Ehrfurcht gebührt allem Lebendigen« – Ruth C. Cohn und Albert

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ZEITSCHRIFTENARCHIV
»Ehrfurcht gebührt allem Lebendigen«
– Ruth C. Cohn und Albert Schweitzer
Themenzentrierte Interaktion
Anstoß nehmen – Anstoß geben. Dr. h.c. Ruth C.
Cohn (1912–2010)
26. Jahrgang, 1/2012, Seite 36–45
Psychosozial-Verlag
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T hemenzentrierte
Interaktion
Themenschwerpunkt: Anstoß nehmen – Anstoß geben. Dr. h.c. Ruth C. Cohn (1912–2010)
Walter Schiffer
„Ehrfurcht gebührt allem Lebendigen“ –
Ruth C. Cohn und Albert Schweitzer
Der Philosoph Albert Schweitzer analysiert im ersten Viertel des
vorigen Jahrhunderts Kultur, Ethik und Philosophie und gelangt,
ausgehend von unmittelbarer Erfahrung („Ich bin Leben, das
Leben will, inmitten von Leben, das Leben will“), auf dem Weg
des ‚elementaren Denkens’ zu der ethischen Konzeption der
„Ehrfurcht vor dem Leben“. Es zeigt sich ein Gedankengang, der
die Reflexion über das zweite Axiom der TZI „Ehrfurcht gebührt
allem Lebendigen und seinem Wachstum“ bereichern kann.
Zum Autor
Walter Schiffer M.A., M.Th.,
Jg. 1957, arbeitet in Schule,
Lehrerfortbildung, freiberufl.
in der Erwachsenenbildung &
Lebensberatung. TZI-Diplom,
Logotherapeut/existenzanalytischer Lebensberater (dipl.
durch die GLE – D).
www.beratung-begleitung.de
The philosopher Albert Schweitzer analyses culture, ethics and
philosophy during the first quarter of the previous century and,
based on his direct experience (“I am life that wills to live in the
midst of life that wills to live”) arrives at the ethical conception
of the “Reverence for Life”. From this, a model of thought arises,
which can enrich the reflections on the second tci-axiom of the
citation in the title “All living entities and their growth deserve
to be respected”.
Vorbemerkung
Unter einem Axiom versteht man einen Satz, der die unmittelbar einsichtige Basis eines Denksystems bildet. Solch ein Satz ist
nicht beweisbedürftig, andererseits ist er auch nicht beweisfähig.
Bekanntlich hat Ruth C. Cohn ihrer TZI drei Axiome, ein anthropologisches, ein ethisches und ein pragmatisch-politisches, unterlegt.Wenn die TZI-GruppenleiterInnen sich notwendigerweise
große Mühe bei der Themenformulierung geben, die dynamische
Balance innerhalb des Vier-Faktoren-Modells bedenken, Prozesse
gründlich analysieren etc., so wird dabei die Axiomatik bedacht.
Ohne diese im Blick zu halten, hat das „Haus der TZI“ keinen
tragfähigen Grund. Deshalb ist es lohnend, immer wieder an den
Fundamenten zu arbeiten, sie zu stützen – auch wenn (oder gerade
weil) sich Ruth Cohn mit nur spärlich erläuterten axiomatischen
Setzungen begnügte.
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Für das zweite TZI-Axiom kann das philosophische Werk Albert
Schweitzers eine solche argumentative Stütze leisten, ist doch der
zentrale Begriff seiner Kulturphilosophie und Ethik die Ehrfurcht
vor dem Leben.
1. Das ethische Axiom der TZI
An diesem Ort reicht eine Skizze des ethischen Axioms (vgl. von
Kanitz, 2009 und Vogel, 2009), es lautet: „Ehrfurcht gebührt allem
Lebendigen und seinem Wachstum. Respekt vor dem Wachstum
bedingt bewertende Entscheidungen. Das Humane ist wertvoll;
Inhumanes ist wertbedrohend.“ (Cohn, 1992, 120) Diese ethische
Basis der TZI zu Grunde zu legen, war Ruth Cohn so wichtig,
dass sie deshalb den ursprünglichen Namen ihres Systems, nämlich „WILL-Methode“ oder „Themenzentrierte Interaktionelle
Methode“, fallen ließ, denn der forcierte Blick auf die Methode
verdeckt u. U. die zentrale Bedeutung der ethischen Haltung.
