Von der Befreiung zur Freiheit ÖSTERREICH NACH 1945 Erzählt in Bildern von Erich Lessing und Texten von Michael Gehler Inhaltsverzeichnis 7 Visuelles Vorwort 15 Michael Gehler: Von der Befreiung zur Freiheit 53 Das Kriegsende und die alliierten Sieger. Moskauer Deklaration, Besatzer, Kontrolleure und Militärs 77 Der politische Neubeginn: Südtirol, Parteien, Wahlen und Regierung 109 Der Alltag in Wien und in den Ländern: Nachkriegsleben, Wirtschaftsnot, Wiederaufbau und der Umgang mit der Vergangenheit 171 Österreich lebt wieder auf: Kultur, Freizeit, Sport, Musik und Wissenschaft 257 Österreich wird frei: Unterzeichnung des Staatsvertrags 1955 275 Aufstand, Krise und Niederschlagung der Revolution in Ungarn 1956 285 Österreich im internationalen Kontext: Kalter Krieg, Tauwetter und die Hoffnung Europa 347 Erich Lessing: Stationen eines Lebens 349 Interview mit Erich Lessing 362 Interview mit Traudl Lessing 373 Chronologie zur Geschichte Österreichs und Europas 1943/45–1963 380 Literaturverzeichnis Visuelles Vorwort Dieses Werk beginnt mit einem etwas unkonventionellen Das dritte Bild zählt zu den Ikonen der Zweiten Republik vierfachen Einstieg. Die Fragen, die uns bei der Erstellung und ist wohl den meisten Österreichern auch heute noch der Bilddokumentation bewegten, lauteten: Was steht für im Gedächtnis. Nach der Unterzeichnung des Staatsver- das alte, was für das wiedererstandene, was für das neue trags am 15. Mai 1955 im Oberen Schloss Belvedere zeigt und was in gewisser Weise immer noch für das heutige Leopold Figl vom Balkon aus das Dokument der wartenden Österreich? Menschenmenge. Nur wenige Augenblicke zuvor hat Für das alte Österreich ist es das erste Bild mit der Totenmaske des Komponisten Franz Lehar (1879–1948), die abgenommen wird. Der Meister der Silbernen Operette er noch innerhalb des Schlosses die berühmten Worte »Österreich ist frei!« ausgerufen. Das letzte Bild steht für ein Österreich, das versucht starb 1948 in seiner Villa in Bad Ischl. Er verstand es hat, seiner Vergangenheit zu entrinnen, aber dann doch auf unnachahmliche Weise, typische Wiener Musik mit gezwungen war, sich ihr zu stellen. Die politischen slawischen Elementen zu verknüpfen. Debatten um den Februar 1934 oder den »Anschluss« 1938 Für das wiedererstandene Österreich steht Karl Renner. dauern bis heute an. Für diesen mitunter problematischen Das zweite Bild zeigt den ersten frei gewählten Nationalrat, Umgang mit der eigenen Geschichte steht der »Herr Karl« der am 19. Dezember 1945 erstmals zu einer Sitzung im des Helmut Qualtinger. alten Reichsratssaal zusammentritt. An der Spitze des Podiums beindet sich Karl Seitz, der frühere Bürgermeis- Erich Lessing / Michael Gehler ter von Wien. Im Zentrum der unteren Reihe sitzt Karl Wien – Hildesheim, im September 2014 Renner, Kanzler der provisorischen Regierung, der am 20. Dezember 1945 zum ersten Präsidenten der Republik nach dem Zweiten Weltkrieg gewählt wurde. VISUELLES VORWORT 7 Die Totenmaske des Komponisten Franz Lehar (1879–1948) wird abgenommen. Der Meister der Silbernen Operette starb im Jahr 1948 in seiner Villa in Bad Ischl. VISUELLES VORWORT Am 19. Dezember 1945 tritt der erste frei gewählte Nationalrat erstmals zu einer Sitzung im alten Reichsratssaal zusammen. An der Spitze des Podiums Karl Seitz, der frühere Bürgermeister von Wien. Im Zentrum der unteren Reihe Karl Renner, Kanzler der provisorischen Regierung, der am 20. Dezember 1945 zum ersten Präsidenten der Republik Österreich gewählt wurde. VISUELLES VORWORT »Österreich ist frei« – Leopold Figl zeigt den unterzeichneten Staatsvertrag der jubelnden Menge vom Balkon des Oberen Belvedere, 15. Mai 1955. Der berühmte Satz iel jedoch im Marmorsaal des Schlosses und nicht, wie oft angenommen, zum Zeitpunkt der Präsentation des historischen Vertrags. 13 VISUELLES VORWORT Der Schauspieler und Kabarettist Helmut Qualtinger (1928–1986) in seiner Rolle als »Herr Karl« – ein Portrait, wie es viele Wiener nicht wahrhaben wollten. In einem verstörenden Monolog wechselt er die Weltanschauungen je nach Nützlichkeit und fühlt sich als missverstandenes Opfer: »Jetzt ist er bös, der Herr Tennenbaum.« 14 Von der Befreiung zur Freiheit mic h ael g ehl e r I. Das Kriegsende und die alliierten Sieger. Moskauer Deklaration, Besatzer, Kontrolleure und Militärs seiner Befreiung beigetragen haben wird, unvermeidlich sein wird.« Was war der Entstehungshintergrund? Diese Erklärung [Bildteil ab Seite 53] war neben ihrer Anspielung auf österreichische VerantworDer viel zitierte Opferstatus, den die Zweite Republik mit tung und die damit verbundenen konkreten Reparations- Blick auf Hitler und den Nationalsozialismus für sich forderungen der sowjetischen Seite mit juristischen beanspruchte, hatte seine Wurzeln schon in der Kriegs- Folgewirkungen auch ein Produkt psychologischer Krieg- zeit. Die am 27. April 1945 konstituierte provisorische führung und propagandistischer Absichten der westlichen Regierung unter Karl Renner konnte sich schon vor der Alliierten. Kapitulation der Deutschen Wehrmacht am 8./9. Mai und Beginnend mit 1943, dem Höhepunkt des anglo-ame- dem ofiziellen Kriegsende auf diesen Status beziehen, weil rikanischen psychological warfare, vertraten die Briten es die Alliierten selbst gewesen waren, die, basierend auf die Auffassung, dass v. a. in Österreich die Unterstützung der Opferthese, die Wiederherstellung der Unabhängigkeit für das Hitler-Regime sinken würde, wenn man dort den des österreichischen Staates auf der Moskauer Außenmi- Widerstand stärken würde. Im Foreign Ofice in London nisterkonferenz am 1. November 1943 ausgerufen hatten. wurde unter maßgeblicher Bearbeitung von Geoffrey Im deutschsprachigen Wortlaut liest sich die Moskauer W. Harrison ein Memorandum ausgearbeitet, ans State Deklaration wie folgt: Department nach Washington weitergeleitet, leicht »Die Regierungen des Vereinigten Königreiches, der abgeändert und gegen Ende der Außenministerkonferenz in Moskau im Oktober 1943 ganz am Rande behandelt. sind darin einer Meinung, dass Österreich das erste freie Im Vordergrund war die Frage gestanden, wie Hitler- Land war, das der typischen Angriffspolitik Hitlers zum Deutschland bezwungen werden könnte – das Thema Opfer fallen sollte, von deutscher Herrschaft befreit wer- Österreich war kein eigenständiger Tagesordnungspunkt. den soll. Sie betrachten die Besetzung Österreichs durch Die britische Initiative wurde ohne große Diskussion Deutschland am 15. [sic!] März 1938 als null und nichtig. am 30. Oktober 1943 von den Außenministern der Sie betrachten sich durch keinerlei Änderungen, die in Kriegsalliierten, Cordell Hull für die USA, Anthony Eden Österreich seit diesem Zeitpunkt durchgeführt wurden, für das Vereinigte Königreich und Wjatscheslaw Molotow als irgendwie gebunden. Sie erklären, dass sie wünschen, für die Sowjetunion, beschlossen und unterzeichnet. ein freies unabhängiges Österreich wiederhergestellt zu Im Schlusskommuniqué der Außenministerkonferenz sehen und dadurch ebensosehr den Österreichern selbst wird das Dokument als »Moskauer Deklaration« am wie den Nachbarstaaten, die sich ähnlichen Problemen 1. November 1943 veröffentlicht. Mit dieser Aktion sollte gegenübergestellt sehen werden, den Weg zu ebnen, auf österreichischen Soldaten in der Wehrmacht und der dem sie die politische und wirtschaftliche Sicherheit Bevölkerung gezeigt werden, dass die Alliierten hinter dem inden können, die die einzige Grundlage für einen österreichischen Widerstand stehen und ein gemeinsames dauerhaften Frieden ist. Österreich wird aber auch daran Ziel, die Unabhängigkeit dieses wieder zu schaffenden erinnert, dass es für die Teilnahme am Kriege an der Seite Staates und – als Voraussetzung dafür – die Niederwerfung Hitler-Deutschlands eine Verantwortung trägt, der es des Hitler-Regimes, verfolgen würden. nicht entrinnen kann, und dass anlässlich der endgültigen Abrechnung Bedachtnahme darauf, wieviel es selbst zu 15 Ob Österreich in seiner Form wie nach dem Ersten Weltkrieg (neu) errichtet werden sollte, war zu dieser Zeit aber VON DER BEFREIUNG ZUR FREIHEIT Sowjetunion und der Vereinigten Staaten von Amerika noch fraglich. Im Zeitraum von 1943 bis 1945 verfolgten Massentötungen), die während dieser Zeit begangen britische Nachkriegsplaner vor allem die Idee einer Donau- worden waren, für Wiedergutmachungen heranzuziehen. konföderation, die auf Sir Winston Churchill zurückging. Daraus wurde auch abgeleitet, Geschädigte könnten keine Diese Erklärung der Anti-Hitler-Koalition war mit dem Entschädigungszahlungen von Österreich fordern, weil eigentlichen Ziel verabschiedet worden, Österreich von Österreich selbst ein Opfer der Hitler’schen Aggression Deutschland ein für allemal abzutrennen. So gesehen gewesen sei. Diese Argumentation wurde mit der Opfer- verdankte das Land seine Wiederexistenz einmal mehr v. a. bzw. Befreiungsklausel und der Nichtigkeitsklausel der der alliierten Absicht der Schwächung des übermächtigen von den »Großen Drei« verkündeten Erklärung vom Herbst Nachbarn im Norden. 