Abendprogramm - Berliner Festspiele

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KO N ZERTI N STALLATION
M AKIKO N ISHIKAZE
mo r e pi ano s I , II
für 9 Klaviere (2013) UA
70’
Intermezzo: Makiko Nishikaze und Helga de la
Motte-Haber im Gespräch
MAKIKONISHIKAZE
2 2 0 3 2 014 16 U H R
PA U L G E R H A R D T K I R C H E
MAE R ZM U S I KF E STIVALF Ü RAKTU E LLEM U S I K
Auftragswerk De la Motte-Musikstiftung, Lieselotte-Klein-Stiftung und
Berliner Festspiele / MaerzMusik
Ma k ik o Ni s h i ka z e
Die in Berlin lebende Komponistin Makiko Nishikaze
wurde 1968 in Wakayama, Japan, geboren. Nach
Abschluss ihres Kompositionsstudiums an der Aichi
University of Fine Arts and Musik in Nagoya in Japan
setzte sie ihr Studium am Mills College in Oakland
(Kalifornien) bei Alvin Curran und an der Hochschule
der Künste in Berlin bei Walter Zimmermann fort
und schloss 1999 als Meisterschülerin ab. Sie wurde
mehrfach ausgezeichnet, u.a. mit dem Förderpreis
der Hochschule der Künste, Berlin, dem Komposi­
tionspreis der Stadt Stuttgart und dem Förderpreis
der Akademie der Künste und erhielt zahlreiche Sti­
pendien. Ihre Werke, oft Kompositionsaufträge, wer­
den international aufgeführt. Die Musik von Makiko
Nishikaze zeichnet sich durch eine sehr konzen­
trierte, subtile und zurückhaltende Haltung aus,
wenngleich sich Nishikaze ungewöhnlicher musika­
lischer Mittel bedient, genreübergreifend arbeitet
und mit ihren Kompositionen eine überaus starke
Position bezieht. Musik, Tanz, Performance, Theater,
Poesie und Raumkomposition gehen bei ihr eine
Symbiose ein.
H e l g a d e la M ot t e - H a b e r
geboren in Ludwigshafen am Rhein, studierte 1957–
1961 Psychologie und1962–1967 Musikwissenschaft.
1971 erfolgte die Habilitation an der Technischen
Universität Berlin im Lehrgebiet Systematische
Musikwissenschaft. 1972–1978 war sie Professorin
an der Pädagogischen Hochschule Köln, 1978–2004
Professorin für Systematische Musikwissenschaft
an der Technischen Universität Berlin. Helga de la
Motte-Haber ist Autorin und Herausgeberin zahl­
reicher Publikationen, Handbücher und Schriften
zur Musikpsychologie, Musiksoziologie, zu Themen­
bereichen wie Filmmusik, Musik und Bildende Kunst,
Musik und Natur, Musik und Religion, Klangkunst
und zur Musik des 20. Jahrhunderts und der
Gegenwart.
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Clara Calero Durán / Anne-Christine Cettou /
Christiane Fruchtenicht / Daniel Martinez Roura /
Óscar Piniella / Jenny Ribbat / Martin Roever / Elena
Schöndorf / Maria da Rocha, Klavier / Performance
In Kooperation mit Evangelische Kirchengemeinde Alt-Schöneberg und
klangzeitort – Institut für Neue Musik der Universität der Künste Berlin und
Hochschule für Musik Hanns Eisler Berlin.
Mit Unterstützung von Clavier-Cabinett Berlin
Berliner Festspiele
Ein Geschäftsbereich der Kulturveranstaltungen des Bundes in Berlin GmbH
Gefördert durch die Beauftragte der Bundesregierung für Kultur und Medien
Intendant Dr. Thomas Oberender
Kaufmännische Geschäftsführung Charlotte Sieben
Künstlerischer Leiter Matthias Osterwold
Organisationsleitung Ilse Müller
Mitarbeit Ina Steffan / Hélène Philippot / Chloë Richardson / Marie von der Heydt
Programmberatung Volker Straebel
Redaktion Barbara Barthelmes / Melanie Uerlings / Christina Tilmann
Technische Leitung Matthias Schäfer / Andreas Weidmann
Grafik Ta-Trung, Berlin Christine Berkenhoff (Berliner Festspiele) / Fleck · Zimmermann
Programm- und Besetzungsänderungen vorbehalten
Das Gesamtprogramm des Festivals ist zum Preis von 5 € erhältlich
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D e r k o m p o n i e rt e R a u m
Makiko Nishikaze, 1968 in Wakayama geboren,
erhielt in Japan eine Ausbildung als Komponistin,
einschließlich der traditionellen Fächer Musiktheorie
und Klavier. Die Suche nach Erweiterung führte sie
nach Kalifornien an das namhafte Mills College, wo
sie bei Alvin Curran studierte und sich mit experi­
mentellen Techniken der neuen Musik auseinander­
setzen konnte. In den zwei Jahren ihres Kalifornien­
aufenthaltes hatte sie auch als Mitwirkende engen
Kontakt zur dortigen Performanceszene. 1994 nahm
sie in Berlin, bei Walter Zimmermann, ihre Komposi­
tionsstudien wieder auf. Sie lebt seitdem in Berlin.
