Störungen aus dem hyperkinetischen Formenkreis

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Störungen aus dem hyperkinetischen Formenkreis:
Psychoedukativ-diagnostische Erklärungsbilder für Laien
Hyperkinetic disorders:
Psychoeducational model for ordinary persons
Alessia Schinardi
Zürich
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Zusammenfassung
Dieser Artikel stellt zwei Grafiken vor, die dem Facharzt helfen sollen, das Problem der
Unaufmerksamkeit bei hyperkinetischen Störungen den Eltern, deren Kindern und Lehrkräften
zu veranschaulichen. Es handelt sich um Werkzeuge, die der Aufklärung und Psychoedukation
dienen sowie die ganze multimediale Behandlung erleichtern sollen. Da Störungen aus dem
hyperkinetischen Formenkreis den häufigsten Grund einer kinderpsychiatrischen Abklärung
darstellen, ist die Relevanz dieser Hilfsmittel im klinischen Alltag bedeutsam. Die langjährige
Erfahrung der Referentin mit Familien und Schulen ermutigt die Veröffentlichung dieser
Grafiken.
Summary
The paper describes two graphical models that helps medical specialists to explain to parents,
children as well as teachers the deficit of attention in hyperkinetic diseases. The model has been
envisaged as a tool to be used for the elucidation and psycho-education of those who needs it,
so that the “multimediale" treatment can be reduced. Diseases of the hyperkinetic spheres are
the main cause for children psychiatric consultations and make the model very useful in the
everyday practice. The long experience of the author with families and schools encouraged the
publication of this article.
Schlüsselwörter: Psychoedukation, ADHS, kognitive Verhaltenstherapie, Elternberatung,
Erklärungsmodell.
Keywords: psychoeducation, ADHS, cognitive behavioral therapy, parent counseling,
educational model.
Abkürzungen: ADS: Aufmerksamkeitsdefizit-Syndrom.
ADHS: Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitäts-Syndrom. HKS: hyperkinetische Störungen.
IQ: hier empirischer, nicht objektiver, Begriff für kognitive Fertigkeiten. EF: exekutive
Funktionen.
Korrespondenzadresse
Dr. med. Alessia Schinardi
FMH Psychiatrie & Psychotherapie
FMH Kinder- und Jugendpsychiatrie
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Seefeldstrasse 162 / CH-8008 Zürich
T 044 380 13 64 / Fax 044 380 13 66
[email protected]
www.praxis-alessia-schinardi.ch
www.autismus-approach.ch
Danksagung
Ich danke Herrn Prof. Dr. med. Jiri Modestin für die erste Redaktion des Artikels und das
ganze Team des Autismus Approach für die nächsten.
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Einleitung
Hyperkinetische Störungen (HKS) sind durch ein durchgehendes Muster von Unaufmerksamkeit, Überaktivität und Impulsivität gekennzeichnet, das in einem für den Entwicklungsstand des Betroffenen abnormen Ausmass situationsübergreifend auftritt.
Gemäss DSM 5 sollte die Störung in mindestens zwei Lebensbereichen/Situationen (z. B. in
der Schule, in der Familie, in der Untersuchungssituation), auch wenn nicht zur gleichen Zeit,
konstant auftreten(1) (Dalsgaard 2013).
Störungen aus dem hyperkinetischen Formenkreis sind die am häufigsten diagnostizierten
kinderpsychiatrischen Störungen überhaupt. Gemäss zahlreichen Studien sind etwa 5 % aller
Kinder und Jugendlichen mehr oder weniger betroffen, praktisch ein Kind in jeder Klasse im
obligatorischen Schulalter.
Lern- und Leistungsstörungen sind die weitaus häufigsten Nebendiagnosen für ADHS, die
Komorbidität mit anderen Störungen ist sehr hoch, in der Erfahrung der Autorin vor allem mit
Störungen des Sozialverhaltens. Auf jedem Fall ist das soziale Umfeld: Familie, Kindergarten
und Schule, Freizeit in verschiedenen Ausprägungen entsprechend mitbetroffen.
