schmerzreport freiheitSKÄmPfer mehr alltag im leBen edi tor ial lIebe leser, stellen Sie sich vor, Sie haben Schmerzen. Sie rufen bei Ihrem Arzt an, vereinbaren einen Termin. Doch er kann Ihnen nicht helfen. Er verweist Sie an einen Facharzt, der auch nicht weiter weiß, und so beginnt eine Odyssee durch die Arztlandschaft. Ihre Schmerzen bleiben – all die Jahre. Schließlich wird Ihnen ein Schmerztherapeut empfohlen. Die nächste Möglichkeit für einen Termin ist in einem halben Jahr. Für zwölf Millionen Menschen in Deutschland ist das Realität. Sie leiden unter Chronischen Schmerzen, also Schmerzen, die nicht mehr gehen. Diese Patienten fallen durch das engmaschige Netz der medizinischen Versorgung – nicht nur in Deutschland. Durchschnittlich zwei Jahre lang warten sie auf eine Diagnose, die eine angemessene Behandlung erst möglich macht. dreI partner, eIn bündnIs für wege aUs dem schmerz 3 Die Initiative „Wege aus dem Schmerz“ will das ändern. Drei Partner haben sich zu einem Bündnis zusammengeschlossen: die Deutsche Schmerzliga (DSL), die Deutsche Gesellschaft für Schmerztherapie (DGS ) und die Deutsche Gesellschaft zum Studium des Schmerzes (DGSS ). Das Unternehmen Pfizer unterstützt die Initiative. Ihre Forderungen hat die Initiative in einer „Freiheitserklärung“ veröffentlicht, denn genau darum geht es: Patienten haben mehr Freiheit vom Schmerz verdient, der ihnen ihren Alltag raubt. Vier Forderungen sind für die Partner zentral: Chronische Schmerzen sollen mehr Aufmerksamkeit erfahren; sie müssen als eigenständige Krankheit anerkannt werden; Chronische Schmerzen bedürfen von Anfang an einer gezielten Behandlung, und: Im Mittelpunkt der Behandlung steht der chronisch schmerzkranke Mensch. Dass die Versorgungssituation in Deutschland bislang völlig unbefriedigend ist, beweisen Zahlen, die eine Gruppe internationaler Wissenschaftler im Europäischen Weißbuch Schmerz erhoben hat, und die Teil des vorliegenden Schmerzreports sind. Wichtiger noch als die Zahlen ist die konkrete Situation der Patienten. Am Beispiel von drei Betroffenen zeigt der Schmerzreport den täglichen Kampf gegen den Chronischen Schmerz und für Freiheit im Alltag. Beides, die Zahlen und die Geschichten, zeichnen ein drastisches Bild der derzeitigen Lage. Aber sie zeigen auch, dass Wege aus dem Schmerz möglich sind – und was wir tun müssen, um sie zu gehen. „w eg e a u s d e m s c h m e r z “ I s t e I n e I n I t I at I v e vo n: dr. med. marIanne Koch domInIQue döttlIng dr. med. gerhard h. h. müller-schwefe Pd dr. med. mIchael a. überall g e f ö r d e r t vo n: Prof. dr. med. wolfgang KoPPert Prof. dr. med. rolf-detlef treede Peter albIez Sch mer z in Z a hl en Immense Kosten Chronische Schmerzen verursachen jährlich Kosten in Höhe von 38 Mrd. Euro – 28 Mrd. davon entstehen allein durch Arbeitsunfähigkeit und Berentungen. 1 Kein Tag ohne Schmerzen 64 % aller Schmerzpatienten leiden jeden Tag in der Woche, 52 Wochen im Jahr an ihren Schmerzen. Unglaubliche Zahl 129 Millionen Menschen in Europa leiden unter Chronischen Schmerzen – das ist in etwa jeder fünfte Europäer. 2 Sch mer z in Z a hl en 40% 50 % Unterschätzt Arbeiten mit Chronischen Schmerzen der Befragten haben den Eindruck, dass ihre Erkrankung Auswirkungen auf ihren Beschäftigungsstatus hat. aller Befragten mussten die Erfahrung machen, dass ihr Arzt ihre Schmerzen nicht als echtes Problem ansah. 69 % aller Patienten mit Chronischen Schmerzen leiden an Rückenschmerzen, 57 % an Gelenkschmerzen, 49 % an Kopfschmerzen und 46 % an Nackenschmerzen. 