ZEITSCHRIFTENARCHIV »Ehrfurcht gebührt allem Lebendigen« – Ruth C. Cohn und Albert Schweitzer Themenzentrierte Interaktion Anstoß nehmen – Anstoß geben. Dr. h.c. Ruth C. Cohn (1912–2010) 26. Jahrgang, 1/2012, Seite 36–45 Psychosozial-Verlag 28148 T hemenzentrierte Interaktion Themenschwerpunkt: Anstoß nehmen – Anstoß geben. Dr. h.c. Ruth C. Cohn (1912–2010) Walter Schiffer „Ehrfurcht gebührt allem Lebendigen“ – Ruth C. Cohn und Albert Schweitzer Der Philosoph Albert Schweitzer analysiert im ersten Viertel des vorigen Jahrhunderts Kultur, Ethik und Philosophie und gelangt, ausgehend von unmittelbarer Erfahrung („Ich bin Leben, das Leben will, inmitten von Leben, das Leben will“), auf dem Weg des ‚elementaren Denkens’ zu der ethischen Konzeption der „Ehrfurcht vor dem Leben“. Es zeigt sich ein Gedankengang, der die Reflexion über das zweite Axiom der TZI „Ehrfurcht gebührt allem Lebendigen und seinem Wachstum“ bereichern kann. Zum Autor Walter Schiffer M.A., M.Th., Jg. 1957, arbeitet in Schule, Lehrerfortbildung, freiberufl. in der Erwachsenenbildung & Lebensberatung. TZI-Diplom, Logotherapeut/existenzanalytischer Lebensberater (dipl. durch die GLE – D). www.beratung-begleitung.de The philosopher Albert Schweitzer analyses culture, ethics and philosophy during the first quarter of the previous century and, based on his direct experience (“I am life that wills to live in the midst of life that wills to live”) arrives at the ethical conception of the “Reverence for Life”. From this, a model of thought arises, which can enrich the reflections on the second tci-axiom of the citation in the title “All living entities and their growth deserve to be respected”. Vorbemerkung Unter einem Axiom versteht man einen Satz, der die unmittelbar einsichtige Basis eines Denksystems bildet. Solch ein Satz ist nicht beweisbedürftig, andererseits ist er auch nicht beweisfähig. Bekanntlich hat Ruth C. Cohn ihrer TZI drei Axiome, ein anthropologisches, ein ethisches und ein pragmatisch-politisches, unterlegt.Wenn die TZI-GruppenleiterInnen sich notwendigerweise große Mühe bei der Themenformulierung geben, die dynamische Balance innerhalb des Vier-Faktoren-Modells bedenken, Prozesse gründlich analysieren etc., so wird dabei die Axiomatik bedacht. Ohne diese im Blick zu halten, hat das „Haus der TZI“ keinen tragfähigen Grund. Deshalb ist es lohnend, immer wieder an den Fundamenten zu arbeiten, sie zu stützen – auch wenn (oder gerade weil) sich Ruth Cohn mit nur spärlich erläuterten axiomatischen Setzungen begnügte. 36 Schiffer, „Ehrfurcht gebührt allem Lebendigen“ – Ruth C. Cohn und Albert Schweitzer 26. Jahrgang Heft 1 Frühjahr 2012 Für das zweite TZI-Axiom kann das philosophische Werk Albert Schweitzers eine solche argumentative Stütze leisten, ist doch der zentrale Begriff seiner Kulturphilosophie und Ethik die Ehrfurcht vor dem Leben. 1. Das ethische Axiom der TZI An diesem Ort reicht eine Skizze des ethischen Axioms (vgl. von Kanitz, 2009 und Vogel, 2009), es lautet: „Ehrfurcht gebührt allem Lebendigen und seinem Wachstum. Respekt vor dem Wachstum bedingt bewertende Entscheidungen. Das Humane ist wertvoll; Inhumanes ist wertbedrohend.