Bereits im Kindergartenalter treten die Symptome auf und in der Regel wachsen sie über das
gesamte Kindesalter hinweg bis ins Jugendalter. Zahlreiche Studien haben gezeigt, dass sich
die Störung mit zunehmendem Alter nicht ganz ausreift, sondern sich „adultisiert“, sie nimmt
eine Erwachsenenform an. Entsprechend dem Schweregrad kommt es zu erheblichen
Einschränkungen in der psychosozialen Anpassung und der Lebensqualität des ganzen
Familiensystems. Parallel wächst der Leidensdruck bei den Betroffenen und ihren
Bezugspersonen(2) (Döpfner 2012). Die Behandlung hat kein Ende.
Heutzutage gilt die multimodale Therapie von Kindern und Jugendlichen mit ADHS als
Standard (s. Tab 1). Je nach Ausprägung subsummieren sich die verschiedenen Interventionsmöglichkeiten. In der Praxis sucht man massgeschneiderte Interventionen, die zu
jedem System passen. Bei Patienten mit milderen Formen sind niederschwellige Interventionen, wie angeleitete Selbsthilfe oder Psychoedukation, indiziert und ausreichend(3) (Furman
2012).
Der Begriff der Psychoedukation wird definiert als eine systemische, didaktischpsychotherapeutisch aufarbeitende Massnahme, die dazu geeignet ist, Patienten und deren
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Angehörige (Zielpersonen) über ihre Erkrankung und mögliche Behandlungsformen zu
informieren(4) (Schneider und Margraf 2009). Es geht um eine Behandlungskomponente in
einem übergeordneten Interventionskonzept. Der erste und unabdingbare Schritt der
mutimodalen Therapie ist eben die Psychoedukation. Psychoedukation ist wegen der
wachsenden Zahl von Patienten mit chronischen Erkrankungen ein wichtiges Thema für
Psychotherapeuten und Ärzte.
Psychoedukation ist in jedem Fall die Grundlage für intensivere Interventionen und für
Pharmakotherapie bei stärkeren Symptomausprägungen (s. Bild 1). Die Effekte der Psychoedukation basierten Interventionen erscheinen weniger erfolgversprechend als die Effekte
einer Pharmakotherapie. Insbesondere Eltern-Training und schulzentrierte Interventionen
zeigen deutlichere Wirkungen als die Psychoedukation alleine.
Psychoedukation betrifft die Aufklärung über die Diagnose und Behandlungsprinzipien,
Vermittlung von störungsbezogenen Informationen (z. B. Störungsmodell), Vermittlung von
therapeutenrelevanten Informationen (z. B. Therapieverfahren, Wirkmechanismen, Chancen
und Risiken), Vermittlung von kompensatorischen Kompetenzen bei spezifischen Defiziten (z.
B. soziale Kompetenzen), Unterstützung des Patienten und dessen System bei der Entwicklung
allgemeiner Selbstmanagement- und Bewältigungskompetenzen. Im Grunde genommen
vermittelt die Psychoedukation Kenntnisse und Fertigkeiten für einen gesundheitsfördernden
Lebensstil(5) (Jensen 2010).
Das Verständnis für die eigene Erkrankung ist die Grundvoraussetzung für den selbstverantwortlichen Umgang mit dieser und für eine erfolgreiche Bewältigung und Förderung
der Selbstbestimmung. Psychoedukative Ansätze stellen sich zwischen das alte
paternalistische Modell, bei dem der Arzt die Entscheidungen vorgibt, und das informative
moderne Modell, in dem der Patient die Entscheidungen allein auf Basis der ihm zur Verfügung stehenden bzw. gelieferten Informationen fällen muss(6) (Rabovsky 2012).
Auch bei ADHS ist die Psychoedukation Grundlage jeder therapeutischen Intervention. Dabei
werden Informationen über das Störungsbild, die Diagnose, die möglichen Ursachen, den
vermutlichen Verlauf und die möglichen Behandlungsansätze gegeben. Die Beratung der Eltern
bezieht sich auf allgemeine Strategien des Umgangs mit dem Kind und berücksichtigt dabei
auch andere Belastungen in der Familie (z.B. Geschwisterrivalität). Die Interventionen in der
Familie und in der Schule basieren auf dem Aufbau positiver Erzieher-/Lehrer-/Eltern-KindInteraktionen, die Strukturierung des Alltags durch klare Regeln und Anweisungen, die
Anwendung positiver Verstärkung, um umschriebene Verhaltensprobleme zu verhindern, den
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geplanten Einsatz von negativen Konsequenzen, wenn positive Verstärkung nicht hinreichend
erfolgreich ist(7,8) (Frölich 2013, Hautmann 2009).