15 Unzureichende Behandlung der Schmerzpatienten in Deutschland wird nicht angemessen behandelt. 4 5 12 Millionen Menschen in Deutschland haben Chronische Schmerzen.3 Ursachenforschung aktuell Jahre bis zur Diagnose im europäischen Vergleich: aller Schmerzpatienten in Europa erhalten trotz jahrelanger Behandlung nicht die richtige Therapie. 3,2 in 3,0 in 2,5 in 2,4 in 2,0 in 2,0 in 1,5 in 1,4 in Ausgeschlossen Ausbildungsdefizit 38% Fehlversorgung Vielfach betroffen Volkskrankheit 2,2 Millionen Menschen in Deutschland – das ist bei­nahe jeder fünfte Patient – können wegen ihrer Schmerzen keiner geregelten Arbeit nachgehen. Norwegen GroSSbritannien Portugal Deutschland Spanien Griechenland Italien Frankreich 48 % der befragten Allgemeinmediziner sind sich nicht sicher, was zu tun ist, wenn ein Patient trotz Behandlung längere Zeit über Schmerzen klagt.4 7 »Ich musste lernen, die Schmerzen zu managen – und ich habe es geschafft.« Heik e Norda L ehr er in a u s neu m ü n s t er W ege aus de m Sch mer z Schmerz ist das, was der Patient sagt V ersorgungsdefi zi t e Im gespräch mit an. Länger – bis zu einigen Wochen – wirkten die kleinen OPs bei einem Neurochirurgen: Die betroffe­nen Nerven werden einige Minuten lang operativ mit flüssigem Stickstoff behandelt. Trotzdem: „Es gab diese Tage, und es gibt sie noch heute, da kann ich nicht aufstehen.“ »Das Einzige, was dann hilft, ist auf dem Sofa zu liegen und mich auf eine ferne Insel zu träumen.« „Das wird sich schon wieder geben“, war der Kommentar der Ärzte im Krankenhaus, als Heike Norda wegen starker Schmerzen wieder dorthin kam. Das war vor 24 Jahren. Heike Norda, heute 49 Jahre alt, war damals nach einem Fahrradunfall einige Male am Knie operiert worden. Bei einem Eingriff wurden Nerven beschädigt. Die Schmerzen blieben. Für Heike Norda begann das Ärzte-Hopping. Vom Allgemeinarzt zum Chirurgen und von dort zum Neurochirurgen und Orthopäden. „Alle Disziplinen klappert man da ab“, sagt sie. »Es gab nur wenige Ärzte damals, die mich ernst genommen haben.« Bis zu diesem Zeitpunkt stand noch keine Diagnose fest. „Stattdessen wurde ich aber mehrmals zu meinem psychischen Zustand befragt. Mitunter wurden meine Schmerzen auch auf die Nervosität vor meinem anstehenden zweiten Staatsexamen geschoben.“ Nach zwei weiteren Operationen am Knie und zwei weiteren Jahren vergeblicher Behandlungsversuche stand die Diagnose fest: Nerven irreparabel beschädigt. Das bedeutete Schmerzen, den ganzen Tag und rund um die Uhr. Und dabei musste Heike Norda funktionieren, schließlich war sie Lehrerin und ihren Beruf wollte sie auf keinen Fall aufgeben. Aber sie kämpfte, nicht nur gegen die Schmerzen, auch um Verständnis. „Wie so viele andere Patienten mit Chronischen Schmerzen auch, hörte ich oft: Aber man sieht ja gar nichts.“ Sie bekam Injek­ tionen von einem der ersten Schmerztherapeuten in Hamburg – die Wirkung hielt nur für einige Stunden Auch das musste sie erst lernen. Schmerzmanagement war eines vieler Dinge, die Heike Norda seit Anfang der 90er-Jahre in einer Schmerzklinik vermittelt bekam. Einmal im Jahr begab sie sich damals für eine mehrwöchige, multimodale Therapie dorthin. Durch den Chefarzt der Klinik bekam sie das erste Mal das Gefühl, ernst genommen zu werden. „Er hatte ein Schild in seinem Zimmer, auf dem stand: Schmerz ist das, was der Patient sagt.“ Bei einer Visite, als es Heike Norda trotz einiger Wochen, die schon hinter ihr lagen, überhaupt nicht gut ging, sagte der Arzt: „Sie müssen davon ausgehen, dass Sie Ihr ganzes Leben lang Schmerzen haben werden; aber Sie müssen versuchen, die Schmerzen zu managen.