(ebd.) TZI ist eben mehr als die Technik eines Gruppenleitungsverfahrens.
Da Ruth Cohn einen realistischen Bezug zur Wirklichkeit hatte und wusste, dass das menschliche Leben ohne
Vernichtung von Lebendigem kaum lebbar ist, fügte sie Der forcierte Blick
auf die Methode
einschränkend hinzu: „Human sein bedeutet zum Beispiel,
keine Lebewesen zu quälen und nie mehr von ihnen zu verdeckt die zentrale
töten, als zur Lebenserhaltung und -förderung (speziell der
Bedeutung der
Menschen) nötig ist; wobei der Begriff des Tötens auch das ethischen Haltung
Abtöten von seelischen und geistigen Fähigkeiten einbezieht.“ (Cohn, 1991, 357) Sie sieht diese philosophischethische Norm als unerlässlichen Anspruch für die Gestaltung des
zwischenmenschlichen Lebens.Wegen der unmittelbaren Einsehbarkeit dieser Norm bedarf der Grundsatz keines Rückbezuges
auf „absolute Seinsweisen“, wenn auch der Anspruch „religiös
aufgefasst werden kann“. (ebd.)
Gemeinsam mit Paul Matzdorf erläutert Ruth Cohn, dass die
Leitidee der Ehrfurcht vor allem Lebendigen – trotz alledem –
unbestreitbar sei, dass sich in der Geschichte jedoch die Notwendigkeit zeige, die wertegebundene Haltung zum Leben zu
betonen. Sie setzen als Hypothese, dass jeder Person dazu ein
„organismische[r] und geistige[r] Wertesinn (…)“ gegeben ist,
dieser kann aber „gefördert, behindert oder zerstört“ (Matzdorf/
Cohn, 1992, 62) werden. Instrumentalisierende Vernunft und kalte
Rationalität sind prägende Kräfte unserer Gesellschaften und bringen den ganzheitlichen Menschen aus dem Gleichgewicht. Unter
dem Diktat dieses Zeitgeistes verliert der Mensch den Kontakt zum
Menschlichen, büßt seine „Liebes- und Wertefähigkeit“ (ebd., 61)
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ein. Als Konsequenzen folgen Vernichtung von Natur,Tierwelt und
Menschen statt „das ehrfürchtige Staunen über die Wunder des
Universums“. Eines der wesentlichen Ziele, die Ruth Cohn mit
„ihrer“ TZI verfolgte, war es, diesen destruktiven und inhumanen
Strömungen entgegenzutreten. (Vgl. Cohn, 1991, 374)
Im Folgenden wird der Kerngedanke des Philosophischen
Werkes Albert Schweitzers dargestellt und wie dieses das Denken
über Ruth Cohns Ethik bereichern kann.
2. Albert Schweitzers Ethik
der Ehrfurcht vor dem Leben
2.1 Kurze Erinnerung an die Person Albert Schweitzer
Hinter dem Namen Albert Schweitzer (vgl. Steffahn, 2009) verbirgt sich mehr als der hier und da noch bekannte Urwalddoktor,
der in den 50er und 60er Jahren weltweit als Vorbild gelebter
Humanität galt.
Der 1875 im Elsass Geborene studierte in Straßburg Philosophie
und Theologie. Beide Studien schloss er mit dem Doktorgrad
ab (1899/1900). Parallel trieb er musikwissenschaftliche Studien,
nahm Orgelunterricht bei Charles Marie Widor in Paris und war
ein gefragter Organist. 1902 wurde er für das Fach Neues Testament an der Evangelisch-Theologischen Fakultät der Universität
Straßburg habilitiert. Da er sich gelobt hatte, sich lediglich
bis zum 30. Lebensjahr der Musik und den Wissenschaften
Schweitzer
zu widmen und sich dann dem Dienst am Menschen zuzuengagierte sich nach wenden, strebte er – nach einigen Umwegen – die Arbeit
1945 für ein Verbot in der Mission an. Allerdings lehnte die Pariser Missionsder Atomwaffen­
gesellschaft dieses Ersuchen ab, da sie solch einen liberalen
Theologen nicht nach Afrika ziehen lassen wollte. Da aber
versuche
in Äquatorialafrika dringend Ärzte gebraucht wurden, studierte Schweitzer von 1905 bis 1911 Medizin. 1912 erhielt
er seine ärztliche Approbation, legte sein Predigtamt, eine ihm sehr
am Herzen liegende Tätigkeit, nieder. Er heiratete in demselben Jahr
Helene Breslau. Im Kommenden fand seine medizinische Promotion
statt, er schied aus dem theologischen Lehrkörper der Straßburger
Universität aus und landete am 14. April 1913 in Lambarene, wo er
gemeinsam mit seiner Frau ein Urwaldspital aufbaute.