Als Beispiele für psychotherapeutische Verfahren bei ADHS werden das Präventionsprogramm
für expansives Problemverhalten (PEP), das Therapieprogramm für Kinder mit
hyperkinetischem und oppositionellem Verhalten (THOP) und das Therapieprogramm für
Jugendliche mit Selbstwert-/Leistungs- und Beziehungsstörungen (SELBST), das Opti Mind
Konzept und die 5-Finger-Regel Methode(9,10, 11, 12, 13) (Mumbach 2005, Barkley 2006, Walter
2007, Hautmann 2008, Hanisch 2010) erwähnt als einige der meistbekannten im
deutschsprachigen Raum. Alle diese Verfahren betonen wie wichtig es ist, den jungen Patienten
Wissen so weiterzugeben, dass sie es verstehen und die Handlungsweise im Alltag umsetzen
können.
So betrachtet sollte die Psychoedukation wirkliche Präventionsvalenz erhalten, ein Mittel der
Hilfe zur Selbsthilfe werden. Durch die Psychoedukation kann man die aktuelle shared
decision making Struktur der Kommunikation zwischen Familie und Therapeut in die Tat
umsetzen(14) (Rösler 2010).
Bevor die Eltern in den Dschungel der Interventionsangebote tauchen, entsteht ein sehr
delikater Moment, in dem alles anfängt: die Abklärung. Je nachdem wie die Diagnose vermittelt wird, werden die Erzieher sich dem Angebot der multimodalen Therapie anschliessen (s.
Bild 2).
1845 beschrieb der Frankfurter Arzt Heinrich Hoffmann im Buch „Struwwelpeter“ einige
typische ADHS-Verhaltensweisen (Zappelphilipp, Hans-Guck-in-die-Luft und eben
Struwwelpeter). Hoffmann betrachtete diese jedoch als Erziehungsprobleme und nicht als
psychische Störung. Im ICD 8 wurde das Syndrom 1974, im DSM III 1980 beschrieben(2)
(Döpfner 2012).
Bei Aufmerksamkeitsstörungen handelt es sich um dimensionale Diagnosen mit einer grossen
Vielfalt an klinischen Bildern. „Hans-Guck-in-die-Luft“ der Tagträumer, „Zappelphilipp“ der
Hyperaktive und „Struwwelpeter“ der Impulsive verkörpern diese Verhaltensmuster in der
deutschsprachigen Kultur(15) (Bonney 2012). In der Praxis sind alle klinischen Varianten zu
sehen. Die klinischen Befunde überschneiden sich mit einigen kulturell sehr integrierten
stereotypen „lebhaften“ Kindern, was z. B. in der Erfahrung der Referentin dazu führt, dass
einige Lehrpersonen während des diagnostischen Interviews sagen: „Na ja, aber das Kind, von
dem sie reden, ist nicht das am meisten betroffene, ich würde Ihnen lieber ein paar andere
schicken!“(16, 17) (Neuhaus 2010, Wolfdieter 2011).
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Es ist kein Zufall, dass in Italien das Methylphenidat für hyperkinetische Störungen erst im Mai
2007 zugelassen wurde. Wer könnte sich vorstellen, dass italienische Kinder ruhiger sind als
deutschsprachige? In Italien sind die entsprechenden Figuren von Struwwelpeter und
Zappelphilipp (Pierino Porcospino e Gianburrasca) nicht so berühmt wie z. B. Pinocchio. HansGuck-in-die-Luft (Giannino guard’in aria) hat gar nie Erfolg gehabt!
Ist Pinocchio nicht ein wenig Zappelphilipp, Struwwelpeter und auch Hans-Guck-in-die-Luft in
einer Person? Ja, die Antwort liegt auf der Hand: Erstens die Grenze der sozial angemessenen
Hyperaktivität ist in Italien weiter oben angesetzt. Zweitens ist die Redewendung: “Italiener:
popolo di sognatori“, wie jeder Kultur-Stereotyp, ein kleines Bisschen doch fundiert!
Obwohl die Therapie der Wahl, das Medikament Methylphenidat, seit bald 60 Jahren auf dem
Markt ist, sind viele Fragen über die Störung selbst noch offen, wie z. B. die Ätiologie: Weder
störungsübergreifende genetische Anlagen noch vermeintlich psychische Wechselwirkungen
sind nämlich von den gegenwärtig vorliegenden klinischen Befunden eindeutig abzuleiten(18,
19)
. (Steinhausen 2010, DeGrandpre 2002).
