Trennung, Verlust und Trauer

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Trennung, Verlust und Trauer
Gemeinsam II
Die grundlegende Bedeutung der Erfahrung von Gemeinsamkeit war Thema im letzten
Heft. Heute führe ich näher aus, welche Folgen das Fehlen dieser Gefühlserfahrung
hat, wie sich Beziehungsverlust und Verletzungen des Vertrauens in die Beziehungsperson auswirken können.
Die Erfahrung von Trennung und Verlust einer geliebten Beziehung lässt sich kaum vermeiden. Wie damit fertig werden? Hierin unterscheiden sich Menschen sehr stark je nach Vorerfahrungen, die sich in Persönlichkeit und Charakter niedergeschlagen haben, nach Altersstufe und nach aktueller, mitmenschlicher Situation. Bevor ich aber den Verlust bespreche, will
ich nochmals knapp darauf eingehen, was „Gemeinsamkeit“ ausmacht.
Gemeinsam
„Gemeinsam“ ist eine Vorstellung, ein Plan, ein Ziel erst dann, wenn darin eine Entwicklungsgeschichte beider resp. aller Beteiligten enthalten ist und wenn das Resultat und seine
Komponenten nicht mehr bestimmten Einzelnen zugeschrieben werden können. Gemeinsam
ist also erst etwas, das die Einzelnen umfasst und übersteigt.
Solche „Gemeinschaft“ hebt sich ab von Gefolgschaft, von Kompromiss oder gegenseitiger
Toleranz. Obwohl dies alles auch Werte sind, die für geglücktes Zusammenleben wichtig
sein können, machen sie nicht dieselbe Qualität oder Wesensart aus, die aus der Gemeinsamkeit kommt und als Gemeinsamkeit erlebt wird.
Was zeichnet nun dieses Partnerschaftliche aus: Da ist einmal das grundlegende Vertrauen
in die tragende Verbundenheit der Beteiligten zu nennen. Dies können wir in zwischenmenschlicher Bindung, aber auch in religiösen und idealistischen Gruppen finden. Da ist etwa das verbindende Werk einer gelungenen Kooperation. Auch ein geglücktes, gemeinsames Leben einer Familie können wir durchaus als solches Werk betrachten. Gerade aus der
Perspektive des Kleinkindes ist eine tragfähige Gemeinsamkeit von Erwachsenen und Kindern verschiedenen Alters – die Grosselterngeneration kann zusätzliche Stärke verleihen –
eine tragende Basis für das Leben. Diese Erfahrung entscheidet später nicht selten, ob
schwere Lebenskrisen, traumatische Einbrüche (wie etwa Kriegsereignisse usw.) und Verluste verkraftet werden oder zu schweren psychischen Erkrankungen führen.
Vorerfahrungen
Menschen, die nicht schon zu oft und zu tief verletzt oder enttäuscht worden sind, antworten
auf Verlust und Trennung mit Trauer. Diese ist ein mehr oder weniger lang andauernder Prozess der Verarbeitung, der meist zyklisch verläuft. Deprimierte Zeiten, oft mit Gefühlen der
vollständigen Energielosigkeit und Lebensüberdruss, werden von hoffnungsvolleren oder
gleichgültigeren Phasen abgelöst.
Kann ein Trauerprozess nicht durchlebt werden, bleibt oft eines der beklemmenden Gefühle
dominant und fixiert. Werden z.B. die Verletzungen dauernd erneut aufgestachelt, muss sich
ein Kind einkapseln und abstumpfen. Die hoffnungsvollen Phasen können nicht gedeihen,
Lebensüberdruss oder Rückzug graben sich ein.
Wenn etwa in Scheidungsabläufen der Loyalitätskonflikt der Kinder ausgenutzt wird, opfern
Eltern leider manchmal rücksichtslos die Entwicklung der Beziehungs- und vor allem der
Bindungsfähigkeit ihrer Kinder. Werden Trennung und Wiederannäherung an die Elternteile
z.B. im Rahmen der Besuchsregelung ständig durch Verdächtigungen, Vorwürfe oder Abwertung des andern Elternteiles begleitet, wird es für Kinder sehr schwierig, überhaupt je
wieder Vertrauen und Durchhaltekraft in intime Beziehungen zu entwickeln.
Alter und Mitwelt
Das Alter, in dem ein Kind von Verlusten oder Tod getroffen wird, spielt ebenfalls eine bedeutende Rolle. Generell kann gesagt werden, je vielfältigere, dauerhaftere und stärkere
Beziehungsnetze ein Mensch in seinem Leben bereits aufbauen konnte, desto eher kommt
er mit tiefen schmerzlichen Erfahrungen klar.