Die folgenden Jahre waren von harter Arbeit bestimmt:Tagsüber
baute er sein Spital auf, operierte, behandelte die Kranken, in
den Abend- und Nachtstunden konzipierte und schrieb er seine
Kulturphilosophie und Ethik, verfasste weitere theologische und
religionswissenschaftliche Werke und engagierte sich nach 1945
für ein Verbot der Atomwaffenversuche. Schon fast bizarr mutet
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es an, sich vorzustellen, dass außerdem abends und nachts u. a.
Bachsche Choralvorspiele durch den Urwald tönten: notwendige
Übungsstunden – und auch eine Entspannungsmöglichkeit – auf
seinem Tropenklavier (mit Pedalen) für seine Orgelkonzertreisen,
die er zur Finanzierung seines Hospitals durchführte.
So pendelte er über Jahrzehnte zwischen Afrika und Europa
und zwischen ärztlicher Praxis, wissenschaftlicher Theoriearbeit
auf der einen und Vortrags- und Konzerttätigkeit auf der anderen
Seite. Und immer wieder heißt es in seinen Briefen, wie z. B.
an Theodor Heuss am 12.1.1961: „Ein schönes Erlebnis meines
Alters ist, dass die Idee der Ehrfurcht vor dem Leben ihren Weg
zu machen beginnt.“ (Schweitzer, 2006, 367)
Am 4.9.1965 stirbt Albert Schweitzer 90-jährig in Lambarene.
2.2 Schweitzers Zeitdiagnose: Der Niedergang der Kultur
Es wird nicht verwundern, dass ein Theologe und Philosoph
auf anderen Wegen zu der Maxime „Ehrfurcht vor dem Leben“
kommt als die Psychoanalytikerin.1
Seit seinen späten Studienjahren wuchs in Albert Schweitzer
das Projekt einer Kulturphilosophie und Ethik. Erste Konzepte
entstanden im Jahr 1900, von 1914 bis 1917 gewann das Werk
Gestalt und 1923 wurden die beiden Teile veröffentlicht: „Verfall
und Wiederaufbau der Kultur“ und „Kultur und Ethik“.2
Schweitzer begann diese Arbeit mit einer Analyse der Kultur und
ging davon aus, dass die Philosophie die Schuld am Niedergang der
Kultur trug. War sie ehemals in der Lage, als Popularphilosophie
auf Gesellschaften mittels ethischer Vernunftideale einzuwirken,
hatte sie sich im 19. Jahrhundert aus der öffentlichen Diskussion
zurückgezogen und ihre bisherigen Ergebnisse gehütet und verwaltet, blieb lediglich „gelehrte Epigonenphilosophie“ (Schweitzer, 1990, 20). Sie war nicht in der Lage, positive Impulse für den
kulturellen Fortschritt zu geben.
Darüber hinaus sah Schweitzer ein generelles „Versagen des
Denkens“ und damit ein Ausbleiben des qualifizierten Nachdenkens über Kultur. Geistiges und Wirtschaftsverhältnisse wirkten
dergestalt aufeinander, dass sie die Menschen „verkleinern und 1 Insbesondere über Oskar
psychisch schädigen“ (ebd., 23). Er machte fünf Gründe aus, die
Pfister war Schweitzer über
diesen Niedergang bedingten:
die Psychoanalyse informiert
und stand ihr offen gegen1. Menschen, die den kulturellen Fortschritt betreiben sollen,
über; vgl. Schweitzer 2006,
müssten Denkende und Freie sein. Beides wird durch die
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bestehenden Produktionsverhältnisse eingeschränkt.