Kosmopolitisch orientiert, isst sie dennoch immer
noch gern japanisch, wie sie einmal bemerkte. Ihre
umfassende Ausbildung prägt ihre Werke, auch das
hier zu besprechende. Es ist eine genau ausgearbei­
tete Komposition für neun Klaviere, die durch ihre
szenisch-räumliche Anlage zugleich einen performa­
tiv experimentellen Charakter hat.
© Makiko Nishikaze
Die neun Klaviere lassen sich als ein einziges virtuel­
les Instrument verstehen, weil Erweiterungen der
Spieltechnik ermöglicht werden, wie sie sonst nur
mit digitaler Software erzeugt werden können.
Zudem sind auf diesem „Mehrfachpiano“ mehr
Hände unterzubringen, als selbst bei vierhändigem
Spiel möglich wäre. Die Bezeichnung virtuelles
Instrument ist jedoch auch falsch, weil Nishikaze,
wie sie einmal in einem Interview bemerkte, am Spiel
(­realer) „lebendiger Instrumente“ interessiert ist wie
auch an der Zusammenarbeit mit Musikern.
„morepianos“ gliedert sich in zwei Teile, die einerseits verschiedene Stadien zeigen, andererseits aber aufein­
ander bezogen sind. Der erste Teil, sehr leise und hoch gelagert zu spielen, gewinnt ab und an Tiefe. Der
zweite Abschnitt kontrastiert zu Beginn den ersten, der figurativ gestaltet war, durch eine etwa fünf Minu­
ten lange, akkordisch gesetzte Passage. In die Ruhe lang ausgehaltener Klänge, die auch Terzen, Sexten und
Quinten nicht scheuen, mischen sich wie kleine Einsprengsel leichte Unruhe stiftende Tonträubchen. Bewe­
gung schafft auch die alternierende Zuwendung der Klänge zur Höhe und Tiefe. Aus den Akkorden wird eine
fallende Melodie herausgefiltert, zweistimmig, aber unirhythmisch eher eine Klanglinie, die, zunächst etwa
über 3½ Oktaven ausgespannt, sich in sich zusammenzieht. Man darf sich sicher an die aufsteigende her­
vorgehobene Linie im ersten Teil erinnert fühlen. Deutlich hörbar verknüpft sich das Stück danach mit dem
ersten Teil durch eine figurative Bewegung. Und ähnlich wie der erste Teil wendet sich der zweite am Schluss
in die Tiefe, erinnert noch einmal an den hellen Anfang und schließt aufgefächert in die Höhe und Tiefe.
Der ganze Tonraum ist nun geöffnet.
P o sitio n sä n de r un g e n de r K laviere
Die Klaviere werden im Laufe des Stücks in ihren Positionen von den Spielern verschoben, so als wären sie
Akteure, die nach neuen Klangräumen suchten. Die vorgeschriebenen performativen Akte des Verschiebens
der Instrumente sind von den Spielern sehr sorgfältig auszuführen. Markierungen auf dem Boden verweisen
jeweils auf die genaue Position. Der Beginn wirkt wie eine Mischung von Irregularität und Regelmäßigkeit,
zeigt aber keine Integration aller Instrumente in ein Ganzes. Denn die Spieler 7, 8 und 9 stehen vis à vis dem
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Publikum isoliert in den Ecken und spielen nur in den ersten fünf Takten mit den anderen mit. Die Kompo­
nistin zeigt damit, welches Instrumentarium ihr zur Verfügung steht, d. h. sie benutzt eine fast klassisch zu
nennende Eröffnungstechnik. Allerdings steckt sie damit auch den Realraum ab, in dem ihre Komposition
stattfindet. Danach schweigen die Klaviere in den Ecken für längere Zeit bis zu einem mächtigen solis­
tischen Einsatz, der zu ihrer Mitbeteiligung am weiteren Spiel führt. Die Positionswechsel sind derart per­
mutativ kalkuliert, dass jedes Instrument im Verlauf des Stücks einmal jeden Platz einnimmt. Spiegeln sich
darin doch Reminiszenzen an die Verwicklungen einer Durchführung, wenngleich sie mit gänzlich anderen
Mitteln realisiert werden.