1943 gestützt und gerechtfertigt. Vier Elemente enthielt diese Erklärung: die »Opfer- Die Kriegsalliierten hatten mit ihren Aussagen in der bzw. Befreiungsklausel«, die »Nichtigkeitsklausel«, die Moskauer Deklaration tatsächlich selbst die Basis für diese »Verantwortungs-« bzw. »Mittäterklausel« und die »Bei- politische Haltung Österreichs geschaffen und Österreichs tragsklausel«. Österreichs maßgebliche Repräsentanten Politiker hatten sich wiederum der Formulierungen für unternahmen alle Anstrengungen, die letzten beiden ihre staatlichen Interessen bedient und den Text entspre- Klauseln erfolgreich zu entkräften. Nach Ende des Krieges chend interpretiert. Bereits in der Unabhängigkeitser- konzentrierte sich der Rest der aus der Konkursmasse klärung vom 27. April 1945 war die Opferthese enthalten, des »Dritten Reiches« übrig gebliebenen österreichischen wobei ausgeblendet wurde, dass viele Österreicher den Diplomatie auf die Moskauer Deklaration und deutete Einmarsch der deutschen Truppen im März 1938 bejubelt, den Text so weit, bis er für die Absicht, eine »Okkupations- die NS-Politik mitgetragen und diese auch tatkräftig umge- theorie« zu konstruieren, geeignet erschien. An diesem setzt hatten. Der Hinweis, dass Österreich keine Rechts- Vorhaben beteiligen sich Verfassungs- und Völkerrechtler, nachfolge des Deutschen Reiches zu übernehmen habe, z. B. Stephan Verosta, der sich im Hinblick auf den »gewalt- wurde zu einer »staatlichen Nichtverantwortungsklausel« tätigen« Anschluss von Österreich an das Deutsche Reich umgemünzt, woraus abgeleitet wurde, keine Reparationen dahingehend äußerte, Hitler hätte »dem Staat Österreich leisten zu müssen. Von da an wurde die österreichische und dem österreichischen Volk völlig unbeabsichtigt einen Politik von der Auffassung geleitet, das unschuldige und großen Dienst erwiesen. Denn mit dem 13. März 1938 daher nicht verantwortliche Österreich könne nicht für die hat Deutschland völkerrechtlich und staatsrechtlich alle Schäden Hitler-Deutschlands aufkommen. Verantwortlichkeit und Haftung für all das übernommen, was seither auf österreichischem Staatsgebiet geschah.« Die Okkupationstheorie basierte auf der Annahme, dass Erklärungen von Renner deuteten weiters auch darauf hin, dass er nicht beabsichtigte, österreichische Nationalsozialisten am nahtlosen Übergang in das sogenannte Österreich als Völkerrechtssubjekt trotz des Anschlusses »normale« Leben zu hindern. Er sorgte dafür, dass deren nicht aufgehört hatte zu existieren. Österreich sei während gesellschaftspolitische Reintegration vonstattengehen dieser Zeit ein Staat gewesen, dem die Handlungsfähigkeit konnte – sogenannten »Mitläufern« sollte kein Schaden entzogen worden wäre, der aber dennoch völkerrechtlich entstehen. bestanden habe. Aus diesem Grund könne der Staat Die Klausel, die stark hervorgehoben wurde, war die Österreich nicht als Rechtsnachfolger des Dritten Beitragsklausel. Die Regierung machte es sich dabei Reiches betrachtet werden. Ebenso wenig sei es möglich, alsbald zur Aufgabe, alle Taten österreichischer Wider- Österreich für die Taten (Krieg, Verfolgung, Verbrechen, standskämpfer zu erfassen, um damit zu beweisen, dass 16 die Österreicher gegen das NS-Regime gewesen seien und problemlos akzeptiert wurde. Das änderte aber nichts an dieses auch tatkräftig bekämpft hätten, auch wenn dies der Position der Siegermächte, Österreich alles andere als auf einen zwar nennenswerten, aber doch nur geringen rasch in seine Unabhängigkeit zu entlassen. Die Potsdamer Anteil der Bevölkerung zutraf. Dies fand seinen Ausdruck Drei-Mächte-Konferenz vom 17. Juli bis 2. August 1945 mit darin, dass das von der Regierung initiierte und getragene dem amerikanischen Präsidenten Harry S. Truman, Sowjet- »Rot-Weiss-Rot-Buch«, welches Oppositionsverhalten und führer Josef W. Stalin und dem britischen Premier Winston Widerstandshandlungen dokumentierte, nur als ein erster Leonard Spencer Churchill, der während der Konferenz Teil erscheinen konnte und Folgepublikationen ausblieben. abgewählt und durch den Labor-Politiker Clement Attlee Es blieb aber folgende Absicht weiter bestehen: Die Untaten, die Österreicher begangen hatten, sollten aus Sicht der Regierenden möglichst schnell vergessen werden ersetzt wurde, sah ferner auch Entschädigungsleistungen von österreichischer Seite für das »deutsche Eigentum« vor. Der Einmarsch der alliierten Armeen erfolgte im Früh- und wurden daher auch verdrängt, um ein geordnetes jahr 1945. Das anfänglich teilweise praktizierte Frater- Leben für die Mehrheit der Staatsbürger zu gewährleisten. nisierungsverbot mit den Besatzungssoldaten wurde Die westlichen Alliierten nahmen im Wesentlichen in den westlichen Zonen nicht lange gehandhabt. Die diese österreichische Haltung und Politik hin, ohne Franzosen verfügten keines und sahen Österreich als größeren Widerstand dagegen zu leisten. Die Sowjetunion befreundetes Land »pays ami«. Die Amerikaner hoben es allerdings ließ ihre Vorbehalte gegen die Reklamierung der am 3. September 1945 auf. In der sowjetischen Zone gab Opferthese durch Österreich erst kurz vor Unterzeichnung es dagegen alles andere als Verbrüderung. Es herrschten des Staatsvertrages fallen. Ein Grund dafür bestand darin, mitunter Repression und Willkürakte gegenüber der dass sie sich dadurch bis dato und weiterhin Reparations- Zivilbevölkerung vor. zahlungen aus dem ehemaligen »deutschen Eigentum« in Österreich sichern konnte. Bei der Reklamation des Opferstatus für sich hatte die Im ersten Kontrollabkommen vom 4. Juli 1945 zwischen den USA, der UdSSR, Großbritannien und Frankreich wurde die Aufteilung der vier Besatzungszonen für Österreich deinitiv beschlossen und eine Alliierte Kommission geführt: Der wiederholte und erfolgreiche Hinweis auf die eingerichtet. Am 11. September konstituierte sich der gescheiterte Appeasement-Politik Großbritanniens vor Alliierte Rat aus den vier Oberbefehlshabern der in Öster- dem Krieg war nicht unberechtigt, zumal das Vereinigte reich stationierten Großverbände. Die ersten Mitglieder Königreich damit nicht nur die Hitler’sche Politik der waren für die Sowjetunion Marschall Iwan Konjew, für die Jahre 1935 bis 1938 geduldet hatte, sondern auch keine Vereinigten Staaten General Mark Clark, Generalleutnant Garantie für Österreichs Unabhängigkeit geben wollte. Die Richard McCreery für Großbritannien und Korpsgeneral Beschwichtigungspolitik gegenüber Hitler hatte Österreich Marie Émile Antoine Béthouart für Frankreich. Die als erstes »Opfer« zugelassen. Uneinigkeit der Alliierten vier Hochkommissare Österreichs im Jahre 1949 waren nach dem Krieg kam alsbald zum Vorschein und machte Geoffrey Keyes (USA), Sir Alexander Galloway (UK), wieder eine konsequente Argumentation und rasches österrei- Béthouart (Frankreich) und Wadim Swiridow (UdSSR). chisches Handeln erforderlich. Hinzu kam die Angst des Österreich wurde in den Grenzen von 1937 wiederherge- Westens vor einer drohenden Ausbreitung des Kommu- stellt, wobei die Grenzfragen noch bis zur Außenminister- nismus in Österreich. Alles zusammen betrachtet führte konferenz von 1949 offen waren. Die seit 1938 an die Gaue dies dazu, dass der Opferstatus für Österreich schnell und der »Ostmark« des Großdeutschen Reiches angegliederten 17 VON DER BEFREIUNG ZUR FREIHEIT Alpenrepublik auch eine Reihe von Gründen ins Feld Gebiete ielen 1945 an die Tschechoslowakei zurück. Es schlechter sein konnte, war ihre Militäradministration handelte sich um südböhmische und südmährische umso mehr bemüht, an Ansehen und Prestige zu gewinnen. Territorien. Im Gegenzug wurden das Vorarlberger Klein- Ein russischer Armeechor sang vor österreichischen walsertal und die Tiroler Gemeinde Jungholz, die nach Konzertbesuchern. Das Transparent über den Sängern dem »Anschluss« an den »Gau Schwaben« gefallen waren, erklärte die Sowjetarmee zur »Hüterin des Friedens«. Bei wieder Österreich zugeschlagen. der Schlacht um Wien hatte sie tausende Tote zu verzeich- Die sowjetische Besatzungszone umfasste Niederöster- nen gehabt. In Erinnerung an den dritten Jahrestag der reich, das Burgenland, Wiener Randgemeinden und Befreiung Wiens legte der österreichische Bundeskanzler Oberösterreich nördlich der Donau und östlich der Enns. Leopold Figl Kränze an den Gräbern jener sowjetischen Das sowjetische Oberkommando war in Baden bei Wien Soldaten nieder, die beim Kampf um Wien im Jahr 1945 stationiert. Die US-Besatzungszone bestand aus Oberöster- gefallen waren. reich südlich der Donau und westlich der Enns, Salzburg Die anfänglich im Land verbliebenen alliierten und dem steirischen Salzkammergut, die britische aus Kampfverbände wurden in stehende Besatzungstruppen der übrigen Steiermark, Kärnten und Osttirol sowie die umgewandelt, deren Hauptaufgabe die Kontrolle der französische aus Nordtirol und Vorarlberg. Wien wurde mit Verhältnisse in Österreich war. Die Sowjets übernahmen Ausnahme des ersten Bezirks als internationaler Sektor in mit der Bezeichnung »USIA« nun unter ihrer Verwaltung vier Zonen geteilt. stehende Großbetriebe in ihrer Zone, vormaliges »deut- Die Bezeichnung »Die Vier im Jeep« wurde zum Symbol sches Eigentum«, das sie beschlagnahmt hatten. Damit des besetzten Landes und seiner Hauptstadt. Zudem bauten sie sich einen eigenen, von österreichischen handelte es sich auch um einen Schweizer Film unter Regie Behörden nicht kontrollierbaren Wirtschaftskomplex auf, des Wieners Leopold Lindtberg, produziert von Lazar dem die Ölförderung im Marchfeld und die Donaudampf- Wechsler und seiner Praesens-Film im Jahr 1950. Span- schifffahrtsgesellschaft angehörten. nend und eindrücklich schildert der Thriller die Situation In der sowjetischen Zone wurden zum Teil frühere Mit- im Wien der Nachkriegszeit vor dem Hintergrund des glieder der NSDAP oder Angehörige der Waffen-SS in bereits beginnenden Kalten Krieges. die UdSSR deportiert. Die Vorwürfe lauteten pauschal Mit der Anerkennung der Regierung Renner durch die »Kriegsverbrecher« oder »Agiteure gegen die Sowjetunion«. vier Alliierten im Oktober 1945 war die Gesamtstaatlichkeit Viele Zwangsdeportierte kehrten – wenn überhaupt – erst Österreichs über die Zonengrenzen vorerst gesichert. Die Jahre später aus dem Gulag, einem sowjetischen Zwangs- Dankbarkeit gegenüber den Besatzungsmächten und arbeitslager-System, nach Österreich zurück. Selbstmorde der Befreiung durch diese hielt sich aber in Grenzen. Die waren in der sowjetischen Besatzungszone aufgrund der Mehrheit der österreichischen Bevölkerung empfand ständigen Angst vor Repression, Terror und Verschleppung sie als »Besatzer«. Sympathien für »die Russen« gab es so nicht selten. gut wie keine, zumal es beim Einmarsch und v. a. durch Um die Demarkationslinien zwischen den Besatzungs- die nachrückenden Verbände zu Übergriffen gegen die zonen zu überschreiten, war ein von den Alliierten Bevölkerung und zu Vergewaltigungen von Frauen kam, die ausgestellter Identitätsausweis notwendig, der in vier kaum geahndet wurden. Willkürliche Verschleppungen von Sprachen (Deutsch, Englisch, Französisch, Russisch) Menschen in die Sowjetunion ereigneten sich noch Jahre ausgefertigt war und Bestätigungsvermerke jeder der vier später. Nachdem das Bild von den »Russen« kaum mehr Besatzungsmächte erforderlich machte. Zwischen den 18 westlichen Zonen erfolgten alsbald Reiseerleichterungen. geborene Volksschauspieler Muliar hatte nach dem Das Überschreiten der Demarkationslinie der sowjetischen »Anschluss« 1938 nur noch unpolitische Opernparodien Zone war dagegen weit strikter geregelt. Diese Grenzkont- und Bauernschwänke spielen dürfen. 