“ (Cohn, 1992, 120) Diese ethische Basis der TZI zu Grunde zu legen, war Ruth Cohn so wichtig, dass sie deshalb den ursprünglichen Namen ihres Systems, nämlich „WILL-Methode“ oder „Themenzentrierte Interaktionelle Methode“, fallen ließ, denn der forcierte Blick auf die Methode verdeckt u. U. die zentrale Bedeutung der ethischen Haltung. (ebd.) TZI ist eben mehr als die Technik eines Gruppenleitungsverfahrens. Da Ruth Cohn einen realistischen Bezug zur Wirklichkeit hatte und wusste, dass das menschliche Leben ohne Vernichtung von Lebendigem kaum lebbar ist, fügte sie Der forcierte Blick auf die Methode einschränkend hinzu: „Human sein bedeutet zum Beispiel, keine Lebewesen zu quälen und nie mehr von ihnen zu verdeckt die zentrale töten, als zur Lebenserhaltung und -förderung (speziell der Bedeutung der Menschen) nötig ist; wobei der Begriff des Tötens auch das ethischen Haltung Abtöten von seelischen und geistigen Fähigkeiten einbezieht.“ (Cohn, 1991, 357) Sie sieht diese philosophischethische Norm als unerlässlichen Anspruch für die Gestaltung des zwischenmenschlichen Lebens.Wegen der unmittelbaren Einsehbarkeit dieser Norm bedarf der Grundsatz keines Rückbezuges auf „absolute Seinsweisen“, wenn auch der Anspruch „religiös aufgefasst werden kann“. (ebd.) Gemeinsam mit Paul Matzdorf erläutert Ruth Cohn, dass die Leitidee der Ehrfurcht vor allem Lebendigen – trotz alledem – unbestreitbar sei, dass sich in der Geschichte jedoch die Notwendigkeit zeige, die wertegebundene Haltung zum Leben zu betonen. Sie setzen als Hypothese, dass jeder Person dazu ein „organismische[r] und geistige[r] Wertesinn (…)“ gegeben ist, dieser kann aber „gefördert, behindert oder zerstört“ (Matzdorf/ Cohn, 1992, 62) werden. Instrumentalisierende Vernunft und kalte Rationalität sind prägende Kräfte unserer Gesellschaften und bringen den ganzheitlichen Menschen aus dem Gleichgewicht. Unter dem Diktat dieses Zeitgeistes verliert der Mensch den Kontakt zum Menschlichen, büßt seine „Liebes- und Wertefähigkeit“ (ebd., 61) 37 T hemenzentrierte Interaktion Themenschwerpunkt: Anstoß nehmen – Anstoß geben. Dr. h.c. Ruth C. Cohn (1912–2010) ein. Als Konsequenzen folgen Vernichtung von Natur,Tierwelt und Menschen statt „das ehrfürchtige Staunen über die Wunder des Universums“. Eines der wesentlichen Ziele, die Ruth Cohn mit „ihrer“ TZI verfolgte, war es, diesen destruktiven und inhumanen Strömungen entgegenzutreten. (Vgl. Cohn, 1991, 374) Im Folgenden wird der Kerngedanke des Philosophischen Werkes Albert Schweitzers dargestellt und wie dieses das Denken über Ruth Cohns Ethik bereichern kann. 2. Albert Schweitzers Ethik der Ehrfurcht vor dem Leben 2.1 Kurze Erinnerung an die Person Albert Schweitzer Hinter dem Namen Albert Schweitzer (vgl. Steffahn, 2009) verbirgt sich mehr als der hier und da noch bekannte Urwalddoktor, der in den 50er und 60er Jahren weltweit als Vorbild gelebter Humanität galt. Der 1875 im Elsass Geborene studierte in Straßburg Philosophie und Theologie. Beide Studien schloss er mit dem Doktorgrad ab (1899/1900). Parallel trieb er musikwissenschaftliche Studien, nahm Orgelunterricht bei Charles Marie Widor in Paris und war ein gefragter Organist. 1902 wurde er für das Fach Neues Testament an der Evangelisch-Theologischen Fakultät der Universität Straßburg habilitiert. Da er sich gelobt hatte, sich lediglich bis zum 30. Lebensjahr der Musik und den Wissenschaften Schweitzer zu widmen und sich dann dem Dienst am Menschen zuzuengagierte sich nach wenden, strebte er – nach einigen Umwegen – die Arbeit 1945 für ein Verbot in der Mission an. Allerdings lehnte die Pariser Missionsder Atomwaffen­ gesellschaft dieses Ersuchen ab, da sie solch einen liberalen Theologen nicht nach Afrika ziehen lassen wollte. Da aber versuche in Äquatorialafrika dringend Ärzte gebraucht wurden, studierte Schweitzer von 1905 bis 1911 Medizin. 