Tagklinik bei therapieresistenter Depression

Werbung
For tbildung
Tagklinik bei therapieresistenter Depression
Ausweg aus
dem Dilemma?
T. Nickel
Therapieresistente Depressionen sind medizinisch
und ökonomisch äußerst problematisch. Oft sind
die Patienten nicht in der Lage, ihren Alltag zu
Hause selbstständig zu strukturieren, laufen aber
bei langer stationärer Therapie Gefahr, zu lange in
einem regressionsförderndem Klima zu verbleiben.
Das Max-Planck-Institut für Psychiatrie in München
hat ein tagklinisches Konzept für diese Patienten
entwickelt.
25% der Patienten weisen einen chronischen Erkrankungsverlauf auf – definiert
als Phasendauer von mindestens zwei
Jahren ohne zwischenzeitliche Remission der Symptomatik. Vor dem Hintergrund dieser Zahlen wird heute anders
als noch vor wenigen Jahren die Depression als chronisch rezidivierende Erkrankung angesehen.
Neben dem persönlichen Leiden
führen depressive Erkrankungen auch zu
einem erheblichen wirtschaftlichen Verlust und ziehen hohe direkte (ambulante und stationäre Therapiemaßnahmen)
und indirekte Kosten (Fehlzeiten am Arbeitsplatz, Produktivitätsausfälle) nach
sich. Im Jahr 1990 wurde der gesamtwirtschaftliche Verlust durch depressive
Erkrankungen in den USA auf 43,7 Milliarden Dollar geschätzt. Auf indirekte
Kosten wie Todesfälle, Fehlzeiten am Arbeitsplatz und verminderte Produktivität
entfielen insgesamt 31,3 Milliarden
Dollar (72%); unter den direkten Kosten standen Aufwendungen für stationäre Behandlungen mit 8,3 Milliarden
Dollar (19%) gegenüber 2,9 Milliarden
Dollar (6,6 %) für ambulante Behandlungen und 1,175 Milliarden Dollar
(2,8%) für Medikamente an erster Stelle (Abb. 1).
Hohe Kosten durch
therapieresistente Patienten
D
epressive Störungen gehören zu
den häufigsten und hinsichtlich
ihrer Schwere am meisten unterschätzten Erkrankungen. Nach epidemiologischen Untersuchungen erfüllten
11,5 % der deutschen Bevölkerung im
vergangenen Jahr die Kriterien einer
mehrere Wochen bis Monate andauernden depressiven Störung. Die Lebenszeitprävalenz beträgt bei einer schweren
Depression vom Typ der Major Depression etwa 17%; bei über der Hälfte der
Patienten treten mehrere Erkrankungsphasen im Laufe des Lebens auf. Etwa
68
Zwei erst kürzlich erschienene Studien
weisen darauf hin, dass diese hohen Kosten durch depressive Erkrankungen vornehmlich durch eine Patientengruppe
bedingt sind: die Gruppe der therapieresistenten depressiven Patienten. CoreyLisle et al. schätzten die Kosten durch
therapieresistente depressive Patienten
im Vergleich zu depressiven Patienten
ohne Therapieresistenz mehr als doppelt
so hoch ein (direkte und indirekte Kosten). In einer Studie von Crown et al.
wurden stationär behandelte therapieresistente Patienten von ambulant behandelten therapieresistenten Patienten
sowie depressiven Patienten unterschieNeuroTransmitter
4·2003
Was ist „Therapieresistenz“?
Es gibt in der Literatur unterschiedliche
Definitionen für „Therapieresistenz bei
depressiven Erkrankungen“. Dabei orientieren sich die verschiedenen Definitionen eher an willkürlich festgelegten
Kriterien verschiedener Autoren als an
empirischen Parametern. Eine der ersten
Definitionen aus dem Jahr 1974 stammt
von der World Psychiatric Association
und beschreibt ein fehlendes Ansprechen
auf die Behandlung mit einem trizyklischen Antidepressivum in einer Dosierung von mindestens 150 mg pro Tag
über einen Zeitraum von vier bis sechs
Wochen. Thase und Rush formulierten
fünf verschiedene Grade von Therapieresistenz unter Berücksichtigung medikamentöser Behandlungen mit verschiedenen Antidepressiva sowie Elektrokrampftherapie.