1940 zur Deutschen rollen wurden erst 1953 an den beiden Zonenübergängen Wehrmacht einberufen, kam er wegen »Wehrkraftzer- über die Enns und am Semmering so weit gelockert, dass setzung« und Betätigung zur Wiederherstellung eines Eisenbahnzüge nicht mehr anhalten mussten. Es genügte freien Österreichs 1942 in Haft. Das Todesurteil wurde nun ein einheitlicher Reisepass. Eine Identitätskarte war in eine mehrjährige Haftstrafe umgewandelt, die zur nicht mehr nötig und auch die Lebensmittelkarten wurden sogenannten »Frontbewährung« in einer Strafeinheit an abgeschafft. der Ostfront ausgesetzt wurde. Das Kriegsende verbrachte Im Zweiten Kontrollabkommen vom 28. Juni 1946 war er in englischer Gefangenschaft. 1946 ing er als Sprecher die Alliierte Kommission umstrukturiert worden. Sie der Sendergruppe Alpenland bei Radio Klagenfurt an. 1949 bestand aus dem Alliierten Rat, dem Exekutiv-Komitee und kehrte er nach Wien ans Raimundtheater zurück. Von jeweils einem Stab der Besatzungsmächte. Oberstes Verwal- 1952 bis 1965 spielte er im »Simpl« an der Seite von Farkas tungsorgan der einzelnen Zonen waren die Hochkommis- und Ernst Waldbrunn und in Folge an allen bedeutenden sare, die auch den Alliierten Rat stellten. Ab 1950 wurden Bühnen Wiens. die Militärverwaltungen schrittweise in Zivilverwaltungen überführt. Der gebürtige Wiener Kabarettist Farkas war als Jude 1938 nach Brünn gelohen und dann über Paris nach New Die österreichische Verwaltungsstruktur wurde im York City emigriert, wo er ebenfalls künstlerisch tätig war. Wesentlichen wie vor 1933/1934 beibehalten, so dass es 1946 kehrte er nach Wien zurück und trat ab 1950 auch wieder eine Bundesregierung, Landesregierungen mit wieder im Simpl auf, das er bis zu seinem Tod leitete. Landeshauptmännern sowie den Nationalrat als Parlament Für die Kosten der zu Beginn hunderttausende Mann und Landtage als Länderparlamente, eine Gemeindever- umfassenden Besatzungstruppen, die später dann schritt- waltung und regelmäßig geordnete freie Wahlen (auch in weise auf rund 50.000 Mann reduziert wurden, musste der sowjetischen Besatzungszone) gab. Österreich aufkommen. Im Jänner 1946 waren cirka Dem Alliierten Rat waren von der Bundesregierung alle 150.000 Rotarmisten, 40.000 GIs, rund 55.000 Briten und 15.000 Franzosen in ihren jeweiligen Zonen stationiert. chung zur Genehmigung vorzulegen. Wurde die Zustim- Die französischen Truppen wurden schon bis Mai 1946 mung nicht erteilt, konnte das Gesetz nicht in Kraft treten. auf 7.000 Mann reduziert. Im Oktober 1954 belief sich Es genügte das Veto einer Besatzungsmacht, um eine das sowjetische Kontingent noch auf 36.000 Mann, das gesetzliche Bestimmung zu Fall zu bringen. Wahlplakate amerikanische auf 15.000, das britische auf 2.800, während der Parteien konnten jederzeit von der alliierten Zensur das französische nur noch 540, davon 150 Gendarmen, beanstandet, überklebt oder zensuriert werden. Später aufwies. Die französischen Militärs waren v. a. in ihrem einigte sich der Alliierte Rat darauf, dass ein Veto nur in Wiener Sektor im Einsatz. Der Westen Österreichs mit Kraft tritt, wenn alle vier Mächte es gemeinsam einlegen, Tirol und Vorarlberg und annähernd auch Kärnten und wodurch die Einsprüche stark zurückgingen. die Steiermark waren gegen Ende der Besatzungszeit Die Besatzungszeit bot reichlich Stoff für das in Wien im Spätsommer 1955 praktisch schon besatzungsfrei, wieder aulebende Kabarett »Simpl«. Hauptakteure während der Osten mit Wien, Niederösterreich und dem waren Fritz Muliar und Karl Farkas. Der in Wien-Neubau Burgenland noch unter starker militärischer Kontrolle 19 VON DER BEFREIUNG ZUR FREIHEIT vom Parlament beschlossenen Gesetze vor ihrer Kundma- stand. Die Präsenz der Amerikaner war zuletzt auf die Stadt diese nun diesen geograischen Vorteil in der US-Zone Salzburg und das südliche Oberösterreich konzentriert, wo und überquerten über die Krimmler Tauern die Alpen sie als Wirtschaftsfaktor gern gesehen waren. über Italien auf dem Weg nach Palästina, das ihnen vom Die Verbände, die die alliierten Besatzungsmächte in Zionismus verheißene »gelobte Land«. Ein Bild zeigt einen Österreich stellten, waren die United States Forces in jüdischen Flüchtling, der versuchte, die Grenze zwischen Austria (USFA), die dem European Command (EUCOM) Österreich und Italien als erste Station auf dem Weg nach unterstanden und dann Teil der US Army Europe (USAR- Palästina zu überqueren. Er wurde von italienischen EUR) wurden. Die sowjetischen Truppen stellten keinen Grenzbeamten angehalten und an die österreichische expliziten Verband, sondern gehörten zur Zentralen Grenze zurückverwiesen. Heeresgruppe für Ungarn und Österreich, die in Österreich Auf dem 1000 Meter hohen Semmeringpass hob dem sowjetischen Teil der Alliierten Kommission für die sowjetische Besatzungsmacht 1955 die letzten Österreich und dann überwiegend dem zivilen Apparat des Militärkontrollen an der Demarkationslinie auf, welche Hochkommissars in Österreich unterstanden. die sowjetische von der britischen Zone trennte. Am Österreicher und Österreicherinnen, die zwischen 1933 19. September, nach zehn Jahren, verließen die letzten und 1945 der NSDAP oder einer ihrer Organisationen sowjetischen Truppen das Land. Die letzten britischen und angehört hatten, mussten sich im gesamten Lande einem amerikanischen Truppen zogen erst im Oktober ab. Entnaziizierungsverfahren stellen, das anfänglich sehr hart gehandhabt wurde. In einigen Fällen wurden sogar Todesstrafen verhängt. Mit Einsetzen des Kalten Krieges II. Der politische Neubeginn: Südtirol, Parteien, 1947/48 wurde die Regelung der Entnaziizierung jedoch Wahlen und Regierung lascher. Man ließ seitens der westlichen Besatzungsmächte [Bildteil ab Seite 77] von der Bestrafung von Nationalsozialisten mehr und mehr ab, waren diese »Ehemaligen« doch vielfach überzeugte Zunächst ohne Einverständnis der Westmächte, jedoch mit Antikommunisten und daher nun willkommene Verbün- Duldung der sowjetischen Besatzungsmacht, hatte sich in dete gegen die »Russen«. Die österreichischen Behörden Wien am 27. April 1945 eine provisorische Regierung gebil- trugen diese laxere Handhabung mit und die Regierung det, an der sich neben der Sozialistischen Partei Österreichs trat für Versöhnung ein. Die Großparteien ÖVP und SPÖ (SPÖ), die mit Karl Renner (1870–1950) den Staatskanzler warben um die Stimmen der Ex-NSDAP-Mitglieder, die auch stellte, und der christlich orientierten Österreichischen in Justiz, Verwaltung und Wirtschaft wieder Eingang inden Volkspartei (ÖVP) auch die Kommunistische Partei Öster- und dabei auch in Führungspositionen aufsteigen konnten. reichs (KPÖ) beteiligte. Die Bundesverfassung von 1920 Die Besatzer kontrollierten aber nicht nur die Öster- wurde in der novellierten Fassung von 1929 übernommen reicher, sondern auch Flüchtlinge aus anderen Ländern. und damit eine langwierige Debatte über eine neue Kon- Krimml ist die einzige Gemeinde des Bundeslandes Salz- stitution vermieden. Die Bildung von Landesregierungen burg, die direkt an Italien bzw. Südtirol grenzt. Nachdem hatte alsbald eingesetzt. Die alten Länder Nieder- und die zuvor benützten Alpenübergänge in den britischen und Oberösterreich, Salzburg, Tirol, Vorarlberg, Kärnten, die französischen Besatzungszonen Österreichs für tausende Steiermark und das Burgenland konstituierten sich wieder. jüdische Flüchtlinge und Überlebende des Holocaust aus Damit verfügte Österreich von Anfang an sowohl über Mittel- und Osteuropa gesperrt worden waren, nutzen zentralstaatliche als auch über föderative Vertretungen. 20 Die Anerkennung der provisorischen Regierung durch Für die Tätigkeit des Nationalrats entscheidend wurde die Westmächte erfolgte erst zögerlich am 20. Oktober das Zweite Kontrollabkommen vom 28. Juni 1946, in dem 1945, hatten diese doch Karl Renner eine Zeit lang als das Vetorecht der Besatzungsmächte eingeschränkt wurde. Marionette der Sowjets gesehen, was nicht der Fall war. Nur mehr Verfassungsgesetze bedurften nun der Zustim- Zustimmung erlangte sie dann dadurch, dass man in mung des Alliierten Rates; alle anderen Gesetze traten in vorangegangenen Länderkonferenzen den Eintritt von Kraft, wenn nicht innerhalb von 31 Tagen ein einstimmiger Vertretern auch der westlichen Bundesländer in die Einspruch des Rates erfolgt war, was in der Periode des Regierung Renner vereinbart hatte, die am 25. September Kalten Krieges nur mehr selten geschah. Allerdings umgebildet worden war und sich nunmehr aus dreizehn hemmte die Uneinigkeit der Alliierten den Abschluss des Vertretern der ÖVP, zwölf der SPÖ, zehn der KPÖ sowie vier Staatsvertrages und damit die Aufhebung der Besatzung. parteilosen Fachleuten zusammensetzte. Wie Renner bereits bei Amtsantritt zugesagt hatte, Ganz am Anfang stand jedoch ein ganz anderes politisches Thema im Vordergrund als die Wahlen: Die Frage der Rückkehr Südtirols, die viele Österreicherinnen und werden. Sie fanden in ganz Österreich am 25. November Österreicher emotional berührte und ihr Herz erwärmte. 