1912 erhielt er seine ärztliche Approbation, legte sein Predigtamt, eine ihm sehr am Herzen liegende Tätigkeit, nieder. Er heiratete in demselben Jahr Helene Breslau. Im Kommenden fand seine medizinische Promotion statt, er schied aus dem theologischen Lehrkörper der Straßburger Universität aus und landete am 14. April 1913 in Lambarene, wo er gemeinsam mit seiner Frau ein Urwaldspital aufbaute. Die folgenden Jahre waren von harter Arbeit bestimmt:Tagsüber baute er sein Spital auf, operierte, behandelte die Kranken, in den Abend- und Nachtstunden konzipierte und schrieb er seine Kulturphilosophie und Ethik, verfasste weitere theologische und religionswissenschaftliche Werke und engagierte sich nach 1945 für ein Verbot der Atomwaffenversuche. Schon fast bizarr mutet 38 Schiffer, „Ehrfurcht gebührt allem Lebendigen“ – Ruth C. Cohn und Albert Schweitzer 26. Jahrgang Heft 1 Frühjahr 2012 es an, sich vorzustellen, dass außerdem abends und nachts u. a. Bachsche Choralvorspiele durch den Urwald tönten: notwendige Übungsstunden – und auch eine Entspannungsmöglichkeit – auf seinem Tropenklavier (mit Pedalen) für seine Orgelkonzertreisen, die er zur Finanzierung seines Hospitals durchführte. So pendelte er über Jahrzehnte zwischen Afrika und Europa und zwischen ärztlicher Praxis, wissenschaftlicher Theoriearbeit auf der einen und Vortrags- und Konzerttätigkeit auf der anderen Seite. Und immer wieder heißt es in seinen Briefen, wie z. B. an Theodor Heuss am 12.1.1961: „Ein schönes Erlebnis meines Alters ist, dass die Idee der Ehrfurcht vor dem Leben ihren Weg zu machen beginnt.“ (Schweitzer, 2006, 367) Am 4.9.1965 stirbt Albert Schweitzer 90-jährig in Lambarene. 2.2 Schweitzers Zeitdiagnose: Der Niedergang der Kultur Es wird nicht verwundern, dass ein Theologe und Philosoph auf anderen Wegen zu der Maxime „Ehrfurcht vor dem Leben“ kommt als die Psychoanalytikerin.1 Seit seinen späten Studienjahren wuchs in Albert Schweitzer das Projekt einer Kulturphilosophie und Ethik. Erste Konzepte entstanden im Jahr 1900, von 1914 bis 1917 gewann das Werk Gestalt und 1923 wurden die beiden Teile veröffentlicht: „Verfall und Wiederaufbau der Kultur“ und „Kultur und Ethik“.2 Schweitzer begann diese Arbeit mit einer Analyse der Kultur und ging davon aus, dass die Philosophie die Schuld am Niedergang der Kultur trug. War sie ehemals in der Lage, als Popularphilosophie auf Gesellschaften mittels ethischer Vernunftideale einzuwirken, hatte sie sich im 19. Jahrhundert aus der öffentlichen Diskussion zurückgezogen und ihre bisherigen Ergebnisse gehütet und verwaltet, blieb lediglich „gelehrte Epigonenphilosophie“ (Schweitzer, 1990, 20). Sie war nicht in der Lage, positive Impulse für den kulturellen Fortschritt zu geben. Darüber hinaus sah Schweitzer ein generelles „Versagen des Denkens“ und damit ein Ausbleiben des qualifizierten Nachdenkens über Kultur. Geistiges und Wirtschaftsverhältnisse wirkten dergestalt aufeinander, dass sie die Menschen „verkleinern und 1 Insbesondere über Oskar psychisch schädigen“ (ebd., 23). Er machte fünf Gründe aus, die Pfister war Schweitzer über diesen Niedergang bedingten: die Psychoanalyse informiert und stand ihr offen gegen1. Menschen, die den kulturellen Fortschritt betreiben sollen, über; vgl. Schweitzer 2006, müssten Denkende und Freie sein. Beides wird durch die 559–605. bestehenden Produktionsverhältnisse eingeschränkt. 2 Kulturphilosophien III (Werke 2. Menschen überanstrengen sich im Arbeitsprozess, dass in ihrer aus dem Nachlaß) erschieFreizeit Ablenkung zum Bedürfnis wird. „Nicht Bildung nen in zwei Bänden 1999 sucht er, sondern Unterhaltung.