Die heute am meisten verwendete Definition von Therapieresistenz
stammt von Souery und seinen Mitarbeitern; sie umfasst das fehlende Ansprechen einer Depression auf die BeNeuroTransmitter
4·2003
handlung mit mindestens zwei verschiedenen Antidepressiva aus unterschiedlichen Substanzklassen in ausreichend
hoher Dosierung über einen Zeitraum
von jeweils sechs bis acht Wochen. In
den letzten Jahren wird nun zunehmend
eine weitere Definition diskutiert: Therapieresistenz als Ausbleiben einer Remission der depressiven Symptomatik.
Als Erklärung dieses Ansatzes führt Greden aus, dass zur Abschätzung des Erfolges einer antidepressiven Behandlung
meist die Reduktion in der „Hamilton
Rating Scale for Depression“ verwendet
wird. Dabei wird eine Behandlung dann
als erfolgreich bewertet, wenn eine über
50 %ige Reduktion im Hamilton-Gesamtscore auftritt. Dies wird als Response bezeichnet. Bei einer Remission
dagegen sind keine psychopathologischen Restsymptome mehr vorhanden;
dies ist erst mit Erreichen des prämorbiden Funktionsniveaus (meist durch einen Hamilton-Score unter 10 bzw. 7
Punkten) vollzogen.
angesprochen hätten. In Wahrheit erreichen von diesen 70% nur etwa die Hälfte eine Remission ihrer Symptomatik.
Zwischen 60% und 70% der Patienten
erreichen also durch die Behandlung keine Vollremission und weisen weiterhin
eine erhebliche Residualsymptomatik
auf. Verwendet man das Ausbleiben einer
Remission als Definitionskriterium einer
Therapieresistenz, so erreicht eine Vielzahl von Patienten dieses Kriterium
nicht. Wichtig ist in diesem Zusammenhang, dass eine nicht ausgeheilte depressive Erkrankungsphase mit Residualsymptomatik der bedeutendste Risikofaktor für ein Rezidiv ist und somit den
Boden für eine weitere Chronifizierung
der Erkrankung bilden kann. So hatten
in einer prospektiven Studie von Judd et
al. diejenigen Patienten, die nach Behandlung einer depressiven Phase noch
eine Residualsymptomatik aufwiesen, ein
deutlich höheres Risiko für eine erneute
Erkrankungsepisode gegenüber den voll
remittierten Patienten.
Responsekriterium
zu optimistisch
Symptomatik der
therapieresistenten Depression
Diese Definitionen machen deutlich,
dass das Kriterium der Response zu einer
zu optimistischen Einschätzung des Behandlungserfolgs durch Antidepressiva
führt. Greden zufolge entsteht hier der
Eindruck, dass bei einer Responserate
von beispielsweise 70% nur 30% der Patienten auf die Behandlung unzureichend
Durch welche Symptomatik zeichnen
sich Patienten mit therapieresistenter
Depression aus? Je nach unterschiedlicher Definition (s. o.) verbergen sich
hinter diesem Begriff auch etwas unterschiedliche klinische Krankheitsbilder.
So zeigen therapieresistente Patienten
gemäß der Definition von Souery wei-
Abb. 1
Sozioökonomische Bedeutung depressiver Erkrankungen in den USA (1990)
Durch Depression verursachte Gesamtkosten: 43,7 Mrd. Dollar
Verminderte Produktivität
Fehlzeiten
27,7%
26,8%
19,0%
17,1%
Tod durch Suizid
Kosten für Medikation
2,8%
den, die das Kriterium der Therapieresistenz nicht erfüllten. Unter Berücksichtigung direkter Kosten verursachten die
stationären therapieresistenten Patienten
etwa viermal höhere medizinische Gesamtkosten als die ambulanten therapieresistenten Patienten und über sechsmal
höhere Kosten als die übrigen depressiven Patienten. Werden nur die depressionsbezogenen Kosten ermittelt, so sind
die Aufwendungen für die stationär behandelten therapieresistenten Patienten
achtmal höher als in der ambulanten Vergleichsgruppe und 19-mal höher als bei
den nicht therapieresistenten depressiven
Patienten. Dass das Phänomen der Therapieresistenz bei depressiven Erkrankungen einen erheblichen Kostenfaktor
darstellt, weist indirekt darauf hin, dass
die Behandlung dieser Paitenten mit
großen Problemen einhergeht. Die stationäre Therapie dauert oft sehr lange
und dennoch ist das Behandlungsergebnis oft unbefriedigend. Ein weiterer interessanter Aspekt der beiden Untersuchungen ist auch, dass unter den direkten (und damit durch das Gesundheitssystem beeinflussbaren Kosten) Aufwendungen für stationäre Behandlungen im
Vordergrund standen.
