Nyffeler / Warschauer Herbst, S. 1 DLF Musikjournal, 27.9.2010

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Nyffeler / Warschauer Herbst, S. 1
DLF Musikjournal, 27.9.2010:
Bericht vom Warschauer Herbst (17.-25.9.2010)
Autor: Max Nyffeler
Moderationsvorschlag:
Das Chopin-Jahr 2010 ist in Warschau noch lange nicht zu Ende: Vor dem im
Frühjahr eröffneten Chopin-Museum bilden sich noch immer Warteschlangen, der
Chopin-Wettbewerb ging gerade zu Ende, und selbst der renommierte „Warschauer
Herbst“, internationaler Treffpunkt für die zeitgenössische Musik, wollte da nicht
ganz abseits stehen. Das neuntägige Festival, das vorgestern zu Ende ging, stand
diesmal ganz im Zeichen des Klaviers. Ein Bericht von Max Nyffeler.
Musik: Paveł Janicki, Mapping Chopin (Klanginstallation)
Mitschnitt MN, 20.9.2010
0.30“
Nein, das ist keine Klavierstunde, in der ein schlechter Schüler Chopins „Tarantella“
buchstabiert, sondern ein Ausschnitt aus der Klanginstallation „Mapping Chopin“,
also ungefähr „Chopin kartografieren“ des Breslauers Paveł Janicki. Es ist eine
interaktive Installation: Auf den Boden ist eine virtuelle Klanglandschaft projiziert,
und wenn man darüber läuft, wird die Musik von Chopin, die aus dem Lautsprecher
erklingt, verlangsamt und beschleunigt. Wie stark, hängt von Bewegungsrichtung
und Geschwindigkeit ab. Es wird gehüpft, gerannt und geschlurft und gelacht – der
Konzertgänger kann seine kindlichen Seiten entdecken. Eine tiefere Wirkung
entfaltet die darauf folgende Multimedia-Komposition von Jarosław Kapuściński mit
dem Titel „Wo ist Chopin?“ Der Komponist besuchte zwölf Städte auf allen fünf
Erdteilen. Er spielte Menschen jeglichen Alters und unterschiedlichster sozialer
Herkunft die Préludes von Chopin vor und filmte zugleich in Nahaufnahme ihre
Reaktionen beim Hören. Die sensibel montierten Bildsequenzen laufen parallel auf
drei Leinwänden, davor sitzt der Komponist am Klavier und spielt improvisierend
kurze Fragmente aus den Préludes. Das Resultat ist bewegend. Auf den Gesichtern
spiegeln sich alle Affekte, vom tiefen Erstaunen über Heiterkeit und Erschütterung
bis zur Glückseligkeit. Die Porträts sind von einer tiefen Wahrhaftigkeit. Ein
schöneres Dokument über die Macht der Musik, unabhängig von Alter, Rasse und
Bildungsgrad, ist kaum denkbar.
Am anderen Ende der Auseinandersetzung mit dem Thema Klavier stand die
ebenfalls audiovisuelle Komposition „Karkas“ des Holländers Cornelis de Bondt, mit
der das Festival am Samstag zu Ende ging. „Karkas“, soviel wie Kadaver oder
Autowrack: Das war hier ein Flügel, der auf freiem Gelände in die Luft gesprengt
und dabei mit einer hochauflösenden Kamera gefilmt wurde. Zu sehr lauten, sich
unmerklich verändernden Tuttiklängen des bläser- und schlagzeug-dominierten
Orchesters werden die Sekunden der Explosion rückwärts abgespielt, und zwar über
die aufreizend lange Dauer einer Stunde. Ganz langsam kommen kleine, dann
immer größere Trümmerteile ins Bild, die sich Stück un Stück zusammenfügen, und
Nyffeler / Warschauer Herbst, S. 2
zum Schlussakkord steht ein intakter Flügel auf dem Feld. Und weil das Ganze so
schön gewesen ist, wird zum Schluss ohne Musik die Explosion noch vorwärts
gezeigt: Rumms, ein Blitz, eine Wolke, und weg ist das Möbel. Langsam regnet es
Klaviertasten vom Himmel. Das Publikum, erschöpft vom einstündigen
Dauerfortissimo, applaudierte gleichwohl heftig – diese Art von Apotheose des
Klaviers war allzu spektakulär.