Heute geht man davon aus, dass das Aufmerksamkeitsdefizit, die Hyperaktivität und die
Impulsivität durch eine Dysregulation des Dopamin-Stoffwechsels entstehen. Diese Dysregulation hat sowohl mittelfristige Auswirkungen für die willentliche Selbststeuerung (sog.
exekutive Funktionen) als auch unmittelbar auf die motorischen Funktionen. Dabei wird diese
Dysregulation primär genetisch vererbt und nur sekundär durch Umwelteinflüsse auf die
Entwicklung sowie durch momentane, von der augenblicklichen Situation abhängige, Reize
mitbeeinflusst(20) (Barkley 2012).
Wie beim Phänomen der Visusverminderung so wird häufig auch das Aufmerksamkeitsdefizit
zuerst von den Lehrerinnen bemerkt. Die Lehrerinnen sind oft die ersten, die die Symptome
der hyperkinetischen Kinder erleben. Die „Bühne“, auf der sich die hyperkinetischen Störungen
am ausgeprägtesten zeigen, ist die Schule (eine strukturierte Gruppe) und die Lehrerinnen
haben dafür ein „klinisches Auge“ entwickelt.
Aus verschiedenen Gründen und auch „per definitionem“ sind die Symptome zuhause (d. h.
ausserhalb einer Gruppe) oft weniger akzentuiert als in der Schule (reizärmere Umgebung,
mehr Freiraum und weniger Regeln, das Kind geht seinen Lieblingsbeschäftigungen nach,
weniger Struktur, ein Elternteil ist immer da und kann das Verhalten regulieren)(21) ( Born
2010).
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Die Lehrerinnen befinden sich in der Mitte des Systems zwischen den Ärzten und den Eltern.
Sie sind diejenigen, die viel Zeit am Tag mit dem Kind in einer Gruppensituation verbringen.
Wichtig ist dabei, die Lehrerinnen als mögliche Zuweiserinnen noch besser über diese Störung
zu schulen und dadurch ihren Blick zu schärfen(3) (Furman 2012).
Als einzig Berechtigte für die Diagnosestellung sollten Fachärzte auch die Aufgabe
übernehmen, die Diagnose den Eltern mitzuteilen. Für die Lehrerinnen ist die Diagnosemitteilung eher eine Bestätigung(22) (Petermann 2008).
Nach Barkley ist ADHS eine neurodevelopmental disorder, die er als executive function deficit
disorder, EFDD, bezeichnet.
Was sind eigentlich die exekutiven Funktionen? Es gibt mindestens 33 Definitionen für diesen
Begriff. Zu den exekutiven Funktionen gehören nach Barkleys Modell verschiedene Ebenen:
Niveau I: strumentelles Niveau der selbst-gesteuerten Fertigkeiten (self-directed abilities).
Niveau II betrifft selbstbezogene Fertigkeiten: “methodical-selbst-reliant abilities”.
Niveau III strategische zwischenmenschliche Skills: “tactical-reciprocal abilities”.
Niveau IV strategisch zusammenwirkende Skills: „strategisch-cooperative abilities“ integriert
alle vorherigen Niveaus zusammen.
Defizite auf dieser vierten Ebene sind bei ADHS besonders verantwortlich für die temporal
neglect Syndrome, „Myopia to the future“(20) (Barkley 2012)..Nach diesem Modell sind die
Levels übergreifend und repräsentieren ein Kontinuum in Bezug auf den Schweregrad.
Defizit der Selbstregulation, besonders in Bezug auf: Inhibition und „interference control“,
Selbst- und Zeitmanagement, Selbstorganisation, „Problem solving“, emotionale
Selbstregulation und Selbstmotivation sind die Folgen.
Diese Schwierigkeiten entsprechen Problemen der Performance, nicht der Skills, der Abilities
per se. ADHS ist eine „lifelong condition with child onset”, was auch im Sinne des DSM 5 ist(1)
(Dalsgaard 2013).