“ (Ebd., 25) und 2000. 39 T hemenzentrierte Interaktion Themenschwerpunkt: Anstoß nehmen – Anstoß geben. Dr. h.c. Ruth C. Cohn (1912–2010) 3. 4. 5. 3 Das Stichwort „Vernunft“ lässt vermuten, dass wir in die Problematik der „Verkopfung“ geraten könnten. Die unten folgenden Ausführungen zum „elementaren Denken“ werden diese Ahnung entkräften. 40 Spezialisierungsprozesse haben den Effekt, dass die Arbeitsergebnisse zwar qualitativ hervorragend sind, die Kreativität der Tätigen aber auf der Strecke bleibt, die Prozesse – z. B. auch in der Schule – „unlebendig und unpersönlich“ (ebd., 27) werden. Insbesondere durch die Beschleunigungsprozesse verfällt der Mensch zunehmend der Humanitätslosigkeit. Beziehungen werden oberflächlich, Individuen verdinglicht. Die Lebensverhältnisse sind überorganisiert, was die Geistigkeit der Individuen hemmt und Kollektive zu Maschinen degradiert. Einzelne verlieren ihre unverwechselbare Bedeutung in der Gemeinschaft, diese verfügt über das Individuum und oktroyiert ihm seine Meinung auf. „Die Überorganisierung unserer öffentlichen Zustände läuft auf ein Organisieren der Gedankenlosigkeit hinaus.“ (Ebd., 33) Damit geht schließlich die sittliche Urteilsfähigkeit verloren. „Die Demoralisation des Einzelnen durch die Gemeinschaft ist in vollem Gange.“ (Ebd., 34) Zu bedenken ist dabei, dass für Schweitzer Kultur nicht in erster Linie Fortschritt in Bereichen der Wissenschaft,Technik und Kunst darstellt, sondern Fortschritt des Wirkens des Geistes, der ethischen Haltung: die Herrschaft der Vernunftideale3 über die menschliche Gesinnung (vgl. ebd., 34ff.). Bis hierhin malt Schweitzer ein düsteres Bild des gesellschaftlichen Lebens in der Kultur. Es fällt auf, dass seine Bewertungen auf vielfältige Weise dem späteren gesellschaftskritischen Denken Ruth Cohns ähnlich sind: Sie spricht von Holismus,Verantwortlichkeit und durch Autonomie gesteigertes Bewusstsein der Interdependenz; geringe Wirkung allseits propagierter ethischer Werte; instrumenteller Rationalität; Kontrollmacht der Mächtigen; Chairperson usw. (Matzdorf/Cohn, 1992, 55f., 60f., 66f.) Ruth Cohn wollte über eine TZI-gemäße Therapie, Pädagogik und Lebensgestaltung („Die Couch ist zu klein!“) zum gesellschaftlichen Wandel beitragen. In Bezug auf Schweitzers Zeitdiagnose bleibt zu fragen, wie es zu einer Regeneration der Kultur kommen kann. Die Antwort ist einfach, die Verwirklichung schwer: Wenn die Kultur durch Ethik aufgebaut wird, braucht es „ethische Energien“ (Schweitzer, 1990, 53), die gegen den Kulturverfall wirksam werden. Schweitzer stellt einen mühevollen, aber notwendigen Weg in Aussicht. (Vgl. ebd., 54 und 59) Dabei knüpft er seine Hoffnung für den Ausweg aus der Unkultur nicht an Institutionen oder an eine Massenbewegung, sondern an das Individuum, weil sich – gegen den Widerstand der Kollektive – in ihm allein in Eigenbestimmtheit das Ethische entwickelt. (Vgl. ebd., 59f. und die Idee der Chairperson: Matzdorf/Cohn, 1992, 68) Schiffer, „Ehrfurcht gebührt allem Lebendigen“ – Ruth C. Cohn und Albert Schweitzer 26. Jahrgang Heft 1 Frühjahr 2012 Notwendig ist es, dass auf diesem Weg Persönlichkeiten Ideen für eine Weltanschauung durchdenken. (Vgl. Schweitzer, 1990, 63–67) Aber was meinen hier Denken und Vernunft? Unter vernünftigem Denken versteht Schweitzer eine Funktion des Geistes, in der „unser Erkennen und unser Wille die geheimnisvolle Zwiesprache miteinander“ (ebd., 68) halten. Es erscheint ihm demnach als ein mystischer Vorgang, der aber nicht reines (irrationales) Erleben ist: „Das letzte Wissen, nach dem wir trachten, Das letzte Wissen nach dem ist das Wissen vom Leben. Unser Erkennen erschaut das Leben von außen, unser Wille von innen. Weil das Leben wir trachten, ist das letzter Gegenstand des Wissens ist, wird das letzte Wissen Wissen vom Leben notwendigerweise denkendes Erleben des Lebens.