“ „Das war der Knalleffekt in meinem Leben“, erzählt Heike Norda. „Von diesem Moment an habe ich meine Schmerzbewältigung selbst in die Hand genommen.“ Sie hat heute genau dieselben Schmerzen wie vor zwanzig Jahren. Aber: Sie weiß, welche Tabletten ihr dabei helfen, ihre Arbeit zu meistern, wann es gar nicht mehr geht und sie Ruhe braucht oder sie ein Termin beim Neurochirurgen weiterbringt. „Heute kann ich den Schmerz managen.“ Wird die Behandlung für eine Krankenkasse nicht teuer, wenn ein Patient jahrelang falsch behandelt und dann zum stationären Fall wird? Dr. med. Gerhard H. H. Müller-Schwefe, Präsident der DGS und Leiter des Schmerzzentrums in Göppingen Was macht die Versorgung von Schmerzpatienten in Deutschland so schwierig? 8 9 Die Schmerzforschung in Deutschland ist spitze, die Versorgung hingegen ist absolut nicht zeitgemäß. Sie ähnelt innerhalb Deutschlands einem Flickenteppich: Jede Kassenärztliche Vereinigung hat eigene Regeln. Die führen im überwiegenden Teil der Bundesländer dazu, dass nur ein Arzt-Patienten-Kontakt im Quartal bezahlt wird. Jeder weitere Arztbesuch wird für den Arzt zum unbezahlten Hobby. Das ist besonders dramatisch, weil wir auf der einen Seite eine sehr hohe Zahl an Patienten haben, aber kaum mehr als 500 spezialisierte Einrichtungen. Einige Kassen sehen das auch so. Denn noch etwas anderes kommt hinzu: Die Kassen müssen ja nicht nur die Kosten für die Behandlung tragen, sondern zahlen auch das Krankengeld. Weil das eine immense Kos­ten­ stelle ist, haben einige Kassen Versorgungsverträge abgeschlossen. Nach vier bis acht Wochen intensiver und interdisziplinärer Behandlung gehen 86 Prozent der Patienten, die davor vier Wochen oder länger arbeitsunfähig waren, wieder arbeiten. In der Regelversorgung schaffen das gerade einmal 33 Prozent der Patienten. Und: Das Ganze finanziert sich ausschließlich über die Einsparungen an Krankengeldkosten. Lange wartezeit bis zu einer richtigen Diagnose Im Durchschnitt dauert es 2,4 Jahre. Was müsste sich ändern? Im Moment ist es so, dass selbst Ärzte, die qualifiziert sind, Schmerzpatienten zu behandeln, dieser Tätigkeit nicht mehr nachgehen – sie verdienen beispielsweise als Anästhesisten in einer Klinik wesentlich mehr. Mit der Schmerztherapie hingegen kann man eigentlich nur Geld vernichten. Das muss sich natürlich ändern. Wie ist die konkrete Situation für Sie als praktizierender Schmerztherapeut? Ohne die Privatpraxis könnten wir die Schmerzpraxis nicht betreiben. Das funktioniert nur über Querfinanzierung. Wir rechnen unsere Behandlungen über die KV ab, allerdings: Die vorgesehenen Leistungen, die wir abrechnen können, reichen nicht aus, um die Patienten angemessen zu behandeln. 3.240.000 warten 3–12 Monate 3.720.000 warten 1–5 Jahre 720.000 warten 5–10 Jahre 720.000 warten >10 Jahre 11 »Der Schmerz hat mich verändert.« H artmut Wahl R en t ner a u s g roSS g rön a u W ege aus de m Sch mer z Ein zweites Leben M u lt i moda l e T her a pie sagt Wahl, hätte er früher auf die Operation bestehen sollen, dann wären die Schmerzen wahrscheinlich nicht chronisch geworden. Er tat es erst viel später. Die Schmerzen blieben und übernahmen die Kontrolle: Seinen Job – er war Außendienstleiter einer Medizintechnikfirma – musste er aufgeben. Er wurde depressiv, spielte mit dem Gedanken, seinem Leben ein Ende zu bereiten. »Ich war so unbedarft wie jeder Mensch, der keine Chronischen Schmerzen hat.