1945 statt, wobei Mitglieder der NSDAP und ihre Wehrfor- Das Verlangen nach Bewahrung der territorialen Integrität mationen SA und SS vom Wahlrecht ausgeschlossen waren. war ein zentrales Anliegen Österreichs – das sah auch die Viele Männer mittlerer Jahrgänge befanden sich noch in französische Besatzungsmacht im Westen so, wobei in Kriegsgefangenschaft und konnten nicht wählen gehen, so den Jahren 1945/46 die Forderung nach »Heimholung« dass die Frauen ganz wesentlich den Ausgang der Urnen- Südtirols einen hohen, wenn nicht sogar den höchsten gänge entschieden. Die ÖVP erhielt mit 85 Mandaten die Stellenwert besaß. Österreichweit fanden Südtirol-Ver- absolute Mehrheit, die SPÖ 76 und die KPÖ vier Sitze im sammlungen statt. Federführend war der Innsbrucker Parlament. Bei den gleichzeitig stattindenden Landtags- Völkerrechtler Professor Eduard Reut-Nicolussi. Am wahlen ging die ÖVP deutlich als Sieger hervor. Sie stellte 4. September 1945 fand bereits eine Großkundgebung mit Ausnahme von Wien und Kärnten in allen anderen in der Tiroler Landeshauptstadt statt. Ofiziell von der Bundesländern den Landeshauptmann. Auf Grundlage französischen Militärregierung genehmigt, wurde vor etwa des nationalen Wahlergebnisses wurde der niederöster- 35.000 Teilnehmern vor dem Stadttheater ein Appell an die reichische Bauernbund-Direktor Ing. Leopold Figl Bun- Londoner Außenministerkonferenz und eine Entschlie- deskanzler und der Sozialist Adolf Schärf Vizekanzler. Die ßung an die Vereinten Nationen gerichtet. Eine weitere Kommunisten, die in der provisorischen Staatsregierung großangelegte Demonstration für die Rückkehr Südtirols noch das Innen- und das Unterrichtsressort besetzt hatten, zu Österreich fand am 22. April 1946 wieder in Innsbruck mussten sich nun mit dem neugebildeten Ministerium für statt. Zwei Buben in Tiroler Tracht trugen ein Transparent Energiewirtschaft zufrieden geben. mit der Aufschrift »155.000 Südtiroler Unterschriften«, Am 20. Dezember wählte die österreichische Bundes- die für die Wiedervereinigung Tirols geheim in Südtirol versammlung den bisherigen Staatskanzler Renner zum und unter den Optanten in Österreich gesammelt worden Bundespräsidenten nach dem Wahlmodus der Verfassung waren. von 1920, da man die Kosten einer Volkswahl so kurz nach In der ersten Jahreshälfte 1946 sollte sich jedoch der Nationalratswahl nicht mehr verantworten konnte und herausstellen, dass die Hoffnungen auf eine gerechte sich die Parteien auf Renner geeinigt hatten. Lösung der Südtirol-Frage sanken, zumal bei der Londoner 21 VON DER BEFREIUNG ZUR FREIHEIT sollten so bald wie möglich Nationalratswahlen abgehalten Außenministerkonferenz (10. September bis 2. Oktober und die Erhaltung des »ethnischen Charakters« der Süd- 1945) im Sinne der Beibehaltung der Brenner-Grenze tiroler sollten nicht erfolgen, was in Folge zu verstärkten bereits eine Vorentscheidung (»provisional decision«) Konlikten und sogar Bombenanschlägen im Südtirol gefallen war. Nur »kleinere Grenzberechtigungen« sollten der 1960er-Jahre führte, bis nach langwierigen Geheim- gestattet werden. London und Washington tendierten verhandlungen und zahlreichen Rückschlägen 1969 mit immer stärker dazu, das ihrer Einlusssphäre zugeteilte der Einigung zwischen Wien und Rom über ein »Paket« Italien mit dem Christdemokraten Alcide De Gasperi und einen »Operationskalender« für Durchführungsbe- gegen die starke kommunistische Partei zu unterstützen, stimmungen von Autonomiemaßnahmen ein Weg zur während Frankreich unter Charles de Gaulle Amerikanern Normalisierung beschritten werden konnte. und Briten in ihrer Südtirolpolitik zuneigte, aber als Erhebliche Befürchtungen entstanden für die öster- vierte Besatzungsmacht in Österreich unter General reichische Regierung durch weitgehende Ansprüche Béthouart bis ins Frühjahr 1946 den Tiroler Forderungen Jugoslawiens auf das südliche Kärnten, zumal diese aus entgegenkam. politisch-ideologischer Solidarität mit Belgrad von Moskau Rom erkannte die Relevanz der Südtirolproblematik, unterstützt wurden. Erst der Bruch zwischen Stalin und reagierte rasch und instrumentalisierte neben der (angeb- Tito 1948 brachte hier eine Änderung der Lage mit sich, lichen) NS-Vergangenheit der Südtiroler v. a. die Reoption, als der Kreml die jugoslawischen Gebietsforderungen d. h. die Frage des Wiedererwerbs der italienischen Staats- nicht mehr verfocht und die Grenzen Österreichs aus der bürgerschaft für die Optanten und damit die Möglichkeit Zwischenkriegszeit schließlich anerkannt werden mussten. der Rückkehr für die Umgesiedelten, zur Verteidigung und Die österreichischen Kommunisten hatten inzwischen Untermauerung des Verbleibs Südtirols bei Italien. Als die wegen des vom Kabinett Figl zur Bekämpfung der Inlation am Ballhausplatz einlaufenden Berichte in punkto Südtirol beschlossenen Währungsschutzgesetzes und aufgrund zunehmend negativer lauteten, ließ sich Österreichs ihrer Entscheidung gegen die Annahme der amerikani- junger Außenminister Karl Gruber auf verschiedene schen Marshall-Plan-Hilfe (siehe auch Kapitel III) die Gebietskonzessionen (Bozner- und Pustertallösung) ein. Regierung verlassen. Von 1947 an bis 1966 regierte in Diese vorauseilenden Territorialkompromiss-Vorschläge Österreich also nahezu zwei Jahrzehnte lang eine Koalition untergruben den moralischen Anspruch der integralen der beiden Großparteien, der ÖVP und der SPÖ, wobei die Lösung und schwächten die österreichische Position. Volkspartei mit Leopold Figl, Julius Raab, Alfons Gorbach Ergebnis der durch die Vorentscheidung der Allierten und Josef Klaus die Bundeskanzler stellte, während die erschwerten und durch vorschnelle Kompromisse belaste- Position des Vizekanzlers (Adolf Schärf und Bruno Pitter- ten österreichischen Südtirolpolitk war die Ablehnung der mann) durchwegs von der SPÖ besetzt wurde. Pustertallösung durch die Außenminister der Vier Mächte Wahlplakate in Wien für die Wahlen zum Nationalrat im Juni und das kärgliche Gruber-De Gasperi Abkommen am 9. Oktober 1949 zeigten ein großes Plakat, auf dem die vom 5. September 1946 auf der Pariser Friedenskonferenz, Österreicher gewarnt wurden, nicht die Katze im Sack zu das keine befriedigende Autonomielösung der Süd- kaufen, sondern die ÖVP zu wählen. Das Plakat war auf der tirolfrage bringen sollte. noch nicht wiederhergestellten Fassade des Burgtheaters Die nach Kriegsende in ganz Österreich aufgelammte angebracht. Diese Wahlen konnten als erste Wahlen unter Hoffnung auf eine Rückkehr Südtirols erfüllte sich nicht. relativ normalen Bedingungen bezeichnet werden, da Auch die Gewährung einer weitgehenden Autonomie der größte Teil der österreichischen Kriegsgefangenen 22 zurückgekehrt war und nun auch die sogenannten »Min- Niederösterreich wurden Belegschaften der sowjetischen derbelasteten« unter den ehemaligen Nationalsozialisten USIA-Betriebe mobilisiert und die Polizeikräfte am Eingrei- aufgrund einer inzwischen erlassenen Amnestie wahlbe- fen gehindert. Schließlich streikten etwa 120.000 Arbeiter, rechtigt waren. davon die Hälfte aus den USIA-Betrieben. Es kam zu Gerade um diese Stimmen warb besonders der neu Demonstrationen und Auseinandersetzungen mit den gegründete »Verband der Unabhängigen« (VdU), der vom Sicherheitskräften. Die Streikbewegung weitete sich sozialistischen Innenminister Oskar Helmer in der Absicht auf Wien, die Industriegebiete Niederösterreichs, die gefördert worden war, auf diesem Weg das ÖVP-Monopol Steiermark und besonders auf Linz und Oberösterreich mit bürgerlichen und nicht-sozialistischen Stimmen aus. So bildeten sich illegale Gewerkschaftskomitees und aufzubrechen. Die Gegenaktion des ÖVP-Wirtschaftsbünd- es folgten Sabotageaktionen gegen Verkehrsmittel. lers Julius Raab, der wohl einlussreichsten und stärksten Die Aktionen wurden von der Regierung und ihr nahe- Führungsigur in der Volkspartei, durch Kontakte mit stehenden Kräften als politischer Umsturzversuch der ehemaligen NS-Repräsentanten dieses Manöver Helmers Kommunisten interpretiert, während Vertreter der west- zu konterkarieren und das Stimmenreservoir der »Ehe- lichen Besatzungsmächte darin lediglich »disturbances« maligen« für die ÖVP abzuschöpfen, zeigte jedoch keine erblickten. Bundeskanzler Figl emping zur Beruhigung entscheidende Wirkung: Die »Unabhängigen« nahmen der Lage im Beisein von Vizekanzler Schärf eine Delegation den beiden Großparteien etwa gleich viel Stimmen und von Streikenden und sagte die Weiterleitung ihrer Reso- Mandate weg. Die ÖVP erhielt nur mehr 77, die SPÖ 67, die lution an den Ministerrat und den Gewerkschaftsbund zu. Unabhängigen 16 und der »Linksblock« (Kommunisten In einer öffentlichen Erklärung betonte der Kanzler die und die unter Erwin Scharf aus der SPÖ ausgetretenen Notwendigkeit des Abbaus der Subventionen, verurteilte Linkssozialisten) fünf Mandate. aber zugleich die kommunistischen Versuche, die Bevölke- Der Frust bei den Linken war entsprechend groß. Ein im Oktober 1950 von kommunistischer Seite unternommener rung aufzuwiegeln. Neuerliche Unruhen führten zur gewaltsamen Behinderung des Straßenverkehrs. Kommunisten kamen auf Last- im Zusammenhang mit dem 4. Lohn- und Preisabkommen wägen mit sowjetischen Kennzeichen und versuchten, das zu einer umfassenden Streikbewegung und zu Unruhen Gewerkschaftshaus zu besetzen. Die Polizei verhinderte die mit dem Ziel eines Umsturzes des Regierungssystems zu Besetzung und die westlichen Vertreter protestierten im nützen, ließ die noch junge Zweite Republik aufregende Alliierten Rat gegen die »Unterstützung« der Kommunisten Wochen, v. a. im Osten, erleben. Ende September 1950 durch die sowjetische Besatzungsmacht. hatte der österreichische Ministerrat die Vereinbarungen Am 30. September beschloss eine aus kommunisti- in Bezug auf die Preis- und Lohnfragen genehmigt. Am schen Betriebsräten gebildete »Gesamtösterreichische gleichen Tag stimmte eine Vorständekonferenz des Betriebsrätekonferenz«, ein bis 3. Oktober befristetes Gewerkschaftsbundes gegen die Stimmen der kommu- Ultimatum an die österreichische Regierung zu richten, in nistischen Fraktion den Abmachungen zu. dem Forderungen nach Rücknahme der Preiserhöhungen Kommunistische Agitatoren versuchten nun, das oder eine Verdopplung der im Preis- und Lohnabkommen strittige Lohn- und Preisabkommen zu verwenden, um vorgesehenen Erhöhung der Löhne und Gehälter sowie Arbeitsniederlegungen in Industriegebieten