“ (Ebd., 70) Das Wollen muss durch das Erkennen hindurchgehen, damit es sich als „universellen Willen zum Leben“ (ebd.) verstehen kann. Verzichtet der Wille auf das Denken, wird er zur Fantasie; vergisst die Ratio aber, dass sie, „um das Leben zu begreifen, zuletzt in denkendes Erleben übergehen muss, verzichtet [sie] auf tiefe und elementar begründete Weltanschauung. Das zu Ende gedachte Denken führt also irgendwo und irgendwie zu einer lebendigen, für alle Menschen denknotwendigen Mystik.“ (Ebd.) Schweitzer favorisiert eine „denkende Weltanschauung“, die optimistisch ist4, d. h. die „die Welt und das Leben als etwas an sich Wertvolles bejaht“ (ebd., 71) und die bestrebt ist, das Leben und dessen Bedingungen für das Individuum und die Gesellschaft weiterzuentwickeln. Weiterhin muss die Weltanschauung ethisch sein, d. h. darauf abzielen, dass sich die Persönlichkeit innerlich vollendet. (Vgl. ebd., 71f. und analog bei Matzdorf/Cohn, 1992, 62: die Förderung des Wertesinns) Wenn allerdings das Wirken über die Weltanschauung dieser Art erlahmt, geraten die Menschen in werte-loses, zielloses Wirken, statt das Handeln am Sinn des jeweiligen Lebens auszurichten. Ist auch vielleicht der Sinn der Welt gedanklich nicht fassbar, den Sinn des Lebens können wir aus unserem „Willen zum Leben, wie er in uns ist“, erheben. „Miteinander haben wir über den Sinn des Lebens denkend zu werden, miteinander darum zu ringen, zu einer welt- und lebensbejahenden Weltanschauung zu gelangen“. (Ebd., 78) 2.3 Elementares Denken Der Gedankengang soll hier kurz unterbrochen werden, um vor der Darstellung Schweitzers Motto „Ehrfurcht vor dem Leben“ den Begriff des „elementaren Denkens“ – nach Rössler wahrscheinlich „eine Eigenprägung Schweitzers“ – zu erläutern. (Rössler, 2009, 7 und vgl. zum Folgenden auch Günzler, 2008; hier 18f.) 4 Schweitzer beschreibt ausführlich die Umwandlung der pessimistischen zur optimistischen Weltanschauung in Verbindung mit der optimistischen Lebensanschauung; vgl. ebd., 291–305. 41 T hemenzentrierte Interaktion Themenschwerpunkt: Anstoß nehmen – Anstoß geben. Dr. h.c. Ruth C. Cohn (1912–2010) Schweitzer geht davon aus, dass Kants Vernunftethik defizitär ist, da sie die Vernunft allein auf den Erkenntnisvorgang reduziert und die Ebenen der Emotionalität außer Acht lässt. (Vgl. in Bezug auf die TZI: Schiffer, 2010) Ebenso reicht das Berufen auf den „gesunden Menschenverstand“ nicht aus, weil er nach Schweitzers Verständnis ohne radikal durchdachte Ethik auskommt. (Vgl. Schweitzer, 1999, 58ff. und 187) Schweitzers Denkkonzept fußt auf einer über Kant hinausgehenden Anthropologie: Das Ich des Menschen ist in einer bestimmten Weise in seinen Gedankengängen letztendlich vorgeprägt, über das Sittliche nachzudenken (vgl. ebd., 304), und es verhält sich im Denken nicht allein erkennend. Menschen sind „nicht einfach Seiendes in dem unendlichen Sein der Welt, sondern lebendige Individuen. Unser Ich, diese geheimnisvolle Einheit von Wollen, Empfinden, Fühlen und Erkennen, sucht sich in dem geheimnisvollen Sein der Welt, in das es hineingestellt ist, zu begreifen. Nicht irgendein logisches Vermögen übt in uns, als eine Art Gedankenmathematik, das Denken aus. In unserem Denken setzt sich unser ganzes Ich mit der Welt auseinander. Denken ist eine elementare Funktion unseres lebendigen Seins.