bedingungen Transzendentalphilosophie treiben? Wir wollen das Zutrauen sowohl in die
Vernunft als auch in die Erfahrung vor jenem Skeptizismus bewahren,
der aus der Entdeckung entstehen könnte, daß wir an den unabweislichen Aufgaben der Vernunft, deren abschließende Ziele sie sich selbst
in ihren Ideen vor das Auge stellt, ebenso unvermeidlich scheitern.
Wie wird »Gott« zum Thema der so verstandenen Transzendentalphilosophie? Weil in der Dialektik der Vernunft die Ideen der Welt
und des Ich widersprüchlich zu werden drohen, hört nun der Gottesbegriff auf, nur als dritte Idee neben diese beiden zu treten. Vielmehr
können die Ideen des Ich und der Welt nur dann vor Selbstauflösung
bewahrt werden, wenn sie im Lichte des Gottesbegriffs neu interpretiert werden. Dies geschieht durch eine Lehre von Vernunftpostulaten,
für deren Formulierung das hermeneutische »als« eine ausschlaggebende Rolle spielt: Die »Welt der Zwecke« (Pflichten) muß als Ensemble »göttlicher Gebote« interpretiert werden, und diese müssen als
Gebote des gleichen Gottes verstanden werden, der auch den »Lauf der
Natur« bestimmt. Daraus ergibt sich eine Folgerung, die Kant nicht
ausdrücklich gezogen hat: Die Einheit des Ich, dessen Vernunft sowohl
das Naturgesetz als auch das Sittengesetz bestimmt, muß darin gesucht
werden, daß beide Weisen der menschlichen Vernunftautonomie als
Erscheinungsgestalten der einen göttlichen Gesetzgebung verstanden
werden. So erweist sich die menschliche Autonomie als erscheinende
Theonomie.
Wird aber der »Gott der Transzendentalphilosophie« so verstanden, dann ist der Gottesbegriff nicht eine bloße Idee, die eine unabweisliche Aufgabe der Vernunft beschreibt, sondern ein existierendes Wesen, das die Erfüllung dieser Aufgaben möglich macht. Die Existenz
Gottes ist die Bedingung, die die regulative Kraft der Ideen davor bewahrt, in der Vernunftdialektik sich selber aufzulösen. Erst so verstanden wird die transzendentale Theologie wirklich »der höchste Punkt
der Transzendentalphilosophie«.
Und man wird hinzufügen dürfen: Wenn die einmal entdeckte
17
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Richard Schaeffler
Mehrzahl der Welten und die daraus resultierende Vernunftdialektik
nicht mehr vergessen werden kann, wird auch jede kommende transzendentale Theologie sich in Postulaten der Hoffnung aussprechen.
Deren Rechtfertigung besteht darin, daß sie allein diese Dialektik aufheben und die Fähigkeit des Menschen zu objektiv gültiger Erfahrung
vor Auflösung bewahren.
Eine notwendige Weiterentwicklung der Transzendentalphilosophie und ein neues Verstndnis des Gottespostulats
Anlässe einer solchen Weiterentwicklung
Anlässe, die Transzendentalphilosophie über ihren bei Kant erreichten
Stand hinaus weiterzuentwickeln, ergeben sich zunächst aus gewissen
Unzulänglichkeiten der Weise, wie Kant die Frage nach den Bedingungen der Gegenstandskonstitution beantwortet hat. Aber es wird sich
zeigen, daß bei der Suche nach neuen Antworten auch die Frage selbst
eine Veränderung erfährt.
(1) Das Verhältnis der Formen des Anschauens und Denkens zu
seinen Inhalten ist bei Kant unzulänglich bestimmt. Kant bestimmt
dieses Verhältnis als die Beziehung von formalen Regeln zu immer
neuen Beispielen ihrer Anwendung. Dabei bleibt unbeachtet, daß Inhalte unserer Erfahrung uns nötigen können, unsere Kategorien und
Ideen und sogar unsere Anschauungsformen zu verändern. Daraus
folgt: Die Lehre von der »Gegenstandskonstitution« (die Beschreibung
des Verfahrens, subjektive Eindrücke in Inhalte objektiv gültiger Erfahrung zu transformieren) muß aus einer Beschreibung unverändert
bleibender Formen unseres Anschauens und Denkens in eine Theorie
des Dialogs mit der Wirklichkeit weiterentwickelt werden, die zugleich
die Geschichte der Anschauungsformen, Begriffe und Ideen verständlich macht. Im Rahmen einer solchen Theorie des Dialogs mit der
Wirklichkeit werden auch die »Grundsätze des reinen Verstandes« eine
neue Gestalt gewinnen müssen.