« „Die gesamte Schulter war eine einzige Schmerzzone. Bewegen tat weh, nicht bewegen genauso.“ Wieder ging er zum Arzt, wieder folgte der übliche Weg: Hausarzt, Orthopäden, Neurologen, Psychiater. Keiner der Ärzte konnte ihm helfen. „Irgendwann wurde in einer Klinik ein MRT gemacht. Der untersuchende Arzt sagte, als er sich die Bilder angesehen hatte: Wenn Sie jetzt Leistungssportler wären, dann hätte ich zur Operation geraten. Aber da Sie das ja nicht sind, rate ich Ihnen, so weiterzumachen.“ Die Diagnose lautete: Teilruptur der Supraspinatus-Sehne. Das war jedoch nur die halbe Wahrheit. Einige Jahre später fand Hartmut Wahl die ursächliche Diagnose durch eigene Recherche: Impinge­ ment Syndrom, eine Verengung im Schultergelenk. „Jegliche Art von Druck war grauenvoll.“ Im Nachhinein, Die Rettung in dieser Situation war die Einweisung in eine Klinik für psychosomatische Medizin. Drei Monate war Wahl dort, hier erlebte er eines Morgens seinen Schlüsselmoment. Eine heilsame Trias aus Physio-, Psycho- und medikamentöser Therapie habe das möglich gemacht, so Wahl. In der Klinik halbier­ten sich seine Schmerzen. Danach konnte er den Kampf gegen den Chronischen Schmerz angehen. „Das war vor allem eine mentale Leistung“, sagt Wahl. Gleichzeitig musste er sein privates und berufliches Leben wieder in Ordnung bringen. Er gründete eine Selbsthilfegruppe – „die Gespräche mit den anderen Mitgliedern und die Arbeit für die Patientenorganisation sind die beste Therapie“ – und verschrieb sich einer neuen Leidenschaft, dem Nordic Walking. „Aktivität in jeder Form ist der wichtigste Schritt auf dem Weg aus dem Schmerz“, da ist sich Wahl sicher und das vermittelt er auch den anderen Mitgliedern der Gruppe. So hat er es tatsächlich geschafft, dem Chronischen Schmerz immer einen Schritt voraus zu sein. Wie kann man sich diese Behandlung vorstellen? In welcher psychischen Verfassung sind die Patienten, die zu Ihnen kommen? Neben den physikalischen und medikamentösen Maßnahmen beinhaltet sie auch intensive Kurse darüber, was der Schmerz ist und wie man mit ihm umgeht. Psychiatrie, Psychologie, auch klassische Verhaltenstherapie sind wichtige Bestandteile. In allen Fällen beeinträchtigt Chronischer Schmerz das tägliche Leben der Patienten massiv. Deshalb ist es so wichtig, dass die Patienten dem Schmerz gegenübertreten. Wenn sie sich passiv verhalten, gewinnt er die Oberhand. Die Botschaft ist: Sie müssen damit rechnen, dass der Schmerz ein Teil ihres Lebens sein wird. Aber er wird ein Teil sein, den sie kontrollieren können. Prof. Dr. med. Wolfgang Koppert, M. A. Präsident der DGSS und Direktor der Anästhesiologischen Klinik der Medizinischen Hochschule Hannover »Das Leben mit dem Schmerz war mein erstes Leben. Jetzt führe ich ein Neues.« Eines Morgens erwachte Hartmut Wahl und konnte es kaum glauben: keine Schmerzen. Hatte die Therapie in der Klinik ihn tatsächlich geheilt? Nein, aber einen halben Tag lang war er ohne Schmerzen. Eine Perspektive! Er hatte eigentlich schon nicht mehr daran geglaubt. Hinter ihm lagen sieben Jahre Einsamkeit mit dem Schmerz. Im Jahr 2000 fing es an, im linken Bein. Er konnte weder liegen noch sitzen, die Schmerzen führten von der Ferse hinauf ins Kreuz. Nach einigen Monaten verschwanden sie so plötzlich wie sie gekommen waren. Stattdessen hatte Hartmut Wahl starke Schmerzen in der rechten Schulter – und die blieben. Im gespräch mit 12 13 Die meisten haben bereits sieben oder acht Ärzte kennengelernt. Einige sind dadurch sehr fatalistisch eingestellt und sagen: „Ich glaube, mir kann gar nichts mehr helfen.