“ (Ebd., 300f. u.ö.) Denken ist eine elementare Funktion Dabei sind Denken und Fühlen aufs Engste verknüpft unseres lebendigen und voneinander abhängig: „Das Gefühl, das sich dem Denken entzieht, verfehlt seine Bestimmung. Das Denken, Seins das meint, am Gefühl vorübergehen zu können, verliert die Richtung, die in die Tiefe führt.“ (Ebd., 407) Allein so verstandenes, elementares Denken ist wertvoll, weil es unter der Herrschaft des Ethischen steht. (Vgl. ebd., 317) Das zuerst Empfundene wird so vertiefend zu Ende gedacht. Deshalb kann Schweitzer sagen, dass der „Verstandesmensch (…) in einem stehengebliebenen Denken“ (ebd., 406, Anm. 23) zurückbleibt. In einem elementaren Denkprozess aber wird sich die Person der grundsätzlichen Gegebenheit klar, dass sie die Welt, das Leben und den Willen zum Leben als etwas Wertvolles bejaht. (Vgl. ebd., 285) Das Denken über Leben und Welt führt schlussendlich und notwendig zur ethischen Frage, wie die Person ihr alltägliches Leben angesichts anderen Lebens in der Welt gestaltet.Weiterhin kann das elementare Denken in den Bereich des Religiösen fortschreiten. (Vgl. Rössler, 2009, 13–18) Hier klingen nicht nur die drei TZI-Axiome und der o. g. Wertesinn an, sondern auch das Ineinanderwirken der einzelnen Strebungen der Chairperson, die gewahr wird, dass sie realitätsbezogen etwas muss, ihrer Ethik folgend etwas soll und auf ihr Gefühl achtend etwas möchte. (Vgl. Kroeger, 1992, 101ff.) In Auseinandersetzung mit der Erlebnistherapie betont Ruth Cohn, dass es wesentlich sei, das innere Erleben gedanklich zu überprüfen, und gipfelt in dem bekannten Satz: „Das Verächtlichmachen von Wissen 42 Schiffer, „Ehrfurcht gebührt allem Lebendigen“ – Ruth C. Cohn und Albert Schweitzer 26. Jahrgang Heft 1 Frühjahr 2012 und Denken ist nicht weniger destruktiv als das Herabschauen auf Gefühle und Sensitivität.“ (Cohn, 1992, 102) 2.4 „Ich bin Leben, das leben will, inmitten von Leben, das leben will.“ Die dargestellten Überlegungen zu Schweitzers Vorstellung zum elementaren Denken zeigen die nachträgliche Reflexion (ab 1920) eines Erlebnisses aus dem Jahre 1915. Albert Schweitzer, der zu einer Kranken gerufen worden war, befand sich in einem Boot auf dem Ogowe. „Langsam krochen wir den Strom hinauf, uns mühsam zwischen den Sandbänken – es war trockene Jahreszeit – hindurchtastend. Geistesabwesend saß ich auf dem Deck des Schleppkahnes, um den elementaren und universellen Begriff des Ethischen ringend, den ich in keiner Philosophie gefunden hatte. Blatt um Blatt beschrieb ich mit unzusammenhängenden Sätzen, nur um auf das Problem konzentriert zu bleiben. Am Abend des dritten Tages, als wir bei Sonnenuntergang gerade durch eine Herde Nilpferde hindurchfuhren, stand Alle Lebewesen, ja urplötzlich, von mir nicht geahnt und nicht gesucht, das alles Leben fußt in Wort ‚Ehrfurcht vor dem Leben’ vor mir. Das eiserne Tor dem gleichen Willen hatte nachgegeben: der Pfad im Dickicht war sichtbar zum Leben geworden. Nun war ich zu der Idee vorgedrungen, in der Welt- und Lebensbejahung und Ethik miteinander enthalten sind! Nun wusste ich, dass die Weltanschauung ethischer Welt- und Lebensbejahung samt ihren Kulturidealen im Denken begründet ist.