herbeizu- ein gesetzlicher Preisstopp und keine weitere Schilling- führen. Vor allem in der sowjetischen Zone von Wien und abwertung laut wurden. Bei Nichterfüllung erfolge ein 23 VON DER BEFREIUNG ZUR FREIHEIT Versuch, die wirtschaftlichen Schwierigkeiten des Landes Streik in ganz Österreich am 4. Oktober. Tags zuvor von der SPÖ aufgestellten Bürgermeister von Wien, Theo- hatte die österreichische Bundesregierung schon dazu dor Körner, und dem parteilosen Innsbrucker Professor aufgerufen, sich durch »terroristische Aktionen« nicht der Chirurgie Burkhard Breitner, der weit über eine halbe einschüchtern zu lassen und die Freiheit des Landes zu Million der Stimmen erreicht hatte. Da kein Kandidat die verteidigen. Im Ministerrat wurde nun festgehalten, dass absolute Mehrheit erreichen konnte, wurde eine Stichwahl ein Eingehen auf die kommunistischen Forderungen notwendig, in der Körner über Gleissner triumphierte. nicht in Frage komme. Am 4. Oktober wurde die kommu- Beim 1953 kommunistisch ausgerichteten Weltfrie- nistische Streikparole nur in einzelnen Betrieben befolgt, denskongress in Wien trat der sowjetische Schriftsteller wie zum Beispiel in den Steyr-Werken in Oberösterreich. Ilja Ehrenburg (1891–1967) auf, der gerade seinen Roman Verschiedene Aktionen erfolgten noch in Wien und Nieder- »Ottepel« (»Das Tauwetter«) verfasst hatte. Bald nach österreich, v. a. in Wiener Neustadt, wo das Postamt gewalt- Stalins Tod im März 1953 hatte es von sowjetischer Seite sam besetzt wurde. Tags darauf kam es noch zu diversen tatsächlich fühlbare Erleichterungen für Österreich gege- Stör- und Sabotageversuchen in Wien, v. a. gegen den ben: Amnestie für Kriegsgefangene und Zivilinternierte Straßenbahnverkehr und auf den Zufahrtsstraßen in die in der UdSSR; die Kraftwerksanlage Ybbs-Persenbeug Hauptstadt. Die kommunistische Betriebsrätekonferenz wurde der österreichischen Regierung übergeben und fasste allerdings am Abend des 5. Oktober mit 400 gegen der militärische Hochkommissar Swiridow durch den 3 Stimmen den Beschluss, die Streiks zu beenden und Diplomaten und Botschafter Iljitschow ersetzt. Dennoch die Arbeit am 6. Oktober wieder aufzunehmen, womit die gab es Misstöne in der soweit versöhnlichen Stimmung Protestbewegung gescheitert war. Die Bundesregierung von kommunistischer Seite. So etwa ließ Jean-Paul Sartre war standfest geblieben und erließ einen Aufruf, in dem Schauspieler und Regisseur Erich Neuberg für die dem auf das »eigentliche Ziel« der »Terroraktionen«, Dauer des Friedenskongresses die Aufführung seines »Österreich in die Arme des Kommunismus zu treiben«, antikommunistischen Dramas »Les mains sales« verbieten. hingewiesen und dem österreichischen Volk, allen voran Im Nationalratswahlkampf 1953 sprach der Grazer der Exekutive, für den geleisteten Widerstand gedankt Universitätsprofessor Josef Dobretsberger, von den wurde. Letztlich beendete das entschlossene Vorgehen des politischen Gegnern auch »Sowjetsberger« genannt, auf Österreichischen Gewerkschaftsbundes (ÖGB), angeführt einer Parteiveranstaltung der »Volksopposition« in Wien. von den Bau- und Holzarbeitern, unter ihrem Sekretär ÖVP-Bundeskanzler Leopold Figl wählte wiederum die Franz Olah, den von der KPÖ gelenkten Streik. Bühne eines niederösterreichischen Bauerntheaters, um Als Bundespräsident Renner am 31. Oktober 1950, kurz zu seinen Wählern zu sprechen. Das Endergebnis der nach seinem 80. Geburtstag, verstarb, erwogen die Partei- Urnengänge wurde im Presseraum des Innenministeriums führungen zunächst, dessen Nachfolger wieder durch die bekanntgegeben. Bei den am 22. Februar 1953 durchge- Bundestagsversammlung wählen zu lassen, gaben dann führten dritten Nationalratswahlen in Österreich erhielt aber den Stimmen in der Öffentlichkeit nach, die forderten, bei einer Wahlbeteiligung von 96 % die ÖVP 74, die SPÖ entweder die Verfassung zu ändern oder, der Verfassung 73, der nunmehr als Wahlverband der Unabhängigen von 1929 folgend, den Bundespräsidenten direkt durch (WdU) auftretende dritte Faktor der österreichischen das Volk wählen zu lassen. Im ersten Wahlgang erhielt der Innenpolitik 14 und die »Volksopposition« vier Mandate. Landeshauptmann von Oberösterreich, der ÖVP-Kandidat Die Unabhängigen, bei denen sich interne Gegensätze Heinrich Gleissner, die meisten Stimmen, gefolgt von dem aufttaten, ielen zurück und die »Volksopposition«, unter 24 deren Namen Kommunisten und Linkssozialisten kandi- III. diert hatten, blieben marginal. Nachkriegsleben, Wirtschaftsnot, Wiederaufbau und Die Regierungsverhandlungen gestalteten sich schwierig. Der an Stelle von Figl als Bundeskanzler eingesetzte Der Alltag in Wien und in den Ländern: der Umgang mit der Vergangenheit [Bildteil ab Seite 109] Raab hatte sich mit dem Gedanken getragen und den Vorschlag eingebracht, die »Unabhängigen« als dritten In den ersten Nachkriegsjahren herrschte eine unbe- Koalitionspartner in die Regierung aufzunehmen, was schreiblich große Not auf allen Ebenen. Mit der Kapitu- jedoch Körner und die SPÖ entschieden ablehnten und zu lation der Wehrmacht und dem Ende des NS-Regimes einer Neuaulage der Großen Koalition führte, die von acht war das nationalsozialistische Versorgungssystem völlig ÖVP-Ministern, sechs SPÖ-Ministern und dem parteilosen zusammengebrochen. Niedrigste Kaloriensätze durch Justizminister Josef Gerö getragen wurde. Angesichts des äußerst knappe Lebensmittelverhältnisse, Probleme beim knappen Wahlergebnisses von ÖVP und SPÖ diente als Transport der Güter durch zerstörte Verkehrswege, fehlen- Ausgleich für die Sozialisten die Installierung eines Staats- des Baumaterial, mangelnder Wohnraum aufgrund der sekretärs im bislang von der ÖVP dominierten Außenamt, alliierten Bombardements und zu wenig Heizmittel waren wofür die SPÖ den aus der schwedischen Emigration kennzeichnend für eine Zeit der größten Entbehrungen, zurückgekehrten Bruno Kreisky aufstellte. Kreisky verblieb des Leidens und Verzichts. In den ersten Nachkriegsjahren in dieser Position auch, als Außenminister Gruber im warteten Arbeitslose noch vor den Arbeitsämtern. Aktivis- November im Zusammenhang mit der Veröffentlichung ten luden zu Arbeitslosenversammlungen. Arbeitslose stell- seines Buches »Zwischen Befreiung und Freiheit. Der ten sich bei Zahlstellen an, um inanzielle Unterstützung zu Sonderfall Österreich« zurücktreten musste. In diesem erhalten. Jenen, die Berufe ausüben konnten, ging es aller- hatte er über im Jahre 1947 stattgefundene Kontakt- höchstens leidlich. Selbst die Wiener Ärzte hatten Grund gespräche zwischen Figl und dem kommunistischen zum Protest, wie ein Sitzstreik aus dem Jahr 1953 zeigt. Politiker Ernst Fischer zwecks einer Regierungsumbildung Die Ruinen des Philipphofs in der Wiener Innenstadt und im Hintergrund die zerstörte Staatsoper waren nach Washington beordert und Raab, der als Regierungs- sichtbarster Ausdruck der Zerstörungen des alliierten chef die Außenpolitik der Jahre 1953 bis 1955 maßgeblich Luftkriegs. Im Luftschutzkeller des Philipphofs starben bestimmen sollte, berief seinen alten Freund und CV-Bun- während eines Luftangriffs am 12. März 1945 mehr als desbruder Figl als neuen Außenminister in sein Kabinett, 250 Personen. Die Fenster der Geschäfte waren nach den da er sich von ihm bessere und zielführendere Kontakte Kriegsschäden noch in den 1950er-Jahren mit Holzbret- zur sowjetischen Besatzungsmacht in Österreich erwartete, tern vernagelt. Schulen mussten aufgebaut werden, um was sich als zutreffend erweisen sollte. wieder einen geregelten Lehrbetrieb aufzunehmen. Im Sommer 1946 fuhr der erste österreichische Zug über die Grenze zwischen der amerikanischen und der russischen Zone von Salzburg nach Wien. Acht Jahre nach Ende des Krieges war aber die Stadtbahnstation »Heiligenstadt« in Wien beispielsweise immer noch eine Ruine. Besonders hart trafen die Bevölkerung die extrem harten Winter der Jahre 1946 und 1947. Bettlerinnen 25 VON DER BEFREIUNG ZUR FREIHEIT (»Figl-Fischerei«) berichtet. Gruber wurde als Botschafter säumten die Straßen in der Innenstadt noch Anfang der wurde Holz für Brennmaterial gesammelt. Mitten in 1950er-Jahre. Für viele Arbeitslose und Kriegsveteranen den Städten wurden in Parks Kartoffeln angebaut. Die war ein Schaufensterbummel die einzige Chance, um am Säuglingssterblichkeit lag zu Kriegsende bei über 15 %. wirtschaftlichen Aufschwung teilzuhaben. Die Unterernährung traf besonders die Kinder, so dass die Die Städte waren besonders in der Nachkriegsnot Bundesregierung zu Hilfsappellen gezwungen war. Wie Welten der Gegensätze: Bessergestellte trafen sich zum schon nach dem Ersten Weltkrieg reagierten wieder die Nachmittagskaffee in der Wiener Konditorei Demel auf Eidgenossen positiv. Über Vermittlung des Roten Kreuzes dem Kohlmarkt, die traditionell ein Treffpunkt der elegan- wurden noch im Herbst 1945 und in den folgenden Jahren ten Gesellschaft war. Einfachere Schichten bevorzugten über zehntausende sogenannte »Schweizer Kinder« in das Gasthäuser, die sogenannten »Beisln«. Das Kaffeehaus westliche Nachbarland gebracht, um einige Monate besser in Wien wurde schnell wieder zur Heimat von Politikern, ernährt und versorgt zu werden. Literaten und sonstigen Berühmtheiten, die sich nach Die Stellung der Frauen rückte mit Kriegsende noch den Schrecken des Zweiten Weltkriegs bei einem »kleinen stärker in den Vordergrund als bisher, waren diese ja schon Braunen« in ihren Stammcafés einfanden. in der NS-Kriegswirtschaft beispielsweise verstärkt in Rüs- Ein weitere große Herausforderung war für Land und tungsbetrieben zum Einsatz gekommen. Sie halfen nach Leute der Zustrom von Menschenmassen aus dem Osten Kriegsende nicht nur, die Trümmer des Bombenschutts zu Europas. Millionen von Flüchtlingen, darunter Volksdeut- beseitigen, sondern gaben auch bei den ersten Wahlen mit sche, vormalige Zwangsarbeiter und KZ-Häftlinge sowie ihren Stimmen entscheidenden Ausschlag für den Sieg der jüdische Überlebende des Holocaust wollten in Österreich ÖVP und die Bildung einer »Großen Koalition«, bestehend bleiben. Sie alle irmierten unter der Bezeichnung aus Volkspartei und Sozialisten. Frauen waren mehr denn je »Displaced Persons«. Konnte kaum die eigene Bevölkerung dazu gezwungen, vermehrt Männerrollen zu übernehmen. hinreichend ernährt werden, fehlte es für die sogenannten Sie waren nicht nur für die Kinder, sondern auch für das »versetzten Personen« an allen Ecken und Enden. Es Überleben der gesamten Familie verantwortlich. Im Berg- verwundert nicht, dass es viele DPs jüdischer und anderer werk Karlschacht in der Steiermark waren noch 1951 Frauen Herkunft wegen der extremen Mangelverhältnisse und damit beschäftigt, die Steine von der Kohle zu trennen. nicht zuletzt aufgrund eines sich wieder artikulierenden Viele Männer waren entweder im Krieg ums Leben Antisemitismus und Fremdenhasses vorzogen, Österreich gekommen oder in Kriegsgefangenschaft geraten. Als jene nur als Transitland, d. h. als Übergangsstation, zu betrach- Soldaten, die lange als vermisst gegolten hatten, nach ten. Es verwundert auch gar nicht, dass aufgrund der Hause zurückkehrten, waren ihre Frauen nicht selten neu extremen Not auf allen Ebenen keine der österreichischen liiert oder hatten wieder geheiratet – manchmal war der Nachkriegsregierungen Aufrufe zum Zwecke erließ, ehe- neue Mann in ihrem Leben auch ein Besatzungssoldat. Die malige und emigrierte Österreicher zur Rückkehr ins Land Anzahl der »Soldatenkinder«, wie die in den Jahren von zu ermuntern bzw. diese zurückzuholen. 1946 bis 1953/55 geborenen Kinder allgemein bezeichnet Wirtschaftlich bot im Österreich der ersten Nach- wurden, liegt nach österreichweiten Schätzungen bei kriegsjahre vielfach nur der Schwarzmarkt eine der cirka 20.000. Ihre Herkunft wurde vielfach verschwiegen. wenigen Überlebensmöglichkeiten für die überwiegend Frauen, die sich mit den Besatzern »einließen«, wurden hungernden Städter, während für die Landbevölkerung mitunter von ihren Landsleuten mit Geringschätzung und die Lebensbedingungen günstiger waren. In den Wäldern Verachtung bedacht. 26 Auch vier Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges den überwiegend katholischen Räumen Österreichs die kamen immer noch österreichische Kriegsgefangene traditionellen Fronleichnams-Prozessionen nicht nur zu aus den Lagern in der Sowjetunion zurück. Frauen und Lande, sondern in einem speziellen Fall sogar auch auf Kinder begrüßten die Heimkehrer. Bis Ende November dem Wasser statt, wie ein Bild vom Traunsee zeigt. Schon 1949 waren es knapp 500.000 ehemalige Kriegsgefangene, seit Jahrhunderten wird hier die Monstranz einer alten die den Schrecken des russischen Lagerlebens lebend Tradition nach aus der Kirche getragen und auf ein Boot entkommen waren. Die letzten Österreicher kamen erst gebracht, auf dem ein Altar errichtet ist; zahlreiche weitere im Juni 1955, nach Unterzeichnung des österreichischen Boote bringen die Gläubigen möglichst nahe an das Staatsvertrages, zurück. Schauspiel heran. Die Stimmung war in der ersten Nachkriegszeit beson- Schon in den Nachkriegsjahren wurde Österreich von ders gedrückt, so dass jedes Wort der Aufmunterung nottat. Naturkatastrophen heimgesucht. Nach einem Lawinen- Bundeskanzler Leopold Figl führte zu Heiligabend 1945 abgang im Jahr 1950 in Heiligenblut am Großglockner in einer Ansprache aus: »Ich kann Euch zu Weihnachten mussten überlebende Ortsangehörige und Touristen in nichts geben. Ich kann Euch für den Christbaum, wenn einem Notaufnahmelager untergebracht werden. Eine Ihr überhaupt einen habt, keine Kerzen geben. Kein Stück deutsche Schulklasse verirrte sich 1954 im Dachstein- Brot, keine Kohle zum Heizen, kein Glas zum Einschnei- massiv. 16 Schüler und ein Lehrer starben in einer Lawine. den. Wir haben nichts. Ich kann Euch nur bitten: Glaubt an Die Skiferien endeten für sie mit dieser Tragödie. dieses Österreich!« Die erste Währungsreform 1945 führte zu einer Geld- Das Weihnachtsfest am Lande gestaltete sich mitunter verknappung, als die noch gültige Reichsmark bis zu ganz anders als in den Städten, wie Bilder aus dem Salzbur- 150 Schilling getauscht wurde und der Geldwert 1947 auf gischen Wagrain zeigen. Am Morgen des Christtags sangen ein Drittel absank. Bereits in diesem Jahr wurde aufgrund Kinder am Grab von Pfarrer Josef Mohr, dem Dichter des der hohen Inlation ein »neuer« Schilling eingeführt. Das Liedes »Stille Nacht, Heilige Nacht«. Traditionelle länd- Tauschverhältnis betrug drei »alte« für einen »neuen« liche österreichische Weihnachtsbräuche beinhalteten Schilling. neben dem Besuch der Mitternachtsmette und einem Der wirtschaftliche Aufschwung vollzog sich in Öster- Weihnachtsbaum im Haus auch das Verbrennen von reich regional sehr unterschiedlich. Während der Wieder- Weihrauch im Stall. aufbau in den von den Westmächten besetzten westlichen Regionen Österreichs relativ rasch einsetzte, war der Osten sowjetischen Besatzungszone und in der Hauptstadt Österreichs durch die sowjetische Besatzung benachteiligt wieder freier als unter der NS-Diktatur entfalten. Im und geriet auch gegenüber dem Westen in Rückstand. Wiener Stephansdom zelebrierte Erzbischof und Kardinal Heute noch merkt man das in manchen Straßen und Theodor Innitzer die Messe. Am Allerseelentag besuchten Teilen Wiens. Als Symbol für den Wiederaufbau galt die die Bewohner ihre Toten auf den Friedhöfen wie im Fertigstellung des Tauernkraftwerkes Glockner-Kaprun, burgenländischen Schattendorf. Diese Totenstätte war mit dessen Bau schon vor dem Krieg von den National- von Minenfeldern und einem Stacheldrahtverhau des sozialisten unter Einsatz von Zwangsarbeitern aus dem Eisernen Vorhangs umgeben. Dieser trennte von 1952 bis Osten Europas begonnen worden war. Der Bau galt als 1989 Österreich und Ungarn sogar durch die Friedhöfe einer der größten Staudämme in Europa und wurde erst hindurch. Außerhalb der urbanen Zentren fanden in durch den Einsatz von Mitteln aus dem European Recovery 27 VON DER BEFREIUNG ZUR FREIHEIT Die katholische Kirche konnte sich im Österreich der Programme (ERP), auch Marshall-Plan genannt, möglich, geschuldet: Einerseits war vor dem Hintergrund des sich der mitentscheidend für den ökonomischen Rekonstrukti- abzeichnenden Kalten Krieges in Europa erhebliches onsprozess war. Konliktpotential vorhanden, andererseits aber war auch Am 16. April 1948 unterzeichnete Österreich trotz aller die Aufrechterhaltung eines besatzungspolitischen Bedenken der Opposition und heftiger Kritik seitens Balanceaktes erforderlich, was die Beibehaltung der der Kommunisten das Abkommen der Organisation für wirtschaftlichen Einheit des Landes begünstigen sollte. wirtschaftlichen Wiederaufbau (OEEC) in Paris, dem Die Sowjets protestierten zwar im Alliierten Rat gegen die ein bilateraler Vertrag mit den USA folgte. Am 2. Juli »beispiellose Einmischung in innere Angelegenheiten 1948 wurde dieses zwischenstaatliche Abkommen über Österreichs« durch das ERP und die KPÖ bezeichnete wirtschaftliche Zusammenarbeit zwischen Österreich und das Land gar als ein »Anhängsel an die Bizone« – das war den USA im Sitzungssaal des Außenamts am Ballhausplatz der 1947 erfolgte Zusammenschluss von britischer und durch US-Vertreter John G. Erhardt, Vizekanzler Adolf amerikanischer Besatzungszone in Deutschland – letztlich Schärf und Außenminister Karl Gruber unterzeichnet. wurde aber die autonome und schon als souverän zu Österreich erhielt die Mittel als »grants« (Geschenk) und es bezeichnende Entscheidung Österreichs von sowjetischer gelang ihm dabei als einzigem Land, auch für die sowje- Seite hingenommen. tisch besetzten Gebiete zu den Geld- und Hilfsmitteln des Politische Unabhängigkeit und wirtschaftlicher Wieder- Marshallplans zu kommen. Im Gegenzug musste es den aufbau waren nicht gleichzeitig zu erlangen. Die um- Schilling stabilisieren und den Staatshaushalt möglichst fassende amerikanische Wirtschaftshilfe und die ausgeglichen gestalten. Der mit den USA abgeschlossene Teilnahme Österreichs am Marshall-Plan waren nicht ERP-Vertrag sah über die normale Dauer des Mar- gleichzeitig mit sofortiger sowjetischer Zustimmung zum shall-Plans von 1948 bis 1952 hinaus eine Laufzeit bis zum Abschluss des Staatsvertrags zu erhalten. Der erfolgreiche 30. Juni 1953 vor und wurde dann noch um ein halbes Jahr wirtschaftliche Neustart hatte für Österreich aber zunächst verlängert. Gruber qualiizierte den Vertrag im Ministerrat Vorrang und war Voraussetzung zur Erreichung des weder als »gesetzesändernd« noch als »politisch«, um die politischen Ziels der Souveränität. Die Partizipation ganz Ratiizierung und somit das Erfordernis zur Erlangung der Österreichs am ERP war das Nahziel. Das Scheitern der Zustimmung seitens des Alliierten Rats zu umgehen. Dies Moskauer Außenministerkonferenz im Frühjahr 1947 wurde so auch im Vertragstext verankert, der als einfaches machte den Weg zum Marshall-Plan für Österreich frei Verwaltungsübereinkommen behandelt wurde. und sicherte westliches Wohlwollen für die späteren Die Bevorzugung Österreichs durch einen außerordent- Verhandlungen über den Staatsvertrag. Das von den lich hohen Betrag an US-Fördermitteln erfolgte trotz oder USA initiierte Europäische Wiederaufbauprogramm gerade wegen Einbeziehung der sowjetischen Besatzungs- funktionierte nach dem Prinzip des Gebens und Nehmens zone in den Marshall-Plan. Politische Notwendigkeiten zwischen zwei, wenn auch ungleichen Partnern, einem erzwangen diese Förderung und veranlassten die USA Hilfsbedürftigen und einem Hilfeleistenden, von dem zur wirtschaftlichen Stabilisierung und Konsolidierung beide gleichzeitig proitierten. Hierzu gehörte auf dieser geostrategisch wichtigen und für Krisen anfälligen US-amerikanischer Seite die Verzögerung des Staatsver- Grenzregion in Westeuropa. tragsabschlusses, weil sowjetisierend-neutralisierende Die Tatsache also, dass Österreich so umfangreiche ERP-Mittel erhielt, war verschiedenen Umständen 28 Tendenzen in Bezug auf Österreich auch auf Deutschland überzugreifen drohten. Dem ERP waren von 1945 bis 