“ Andere greifen nach dem letzten Strohhalm, sie sagen: „Wenn Sie mir in der Univer­sitätsklinik nicht helfen, dann kann mir keiner mehr helfen.“ Wann kommen die Patienten zu Ihnen? Vorurteile in der Gesellschaft 26% In der Regel sehr spät. Häufig ist die Zeit, in der man von einer Chronifizierung der Schmerzen spricht – also drei bis sechs Monate – um ein Mehrfaches überschritten. Viele haben eine sehr lange Schmerzanamnese hinter sich, weil sie oftmals nicht adäquat behandelt wurden. Das Problem ist, dass unser System das Krankheitsbild Chronischer Schmerz nicht richtig abbildet. … der Patienten mit Chronischen Schmerzen wurde schon einmal vorgeworfen, ihre Erkrankung als Ausrede zu verwenden, um nicht arbeiten zu müssen. Was bedeutet das für die Therapie? 59% glauben, dass es in der Öffentlichkeit an Verständnis und Bewusstsein für ihre Situation mangelt. Wir müssen uns Gedanken darüber machen, wie die verschiedenen Fachrichtungen bei uns im Haus in jedem speziellen Fall vorgehen. Dafür haben wir sogenannte interdisziplinäre Patientensprechstunden. Hier diskutieren wir über die Patienten und überlegen, ob wir sie ambulant behandeln oder tagesstationär aufnehmen. In vielen Fällen hat sich die tagesstationäre Therapie bewährt: Wir bieten drei- bis vierwöchige Programme an; während dieser Zeit bekommen die Patienten eine sehr intensive Schulung. 33% denken, dass andere Menschen sie für Simulanten halten. 38% geben an, dass ihr Arbeitgeber kein Verständnis für ihre Erkrankung gezeigt hat. 15 »Ich bin nicht der Typ, der etwas sagt.« Git ta Rehsöf t H a u sf r a u a u s Sc h w er in W ege aus de m sch mer z Wenn Neinsagen hilft Fokus Pat ien t Dr. med. Marianne Koch Präsidentin der Deutschen Schmerzliga (DSL) und Internistin »Ich hoffte jeden Morgen, dass es bald wieder Abend werde.« Gitta Rehsöft sind ihre Schmerzen unangenehm. Nicht nur, weil sie sie einschränken. Oder weil sie hinderlich dabei sind, ein „normales“ Leben zu führen, wie andere Mütter, die gerade einmal 43 Jahre alt sind. Gitta Rehsöft ist so erzogen worden, dass es ihre Schmerzen eigentlich nicht gibt. Und das seit der frühen Kindheit. „Schon als junges Mädchen hatte ich Schmerzen im Rücken. Das hatte wahrscheinlich mit der harten Arbeit auf dem Feld zu tun, meine Familie hatte einen landwirtschaftlichen Betrieb. Ich war ein großes und sehr dünnes Mädchen und habe das nicht so gut weggesteckt.“ Rücksicht wurde darauf nicht genommen. »Stell dich nicht so an, du hast doch noch gar kein Kreuz, sagte meine Mutter oft zu mir.« „Wer so jung ist, der kann doch nichts am Rücken haben“, hörte sie auch von Ärzten. Mit 27 Jahren wurde sie zum ersten Mal an der Bandscheibe operiert. Da war sie schon Mutter von zwei Kindern und gerade von ihrem damaligen Mann getrennt. „Danach ging es genau so weiter“, erinnert sich Gitta Rehsöft. Von Krankenhäusern und Ärzten hatte sie deshalb genug. Aber was tat sie, als die Schmerzen immer stärker wurden? „Ich bin halt nicht der Typ, der etwas sagt“, ist Frau Rehsöfts Antwort. Irgendwann sagte sie doch einmal etwas. Das war während einer ehrenamtlichen Tätigkeit. Sie fühlte sich ausgenutzt, konnte nicht mehr und zog deshalb die Notbremse. Sie sagte Nein. Ihre Kinder und ihr zweiter Erst 2007 hat sie sich an einen Schmerztherapeuten gewandt. „In der Zeit davor habe ich jeden Morgen gehofft, dass es bald Abend werde. Es war die Hölle.