Methode
In der Bevölkerung gibt es ein breites Spektrum von hyperkinetischen Störungen mit einem
mehr oder weniger ausgeprägten Erscheinungsbild(23) (Bunsting –Müller 2007). Ich beziehe
mich hier aus didaktischen Gründen nur auf das Aufmerksamkeitsdefizit, dessen Auswirkung
ich nun darlegen möchte. Aus praktischen Gründen werden abwechslungsweise die Adjektive
unaufmerksam und hyperkinetisch als Synonym verwenden.
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Bei allen Varianten und jedem Schweregrad des ADHS: den hyperkinetischen, den träumerischen und den gemischten Formen, ist die Psychoedukation unabdingbar.
Durch die Grafiken, die ich 2007 entworfen habe, werden zwei Aspekte des Aufmerksamkeitsdefizits dargestellt, die Kernphänomene der Aufmerksamkeitsbeeinträchtigung sind:
 die eingeschränkte Filterfunktion und
 die Unterbrechung (Blackout, Standby) des Aufmerksamkeitsflusses.
Die Graphiken erleichtern den beruflichen Alltag und leuchten den Erziehern ein. Dies hat die
Autorin ermutigt, die Erklärungsbilder publizieren zu lassen.
In beiden Grafiken (1. Informationsverarbeitung bei normalen Kindern und Grafik 2.
Informationsverarbeitung bei Kindern mit Aufmerksamkeitsdefizit) ist schematisch
dargestellt, was in einer Klasse von Primarschulkindern passiert, wenn die Lehrerin
unterrichtet. Die Lehrerin hält einen Unterricht über Ferrari. Der Unterricht dauert 20 Minuten.
Die Lehrerin berichtet zuerst vom italienischen Unternehmer Ferrari (Geschichte) und darüber,
wie seine Leidenschaft über Motoren zur Gründung einer weltberühmten Sportart (Aktualität
und Stolz im deutschsprachigen Raum wegen Schumacher, Lauda und Sauber) entstanden ist.
Am Ende (15. Minute) berichtet sie, dass man nur auf einer Rennbahn mit hoher
Geschwindigkeit fahren darf. Auf der Autobahn muss man die Geschwindigkeitslimite
respektieren (Verkehrsedukation).
In Grafik 1 (Informationsverarbeitung bei Kindern ohne Aufmerksamkeitsdefizit) wird der
Fluss der auf der Lehrerin fokussierten Aufmerksamkeit durch zwei fettgedruckte Gleise
dargestellt im Vergleich zur sonst „fluktuierenden“ Aufmerksamkeit. Diesen Fokus auf die
Lehrerin und das Gesagte können „normal aufmerksame“ Kinder 20 Minuten aufrechterhalten.
Das „normal aufmerksame“ Kind weiss, dass die Lehrerin innerhalb des Wahrgenommenen
eine bedeutende Funktion hat (Lehrerin ist fett geschrieben). Normal aufmerksame Kinder sind
in der Lage, verschiedene Reize der Umgebung gleichzeitig wahrzunehmen (Vogelgezwitscher,
Hunger, Wetter, Ruf der Kollegen und Lehrerin). Als die Lehrerin erklärt, dass sie unterrichten
will, richten die Kinder ihre Aufmerksamkeit auf sie. Sie können Prioritäten setzen und
behalten prinzipiell die Lehrerin im Auge.
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Die normal aufmerksamen Schüler „vergessen“ bzw. stellen für 20 Minuten andere Reize in
der Umgebung in den Hintergrund. Die Vögel am Fenster, die lauter sind als sonst, einige
Schüler haben Hunger, andere werden angerufen, es donnert vielleicht?
Normal aufmerksame Kinder sind in der Lage dem Unterricht ruhig zu folgen. Aufgrund des
kognitiven Vermögens (hier exemplarisch mit IQ dargestellt) verstehen aber nicht alle alles,
was die Lehrerin unterrichtet. Die weniger begabten Schüler (IQ 85) wissen am Ende, dass es
um Autos gegangen ist, bringen diese Information mit nach Hause und sind teilweise
überrascht, wenn auf dem Buch ein Ferrari abgebildet ist.
Nur die kognitiv höchstbegabten Schüler (IQ 120) haben den Unterricht so weit verstanden,
dass sie wissen, dass sie zuhause den Ferrari studieren müssen (d. h. das Gehörte gut lernen).
Danach richten die Kinder ihre Aufmerksamkeit wieder auf die Umgebung, es ist sowieso
Pause. Sie realisieren, dass es Spatzen sind, welche so lebhaft zwitschern, merken, dass es zu
regnen angefangen hat, sie nehmen miteinander wieder Kontakt auf usw.