(2) Kants Dialektik orientiert sich an einem Speziallfall: der
Strukturverschiedenheit und Interferenz von »Natur« und »Welt der
Zwecke«. Sie muß in dieser Hinsicht erweitert werden. Auch der Gesamtzusammenhang alles ästhetisch Begeisternden oder religiös Verehrungswürdigen stellt eine je eigene Welt dar, die durch spezifische
18
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»Transzendentale Theologie ist der hchste Punkt der Transzendentalphilosophie«
Formen der Anschauung, der Begriffe und Ideen aufgebaut wird. Auch
diese Welten interferieren und drohen, den Begriff des »objektiv Gültigen« zu einer Sache bloßer Perspektiven zu machen. Zur Auflösung
dieser Dialektik muß auch die Postulatenlehre neu formuliert werden.
(3) Kant hat das Verhältnis zwischen dem »empirischen Subjekt«
und der allgemeinen Menschenvernunft als unvermittelten Gegensatz
gesehen. Das empirische Subjekt ist die Quelle subjektiver Meinungen
und Handlungsantriebe. Nur die allgemeine Menschenvernunft ist die
Quelle objektiv gültiger Erkenntnisse und Handlungsanweisungen.
Diese Auffasung hat ihn daran gehindert, eine Aufgabe zu erfüllen,
die er selber gesehen, aber nicht gelöst hat: die Aufgabe, die »Geschichte der reinen Vernunft« zu beschreiben. Daraus folgt: Die Transzendentalphilosophie muß so weiterentwickelt werden, daß das Verhältnis
zwischen empirischem Subjekt und allgemeiner Menschenvernunft
durch eine dritte Größe vermittelt wird: die konkrete Kommunikations- und Interaktionsgemeinschaft. Der Dialog mit der Wirklichkeit
ist in den Dialog unter Menschen verwoben, die einander den Anspruch des Wirklichen weitergeben und sich gegenseitig dazu herausfordern, auf diesen Anspruch ihre je eigene Antwort zu geben. In diesem sozial vermittelten Dialog mit der Wirklichkeit »bilden« sich jene
Anschauungsformen, Begriffe und Ideen in immer neuer Gestalt,
durch die die Individuen zur Antwort auf den Anspruch des Seienden
und damit zur Erfahrung fähig werden. Darauf beruht die transzendentale Bedeutung der Sprache, auf die schon Hamann und Herder
hingewiesen haben.
Möglichkeiten einer Weiterentwicklung
Den drei soeben erwähnten Anlässen dafür, die Transzendentalphilosophie über jene Gestalt hinaus weiterzuentwickeln, in der Kant sie betrieben hat, entsprechen drei Möglichkeiten, eine solche Weiterentwicklung zustandezubringen.
(1) Wenn aus der transzendentalen Logik eine transzendentale
Theorie des Dialogs mit der Wirklichkeit werden soll, werden die
»Grundsätze des reinen Verstandes« zu Regeln werden müssen, die
diesem Dialog seine Kontinuität sichern. Diese notwendige Reformulierung betrifft vor allem den vierten Grundsatz, der bei Kant nur eine
Definition der Modalbegriffe (Möglichkeit, Wirklichkeit und Notwen19
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Richard Schaeffler
digkeit) enthält. 6 Im Rahmen einer Theorie des Dialogs mit der Wirklichkeit wird dieser Grundsatz lauten müssen: Keine Erfahrung ist von
solcher Art, daß sie kommende Erfahrungen überflüssig macht. Keine
Erfahrung ist von solcher Art, daß sie durch kommende ihre Bedeutung verliert. Oder positiv formuliert: Wir dürfen mit Bezug auf jede
einzelne Erfahrung dessen gewiß sein, daß sie uns spezifische Möglichkeiten aufschließt, neue Erfahrungen zu machen und alte neu zu verstehen.