Besonders grundlegend trifft die Trennung oder der Mangel an Beziehung und Bindung
demnach das Neugeborene und Kleinkind. Sind sie nicht in eine Grossfamilie oder eine ähnliche soziale Struktur eingebettet, haben sie nur wenige Bezugspersonen, die ihnen sicheren
Halt versprechen. Verliert ein Kind die Sicherheit garantierende Person, ist es besonders
hilflos Trauer und oft auch Panik ausgeliefert. Entscheidend ist dann, ob jemand da ist, der
stabile Sicherheit garantieren resp. wieder aufbauen kann. – Auch hier wieder: Ist Elternstreit
der Grund der Trennung, ist entscheidend, dass nicht beide Elternteile verloren gehen, indem das Kind sein Vertrauen gegen beide aufgeben muss.
Ältere Kinder haben meist Kontakte ausserhalb der Kernfamilie, die ihnen in der Trauerzeit
beistehen können. Bedeutsam ist, wie Menschen Trauernden entgegenkommen. Dazu ist
hilfreich, sich über das Wesen der Trauer Gedanken zu machen.
Pflegeverhältnisse
Pflegeltern und Adoptiveltern sind sehr oft mit Kindern konfrontiert, die eine Verlust- oder
Trennungserfahrung in sich tragen. Dessen müssen sich die Paare, aber auch Heimerzieher
usw., bewusst sein. Diese Tatsache wird meiner Erfahrung nach oft unterschätzt. Besonders
bedeutsam ist, wie Pflegeeltern mit der Trauer solcherart traumatisierter Kinder umgehen.
Sie müssen sich Rechenschaft darüber abgeben, dass diese Kinder nicht dieselbe „Entwicklungspsychologie“ durchlaufen wie die eigenen Kinder und oft nicht entsprechend der Alltagspädagogik reagieren.
Manchmal braucht es Überwindung und sehr bewusstes Arbeiten an den eignen Gefühlen
und Einstellungen. Mitleid ist zwar ein respektables Motiv, es genügt aber für Erziehung solcher Kinder nicht. Die Kinder können z.B. oft nicht einfach dankbar sein für die entgegengebrachte Güte der Pflegeeltern. Sie sind z.B. in schweren Konflikten zwischen einer selber
gewollten und vom Gewissen verordneten Dankbarkeit und ihren wühlenden inneren Kämpfen mit ungelösten Fragen, deprimierenden Phantasien und Wut auf ihr Schicksal.
Wichtig ist jedenfalls, dass Trauer von den Eltern verstanden und immer wieder Raum gegeben wird. Je nach Traumatisierung geht die Erfahrung nie endgültig vorüber! Entsprechend
braucht es immer mal wieder Zeiten der Trauer, der Wut, des Schmerzes. Und diese Affekte
treffen dann halt manchmal die Falschen, die Pflegeeltern. Wenn sie es verstehen und aushalten können, leisten sie einen guten Entwicklungsbeitrag!
Trauer
Der Verlust einer Gemeinsamkeitserfahrung schneidet tiefe Wunden, die meist nur mit lang
andauernder Trauerzeit und intensiver emotionaler und geistiger Auseinandersetzung bewältigt werden kann. Nicht zufällig galt früher das Tragen von „Trauer“ ein ganzes Jahr nach
einem Todesfall als gesellschaftliche Regel.
Beim Tod einer Bezugsperson, mit der die Beziehungsqualität der Gemeinschaft gelebt wurde, ist weder Ermunterung noch Ablenkung gefragt, sondern die ausdrückliche Erlaubnis zu
trauern. Nicht gefragt ist: „das kommt schon wieder...“ -, „...nun übertreib mal nicht“; - „...
morgen wird wieder alles ganz anders aussehen ...“. Solche gutgemeinten oder auch bagatellisierenden Bemerkungen, stossen Trauernde zurück und treiben sie in ein Gefühl der Einsamkeit und des „Nicht-Verstanden-werdens“. Der Respekt vor dem Rückzug und der
Schutz des Raumes, in dem die Trauer gelebt werden kann, sind die wichtigsten Hilfen der
Mitmenschen. Respekt vor dem Rückzug heisst, Kontaktverweigerungen des Trauernden zu
akzeptieren, ohne sich dadurch beleidigt zu fühlen, und Kontaktangebote trotz Rückweisung
zu wiederholen ohne aber Druck zu machen.
Nur wenn gelingt durch Trauer Abschied zu nehmen, wird die Lebenslust sich erholen und
neuer Beziehung eine Tür öffnen. Vor allem geht es darum, dass trotz Verlust die gute Erfahrungen erhalten bleiben. Wird die Erfahrung gerettet, dass Aufgehen ineinander möglich war
und solch grossartige Lebensgefühle entstehen liessen, kann sich allmählich Hoffnung daran
knüpfen, dass es wieder wird sein können. Allerdings steht dieser Hoffnung noch lange resp.
immer wieder die Sehnsucht nach der verlorenen Person und die Scheu im Wege, den oder
die Verlorene zu verraten oder zu kränken. Mit andern Worten, ob die Hoffnung auf neue
Gemeinsamkeit erhalten bleibt oder in Gefühlen der Verzweiflung und Hoffnungslosigkeit
untergeht, entscheidet sich im Trauerprozess.