Grafik 2. (Informationsverarbeitung bei Kindern mit Aufmerksamkeitsdefizit)
Kinder mit AD(H)S haben Schwierigkeiten, die Lehrerin von anderen externen Hintergrundstimuli zu unterscheiden (Lehrerin wird gleich wie die anderen Reize wahrgenommen).
Intern somatische (Hunger) oder emotionale (Streit mit den Eltern) Stimuli wirken auch als
„Distraktoren“. Die Kinder richten ihre Aufmerksamkeit auf die Lehrerin, sobald diese laut sagt
(Aufmerksamkeitslenkung), dass sie etwas Neues erklären will (fett geschrieben). ADS-Kinder
merken aber gleichzeitig, dass sich etwas in der Umgebung verändert hat. Der Fokus
Aufmerksamkeit ist nicht ein fettgedrucktes Gleis wie bei normal aufmerksamen Kindern,
sondern erinnert eher an einen gelöcherten Trichter. Man kann nicht von Fokus reden, sondern
von einer auf die Lehrerin gelenkte Aufmerksamkeit. Die Oberfläche des Trichters lässt andere
Reize hinein. Ausserdem gibt es Blackouts, als ob der Fluss der Aufmerksamkeit in den
Standbymodus ginge.
Wir alle kennen die Situation, wenn wir mit Verspätung zu einem Referat kommen. Je nachdem,
ob wir die ersten 5, 10 oder 15 Minuten eines Referats verpassen, kommen wir immer weniger
mit. Die Referenten rechnen auch mit einigen „Verspäteten“ und zeigen brav den Titel des
Referats auf jedem Slide. Die Lehrerinnen sollten übrigens gleichermassen das Thema des
Unterrichtes auf die Tafel schreiben.
Ähnlich wie bei Verspäteten passiert es auch bei Kindern mit hyperkinetischen Störungen, dass
ihre Aufmerksamkeit nach kürzerer Zeit als bei nicht betroffenen Kindern nachlässt bzw.
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gänzlich zusammenfällt, wie dies auch beim PC manchmal der Fall ist. Falls die Kinder vor
dem „Aufmerksamkeitsabsturz“ das Thema des Unterrichts gespeichert haben, kommen sie
beim „Wiederanschalten des PCs“ (Wiederherstellung der Aufmerksamkeit) wieder mit.
Allerdings fallen wie bei jedem Anschalten des PCs wieder neue Reize auf dem Bildschirm auf
(neue Mails sind da), so dass die Kinder immer wieder abgelenkt werden.
Ein anderes Beispiel zu Hilfe ziehend könnte man sagen, dass unaufmerksame Kinder „wie auf
der Toilette gewesen“ sind.
Der Unterricht ist aber weitergegangen und verliert für die Kinder an Attraktivität. Man könnte
sich die innere Stimme des ADS-Kindes so vorstellen:
„Der Himmel ist dunkler geworden, vielleicht regnet es. Wovon handelt der Unterricht? Ah ja,
ein italienischer Unternehmer! Warum zwitschern die Spatzen so laut? Ah, ich sehe das Nest!
Ob es dort Eier gibt? Ob sie den Regen überleben werden? Die Armen! Formel 1, davon bin
ich wirklich ein Fan und über Schumi kann mir die Lehrerin nichts Neues erzählen! Eh, der
Marc ist aber ein Dummkopf, was will er eigentlich mit dem ständigen Ziehen an meinem
Hemd! Ja, ja es ist mir ganz klar, dass man auf der Autobahn nicht Autorennen fahren darf!“
Am Ende des Unterrichts wissen ADS-Kinder weniger als die anderen, worum es im Unterricht
gegangen ist. Hier muss man sagen, die Bestbegabten können die Gedächtnisausfälle gut füllen
bzw. nachvollziehen. Viele Jugendliche, die erst in der Sekundarschule zur Abklärung
gekommen sind, sagen, sie haben bisher alle Hausaufgaben in der Schule erledigen können, sie
haben bisher nie studieren müssen. Sie können sich nicht erklären, warum ihren Noten so
gesunken sind.