Stationäre
Behandlung
6,6%
Ambulante Behandlung
69
For tbildung
Ta g k l i n i k b e i t h e r a p i e r e s i s t e n t e r D e p r e s s i o n
terhin schwere depressive Symptome –
häufig auch verbunden mit Suizidalität.
Bei solchen Patienten ist es dringend indiziert, die stationäre Behandlung unter
Ausschöpfung aller möglichen Therapiemaßnahmen weiter fortzusetzen. Die Patienten, die durch die Behandlung keinerlei Symptomverbesserung erfahren,
stellen jedoch eher eine Minderheit dar.
Viel häufiger sind Patienten, die der Definition der Therapieresistenz nach Greden entsprechen: Unter der antidepressiven Behandlung lässt sich zwar eine Verbesserung der depressiven Symptomatik
erreichen, es bleibt jedoch eine deutliche
Residualsymptomatik bestehen, die sich
gegenüber verschiedenen Behandlungsansätzen als resistent erweist und bei stationären Behandlungen einer Entlassung
des Patienten häufig entgegensteht.
Häufig findet sich ein Symptombild, das durch unspezifische Müdigkeit
und Erschöpfbarkeit, Antriebslosigkeit,
vermehrte Ängstlichkeit sowie verringerte Belastbarkeit gegenüber Anforderungen geprägt ist. Weitere sehr häufig zu
beobachtende Symptome betreffen dysfunktionale, depressiv getönte Denkabläufe und -schemata. Die Patienten haben oft ein inadäquates Anforderungsniveau gegenüber sich selbst, attribuieren
positive Erfahrungen extern, fühlen sich
dagegen für Misserfolge verantwortlich
und können mit externer Kritik nicht
umgehen etc. Diese Symptomatik kann
immer wieder zu Schwierigkeiten in interpersonellen Beziehungen führen und
die Reintegration ins Arbeitsleben erheblich erschweren. Ein Großteil therapieresistenter depressiver Patienten zeigt
deutliche Beeinträchtigungen der kognitiven Basisfunktionen, wie beispielsweise Planungs- und Problemlösestrategien,
Aufmerksamkeitsleistungen sowie Gedächtnisfunktionen. Dabei können diese kognitiven Beeinträchtigungen auch
nach einer Verbesserung der affektiven
Symptomatik noch andauern, bei manchen Patienten sogar über Jahre persistieren. Bei der Behandlung von Patienten mit einer solchen Residualsymptomatik stellt sich somit immer wieder das
Problem, dass diese Patienten über längere Zeiträume nicht arbeitsfähig werden, da sie aufgrund ihrer kognitiven
Einschränkungen den am Arbeitsplatz
gestellten Anforderungen nicht genügen.
Das Dilemma der therapieresistenten Depressiven
In der stationären Behandlung therapieresistenter depressiver Patienten besteht
folgende Grundproblematik: Eine deutliche Residualsymptomatik ist der
Hauptrisikofaktor für ein Depressionsrezidiv. Das Ziel einer Behandlung bei
diesen Patienten kann also nur die Vollremission der depressiven Symptomatik
sein. Allerdings ergeben sich dabei häufig lange stationäre Behandlungszeiten.
Neben der psychischen und finanziellen
persönlichen Belastung der Patienten
und ihrer Familien ist dies auch mit
einem hohen gesellschaftlichen Kostenaufwand verbunden.