(2) Wenn nicht nur die »Natur« und die »Welt der Zwecke«, trotz
ihrer unterschiedlichen Struktur, untereinander interferieren, sondern
auch die »Welten« der ästhetischen und der religiösen Erfahrung, und
wenn dadurch die regulativen Ideen aller Erfahrungswelten ihre Orientierungskraft zu verlieren drohen, dann werden die Postulate, die
Kant formuliert hat, in folgender Weise umgestaltet werden müssen:
Daß unsere Vernunft-Autonomie auf verschiedene Weisen ausgeübt
wird, die sich nicht in ein umfassendes System einordnen lassen, und
daß sie sich doch gegenseitig durchdringen, läßt die objektive Geltung
dessen, was die Vernunft zustandebringt, zweifelhaft erscheinen. Das
zeigt an, daß es sich bei dieser Selbstgesetzgebung der Vernunft um
eine bloße Erscheinung handelt. Daß wir dennoch in den Ergebnissen
unserer Vernunfttätigkeit jedesmal objektiv Gültigem begegnen, zeigt
an, daß es sich um wirkliche Erscheinungsgestalten einer göttlichen
Gesetzgebung handelt. Dann darf die Vielfalt der Weisen, wie das
Wirkliche uns in Anspruch nimmt und zum Aufbau je unterschiedlicher Erfahrungswelten herausfordert, als die Vielfalt von Erscheinungsgestalten der einen Weise verstanden werden, wie wir »in
omnitudine realitatis«, d. h. in allem, was ist, von einer göttlichen
Wirklichkeit in Anspruch genommen und zur Antwort herausgefordert werden. Und die Vielfalt der Subjektivitätsweisen, mit denen wir
uns als Forschersubjekte, als Subjekte der ästhetischen, sittlichen oder
religiösen Erfahrung verstehen und verhalten, darf als eine Vielfalt von
Erscheinungsgestalten der einen Weise verstanden werden, wie Gott
den Menschen weiß und unter seine Anrede stellt.
(3) Wenn die Geschichte der Vernunft und die damit verbundene
Veränderung unserer Anschauungsformen, Begriffe und Ideen nur
daraus verständlich gemacht werden kann, daß jener Dialog mit der
Wirklichkeit, der »Erfahrung« heißt, in den Dialog verwoben ist, den
6
KdrV A 218.
20
FS Schaeffler 48401 / p. 21 /24.6.
»Transzendentale Theologie ist der hchste Punkt der Transzendentalphilosophie«
konkrete Menschen in konkreten Dialoggemeinschaften führen, dann
findet die Geschichte der Vernunft auf drei Ebenen statt: Die erste Ebene ist die Biographie der Individuen, in der die Formen und Inhalte der
Erfahrung sich aneinander entwickeln. Die zweite Ebene ist die Geschichte konkreter Sprach- und Überlieferungsgemeinschaften, deren
Mitglieder die Zeugnisse ihrer Erfahrungen untereinander austauschen und sich gegenseitig zur Antwort auf den bezeugten Anspruch
des Wirklichen herausfordern. Dadurch entwickeln sie eine gemeinsame »Forma mentis«, deren deutlichster Ausdruck die Sprache und
ihre Geschichte ist. Durch das so »in-formierte« Denken und Anschauen werden die Mitglieder der Sprachgemeinschaft zu Erfahrungen fähig, die von Angehörigen anderer Sprachgemeinschaften nicht unmittelbar nachvollzogen werden können. Die dritte Ebene ist die
Begegnung von Individuen, die unterschiedlichen Sprachgemeinschaften angehören. Gerade hier aber treten spezifische Verstehens-Schwierigkeiten auf. Denn wenn der Bezug zur Erfahrung das Kriterium ist,
an der sich die objektive Geltung aller Aussagen bewähren muß, und
wenn die innerhalb einer Überlieferungsgemeinschaft erreichte gemeinsame »Formatio Mentis« die Bedingung ist, von der die Fähigkeit
zur Erfahrung abhängt, dann entsteht der Anschein: Es hängt von der
Zugehörigkeit zu solchen je besonderen Sprachgemeinschaften ab, was
für ihre Mitglieder als »objektiv gültige Erfahrung« gelten kann. Damit aber scheint der Begriff des objektiv Gültigen historisch relativ zu
werden. Und es ist ein neues Postulat nötig, um diese Gefahr des Relativismus zu überwinden: Jede der geschichtlich entstandenen Bewußtseinsformen und jede der ihnen entsprechenden Weisen, wie das Wirkliche dem Bewußtsein mit dem Anspruch auf Maßgeblichkeit
begegnet, darf als Anizipationsgestalt eines kommenden Orientierungssystems begriffen werden, das eine allumfassende Kommunikationsgemeinschaft möglich macht. In jeder Begegnung zwischen Mitgliedern unterschiedlicher Überlieferungsgemeinschaften wird diese
kommende universale Kommunikationsgemeinschaft auf antizipatorische Weise präsent.