“ (Schweitzer, 1952, 144)5 Nicht das Motto Descartes’ – Cogito, ergo sum/Ich denke, also bin ich – ist für Schweitzer maßgebend, sondern das, was jedem Menschen denkbar ist: „Ich bin Leben, das leben will, inmitten von Leben, das leben will.“ (Ebd., 145) Wenn dem einzelnen Menschen ins Bewusstsein tritt, dass nicht nur ihm Wille zum Leben gegeben ist, sondern allen Menschen, dann ändert sich der Satz, denn nun sind wir Leben, das leben will. Alle Lebewesen, ja alles Leben fußt in dem gleichen Willen zum Leben.Wer sich für dieses Erleben öffnen kann, wird durch diese geheimnisvolle Erfahrung zutiefst erfüllt 5 Sein Leben lang behauptete mit Ehrfurcht. (Vgl. Schweitzer, 1990, 330) Für Schweitzer folgt Schweitzer, dass er den daraus eine mit Verantwortung aufgeladene Interdependenz allen Begriff „Ehrfurcht vor dem Leben“ vorher nicht gekannt Lebens: „Wir kennen kein völliges Für-Uns-Sein.“ (Schweitzer, habe. Seinem phänomenalen 1999, 285 und vgl. dort 303) Lebens- und Weltbejahung führen Gedächtnis ist dabei entso in ständig wachsenden Kreisen zu einem Dienst an allem Legangen, dass er ihn selbst bendigen (vgl. ebd., 286 u.ö.), ja Schweitzer steigert den Anspruch: in einer Vorlesung bereits Verantwortung gegenüber allem Leben. (Schweitzer, 1990, 332; 1912 gebraucht hatte. Vgl. Matzdorf/Cohn, 1992, 57f., 68 und 72f. u.ö.) Schweitzer 1998, 693. 43 T hemenzentrierte Interaktion Themenschwerpunkt: Anstoß nehmen – Anstoß geben. Dr. h.c. Ruth C. Cohn (1912–2010) 2.5 Problematisierung der Leitidee Schweitzers (und damit auch des TZI-Axioms) Die letztgenannten Gedanken muten als Überforderung bedrückend an. (Vgl. Hauskeller, 2006, 210ff.) Albert Schweitzer war sich dessen genauso bewusst, wie es Ruth Cohn war. Eine ihrer Reaktionen lautete: „Die Abwehr sagt: ,Man kann doch wirklich nicht alles berücksichtigen.Wir haben schon genug mit uns selbst zu tun ….‘“ (Matzdorf/Cohn, 1992, 72) Aber über die Deutung als Abwehr hinaus ist es lohnend zu überlegen, wie mit dem Gefühl der Überforderung bzw. mit der Infragestellung der Leitidee umgegangen werden kann. Der Vorwurf lautet erst einmal berechtigt, dass es wenig Sinn ergebe, eine Maxime aufzustellen, die nicht eingehalten werden kann: Die Erhaltung des Lebens ohne Zerstörung des Lebens ist nicht möglich. So räumt Cohn trotz der Idee der Ehrfurcht ein, dass Leben getötet werden darf, wenn menschliches Leben zur Disposition steht. Ebenso erschießt Schweitzer Schlangen auf dem Spitalplatz, aber keine Krokodile am Flussufer, rodet den Urwald zum Bau neuer Hütten für die Kranken, verpönt aber das achtlose Ausreißen einer Blume, isst Fleisch, schreibt aber nachts in der Schwüle bei geschlossenem Fenster, damit kein Falter an der Flamme der Öllampe verbrennt, rettet kleinste Tiere und tötet als Arzt Bakterien ab. So handelt jemand, der ein hohes Ideal für ethisches Handeln setzt, eine anspruchsvolle Lebenshaltung fordert, sich aber als moralisches Subjekt einer „Stufung des Seienden“ (Sitter-Liver, 2006, 241), einer scala naturae, bewusst ist. Angesichts des Lebens und des Willens zum Leben alles Lebendigen ist die Person gezwungen, in jeder sie konkret konfrontierenden Situation elementar zu reflektieren, ob es moralisch begründet sein kann, dieses Leben zu erhalten und jenes zu töten. In dieser Form denkend zu werden, appelliert an eine Haltung gegen die Gedankenlosigkeit, überfordert aber nicht. (Ebd., 247) Weder Cohn noch Schweitzer wollen in ihren ethischen Überlegungen einen Katalog angeben, was im Einzelnen zu tun oder zu lassen ist, bieten keine konkreten Regeln, sondern zwingen die Personen, je neu abzuwägen und mit dem „Ehrfurcht vor dem