Wird der Patient zu früh entlassen,
führt die noch vorhandene Residualsymptomatik häufig dazu, dass bereits
nach kurzer Zeit eine stationäre Wiederaufnahme notwendig wird. Aufgrund
beispielsweise kognitiver Beeinträchtigungen sind diese Patienten meist noch
nicht arbeitsfähig, verbringen den Tag zu
Hause ohne die Fähigkeit ihren Alltag
strukturieren zu können. Dies führt fast
zwangsläufig zu einer Verschlechterung
der depressiven Symptomatik mit der
Gefahr zunehmender Chronifizierung
der Erkrankung. Andererseits ist wiederum eine zu lange stationäre Behandlung
damit verbunden, dass der Patient zunehmend alltagspraktische Fähigkeiten
verliert und im regressionsfördernden
Abb. 2
Wochenplan der Tagklinik für Patienten mit therapieresistenter Depression
(Max-Plank-Institut für Psychiatrie, München)
Montag
Dienstag
9.15 – 10.15 Uhr
Forum
10.00–11.00 Uhr
Schwimmen/Sport
11.15–11.45 Uhr
Entspannung
9.15 – 10.00 Uhr
VT-Gruppe
10.00 – 12.00 Uhr
Visite
13.00–13.30 Uhr
Freizeit
Einzelgespräche
14.00–15.30 Uhr
Ergotherapie
70
Mittwoch
8.00–8.15 Uhr
Ankunft/Frühstücksvorbereitung
8.15–8.30 Uhr
Morgengymnastik/T´ai chi
8.30–9.00 Uhr
Frühstück
9.15 – 10.15 Uhr
VT-Gruppe
10.30 – 11.30 Uhr
Genussgruppe
Donnerstag
Freitag
9.15 – 10.15 Uhr
VT-Gruppe
10.00–12.00 Uhr
Kochen
9.15 – 10.15 Uhr
VT-Gruppe
10.30–12.00 Uhr
Ergotherapie
Einzelgespräche
13.00 – 13.30 Uhr
Freizeit
13.00 – 15.30 Uhr
Ergotherapie
12.00–13.00 Uhr
Mittagessen
13.00–17.00 Uhr
Ausflug
13.00 – 14.00 Uhr
Themenbez. Gruppe
14.15–14.45 Uhr
Entspannung
15.00–16.00 Uhr
Sport
Einzelgespräche
14.00–15.00 Uhr
Kaffeerunde
NeuroTransmitter
4·2003
Klima einer stationären Versorgung jegliche Eigeninitiative aufgibt und damit
in seiner depressiven Grundhaltung eher
noch verstärkt wird. Vor dem Hintergrund dieses Dilemmas könnte eine tagklinische Behandlung dieser Patienten
sinnvoll sein. Hier wären gerade solche
Patienten einzubeziehen, bei denen eine
vollstationäre Behandlung nicht mehr
notwendig beziehungsweise nicht mehr
sinnvoll ist, die aber andererseits noch
eine so deutliche Residualsymptomatik
aufweisen, dass eine rein ambulante Behandlung nicht ausreichend erscheint.
Gegenüber einer stationären Behandlung könnte dies zum einen eine kostengünstigere Behandlungsalternative darstellen, zum anderen könnte die Behandlung mit einem speziell ausgerichteten Behandlungsprogramm auch effizienter gestaltet werden. Nicht zuletzt
könnten die Patienten den Kontakt zum
privaten Umfeld weiter aufrecht erhalten, was gerade bei dieser Patientengruppe von enormer Bedeutung ist.
Konzept einer Tagklinik
Im Frühjahr 2002 wurde am MaxPlanck-Institut für Psychiatrie in München eine Tagklinik für therapieresistente depressive Patienten mit 15 Behandlungsplätzen eröffnet. Dieses Pilotprojekt ist über drei Jahre geplant und soll
die Effizienz eines speziell ausgerichteten
tagklinischen Behandlungskonzepts und
NeuroTransmitter
4·2003
Zentrale therapeutische
Prinzipien der Tagklinik
— Anwendung des gesamten Spektrums antidepressiver pharmakologischer Therapieverfahren
(Hochdosistherapie, AdditionsAugmentations- und Kombinationsverfahren)
— Psychotherapeutische Behandlung
mit kognitiv-verhaltenstherapeutischer Ausrichtung; Alltagsstrukturierung, Veränderung depressiogener Kognitionen, Selbstsicherheitstraining, Genusstraining;
— Neuropsychologisches Training
— Einübung von Alltagskompetenz
mit Ergotherapie, Haushaltsplanung, Physiotherapie, Sportangeboten
— Förderung und Betonung von
Ressourcen in Projektgruppen,
gemeinsame Aktivitäten
— Einbeziehung der Angehörigen
durch Gesprächsgruppen, Familienund Angehörigengespräche
dessen unterschiedliche Behandlungselemente bei Therapieresistenz näher untersuchen.