Daraus folgt für das Verständnis der Geschichte: Wenn sich im
Verlauf unserer eigenen Biographie und in der Begegnung mit anderen
Menschen, die uns ihre Erfahrungen bezeugen, die Formen unseres
Anschauens und Denkens verändern, dann können wir zwar nicht vorhersehen, wie wir unsere bisherigen Erfahrungen im Lichte neuer Erfahrungen und Begegnungen künftig verstehen und beurteilen wer21
FS Schaeffler 48401 / p. 22 /24.6.
Richard Schaeffler
den. Aber wir dürfen die vorantreibende Kraft, die diese Erfahrungen
und Begegnungen auf unser Anschauen und Denken ausüben, als die
Erscheinungsgestalt einer Zuwendung Gottes verstehen, dessen »je
größere« Wahrheit in jeder neuen Weise, wie wir den Anspruch des
Wirklichen vernehmen und beantworten, auf antizipatorische Weise
präsent ist. Die Einheit dieses Gottes verleiht unserer ganz unvorhersehbaren Geschichte ihre Kontinuität und jeder Begegnung mit dem
Wirklichen ihre bleibende Maßgeblichkeit.
Eine neue Gestalt der transzendentalen Frage
Aus der Kritik an den Antworten, die Kant auf die Frage nach den Bedingungen der Gegenstandskonstitution gegeben hat, haben sich zunächst Vorschläge zur Weiterentwicklung dieser kantischen Antworten
ergeben: Vorschläge zur Neuformulierung der »Grundsätze des reinen
Verstandes« und der »Postulate der Vernunft«. Doch zeigt sich, daß
diese veränderten Antworten schon ein verändertes Verständnis der
transzendentalen Frage implizieren. Im Sinne Kants konnte gefragt
werden: Wie gewinnen jene Gegenstände, die wir selbst durch Verarbeitung unserer subjektiven Eindrücke hervorbringen, jenen Eigenstand, kraft dessen sie uns als Maßstäbe für eine kritische Selbstbeurteilung unserer theoretischen und praktischen Urteile gegenübertreten?
Wird aber die Lehre von der Gegenstandskonstitution zu einer Theorie
des Dialogs mit der Wirklichkeit weiterentwickelt, dann gewinnt diese
Frage folgende Gestalt: Auf welche Weise gewinnt das Wirkliche, das
uns nur vor Augen treten kann, wenn wir schon anschauen und denken, jene Eigen-Initiative zurück, die es zum Partner eines solchen Dialogs werden läßt? Und konkreter gefragt: Auf welche Weise kann das
Wirkliche in jenem Dialog, der »Erfahrung« heißt, seinen Anspruch
auf das »erste und letzte Wort« geltend machen: auf das »erste Wort«,
durch das es uns »zu denken gibt«, und auf das jeweils »letzte Wort«,
durch das es unsere Antworten als kritikbedürftig und zugleich als entfaltungsfähig erweist?
An dieser veränderten transzendentalen Frage sind auch alle Versuche zu messen, sie durch eine Neuformulierung der Grundsätze des
Verstandes und der Postulate der Vernunft zu beantworten.
Was wollen wir wissen, wenn wir uns auf dem hier angedeuteten
Wege – oder auch auf anderen, aussichtsreicher erscheinenden Wegen
22
FS Schaeffler 48401 / p. 23 /24.6.
»Transzendentale Theologie ist der hchste Punkt der Transzendentalphilosophie«
– um eine Weiterentwicklung der Transzendentalphilosophie bemühen? Wir wollen die Frage beantworten: Unter welcher Voraussetzung können wir der objektiven Geltung unserer Erkenntnisse auch
dann gewiß bleiben, wenn wir uns dessen bewußt geworden sind, daß
wir den Anspruch des Wirklichen stets in einer Weise vernehmen und
beantworten, die historisch bedingt ist und in veränderten Lebenssituationen anders verstanden und beurteilt werden wird?
Wie wird »Gott« zum Thema einer solchen weiterentwickelten
Transzendentalphilosophie? Auch für eine so weiterentwickelte Transzendentalphilosophie, und für sie sogar in besonderem Maße, ist die
transzendentale Theologie der »höchste Punkt«. Denn die so verstandene transzendentale Theologie benennt die Bedingung dafür, daß wir
uns den vielfältigen Ansprüchen, die das Wirkliche an uns richtet, auch
dann anvertrauen können, wenn wir bemerkt haben, daß die Weise,
wie wir diese Ansprüche vernehmen und beantworten, historisch bedingt ist.