Selbstverständlich gab es in Warschau nicht nur Klaviermusik und fliegende Flügel
zu hören und zu sehen. Die Kölner Musikfabrik unter Emilio Pomarico gastierte mit
einem halbszenischen Frühwerk von Claude Vivier und mit Mauricio Kagels letzter
Komposition, der Heine-Vertonung „In der Matratzengruft“ mit dem
herausragenden Solisten Markus Brutscher. Ebenfalls beim Schlusskonzert erklang
ein selten zu hörendes Werk des Russen Nikolai Obuchow: Das Vorspiel zu seinem
riesigen Oratorium „Buch des Lebens“, komponiert 1915-1926. Obuchow, der auch
mit neuen Notationsformen und Vierteltönen experimentierte, gehört in die Linie
der russischen Klangmystiker der Moderne, die von Skrjabin bis Gurdijeff reicht. Im
Vorspiel zum „Buch des Lebens“ baut er aus wenigen Grundmotiven ein großes
Klanggebäude. Das ganze Oratorium würde rund 24 Stunden dauern, die Partitur
umfasst 2000 Seiten, einzelne Passagen soll er mit seinem eigenen Blut
geschrieben haben. Kein Wunder, dass das Werk bis heute seiner Uraufführung
harrt.
Wie jedes Jahr war auch diesmal wieder der European Workshop for Contemporary
Music – früher „Polnisch-Deutsches Jugendensemble“ genannt – mit einem Konzert
dabei. Das Nachwuchsensemble tritt von Jahr zu Jahr souveräner auf, was nicht
zuletzt mit der frischen, überaus motivierenden Arbeitsweise
seines Dirigenten Rüdiger Bohn zu tun hat. Ein Teil der Mitglieder ist stets neu,
einige sind schon länger dabei, wie die Kontrabassistin Margarethe MaierhoferLischke, die nun bereits zum vierten Mal nach Warschau gekommen ist und von der
Atmosphäre im Ensemble begeistert ist.
O-Ton 1 (0.14“) Aufnahme MN, 20.9.2010
Es ist auch schön, wenn man sieht, wie man miteinander wächst. Alle lernen
gemeinsam, und mich reizt hier die Offenheit dieses Ensembles, und
trotzdem, dass sich so etwas wie ein eingespielter harter Kern ergibt, der
schon länger zusammenarbeitet. Das ist das Schöne daran.
Besonders spannend findet Margarete Maierhofer-Lischke die Arbeit an den
Uraufführungen, womit das Ensemble schon reichlich Erfahrungen gesammelt hat.
O-Ton 2 (0.20“)
Es ist jede Mal für uns sozusagen ein Überraschungsei. Wir bekommen die
Noten, und manchmal hat man sehr viel Mühe damit, manchmal sind die
Anweisungen des Komponisten sehr klar. Manchmal sind aber auch sehr viele
Fragen, die dann im Laufe der Proben geklärt werden müssen. Es ist jede Mal
Nyffeler / Warschauer Herbst, S. 3
spannend, wieder zu arbeiten, weil wir zumeinst auch das Glück haben, die
Komponisten dabei haben zu können.
In diesem Jahr trat der European Workshop for Contemporary Music mit Werken
von Marco Stroppa, Isabel Mundry und einem ansprechenden Werk des jungen
Polen Prasqual auf. Schwer- und Schlusspunkt des Konzert war jedoch das
Klavierkonzert von Beat Furrer mit dem Solisten Stefan Wirth. Tags zuvor war
Furrer nach Warschau gekommen, um mit dem Ensemble den letzten Schliff am
Stück vorzunehmen.
Musik: Beat Furrer, Klavierkonzert
Stefan Wirth, Klavier, EWCM, Ltg. Rüdiger Bohn
Probenmitschnitt MN, 19.9.10
0.40“
Die Probe mit Beat Furrers Klavierkonzert, eine anregende und für alle Beteiligten
instruktive Arbeit, oder wie es die Kontrabassistin Margarethe Maierhofer-Lischka
ausdrückt:
O-Ton 3 (0.08“)
Gerade die Interaktion mit dem Komponisten ist eigentlich das Spannende
daran, weil eben nicht nur das Ensemble, sondern auch der Komponist
vielleicht auch etwas von den Interpreten lernen kann.
Auch im 55. Jahr seines Bestehens hat sich der Warschauer Herbst als ein Festival
der Überraschungen erwiesen. Das Allerweltsthema „Klavier“ gewann durch
unverbrauchte Blickwinkel scharfe Konturen, dazu kamen der vielfältige Einsatz der
elektronischen Medien, abwechslungsreiche Konzertformen und eine schon
traditionelle Öffnung zum breiten Publikum. Im Wettbewerb der europäischen
Hauptstädte der neuen Musik spielt Warschau nach wie vor ganz vorne mit.
(Ende)
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