2 Kulturphilosophien III (Werke
2. Menschen überanstrengen sich im Arbeitsprozess, dass in ihrer
aus dem Nachlaß) erschieFreizeit Ablenkung zum Bedürfnis wird. „Nicht Bildung
nen in zwei Bänden 1999
sucht er, sondern Unterhaltung.“ (Ebd., 25)
und 2000.
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3.
4.
5.
3 Das Stichwort „Vernunft“
lässt vermuten, dass wir
in die Problematik der „Verkopfung“ geraten könnten.
Die unten folgenden Ausführungen zum „elementaren
Denken“ werden diese Ahnung entkräften.
40
Spezialisierungsprozesse haben den Effekt, dass die Arbeitsergebnisse zwar qualitativ hervorragend sind, die Kreativität
der Tätigen aber auf der Strecke bleibt, die Prozesse – z. B.
auch in der Schule – „unlebendig und unpersönlich“ (ebd.,
27) werden.
Insbesondere durch die Beschleunigungsprozesse verfällt der
Mensch zunehmend der Humanitätslosigkeit. Beziehungen
werden oberflächlich, Individuen verdinglicht.
Die Lebensverhältnisse sind überorganisiert, was die Geistigkeit der Individuen hemmt und Kollektive zu Maschinen degradiert. Einzelne verlieren ihre unverwechselbare Bedeutung
in der Gemeinschaft, diese verfügt über das Individuum und
oktroyiert ihm seine Meinung auf. „Die Überorganisierung
unserer öffentlichen Zustände läuft auf ein Organisieren der
Gedankenlosigkeit hinaus.“ (Ebd., 33) Damit geht schließlich
die sittliche Urteilsfähigkeit verloren. „Die Demoralisation
des Einzelnen durch die Gemeinschaft ist in vollem Gange.“
(Ebd., 34)
Zu bedenken ist dabei, dass für Schweitzer Kultur nicht in erster
Linie Fortschritt in Bereichen der Wissenschaft,Technik und Kunst
darstellt, sondern Fortschritt des Wirkens des Geistes, der ethischen
Haltung: die Herrschaft der Vernunftideale3 über die menschliche
Gesinnung (vgl. ebd., 34ff.).
Bis hierhin malt Schweitzer ein düsteres Bild des gesellschaftlichen Lebens in der Kultur. Es fällt auf, dass seine Bewertungen
auf vielfältige Weise dem späteren gesellschaftskritischen Denken
Ruth Cohns ähnlich sind: Sie spricht von Holismus,Verantwortlichkeit und durch Autonomie gesteigertes Bewusstsein der Interdependenz; geringe Wirkung allseits propagierter ethischer
Werte; instrumenteller Rationalität; Kontrollmacht der Mächtigen;
Chairperson usw. (Matzdorf/Cohn, 1992, 55f., 60f., 66f.)
Ruth Cohn wollte über eine TZI-gemäße Therapie, Pädagogik
und Lebensgestaltung („Die Couch ist zu klein!“) zum gesellschaftlichen Wandel beitragen. In Bezug auf Schweitzers Zeitdiagnose
bleibt zu fragen, wie es zu einer Regeneration der Kultur kommen
kann. Die Antwort ist einfach, die Verwirklichung schwer: Wenn
die Kultur durch Ethik aufgebaut wird, braucht es „ethische Energien“ (Schweitzer, 1990, 53), die gegen den Kulturverfall wirksam
werden. Schweitzer stellt einen mühevollen, aber notwendigen
Weg in Aussicht. (Vgl. ebd., 54 und 59) Dabei knüpft er seine
Hoffnung für den Ausweg aus der Unkultur nicht an Institutionen
oder an eine Massenbewegung, sondern an das Individuum, weil
sich – gegen den Widerstand der Kollektive – in ihm allein in
Eigenbestimmtheit das Ethische entwickelt. (Vgl. ebd., 59f. und
die Idee der Chairperson: Matzdorf/Cohn, 1992, 68)
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Notwendig ist es, dass auf diesem Weg Persönlichkeiten Ideen für
eine Weltanschauung durchdenken. (Vgl. Schweitzer, 1990, 63–67)
Aber was meinen hier Denken und Vernunft? Unter vernünftigem