“ Erst seitdem nimmt sie Schmerzmittel. Seitdem ist das Leben für sie zumindest erträglich. Zuvor war sie bei einem Heilpraktiker in Behandlung – den musste sie privat bezahlen. Helfen konnte er ihr nicht. Zu ihrer Mutter hat Gitta Rehsöft keinen Kontakt mehr. Und es gab auch Freunde, von denen sich die Rehsöfts wegen deren Unverständnis und Ignoranz gegenüber den Schmerzen trennen mussten. Vor Kurzem zog die Familie von Schönberg nach Schwerin. Ihre 13-jährige Tochter ist hochbegabt und bekommt dort die entsprechende Förderung. Der Mutter bedeutet das Glück der Tochter alles – auch wenn die Schmerzambulanz in Lübeck, wo sie zur Physio-, Ergo- und Psychotherapie ging, in weite Ferne gerückt ist. Dennoch: neue Stadt, neue Ärzte und vielleicht neues Glück. Sie bräuchte eine höhere Dosis Opiate – der Termin beim Schmerztherapeuten ist aber erst in drei Monaten. Den Optimismus verliert Gitta Rehsöft trotzdem nicht: Für ihr Leben mit dem Schmerz hat sie sich vorgenommen, öfter einmal Nein zu sagen und mehr auf sich selbst zu hören. Erwarten sich viele Menschen nicht auch konkrete Hilfe, im Sinne von Lebenshilfe? Im gespräch mit Mann bekamen das noch nicht zu hören. Obwohl der Alltag für Gitta Rehsöft schwierig ist. Jedes Bücken, jedes längere Stehen, auch Sitzen in einer Position, vom Gehen einmal ganz abgesehen – alles ist eine Überwindung, vieles eine Qual. Dennoch: „Wenn ich mich manchmal hinlege, dann habe ich ein schlechtes Gewissen.“ Die elterliche Erziehung – sie wirkt in der Tiefe. Frau Dr. Koch, mit welchen fragen wenden sich die Patienten an die DSL? Die meisten der rund 20.000 Anfragen, die im Jahr 16 17 telefonisch oder per Mail bei uns eingehen, gelten kompetenten Therapeuten. Da wir einen guten bundesweiten Überblick haben, können wir hier schnell helfen und einen Kontakt vermitteln. Ebenfalls sehr häufig werden wir nach Selbsthilfegruppen in der Region des jeweiligen Patienten gefragt. Da über 100 dieser Gruppen sich unter dem Dach der DSL orga­ nisiert haben, können wir in den meisten Fällen auch hier konkrete Angebote machen. Mitten im Leben 84 % … der Schmerzpatienten wollen trotz ihrer Erkrankung ein aktives Mitglied der Gesellschaft sein. 34 % haben Angst, aufgrund der Erkrankung ihren Job zu verlieren. Doch, natürlich. Hinter vielen Fragen stehen Nöte, die ganz typisch sind für Schmerzpatienten. Die Menschen vereinsamen. Die Probleme in der Familie häufen sich, weil die Angehörigen tatenlos zusehen müssen und überfordert sind, wenn jemand sich über die immer selben Schmerzen beschwert. Viele Patienten trauen sich nicht mehr aus dem Haus, entweder weil sie es nicht mehr können, weil sie glauben, es nicht zu können, oder weil sie sich in sich selbst zurückziehen. Welche Bedeutung kommt in dieser Situation den Selbsthilfegruppen zu? Sie sind hervorragend informiert, was die Versorgungslage und die therapeutischen Möglichkeiten in der Region angeht. Und sie bieten etwas, was die Familien oft nicht leisten können – eine selbstverständliche Empathie. Das Wichtigste aber ist, dass die Patienten aus der Einsamkeit heraus in eine Gemeinsamkeit zurückgeholt werden. Wie beurteilen sie die aktuellen Entwicklungen in der Therapie und der Versorgung Chronischer Schmerzpatienten? Durch die neuen gesundheitspolitischen Reformgesetze bricht eine geradezu idiotische Welle an Aus­tausch­ medikamenten über die Leute herein. Wenn die Patienten auf ein Opiat gut eingestellt waren – und das ist ja keine einfache Sache, weil die Mittel unterschiedlich wirken, unterschiedlich eingenommen werden müssen und auch Nebenwirkungen haben – wird das jetzt häufig zunichte gemacht. Die Menschen bekommen in der Apotheke gesagt: „Es tut mir leid, ich kann Ihnen nur das rabattierte Generikum geben.