ADHS Kinder haben am Ende des Unterrichts Verschiedenes wahrgenommen, sich ausgedacht
(träumerischer Typ) oder unternommen bzw. gemacht (hyperaktive Kinder). Sie wissen schon,
dass Küken im Nest sind, sie haben Rachepläne gegenüber dem störenden Kollegen
geschmiedet und die Hälfe des Sandwichs heimlich gegessen! Mit anderen Worten die
ablenkbaren Kinder sind oft voraus in Bezug auf den Tagesablauf im Vergleich zum Rest der
Klasse, sie haben jedoch die Priorität, den eigentlichen vollständigen Inhalt des Unterrichtes,
verpasst.
Zum Schluss zeige ich beide Grafiken nebeneinander:
Hyperkinetische Störungen verlaufen unabhängig vom Intelligenzniveau(2) (Döpfner 2012). Es
sollte aber klar sein, dass wie ein Kurzsichtiger ohne Brille etwas vom Panoramabild verpasst,
auch ADS-Kinder ihre Intelligenz bzw. kognitiven Fähigkeiten nicht voll ausschöpfen können.
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Es ist wie eine Herabsetzung der eigenen kognitiven Fähigkeiten, die im besten Fall durch
medikamentöse Behandlung „normalisiert“ wird (siehe Grafik 1).
Obwohl ADHS-Schwergrad unabhängig vom IQ ist(24) (Alfred 2010), merken ADHSBetroffene schon im Kindesalter und später immer bewusster, dass ihre erbrachten Leistungen
den Anstrengungen nicht entsprechen. Aus didaktischen Gründen wird im vorliegenden
Beispiele exemplifikativ das Aufmerksamkeitsdefizit dafür verantwortlich gemacht, dass auch
die kognitiv höher begabten Schüler mit ADS am Ende des Unterrichts nicht unbedingt voll
begriffen haben, worum es gegangen ist.
Die Grafiken sind auch Grundlage für die Besprechung anderer Phänomene der hyperkinetischen Störungsformen wie z. B. Hyperaktivität und Impulsivität.
Noch ein Wort zur Erwähnung der Medikamente anhand der Grafiken: Das Medikament der
Wahl, Methylphenidat, erweitert die Aufmerksamkeitsspanne wie etwa ein Chip die
Speicherkapazität des PCs erweitert. Zudem wirkt das Medikament so, dass der „PC“ nicht
nach wenigen Minuten „abstürzt“. Die Kinder können sich auf das gewählte Objekt (Lehrerin)
fokussieren und sie können die eigenen kognitiven Fähigkeiten besser nutzen: Es erfolgt somit
eine „Optimierung“ der Leistungen.
Ergebnisse
Vorausgesetzt, dass jeder Elternteil Experte für das eigene Kind ist, fehlen oft den Eltern
Modelle, an denen sie sich orientieren können, Erklärungen, die ihnen helfen können, ihren
Kindern beizustehen.
Die tägliche Anwendung dieser Grafiken erleichtert die Kommunikation mit den Eltern, auch
mit denjenigen, die sich nach Lesen der Literatur ADHS-Experten nennen können.
Die Grafiken stellen eine kindgerechte Grundlage dar, bei welcher alle sich schnell involviert
fühlen. Die erforderliche Zeit der Abklärung ist in der Praxis der Referentin dadurch erheblich
verkürzt und die Bereitschaft, zusammen die notwendigen Massnahmen zu besprechen, wächst.
Im Verlauf hat die Autorin die Grafiken auch bei erwachsenen Betroffenen angewendet. Diese
haben sich sofort im Model wiedererkannt. Zum Beispiel ein heutiger Manager eines der
grössten Unternehmen weltweit erzählte, er habe in den zwei erste Primaschulklassen keinen
Stuhl benutzt und er könne sich nicht erinnern, je eine Hausaufgabe erledigt zu haben. Er hat
sich sofort dem Model angeschlossen und somit eine Erklärung für sein dauerndes Gefühl
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gefunden, dass seine brillante Karriere noch steiler hätte sein können, wenn er doch nicht so
schnell ablenkbar wäre!
Diskussion und Schlussfolgerungen
Kann man etwas Neues über Psychoedukation in Bezug auf ADHS schreiben? Es gibt
mittlerweile eine Menge Ratgeber und Selbsthilfe-, gefolgt von Elterntraining- und Gruppentherapie-Manuale, so dass man mit der Qual der Wahl überfordert wird. Doch damit die
Diagnose angenommen und die Behandlung nicht hinausgezögert wird, ist es wichtig, mit dem
richtigen Fuss zu starten, Erzieher und soweit möglich Betroffene ins gleiche Boot zu ziehen(25,
26)
(Plück 2006, Häberli –Nef 2009).