Denken versteht Schweitzer eine Funktion des Geistes, in der
„unser Erkennen und unser Wille die geheimnisvolle Zwiesprache
miteinander“ (ebd., 68) halten. Es erscheint ihm demnach
als ein mystischer Vorgang, der aber nicht reines (irrationales) Erleben ist: „Das letzte Wissen, nach dem wir trachten, Das letzte Wissen
nach dem
ist das Wissen vom Leben. Unser Erkennen erschaut das
Leben von außen, unser Wille von innen. Weil das Leben wir trachten, ist das
letzter Gegenstand des Wissens ist, wird das letzte Wissen Wissen vom Leben
notwendigerweise denkendes Erleben des Lebens.“ (Ebd.,
70) Das Wollen muss durch das Erkennen hindurchgehen,
damit es sich als „universellen Willen zum Leben“ (ebd.) verstehen
kann. Verzichtet der Wille auf das Denken, wird er zur Fantasie;
vergisst die Ratio aber, dass sie, „um das Leben zu begreifen, zuletzt
in denkendes Erleben übergehen muss, verzichtet [sie] auf tiefe
und elementar begründete Weltanschauung. Das zu Ende gedachte
Denken führt also irgendwo und irgendwie zu einer lebendigen,
für alle Menschen denknotwendigen Mystik.“ (Ebd.)
Schweitzer favorisiert eine „denkende Weltanschauung“, die
optimistisch ist4, d. h. die „die Welt und das Leben als etwas an
sich Wertvolles bejaht“ (ebd., 71) und die bestrebt ist, das Leben
und dessen Bedingungen für das Individuum und die Gesellschaft
weiterzuentwickeln. Weiterhin muss die Weltanschauung ethisch
sein, d. h. darauf abzielen, dass sich die Persönlichkeit innerlich
vollendet. (Vgl. ebd., 71f. und analog bei Matzdorf/Cohn, 1992,
62: die Förderung des Wertesinns) Wenn allerdings das Wirken
über die Weltanschauung dieser Art erlahmt, geraten die Menschen in werte-loses, zielloses Wirken, statt das Handeln am Sinn
des jeweiligen Lebens auszurichten. Ist auch vielleicht der Sinn
der Welt gedanklich nicht fassbar, den Sinn des Lebens können
wir aus unserem „Willen zum Leben, wie er in uns ist“, erheben.
„Miteinander haben wir über den Sinn des Lebens denkend zu
werden, miteinander darum zu ringen, zu einer welt- und lebensbejahenden Weltanschauung zu gelangen“. (Ebd., 78)
2.3 Elementares Denken
Der Gedankengang soll hier kurz unterbrochen werden, um vor der
Darstellung Schweitzers Motto „Ehrfurcht vor dem Leben“ den
Begriff des „elementaren Denkens“ – nach Rössler wahrscheinlich
„eine Eigenprägung Schweitzers“ – zu erläutern. (Rössler, 2009, 7
und vgl. zum Folgenden auch Günzler, 2008; hier 18f.)
4 Schweitzer beschreibt ausführlich die Umwandlung der
pessimistischen zur optimistischen Weltanschauung in
Verbindung mit der optimistischen Lebensanschauung;
vgl. ebd., 291–305.
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Schweitzer geht davon aus, dass Kants Vernunftethik defizitär
ist, da sie die Vernunft allein auf den Erkenntnisvorgang reduziert
und die Ebenen der Emotionalität außer Acht lässt. (Vgl. in Bezug
auf die TZI: Schiffer, 2010) Ebenso reicht das Berufen auf den
„gesunden Menschenverstand“ nicht aus, weil er nach Schweitzers Verständnis ohne radikal durchdachte Ethik auskommt. (Vgl.
Schweitzer, 1999, 58ff. und 187) Schweitzers Denkkonzept fußt
auf einer über Kant hinausgehenden Anthropologie: Das Ich des
Menschen ist in einer bestimmten Weise in seinen Gedankengängen letztendlich vorgeprägt, über das Sittliche nachzudenken (vgl.
ebd., 304), und es verhält sich im Denken nicht allein erkennend.