Der »Gott der Transzendentalphilosophen« ist der Grund, der die
hoffnungsvolle Zuversicht rechtfertigt, daß in jeder Phase der Geschichte, in der die Formen und Inhalte unserer Erfahrung eine je neue
Gestalt gewinnen, die eine Wahrheit, die »stets größer« ist als die Weise, wie wir sie erfassen, eine neue Gestalt ihrer antizipatorischen Präsenz findet. Denn die »je größere Wahrheit Gottes« schließt jene Präsenz nicht aus, in der er uns je gegenwärtig zur Antwort ruft und
zugleich zu ihr ermächtigt. Darum behält auch unsere einmal gegebene
Antwort trotz aller Vorläufigkeit ihre bleibende Gültigkeit. Und die
vorantreibende Kraft, mit der der Anspruch des Wirklichen uns zu
denken gibt und zugleich immer wieder »zur Neuheit des Denkens
umgestaltet«, darf als die Erscheinungsgestalt dieser antizipatorischen
Präsenz Gottes verstanden werden.
Ein Ausblick: Für eine so weiterentwickelte Transzendentalphilosophie stellt sich auch die alte Frage neu, wie sich ein solches philosophisches Sprechen von Gott zu der Weise verhält, wie die Zeugen
religiöser Erfahrung (z. B. die »Offenbarungszeugen«) und die theologischen Interpreten solcher Erfahrungszeugnisse von Gott sprechen,
ob also der »Gott der Philosophen« der selbe Gott ist, von dem in Glaube und Theologie die Rede ist. 7 Nur wenn sich dies zeigen läßt, kann
7
Vgl. Schaeffler 2007.
23
FS Schaeffler 48401 / p. 24 /24.6.
Richard Schaeffler
eine solche Philosophie zugleich dazu beitragen, die Theologen in ein
Denken »einzuüben«, das ihrer spezifischen Aufgabe entspricht. 8
Literatur
Heraklit, Fragmente. In: Heraklit. 2. Überprüft. http://de.wikiquote.org/wiki/
Heraklit
Kant, Immanuel (1995): Opus postumum. 2. Hälfte, Convolut VII–XIII.: Abt. III /
BD 22 (III/9). In: Gesammelte Schriften. Akademieausgabe. Bd. 22 (Abt. 3,
Handschriftlicher Nachlass, Bd. 9). 2. Nachdr. d. Ausg. 1938. Berlin, New York:
Gruyter.
Kant, Immanuel (1970): Kritik der reinen Vernunft. In: Gesammelte Schriften,
Akademieausgabe. Bd. 3. Nachdr. d. 2. Aufl. 1787. Berlin, New York: Gruyter.
Platon, Politeia (2004) Politeia. In: Platon. Sämtliche Werke Bd. 2: Lysis, Symposion, Phaidon, Kleitophon, Politeia, Phaidros. Übers. v. Friedrich Schleiermacher.
Reinbeck: Rowohlt.
Schaeffler, Richard (2004): Philosophische Einübung in die Theologie. Bd. 1: Zur
Methode und zur theologischen Erkenntnislehre. Freiburg, München: Verlag
Karl Alber (Scientia & Religio I/1).
Schaeffler, Richard (2007): Philosophisch von Gott reden. Überlegungen zum Verhältnis einer Philosophischen Theologie zur christlichen Glaubensverkündigung. Freiburg, München: Alber (Scientia & Religio 5).
8
Vgl. Schaeffler 2004.
24
FS Schaeffler 48401 / p. 25 /24.6.
Richard Schaefflers Theorie der religisen
Erfahrung und der interreligise Dialog
Zwei Anmerkungen im Kontext des Dialogs mit dem
Hinduismus
Gunther Ludwig
Im vergangen Jahrhundert war Indien das Land, das die stärkste Faszination auf die Menschen des Westens ausübte, die sich außerhalb ihrer
eigenen Großtradition auf die Suche nach religiösen Erfahrungen gemacht haben. Christliche Mönche wie Bede Griffiths, die Beatles, Scharen von Anhänger Oshos in den 1980er Jahren – das Land erschien und
erscheint so mit Religion »imprägniert«, dass es immer wieder zur Begegnung mit seiner Religiosität herausfordert.