Egal ob die Betroffenen klein oder gross sind, die Familie muss involviert werden. Die
Zusammenarbeit mit der Familie, die Schaffung einer Grundlage, einer gemeinsamen Sprache
auf dem Weg der Behandlung einer Erkrankung, die als Diabetes der Psychiatrie definiert
worden ist, ist unabdingbar(27) (Türke 2012).
Staufenberg(28) (2011) unterscheidet unter 7 Elterntypen (s. Tab 2). In meiner Praxis bin ich
vielen Elterntypen begegnet und egal welcher Grundeinstellung sie sind, nach meiner
Erfahrung haben die Eltern Mühe, das Kind dem Störungsbild zuzuordnen. In meinem Alltag
sind Eltern oft traumatisiert von der eigenen autoritären Erziehung und wollen deshalb, alles
anders als ihre eigenen Eltern in ihrer Erziehung, machen. Diese Eltern sind den eigenen
Kindern Vorbild, zeigen ihnen die andere Wange. Als Ergebnis werden diese Eltern überfordert
und tyrannisiert von den eigenen Kindern(29, 30) (Knast-Zahn 2007, Krowatschek 2009).
Obwohl in der Allgemeinbevölkerung die Kenntnisnahme hyperkinetischer Störungen
weitgehend diffus ist und allen Eltern der Begriff Zappelphilipp geläufig ist, sind sie meiner
Erfahrung nach oft überfordert mit der Vorstellung, dass beim lebendigen und auch sonst
perfekten Sprössling eine Störung vorliegen könnte(31, 32) (Hellwig-Brida 2013, Freudiger
2012).
Wenn sich die Eltern und - je nach Alter - die Betroffenen selber sich mit den in den Graphiken
vorgestellten Phänomenen der Unaufmerksamkeit identifiziert haben, fühlen sie sich
entstigmatisiert und der Pfad zum Universum ADHS ist ein betretbarer Weg geworden.
Erklärungsbilder für Laien müssen einfach sein und es ist klar, dass die vorgestellten Grafiken
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nur einen Aspekt der Symptomkonstellation widerspiegeln(33) (Stiehler 2007). Wenn die Eltern
und evtl. die Betroffenen ein „Aha“-Erlebnis zeigen, kann die Psychoedukation weiter geführt
werden, in erster Linie mit der Erklärung der weiteren Symptome, wie Stimmungsschwankungen, die in der Definition nicht enthalten sind.
Trotz der Fülle von Literatur und Angeboten der multimodalen Therapien des ADHS bleibt der
Moment der Diagnosevermittlung und Aufklärung, bevor man in der oben erwähnten Fülle
einen Weg einschlägt, sehr delikat. Daher entschied ich mich, mir eine gute visualisierte
Gesprächsgrundlage zu schaffen, welche ich in der bisherigen Literatur nicht fand.
Ich benutze diese Abklärungsbilder mit den Eltern und den Betroffenen täglich, bevor
wir gemeinsam einen Interventionsplan vereinbaren.
Fazit für die Praxis
Obwohl der Begriff ADHS in allen möglichen klinischen Formen fast allen Eltern und
Erziehungskräften geläufig ist, die Ratgeber unzählig sind, stellt die Abklärung einen wichtigen
Moment der Interaktion zwischen allen involvierten Personen dar, bei dem sich manchmal die
Geister scheiden. Die Diskrepanz zwischen der Wahrnehmung desselben Kindes in
verschiedenen Kontexten könnte die Inkraftsetzung der Interventionen erschweren.
Die präsentierten Grafiken stellen ein für alle verständliches Model dar, was bei diesen Kindern
passiert, wenn sie in der obligatorischen Situation des Schulunterrichts ihre Aufmerksamkeit
den Erziehern widmen sollen. Sie bringen dies allen Beteiligten, inklusive den Kindern, nahe.
Solche Instrumente der Erklärung, die in der klinischen Praxis angewendet werden können,
damit die Eltern nicht alleine den Informationen geliefert sind, existieren heute noch wenige.
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Grafik 2
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