“ Nach der Einnahme erfahren diese Patienten, dass das Mittel vielleicht gar nicht so gut wirkt, obwohl derselbe Wirkstoff enthalten ist, aber in anderer Zubereitung. Er wird deshalb vom Körper unterschiedlich aufgenommen und ändert dadurch seine Wirksamkeit. A l ltagshil f e Zehn Tipps, die das Leben mit Chronischem Schmerz erleichtern #1 #6 Im Kontakt zu Ärzten reden ist gold Bleiben Sie beharrlich und lassen Sie sich nicht abspeisen – Chronischer Schmerz ist eine Krankheit und Sie haben ein Recht auf Behandlung beziehungsweise auf die Überweisung an einen Schmerztherapeuten. Informieren Sie sich, ob es vielleicht eine Schmerz-Selbsthilfegruppe in Ihrer Umgebung gibt. Vielen Patienten hilft der Austausch mit anderen Betroffenen. #2 #7 Schmerzen managen Mobil nützt viel Gehen Sie den Schmerz aktiv an, lassen Sie sich nicht von ihm beherrschen. Machen Sie sich auf die Suche nach einer Bewegungsart, die Ihnen Freude bereitet. Lassen Sie sich nicht vom Schmerz kontrollieren. #3 #8 Schritt für schritt in die ferne schweifen Setzen Sie sich realistische Ziele, überfordern Sie sich nicht. Das gilt für Ihr Privatleben, aber auch für Ihren Beruf. Versuchen Sie, sich abzulenken. Hobbys helfen! Patienten berichten auch von der wohltuenden Wirkung, sich an einen fernen Ort zu träumen. #4 #9 auf sich selbst hören Ausnahmesituation Es ist leicht gesagt, aber: Sagen Sie Ja zu einem Leben gegen den Schmerz, aber auch einmal Nein, wenn bestimmte Wünsche oder Forderungen zu weit gehen. Tun Sie sich Gutes, leisten Sie sich etwas, was Sie sich eigentlich sonst nicht leisten würden. #5 #10 wissen hilft auf dem neuesten stand Machen Sie sich zum Experten Ihrer eigenen Krankheit. Die Partner der Initiative bieten viele Informationen über den Chronischen Schmerz an. Nutzen Sie die Angebote der Initiativen-Partner, um Ihr Wissen über den Chronischen Schmerz zu intensivieren oder um Kontakt zu Experten zu bekommen. 18 Kolum nen t i t el Quellen Soweit nicht anders vermerkt, stammen die Quellen aus: InSites Consulting. Pain Proposal Patient Survey. August – September 2010. (Conducted in 2,019 people with chronic pain across 15 European countries. Funded by Pfizer Ltd.). Weitere Quellen 1 Zimmermann M. „Der chronische Schmerz ­Epidemiologie und Versorgung in Deutschland“, Orthopäde 2004; 33:508-514. 2 International Diabetes Federation. Diabetes Atlas. 2010. http:// www.diabetesatlas.org /content/europe. Last accessed July 2010. und Breivik H. et al. „Survey of chronic pain in Europe: prevalence, impact on daily life, and treatment.“ European Journal of Pain 2006; 10:287-333. 3 Breivik H. et al. „Survey of chronic pain in Europe: prevalence, impact on daily life, and treatment.“ European Journal of Pain 2006; 10:287-333. und Deutscher Bundestag, 15. Wahlperiode, Drucksache 15/ 2295, Adäquate Versorgung von Schmerzpatienten, 22.12.2003. 4 InSites Consulting. Pain Proposal PCP Survey. August – September 2010. (Conducted with 1,472 primary care ­professionals in 15 European countries. Funded by Pfizer Ltd.). Impressum „Wege aus dem Schmerz“ ist eine Initiative der Deutschen Schmerzliga e. V., der Deutschen Gesellschaft für Schmerztherapie e. V. und der Deutschen Gesellschaft zum Studium des Schmerzes e. V. Deutsche Schmerzliga e. V. Adenauerallee 18 61440 Oberursel info @ schmerzliga.de www.schmerzliga.de Die Initiative „Wege aus dem Schmerz“ wird vertreten durch den Vizepräsidenten der Deutschen Schmerzliga e. V., Herrn Harry Kletzko. 20