Auch heute noch gilt der indische Kontext im allgemeinen Verständnis als privilegierter Ort der Religionsbegegnung, und dieses Vorurteil ist auch für einen unter christlicher Perspektive betrachteten interreligiösen Dialog nicht ganz unrichtig. Allerdings muss man sich
auch die extreme Minderheitenrolle der indischen Christen vor Augen
führen, um nicht dem Irrglauben zu verfallen, das Land sei von Stätten
des Dialogs und der Begegnung übersät. Die theoretische Religionsneugier des Neohinduismus trug einerseits zu einem Klima bei, das
auch auf christlicher Seite interreligiöses Theologietreiben begünstigt
hat. Andererseits wird nach wie vor der Vorwurf erhoben, dass der
Dialog nur eine subtile Form der Mission sei, der neohinduistische Inklusivismus zeigt sich auf der theoretischen Ebene den Werbungsversuchen der westlichen Seite gegenüber im Allgemeinen relativ uninteressiert, und von hindunationalistischer Seite verschärfen sich die
Vorwürfe gegen das Auftreten der christlichen Kirchen. Immer wieder
kommt es zu Ausschreitungen gegen Christen.
Im folgenden sollen zwei Aspekte des interreligiösen Dialogs in
Indien im Lichte der Überlegungen Richard Schaefflers zur religiösen
Erfahrung und ihrer Maßgeblichkeit und zu den Dialogmöglichkeiten
zwischen religiösen Überlieferungsgemeinschaften und ihren Anhängern bedacht werden; die bewegende Geschichte eines religiösen »Vir25
FS Schaeffler 48401 / p. 26 /24.6.
Gunther Ludwig
tuosen« bildet dabei einen gewissen Kontrast zum mühsamen Geschäft
der alltäglichen und konfliktgeladenen Praxis auf dem religionspluralen Subkontinent.
Henri Le Saux, neben Bede Griffiths sicher der bekannteste unter
den christlichen Mönchen, die in den 1950er Jahren in der Begegnung
mit der hinduistischen Theologie, aber vor allem auch der hinduistischen Praxis und Frömmigkeit zu Initiatoren der christlichen AshramBewegung wurden, soll dabei Gegenstand einer ersten Anmerkung
zum »spirituellen« Dialog sein. 1 Wie die Rolle der Christinnen und
Christen mitten im Alltagsleben des heutigen Indien analysiert werden
muss und welche Konsequenzen für einen Dialog der Religionen auf
dem Subkontinent die christliche Seite daraus ziehen kann, soll in einer
zweiten Anmerkung skizziert werden. Dabei werden die Veröffentlichungen Felix Wilfreds, eines katholischen Theologen aus Madras,
als Anregung dienen.
Henri Le Saux – Swami Abishiktananda.
Christliche und advaitische religise Erfahrung
Der Benediktiner Henri Le Saux (1910–1973) gilt als einer der Pioniere des hinduistisch-christlichen Dialogs, als der eigentliche Begründer eines indisch-christlichen Mönchtums, das aus der Spiritualität Indiens lebt. Der Saccidānanda Ashram in Shantivanam ist nur das
sichtbare Zeichen für sein einflussreiches Leben und Werk. Jacques
Dupuis beschreibt in seiner Einleitung zu den theologischen Aufsätzen Le Saux’ dessen grundlegende Erfahrung als »gelebten advaita«
und zitiert einen Tagebucheintrag: »Die Erfahrung, die er davon gemacht hatte, kann er nicht verleugnen. Ohne Zweifel hinterfragt er
sie immer wieder. […] Wenn er […] in den ersten Jahren manchmal
deren Wahrheit in Frage stellt, wie es wiederum das Tagebuch beweist, wächst die Sicherheit darüber im Lauf der Jahre nur noch, um
sich schließlich in aller Klarheit auszudrücken, wenn er, nicht ohne
Es ist das Verdienst von Christian Hackbarth-Johnson, Bettina Bäumer und Ulrich
Winkler, entscheidende Passagen des Lebenswerks Le Saux 2005 in den »Salzburger
Theologischen Studien« vereinigt und in hervorragender Weise herausgeberisch betreut
zu haben. Die Texte stammen aus den Jahren 1952 bis 1973, dem Todesjahr Le Saux, und
ermöglichen einen faszinierenden Einblick in die Freuden, aber insbesondere auch in die
Mühsal, die mit einer radikalen interreligiösen Suchbewegung verbunden sind.
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