1947 bereits eine Reihe sowohl seine Produktion als auch seinen Lebensstandard anderer v. a. US-amerikanischer Unterstützungspro- erheblich steigern. Bedeutsam wurde hierbei die Verwen- gramme für Österreich vorausgegangen: Governmental dung der Erlöse aus den sogenannten »counterpart funds« Aid and Relief in Occupied Areas (GARIOA)-Lieferungen, oder »Gegenwertmitteln« in Schilling. Das waren die United Nations Relief and Rehabilitation Administration Einnahmen aus der ERP-Hilfe bzw. die Schillingbeträge, (UNRRA)-, Kongress-, Interims- und eine Erweiterte die österreichische Importeure für bezogene Waren aus Interims-Hilfe. Anstatt Wiederaufbau, Sanierung und dem US-Hilfsprogramm auf ein Sonderkonto des Bundes Modernisierung (»recovery« und »rehabilitation«) zu leisten, einzahlen mussten. Diese blieben damit im Inland, über so die Zielsetzung der US-Administration unter Präsident deren Freigabe hatten allerdings die USA im Rahmen der Truman, war der Marshall-Plan für Österreich in den Economic Cooperation Administration (ECA)-Mission ersten Jahren von 1948 bis 1950 nur ein Fürsorge- bzw. in Wien zu entscheiden. Bis zum 31. März 1955 beliefen Notstandsprogramm (»relief«). Der spätere Leiter des sich 51,8 % der »counterparts« auf Industrie-Investitionen, Wirtschaftsforschungsinstituts Franz Nemschak hielt an der Spitze die Elektrizitätswirtschaft, gefolgt von der rückblickend 1955 v. a. in Bezug auf den Marshall-Plan fest: Eisen- und Stahlerzeugung, der Papier-, der eisen- und »Ohne die großzügige Hilfe des Auslandes wäre Österreich metallverarbeitenden Industrie sowie dem Kohlebergbau. auf unabsehbare Zeit in tiefstes Elend gestoßen worden, ERP-Mittel inanzierten auch ca. 80 % des Investitionsauf- aus dem wir uns, wenn überhaupt, nur langsam, unter wands für die Kapruner Kraftwerke. Der Marshall-Plan größten Entbehrungen und Mühen, hätten herausarbeiten half mit, Kaprun zu einem Mythos zu machen. Das können.« Tauernkraftwerk Glockner-Kaprun wurde zum Symbol des Ökonomisch zog Österreich zunächst nicht nur aus den österreichischen Wiederaufbaus. Österreich erhielt vom Marshall-Plan mit 130 $ neben Norwegen die zweithöchste auch aus quantitativen Restriktionen für den gesamten Pro-Kopf-Rate von allen ERP-Empfängerstaaten – Island Warenimport aus den ERP-Teilnehmerländern großen bekam mit 209 $ die höchste Quote, die deutschen West- Nutzen. Das Land war von Anfang an Netto-Schuldner zonen bzw. die Bundesrepublik erhielten im Unterschied unter den ERP-Ländern, während die deutschen Westzo- dazu lediglich 19 $ pro Kopf! Die Güter bekam Österreich nen (1948/49) bzw. die Bundesrepublik Deutschland ab zur Gänze geschenkt. Im ersten ERP-Jahr 1948/49 emping 1949 sehr bald Netto-Gläubiger der übrigen europäischen das Land mit 14 % des nationalen Einkommens den Staaten wurden. Der volle Durchbruch in der Normalisie- höchsten Anteil des Marshall-Plans. rung des österreichischen Waren- und Handelsverkehrs wurde erst Ende der 1950er-Jahre erreicht. Der Marshall-Plan hatte zwei Seiten: Einerseits Die Teilnahme am Marshall-Plan bewirkte andererseits auch eine Reduzierung des Handels mit Osteuropa und die Verplichtung zur Mitwirkung an der US-Embargopolitik leistete das ERP einen existentiell bedeutsamen Beitrag gegenüber der Sowjetunion und ihren Satelliten. Dies traf zur Rekonstruktion und Innovation der Ökonomie. Österreich insofern, als es von allen OEEC-Mitgliedern Österreich hatte insgesamt Zahlungen in der Höhe von den höchsten Handelsanteil mit den unter sowjetischem über 1 Milliarde Dollar von den USA und die zweithöchste Einluss stehenden osteuropäischen Staaten und der Pro-Kopf-Rate von allen ERP-Empfängern erhalten und UdSSR selbst hatte, dieser jedoch ab 1948 15 % des Außen- somit vom Marshall-Plan kräftig proitiert. Es konnte handels nicht überschritt. Im Kalten Krieg wurde dieser auch im Vergleich zu anderen ERP-Teilnehmerländern auch weiter reduziert. Dagegen stieg der Außenhandel 29 VON DER BEFREIUNG ZUR FREIHEIT Vorteilen der Handelsliberalisierung beim Export, sondern mit den OEEC-Ländern sowohl auf der Ein- wie auf der Erst nach dem Krieg kam der Fall der Pfundnoten-Fäl- Ausfuhrseite. Bei aller Betonung der Bedeutung der schung durch das NS-Regime ans Tageslicht. In den letzten amerikanischen Auslandshilfe gilt es auch zu beachten, Kriegsjahren hatten die Nationalsozialisten britische dass diese nicht viel größer als die Summe der Güter und Pfundnoten in der Absicht gedruckt, die Wirtschaft des Leistungen war, die die Besatzungsmächte von Österreich Vereinigten Königreichs zu destabilisieren, was misslingen beanspruchten und abzogen bzw. als Quasi-Reparationen sollte. Gegen Kriegsende wurden die Kisten mit den in die Sowjetunion transferiert wurden. Der Ressour- Blüten im Toplitzsee versenkt und erst 1959 durch Taucher centransfer bestand aus folgenden vier Komponenten: entdeckt und einer erstaunten Öffentlichkeit präsentiert. Besatzungskosten, Reparationen in Form von Demontagen Das Verhältnis zum österreichischen Judentum war nach Kriegsende, Reparationen aus laufender Produktion, von den Hypotheken der Vergangenheit belastet und von v. a. aus den sowjetischen USIA-Betrieben sowie Ablösen schlechtem Gewissen gekennzeichnet. Bei den Verfol- und Entschädigungen im Zusammenhang mit dem gungen hatten Österreicherinnen und Österreicher oft Staatsvertrag. nur weggeschaut, wenn sie nicht sogar aktiv daran durch Nachdem 1953 das ERP auslief, erhielt Wien noch Zu- Denunziationen oder gar Tathandlungen beteiligt waren. wendungen durch die US-amerikanische Mutual Security Ein Bild zeigt Besucher der Wiener Synagoge, als an einem Agency (MSA), wobei deren Mittel gezielt für militärische jüdischen Feiertag Oberrabbiner Akiba Eisenberg die Zwecke in den Westzonen zum Einsatz kamen. jüdischen Gebetsbräuche praktiziert. Wiens Bürgermeister Als das Holzsuchen in den Wäldern in den 1950er-Jahren Franz Jonas und Ludwig Steiner, Staatssekretär für auswär- endete, rundeten Spaziergänge im Wienerwald die tige Angelegenheiten, hatten sich im Tempel eingefunden, klassischen Wochenendaktivitäten ab. Bundespräsident um ein Zeichen zu setzen. Franz Jonas erklärte später den 26. Oktober 1955, den Staatsfeiertag, zum »Wandertag«. Über all den ungelösten Problemen der Nachkriegszeit Der weltbekannte und in Österreich in manchen Kreisen berühmt-berüchtigte Simon Wiesenthal, dessen Leistungen beim Ausindigmachen von NS-Tätern erst sehr spät und dem dann mit Energie und Elan in Angriff genom- gewürdigt wurden, war in den Kriegsjahren in verschiede- menen Wiederaufbau traten Erinnerungen an die erlebte nen Konzentrationslagern, zuletzt in Mauthausen, inhaf- Geschichte aus der NS- und Kriegszeit zurück. Über tiert. Er verbrachte nahezu sein gesamtes Leben mit der Printmedien und Kino wurde versucht, den Menschen im Verfolgung von nationalsozialistischen Kriegsverbrechern. wiedererstandenen Österreich ein neues Lebensgefühl zu Ein Bild zeigt ihn stehend vor dem Denkmal der Opfer geben. Harmonieorientierte Heimatilme vermittelten posi- des Nationalsozialismus, das auf dem Platz des Hotels tive Bilder aus idyllisch anmutenden Welten. Damit wurden »Metropol« errichtet wurde, wo sich das Hauptquartier der die drängenden politischen und wirtschaftlichen Probleme Wiener Gestapo befunden hatte. Die Aufschrift auf dem ausgeblendet und belastete Vergangenheiten verdrängt. Stein lautet: »Österreich aber ist wieder auferstanden und Ein Denkmal für den von der Dollfuß-Diktatur zum Tode verurteilten Sozialisten Josef Gerl, der versucht hatte, eine Signalanlage der Donauuferbahn zu sprengen, zeigt den nur am Rande erfolgten – ofiziell gespaltenen – Umgang mit dem Bürgerkrieg vom Februar 1934, der das in politische Lager aufgeteilte Land zerrissen hatte. 30 mit ihm unsere Toten. Die unsterblichen Opfer«. IV. Österreich lebt wieder auf: oder unterdrückt worden war. Die Wiederaufnahme der Kultur, Freizeit, Sport, Musik und Wissenschaft Stücke von Autoren, die verboten gewesen waren, und die [Bildteil ab Seite 171] Wiedereinstellung von einst als politisch oder »rassisch« untragbar angesehenen Mitgliedern kennzeichneten die Seit Jahrhunderten ist Österreichs Kultur mit der Kultur kulturelle Szene im Burgtheater. Es gab Versuche, wieder Europas eng verbunden. In allen Kunstepochen hat sie an die Tradition vor dem Ersten Weltkrieg anzuknüpfen, bedeutende Bauwerke hervorgebracht. Zahlreiche zählen wobei Österreichs Kultur nach 1945 grosso modo res- heute zum UNESCO-Weltkulturerbe. In der Neuzeit war taurativ-konservative Charakterzüge trug, was zwar dem das Land mit der Wiener Klassik ein Zentrum des europä- Fremdenverkehr, v. a. aus Deutschland, förderlich war, ischen Musiklebens, was durch weltweit bekannte Kom- gleichzeitig aber auch moderne und progressive Trends ponisten sowie Opernhäuser, Theater und Orchester zum abbremste. Der herrschende Zeitgeist war in dem 1946 Ausdruck kommt. Große Traditionen wie die Salzburger konzipierten Text der neuen österreichischen Bundes- Festspiele, das Wiener Kabarett und das Neujahrskonzert hymne »Land der Berge, Land am Strome« erkennbar. zeugen davon. Die Wiener Sängerknaben waren unter Das Kabarett hatte zwischen 1938 und 1945 eine poli- ihrem Rektor Josef Schnitt und sind heute noch neben tisch erzwungene Pause erfahren. Trauriger Tiefpunkt war den Schimmeln der Spanischen Hofreitschule und den die Ermordung von Fritz Grünbaum im KZ Dachau. Nach Mozartkugeln bekannteste Kennzeichen von Wien und 1945 lebte die Wiener Kabarett-Tradition mit Karl Farkas, ganz Österreich. Das Kaffeehaus ist ein Speziikum der Ernst Waldbrunn, Maxi Böhm, Gerhard Bronner, Cissy gesellschaftlichen und politischen Kultur Wiens. Es war Kraner oder Georg Kreisler wieder auf. Heimat von Politikern, Literaten und Schachspielern. Die Tradition des Opernballes erlebte nach 1945 ebenfalls eine Renaissance. Sie ging zurück auf die Zeit nichts ändern. Das autoritäre Regime der Bundeskanzler des Wiener Kongresses 1814/15. Der erste so genannte Engelbert Dollfuß (1932–1934) und Kurt Schuschnigg Opernball wurde nach der Weltwirtschaftskrise unter dem (1934–1938) und v. a. aber die NS-Diktatur unter Adolf Ehrenprotektorat von Bundeskanzler Schuschnigg zuguns- Hitler stellten jedoch erste Einbrüche bzw. gravierende ten der Winterhilfe 1934/35 veranstaltet. Seither fand er Zäsuren für Österreichs kulturelle Entwicklung dar. mit Ausnahme des Kriegs und der Besatzung jedes Jahr am Friedrich Torberg beschrieb in seiner »Tante Jolesch«, dass letzten Donnerstag im Fasching in der Wiener Staatsoper die kulturelle Hegemonie nicht sofort nach 1918 schwand, statt. 