Optimierung der Pharmakotherapie:
Es liegt mittlerweile ein Fülle von Lite-
ratur über spezielle medikamentöse Behandlungsansätze bei Therapieresistenz
vor, wie Hochdosistherapien, Augmentations- und Additionsstrategien, die als
Leitlinien für Behandlungsschemata dienen. Dabei werden die Plasmaspiegel
von Medikamenten beziehungsweise der
Metabolisierungsstatus der Patienten ermittelt und berücksichtigt.
Psychotherapeutischer Ansatz: Das
kognitiv-verhaltenstherapeutische Konzept nach Hautzinger wird in der Tagklinik hauptsächlich in einem Gruppensetting durchgeführt. Bedingt durch eine
langandauernde depressive Symptomatik weisen therapieresistente depressive
Patienten häufig Defizite im sozialen
Verhalten auf, verfügen über eine geringe Aktivitätsrate mit der Folge eines
Mangels an positiven Verstärkern und
Erfahrungen. Die Patienten zeigen vielfach negativistische realitätsverzerrende
Kognitionen, welche das Abklingen der
depressiven Symptomatik behindern.
Zielpunkt der kognitiv-verhaltenstherapeutischen Intervention sind dabei Variablen, die eine depressive Symptomatik aufrecht erhalten können. Als entscheidend gelten dabei das Verhalten
einer Person (z.B. Art und Umfang ihrer
Aktivitäten und Sozialkontakte) und ihre
Kognitionen (Wahrnehmung und Deutung von Ereignissen).
Depressive Symptome werden nach
diesem Modell sowohl durch gedank-
71
For tbildung
liche Prozesse (Kognitionen) als auch
durch den Verlust an Verstärkern (Aktivitätsrate, Fertigkeiten) bedingt. Die
Häufung unangenehmer Ereignisse oder
die Folgen unangemessenen Verhaltens
beeinflussen dabei kognitive Strukturen
und Prozesse ebenso wie bestimmte negative Erwartungen und Einstellungen.
Diese haben ihrerseits wieder Auswirkungen auf die Aktivitätsrate eines Patienten, sein soziales Handeln und das
Ausmaß angenehmer Ereignisse. Verhaltensübende oder kognitionsverändernde
Maßnahmen sollen somatische, emotionale und motivationale Auswirkungen
der Erkrankung beeinflussen. Die in der
Gruppe bearbeiteten Themenbereiche
werden in ärztlichen Einzelgesprächen
und in der Bezugspflege vertieft.
Neuropsychologie: Ein Großteil therapieresistenter Depressiver leidet unter
deutlichen Einschränkungen kognitiver
Funktionen wie Planen und Problemlösen, Aufmerksamkeit und Gedächtnis.
Diese depressionsbedingten kognitiven
Veränderungen erschweren weitere Therapieansätze wie verhaltenstherapeutische Übungen und Ergotherapie. Die
Verbesserung der kognitiven Fähigkeiten ist somit eine wichtige Voraussetzung für den Erfolg weiterer therapeutischer Ansätze. In der Tagklinik wird
bei Aufnahme eine neuropsychologische
Testung durchgeführt; darauf aufbauend erfolgt ein individuell ausgerichtetes neuropsychologisches Training des
Patienten.
Ergo-, Beschäftigungs- und Arbeitstherapie: Die Ziele dieser therapeuti-
schen Ansätze sind: Selbstständigkeit beziehungsweise Selbstversorgung, Verbesserung sozioemotionaler Fähigkeiten,
Training von Belastbarkeit, Kontinuität
und Stabilität. Die Ergotherapie beinhaltet dabei auch Trainingskonzepte für
Alltag und Haushalt. Die Patienten, bei
denen eine berufliche Wiedereingliederung angestrebt wird, erhalten zusätzlich
eine Arbeitstherapie.
Genussgruppe: Bedingt durch die depressive Symptomatik ist es den Patienten meist nicht mehr möglich, Dinge genussvoll zu erleben und mit positiven
Konnotationen zu versehen. Als Ziele
werden in der Genussgruppe der Aufbau
eines spezifischen Umgangs mit potenziell Genußvollem, die Schulung der
72
Ta g k l i n i k b e i t h e r a p i e r e s i s t e n t e r D e p r e s s i o n
Sensibilität aller Sinnesmodalitäten und
die Aktualisierung angenehmer Vorerfahrungen verfolgt.