Die Mitte des Stücks, bevor der zweite Teil beginnt, ist quasi metaphorisch durch eine Aktion hervorgehoben,
nämlich einem kontrapunktisch ausgeführten Cluster, zunächst mit dem Ellenbogen, der zum Unterarm
heruntergeklappt wird. Aber die Klavierdeckel sind noch nicht geschlossen. Gegen den Uhrzeigersinn sind
an dieser Stelle durch die Verschiebungen zwei, durch den Spieler 4 getrennte Vierecke entstanden mit der
Folge: Spieler Nr. 1, 2, 9, 3 und 6, 8, 7, 5. Es ist eine vorläufige Ordnung geglückt, wenngleich noch nicht in
einer einzigen Figur, aber doch auch schon die Einordnung der in den Ecken stehenden Klaviere.
Wie sehr die großformale Anlage des zweiteiligen Stücks mit den visuellen Aspekten zusammenhängt,
zeigt sich spätestens, wenn der zweite Teil beginnt. Er geht von den beiden viereckigen, durch den Spieler 4
getrennten Konfigurationen aus, bringt nun aber auch Wanderungen der Musiker ins Spiel. Am Ende sind alle
in einem der Vierecke versammelt außer dem vierten. Er deutet durch stummes Niederdrücken der Tasten auf
das Ende des Stücks hin und wandert danach in die Mitte der anderen Musiker. Die Verknüpfung von visuellem
und musikalischem Raum erfordert genaues Hinhören, denn optische Nähe der Instrumente kann sich in
Duetten oder Terzetten kundtun oder in musikalischen Antifonien. Realräumliche Nähe wird als musikalische
Nähe gedeutet. Nishikaze entfaltet ein Wechselspiel von optischem und akustischem Raum. Einerseits unter­
streichen die sichtbaren räumlichen Effekte die musikalische Form. Sie stellen sich damit als Extrapolation
einer innermusikalischen Struktur dar. Jedoch affizieren sie ihrerseits mit dem Wechsel der realräumlichen
Nähe oder Distanz der Instrumente das musikalische Zusammenspiel. Der Raum, der als zusätzlicher Parame­
ter verwendet wird, verschmilzt mit der Musik zu einer Einheit. Wenn die in den Ecken stehenden Instrumente
(notabene nur kurz am Anfang und auch da hoch exponiert) mit dem ersten Forte in diesem Stück sich laut­
stark mit Bässen solistisch bemerkbar machen, so ziehen sie die Aufmerksamkeit auf die tonräumliche Tiefe,
aber auch auf die Tiefe des sichtbaren, akustisch geöffneten Raums. Im Unterschied zur gegenwärtigen
Eventkultur ist „morepianos“ auf struktureller Ebene satztechnisch minutiös komponiert. Denn gleichzeitig
treten an dieser Stelle die zwei bislang noch fehlenden Töne auf und komplementieren den Tonvorrat.
H öre n
Hören ist ein zentrales Thema von Nishikaze. Sie entwickelt dazu oft recht filigrane Muster. Zu Beginn von
„morepianos“ wird ein äußerst fein differenziertes Spiel erlebt, hervorgerufen durch klangliche Färbungen
(Registerlage), durch Reibungen und Schwebungen von Zweiklängen etc. Kaum zu glauben, dass dafür ein
kleiner Tonvorrat ausreicht. Die Töne es und e sind für das Auftreten der Eck-Klaviere reserviert, die Töne f
und g lassen eine ganze Weile auf sich warten. Aber dann werden sie exponiert nach einer Pause eingesetzt.
Man braucht kein absolutes Gehör zu besitzen; man erlebt sie doch als neue Farbe. Es gibt eine Reihe von
kleinen Aktionen der Spieler. Bei solchen Aktionen, wie dem erwähnten stummen Niederdrücken von Tasten,
wird zumal bei einem überwiegend leisen Stück deutlich, dass Musik an die Stille reicht, von dort vielleicht
kommt oder dorthin geht. Verrätselnd wirken die Papieraktionen im ersten Teil: Rascheln eines Blatts Papier
auf dem Boden, Zerreißen, In-die-Luft-werfen und Wie-Schnee-fallen-lassen. Es entstehen kleine Klangfarb­
tupfer, die zum sichtbaren Charakter der Musik beitragen. Kompensieren sie auch die beim Musikhören in
einem Konzertsaal immer auftretenden Fremdgeräusche? Sie lenken auf jeden Fall die Aufmerksamkeit
davon ab und zentrieren sie auf das Geschehen. Und doch bergen die leisen Klänge der Papieraktionen
etwas Geheimnisvolles.
Ein Stück wird nie ganz erschlossen, wenn Zusammenhänge verfolgt werden. So bleibt am Ende dieser
kleinen Einführung ein großer Freiraum. Nicht nur die kommende Uraufführung, sondern auch mögliche
Wiederaufführungen werden mit dem Erleben eines ästhetischen Überschusses verbunden sein.
Helga de la Motte-Haber
28.02.2014 14:10:57
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