1956 wurde er erstmals wieder in der Nachkriegszeit sondern noch in der Zeit der 1920er-Jahre in der Ersten abgehalten. Republik fortleben konnte, bis 1934 dann der Bürgerkrieg Nach 1945 musste das Wiener Opernensemble vorerst und der autoritäre »Ständestaat« sowie der »Anschluss« in die Wiener Volksoper ausweichen, wo auch die ersten 1938 an NS-Deutschland dem bunten kulturellen Leben Vorstellungen gegeben wurden. 1947 unternahm das den Garaus bereiteten. Viele regimekritische, insbeson- Mozart-Ensemble bereits eine Auslandstournee, die sie dere jüdische Intellektuelle und Künstler lohen und mit Don Giovanni nach London an die Covent Garden emigrierten in die Schweiz, nach England oder in die USA. Opera führte. Dort trat der vor dem Nationalsozialismus Nach dem Zweiten Weltkrieg erwachte wieder breites gelohene Richard Tauber als Don Ottavio auf. Er hatte sich und vielfältiges künstlerisches Leben, das in der Zeit damit seinen letzten großen Traum erfüllt, noch einmal des »Tausendjährigen Reiches« als verpönt angesehen mit der Staatsoper Mozart aufzuführen. Dabei wurde erst 31 VON DER BEFREIUNG ZUR FREIHEIT Der Untergang der Donaumonarchie konnte an alldem später bekannt, dass er nur noch mit einer halben Lunge im Juli und August für fünf bis sechs Wochen statt. auf der Bühne gesungen hatte. Charakteristika sind der »Jedermann« auf dem Domplatz, Neben vielen Spenden für das desolate Theater an der Wien interessierte sich auch die sowjetische Besatzungsmacht sehr für die Wiedererrichtung der Oper und steuerte Mozart- und Strauss-Aufführungen sowie ein ansprechendes Opern-, Konzert- und Theater-Programm. Wien war auch, wie schon in der Zwischenkriegszeit und Baumaterial bei. Der Wiederaufbau brauchte jedoch einige Vorkriegszeit, Austragungsort politischer Auseinander- Zeit: Im Jahre 1949 war erst ein Notdach über der Oper setzungen und Unruhen, v. a. auf Hochschulboden. Erste errichtet. Am 5. November 1955 schließlich, also nach der Studentenkrawalle setzten im Österreich der Zweiten Repu- Staatsvertragsunterzeichnung, konnte die Staatsoper mit blik schon 1949 an der Universität Wien nach Zulassung Fidelio von Ludwig van Beethoven unter der Leitung von der schlagenden Burschenschaften ein. Den Korporierten, Karl Böhm neu eröffnet werden. Als Besucher war auch d. h. farbentragenden Verbindungsstudenten, die als der amerikanische Außenminister John F. Dulles zugegen. rechtsradikal verschrieen waren, stellten sich sozialistische Der US-Secretary of State sprach nach seiner Rückkehr Hochschüler entgegen, die sich – zumindest in dieser in Washington zu Österreichs Botschafter Karl Gruber in Situation – auch als »schlagend« erwiesen. Noch in den anerkennenden Worten von seinem Besuch der Staatsoper. 1950er- und 1960er-Jahren dominierten der deutschnatio- Er brachte seine besondere Freude zum Ausdruck, an nale Ring freiheitlicher Studenten (RfS) und der katholisch- diesem historischen Datum in Wien gewesen zu sein, was österreichische Cartell-Verband die Universitäten. er fast noch für wichtiger hielt als die Unterzeichnung des Wie die politische Kultur Österreichs tief und fest in Staatsvertrages. Er nannte das Ereignis »die Wiedergeburt ideologische Lager aufgespalten war, so verhielt es sich der österreichischen kulturellen Mission in voller Freiheit«. auch bei den Sportorganisationen. Die »Arbeitsgemein- Die Eröffnung der Staatsoper in Wien zum Zeitpunkt nach schaft für Sport und Körperkultur in Österreich« (ASKÖ) der Vertragsunterzeichnung erlebt zu haben war für Dulles suchte an Vorkriegstraditionen anzuknüpfen und zeigte von großem symbolischem Wert. Er war »greatly impressed nun nach 1945 auch immerhin Bereitschaft, an Sport- by the true Viennese atmosphere of the ball«. Auch der ORF veranstaltungen bürgerlicher Vereine mitzuwirken. Die nutzte die Eröffnung für eine seiner ersten Liveübertragun- christlich-katholischen Vereine fanden sich in der »Öster- gen zu einer Zeit, in der es erst etwa 800 Fernseher in ganz reichischen Turn- und Sport-Union« (heute Sportunion Österreich gab. Österreich) zusammen. Ein weiterer Verband gründete sich Herbert von Karajan führte in seiner Direktionszeit an als »Allgemeiner Sportverband Österreichs« (ASVÖ). 1952 der Staatsoper den Grundsatz ein, Opern ausschließlich in wurde im oberösterreichischen Wels der »Österreichische der Originalsprache aufzuführen. Außerdem hob er das bis Turnerbund« (ÖTB) als Nachfolger des deutsch-nationalen dahin gültige Ensembleprinzip mit lediglich vereinzelten Turnerspektrums reetabliert, nun allerdings mit einem Gastsängern auf und holte die international besten Sänger Bekenntnis zu Österreich. Der Träger des österreichischen nach Wien, wobei eine Zusammenarbeit der Staatsoper Sportsystems ist die seit 1969 bestehende »Österreichische mit der Mailänder Scala zustandekam, insbesondere bei Bundessportorganisation« (BSO). Werken von Mozart und Richard Strauss. Auch nach dem Krieg spielte der alpine Skilauf für das Die Salzburger Festspiele waren und sind eine der Selbstverständnis vieler Österreicher eine große Rolle. berühmtesten Veranstaltungen klassischer Musik und Toni Sailer aus Kitzbühel, der kurz vor seinem zweiten darstellender Kunst. Seit 1920 inden sie jeden Sommer Geburtstag die ersten Skier erhalten und damit schon sehr 32 früh mit Skisport begonnen hatte, war einer der prominen- Ödön von Horvaths »Geschichten aus dem Wiener Wald« testen österreichischen Skirennläufer der 1950er-Jahre. die Marianne neben Karl Skraup als Zauberkönig spielte. 1956 gewann der »Schwarze Blitz aus Kitz« zum zweiten Mal 1951 wechselte sie ins Burgtheater, wo sie mit Josef Mein- die Lauberhornabfahrt und siegte bei den Hahnenkamm- rad in Stücken von Johann Nestroy mitwirkte. rennen in Kitzbühel in Abfahrt, Slalom und Kombination. Clemens Heinrich Krauss (1893–1954), einer der be- 1956 in Cortina d’Ampezzo schrieb der damals 20-jährige rühmtesten österreichischen Dirigenten und Theaterleiter, Tiroler Skisportgeschichte und gewann als erster Sportler hatte nach zahlreichen Stationen in Deutschland und in alle alpinen Bewerbe bei Olympischen Spielen. Er holte Österreich in der Zeit des »Dritten Reichs« die Leitung der drei Goldmedaillen: in der Abfahrt, im Slalom und im Salzburger Festspiele inne. Das »außerordentliche Kon- Riesenslalom, die auch als Weltmeisterschaftsmedaillen zert« der Wiener Philharmoniker unter seiner Leitung am gerechnet wurden, sowie die Goldmedaille in der 31. Dezember 1939 im Goldenen Saal des Wiener Musik- nicht-olympischen Kombination. vereins gilt als Beginn der Neujahrskonzerte der Wiener Bei der Weltmeisterschaft 1958 in Bad Gastein gewann Philharmoniker, deren Auftritte er bis 1945 dirigierte. er Gold in Abfahrt, Riesenslalom und Kombination Nach Kriegsende mit Berufsverbot belegt, wirkte er seit sowie Silber im Slalom. Mit seinen drei Olympischen 1947 wieder regelmäßig an der Wiener Staatsoper, bei den Goldmedaillen und insgesamt sieben Weltmeistertiteln Wiener Philharmonikern und den Bayreuther Festspielen. zählte er zu den erfolgreichsten Skirennläufern aller Zeiten. Der gebürtige Salzburger Herbert Karajan (1908–1989), Sailer war einer der frühen Sport-Nationalhelden und bereits während des »Dritten Reichs« ein namhafter erhielt beim Olympia-Empfang in der Wiener Hofburg vom Dirigent, setzte sich gegen Kriegsende von Berlin nach Bundespräsidenten Theodor Körner das Große Ehrenzei- Italien zum Comer See ab. Im Jänner 1946 gab er bereits chen für Verdienste um die Republik Österreich. in Wien sein erstes Konzert nach Kriegsende, wurde aber Der gebürtige Grazer Robert Stolz (1880–1975), vor von der sowjetischen Besatzungsmacht wegen seiner NSDAP-Mitgliedschaft mit Berufsverbot belegt, welches Theater Graz, Kapellmeister in Marburg an der Drau, am jedoch 1947 aufgehoben wurde. Ein Jahr darauf avancierte Stadttheater Salzburg und musikalischer Leiter am Theater er zum Direktor und 1949 zum Mitglied auf Lebenszeit der an der Wien, wo er Franz Lehárs »Die lustige Witwe« zur Gesellschaft der Musikfreunde in Wien. Damit begann Uraufführung brachte, galt als letzter Meister der Wiener eine bemerkenswerte Karriere. Karajan debütierte 1948 an Operette. Nach 1938 war er über die Schweiz und Frank- der Mailänder Scala und war dort wiederholt Dirigent und reich in die USA gelangt. Eine Rückkehr in das »Dritte Regisseur von 1948 bis 1968. 1951 dirigierte er erstmals bei Reich« »in Ehren« lehnte er ab und ging erst 1946 nach den Bayreuther Festspielen. 1955 wurde er Nachfolger von Wien zurück, wo er als Dirigent und Komponist weiter Wilhelm Furtwängler und Sergiu Celibidache als Chef- wirkte. dirigent der Berliner Philharmoniker. Als er diese 1955 in Die gebürtige Wienerin Inge Konradi (1924–2002) hatte New York dirigierte, kam es zu jüdischen Demonstrationen erste Engagements noch während des Krieges am »Deut- gegen Deutschland und Karajan, der jede Distanz zum schen Volkstheater« in Wien, das nach dem Krieg nur mehr »Dritten Reich« vermissen hatte lassen. Von 1957 bis 1964 »Volkstheater« hieß, wo sie 1948 die Jugend in Ferdinand war er künstlerischer Leiter der Wiener Staatsoper. Raimunds »Der Bauer als Millionär« an der Seite von Paul Die NS- und Kriegszeit führte zu Brüchen in den Bezie- Hörbiger oder in der österreichischen Erstaufführung von hungen und Kontakten der Kunst- und Kulturschaffenden. 33 VON DER BEFREIUNG ZUR FREIHEIT dem Ersten Weltkrieg Opernkorrepetitor am Städtischen