Pubertät und Trauer
Ein Stück weit kann die ganze Phase der Pubertät und Adoleszenz unter dem Aspekt des
Verlustes gesehen werden, wenn Jugendliche zu merken beginnen, dass die alte Form der
Vertrautheit und Gemeinsamkeit nicht mehr stimmt. Ablösung enthält auch eine gerüttelt
Mass an Verlust alter Gemeinsamkeit und Geborgenheit.
Nicht selten besteht diese Zeit gleichsam im Experimentieren mit Annäherung und Verlust.
Oft sind nicht beide Partner – das können auch Freundschaften sein – nicht in derselben
Stufe der Intimität. Das Heine-Gedicht bringt es in wenigen Worten auf den Punkt: „Ein Jüngling liebt ein Mädchen, das hat einen andern erwählt. – Der andere liebt eine andre und hat
sich mit dieser vermählt. Das Mädchen nimmt aus Ärger den ersten besten Mann, der ihr
übern Weg gelaufen. – Der Jüngling ist übel dran .....“ Was der eine als Spielerei und Flirt
nimmt, ist für die andere todernste Sache. Oft sind Jugendliche sprachlich noch wenig geübt,
über Herzensdinge klar zu sprechen. Auch sind sie oft unerfahren, d.h. die Lebenssicht ihres
Elternhauses oder ihrer Clique ist die einzige Realität, die sie kennen und von der sie auf das
Gefühlsleben des Gegenübers schliessen.
Beziehungsenttäuschung und Verlust gehören fast notwendig zur Zeit der Adoleszenz und
macht sie deshalb auch so anfällig für psychische Störungen.
Vertrauenszerstörung
Die Gefahr dauerhafter Verzweiflung ist dort am grössten, wo der Verlust mit schwerer Enttäuschung gepaart ist. Bei sexuellem Missbrauch etwa wird nicht nur die Beziehung des Kindes zerstört, sondern auch sein Glaube, dass es „gute“ Gemeinschaft gibt und sein Selbstvertrauen, dass es selber in der Lage ist, dies richtig zu spüren und bei andern Menschen
einzuschätzen.
Aber auch Scheidungserfahrungen werden dort gefährlich, wo die Loyalitätskonflikte angeheizt und den Kindern - zum unvermeidlichen Elend hinzu - noch die Zweifel an den guten
Absichten des jeweils andern Elternteiles geschürt werden.
Zur Bewältigung von Trauer ist mitmenschliche Zuwendung sehr hilfreich. Die setzt aber voraus, dass ein Mindestmass an Vertrauen in die Rechtschaffenheit von Mitmenschen erhalten geblieben ist. Am schlimmsten dran sind also Menschen, deren Urvertrauen in die Humanität der Mitmenschen basal gestört worden ist.
Faktor Zeit
Zeit heilt alle Wunden! Tut sie das? Es gibt Wunden, die nicht verheilen oder das Gefühlsleben nachhaltig schädigen. Die Zeit allein heilt jedenfalls nicht alles. Was aber am Sprichwort
richtig ist: Trauerarbeit braucht Zeit! und braucht Raum.
Werden Verluste zu schnell durch „Ersatz“ ersetzt, tun sie dem Kind keinen Gefallen. Stirbt
z.B. die Familienkatze – das kann für ein Kind ein schwerer Verlust sein – ist es nicht vordringlich, eine neue anzuschaffen. Das Kind soll trauern dürfen. Zeit braucht es auch, Erinnerungen nachzuhängen, das Verlorene wieder zu vergegenwärtigen. Möglichkeiten, etwas
aktiv zu machen, können helfen; denn Verlust ist immer auch eine Erfahrung der eigenen
Ohnmacht, also dem Geschehen tatenlos ausgeliefert zu sein. Dennoch etwas tun zu können, kann dem Gefühl entgegentreten. Dies darf aber nicht den Anschein erwecken, der Verlust werde dadurch ungeschehen gemacht.
Und noch eins: Gefährlich ist nicht die gezeigte Trauen. Weinen und Heulen hilft. Früher gab
und anderorts gibt es nicht ohne Grund den Brauch der Klageweiber. Gefährlich ist die verdrängte Trauer, die Fassade der Unerschütterlichen und die Verwandlung der Trauer in Wut
und Wüten.
Oft gilt es, im Wüterich oder coolen Gewalttäter die Trauer, die Verletzungen und Verluste
wieder auszugraben, um ihn von seiner Verhaltensstörung zu befreien.
 Dr. Rudolf Buchmann
www.praxis-buchmann.ch
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