Leben-Kompass“ bewertend zu entscheiden (s. o.). Wie Cohn eine sich immer ausweitende Interdependenz sieht, die die Verantwortung für den Globe ins Kosmische fortschreibt, so Schweitzer die, die Mensch, Kreatur, Sein, Welt und Kosmos in den Blick nimmt. (Vgl. Günzler, 2008, 39) Oft genug werden wir in diesen Entscheidungsprozessen in Dilemmata geraten, aus denen uns die Abwehr oder die Vernünftelei (vgl. Hauskeller, 2006, 233) befreien wollen. Stattdessen gilt es wohl, sich der jeweiligen Situation (ver-)antwortend zu stellen, vielleicht sogar über sich hinauszuwachsen – hat doch die 44 Schiffer, „Ehrfurcht gebührt allem Lebendigen“ – Ruth C. Cohn und Albert Schweitzer 26. Jahrgang Heft 1 Frühjahr 2012 TZI eine Vision des Menschen (vgl. Kroeger, 1992, 106) – und gegebenenfalls zu scheitern. In der Axiomatik Ruth Cohns und in der Ethik Schweitzers6geht es um nicht weniger als um unsere wertegeleitete Lebensführung als Person. Beide rufen uns auf, dabei unsere Entwicklungspotenziale zu entfalten und die Humanität auszubilden, und folgen damit treu in der Spur ihres gemeinsamen Lehrers: Goethe. (Cohn, 1991, 470, 564 u.ö.; Schweitzer, 1974, 477 u.ö.) Literatur Cohn, Ruth C.; Farau, Alfred: Gelebte Geschichte der Psychotherapie. Zwei Perspektiven. Stuttgart 1991. Cohn, Ruth C.: Von der Psychoanalyse zur themenzentrierten Interaktion. Von der Behandlung einzelner zu einer Pädagogik für alle. Stuttgart 111992. Günzler, Claus: Vom „Park“ in die „Wildnis“ – Albert Schweitzers Modell einer elementaren Alltagsethik. Bonn 2008. Hauskeller, Michael (Hrsg.): Ethik des Lebens. Albert Schweitzer als Philosoph. Kusterdingen 2006. Hauskeller, Michael: Verantwortung für alles Leben? Schweitzers Dilemma. In: Hauskeller, 2006, 210–236. Kanitz, Anja von: Einführung zu den Axiomen und Postulaten. In: Schneider-Landolf, 2009, 78–79. Kroeger, Matthias: Anthropologische Grundannahmen der Themenzentrierten Interaktion. In: Löhmer, 1992, 93–124. Löhmer, Cornelia; Standhardt, Rüdiger (Hrsg.): Pädagogisch-therapeutische Gruppenarbeit nach Ruth C. Cohn. Stuttgart 1992. Matzdorf, Paul; Cohn, Ruth C.: Das Konzept der Themenzentrierten Interaktion. In:Löhmer 1992, 39–92. Rössler, Andreas: „Durch Denken religiös und christlich geblieben“ und geworden – „Elementares Denken“ nach Albert Schweitzer. In: Albert-Schweitzer-Rundbrief 101 (=Jahrbuch 2009), 7–22. Schiffer, Walter: Über die Souveränität des Ich innerhalb der TZI. In: Themenzentrierte Interaktion 1 (2010), 46–55. Schneider-Landolf, Mina u. a. (Hrsg.): Handbuch Themenzentrierte Interaktion (TZI). Göttingen 2009. Schweitzer, Albert: Aus meinem Leben und Denken. Hamburg 1952. Schweitzer, Albert: Goethe. Vier Reden. In: Ders.: Gesammelte Werke in fünf Bänden. Bd.5. München 1974, 467–554. Schweitzer, Albert: Kultur und Ethik (=Kulturphilosophie 1 und 2). München 1990. Schweitzer, Albert: Straßburger Vorlesungen. München 1998. Schweitzer, Albert: Die Weltanschauung der Ehrfurcht vor dem Leben. Kulturphilosophie III. Erster und zweiter Teil. München 1999. Schweitzer, Albert: Theologischer und philosophischer Briefwechsel 1900–1965. München 2006. Sitter-Liver, Beat: ‚Ehrfurcht vor dem Leben’ heißt sich auf die Welt im Ganzen beziehen. In: Hauskeller, 2006, 237–258. Steffahn, Harald: Albert Schweitzer. Reinbek 182009. Vogel, Peter: 2. Axiom: ethisches Axiom. In: Schneider-Landolf, 2009, 86–89. 6 Auf die Aspekte der Hingebung, Selbstvervollkommnung und die Erweiterung ins Kosmische kann hier nicht mehr eingegangen werden; vgl. Schweitzer, 1990, 316ff. 45