Körperliche Aktivität: Jeden Morgen
absolvieren die Patienten ein leichtes
körperliches Training. Daneben können
sie vielfältige Angebote wie Gymnastikgruppen, Schwimmen oder Volleyball
nutzen.
Entspannung: Da depressive Erkrankungen häufig auch mit innerer Unruhe
und Anspannung verbunden sind erscheint es vorteilhaft, wenn die Patienten ein Entspannungsverfahren beherrschen. In der Tagklinik wird die progressive Muskelentspannung nach Jacobson zweimal wöchentlich unter Anleitung durchgeführt.
Weitere therapeutische Elemente:
Hierunter fallen insbesondere die Ernährungsberatung für Patienten mit Diät
oder Gewichtsproblemen unter Psychopharmakotherapie, das gemeinsames Kochen und Einkaufen zur Schulung alltagspraktischer Fähigkeiten, Gespräche
mit dem Sozialdienst zur Planung der
beruflichen Wiedereingliederung und
Unterstützung bei sozialen Problemen.
Bei somatischen Problemen erfolgt eine
Mitbehandlung durch den internistischen beziehungsweise neurologischen
Konsiliardienst. Durch eine enge Anbindung an das Max-Planck-Institut stehen alle diagnostische Möglichkeiten der
Klinik wie Kernspintomografie, Labor
auch der Tagklinik zur Verfügung. Bei
Verschlechterung der depressiven Symptomatik kann darüber hinaus jederzeit
eine Übernahme in ein stationäres Behandlungssetting erfolgen.
Ablauf in der Tagklinik
Die Tagklinik ist montags bis freitags von
8.00–16.00 Uhr geöffnet. Die Patienten
kommen um 8.00 Uhr morgens und bereiten gemeinsam das Frühstück vor.
Von 8.15 – 8.30 Uhr folgt eine kurze
Morgengymnastik; danach das gemeinsame Frühstück. Von 9.15 – 10.15 Uhr
findet montags ein Forum mit der Wochenplanung (Ausflug, Verteilung verschiedener Aufgaben) statt; daneben erfolgt eine Rückschau auf das Wochenende. An den anderen Wochentagen
werden verhaltenstherapeutische Themen bearbeitet wie Aktivitätsplanung
mit Führen eines Wochenplans für jeden
Patienten (Dienstag), kognitive Veränderung (Mittwoch) sowie soziales Kompetenztraining (Donnerstag). Dabei sind
die Verhaltenstherapiegruppen als offene Gruppen konzipiert, an denen neu
aufgenommene Patienten unmittelbar
teilnehmen können. Am Donnerstag
Nachmittag findet eine weitere Gruppe
statt, bei der in Form eines Krankheitsteachings den Patienten Informationen
über depressive Erkrankungen vermittelt
werden. Zweimal pro Woche bestehen
Sportangebote. Montag und Donnerstag
wird ein Entspannungstraining durchgeführt. Jeweils Mittwochs findet die
Genussgruppe statt. Donnerstags kochen die Patienten gemeinsam; an den
übrigen Tagen nehmen die Patienten das
Essen gemeinsam in der Kantine des
Max-Planck-Instituts ein. Am Mittwoch
Nachmittag findet ein gemeinsamer von
den Patienten selbst geplanter und gestalteter Ausflug statt. Individuell werden
Termine für neuropsychologisches Training, Betreuung durch Sozialarbeiter, internistische Visite und Angehörigengespräche vereinbart.
Fazit
Patienten mit depressiven therapieresistenten Störungen stehen vor
einem Dilemma: Werden die Patienten früh entlassen, so drohen prognostisch ungünstige Residualsymptome; auf der anderen Seite kann
zu langer stationärer Aufenthalt zu
Hospitalisierungsschäden führen. Das
Konzept der Tagklinik für betroffene
Patienten ermöglicht den Patienten
ihr gewohntes soziales Umfeld.
Gleichzeitig erfolgen intensivierte
Pharmakotherapie, Psychotherapie
und Strategien für die Alltagskompetenz. Ob ein tagklinisches Konzept
jedoch wirklich Fortschritte in der
Behandlung therapieresistenter
Patienten erbringen kann, muss ein
langfristig angelegtes Evaluationsprogramm erst noch zeigen.
Literatur beim Verfasser
Dr. med. Thomas Nickel
Max-Planck-Institut für Psychiatrie,
Kraepelinstr. 10, 80804 München
NeuroTransmitter
4·2003
Herunterladen