Menschen sind „nicht einfach Seiendes in dem unendlichen
Sein der Welt, sondern lebendige Individuen. Unser Ich, diese
geheimnisvolle Einheit von Wollen, Empfinden, Fühlen und
Erkennen, sucht sich in dem geheimnisvollen Sein der Welt, in
das es hineingestellt ist, zu begreifen. Nicht irgendein logisches
Vermögen übt in uns, als eine Art Gedankenmathematik, das
Denken aus. In unserem Denken setzt sich unser ganzes
Ich mit der Welt auseinander. Denken ist eine elementare
Funktion unseres lebendigen Seins.“ (Ebd., 300f. u.ö.)
Denken ist eine
elementare Funktion Dabei sind Denken und Fühlen aufs Engste verknüpft
unseres lebendigen und voneinander abhängig: „Das Gefühl, das sich dem
Denken entzieht, verfehlt seine Bestimmung. Das Denken,
Seins
das meint, am Gefühl vorübergehen zu können, verliert
die Richtung, die in die Tiefe führt.“ (Ebd., 407) Allein
so verstandenes, elementares Denken ist wertvoll, weil es unter
der Herrschaft des Ethischen steht. (Vgl. ebd., 317) Das zuerst
Empfundene wird so vertiefend zu Ende gedacht. Deshalb kann
Schweitzer sagen, dass der „Verstandesmensch (…) in einem
stehengebliebenen Denken“ (ebd., 406, Anm. 23) zurückbleibt.
In einem elementaren Denkprozess aber wird sich die Person der
grundsätzlichen Gegebenheit klar, dass sie die Welt, das Leben
und den Willen zum Leben als etwas Wertvolles bejaht. (Vgl. ebd.,
285) Das Denken über Leben und Welt führt schlussendlich und
notwendig zur ethischen Frage, wie die Person ihr alltägliches
Leben angesichts anderen Lebens in der Welt gestaltet.Weiterhin
kann das elementare Denken in den Bereich des Religiösen
fortschreiten. (Vgl. Rössler, 2009, 13–18)
Hier klingen nicht nur die drei TZI-Axiome und der o. g.
Wertesinn an, sondern auch das Ineinanderwirken der einzelnen
Strebungen der Chairperson, die gewahr wird, dass sie realitätsbezogen etwas muss, ihrer Ethik folgend etwas soll und auf ihr
Gefühl achtend etwas möchte. (Vgl. Kroeger, 1992, 101ff.) In Auseinandersetzung mit der Erlebnistherapie betont Ruth Cohn, dass
es wesentlich sei, das innere Erleben gedanklich zu überprüfen, und
gipfelt in dem bekannten Satz: „Das Verächtlichmachen von Wissen
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und Denken ist nicht weniger destruktiv als das Herabschauen auf
Gefühle und Sensitivität.“ (Cohn, 1992, 102)
2.4 „Ich bin Leben, das leben will,
inmitten von Leben, das leben will.“
Die dargestellten Überlegungen zu Schweitzers Vorstellung zum
elementaren Denken zeigen die nachträgliche Reflexion (ab
1920) eines Erlebnisses aus dem Jahre 1915. Albert Schweitzer,
der zu einer Kranken gerufen worden war, befand sich in einem
Boot auf dem Ogowe. „Langsam krochen wir den Strom hinauf,
uns mühsam zwischen den Sandbänken – es war trockene Jahreszeit – hindurchtastend. Geistesabwesend saß ich auf dem Deck
des Schleppkahnes, um den elementaren und universellen Begriff
des Ethischen ringend, den ich in keiner Philosophie gefunden
hatte. Blatt um Blatt beschrieb ich mit unzusammenhängenden
Sätzen, nur um auf das Problem konzentriert zu bleiben.
Am Abend des dritten Tages, als wir bei Sonnenuntergang
gerade durch eine Herde Nilpferde hindurchfuhren, stand Alle Lebewesen, ja
urplötzlich, von mir nicht geahnt und nicht gesucht, das alles Leben fußt in
Wort ‚Ehrfurcht vor dem Leben’ vor mir. Das eiserne Tor dem gleichen Willen
hatte nachgegeben: der Pfad im Dickicht war sichtbar
zum Leben
geworden. Nun war ich zu der Idee vorgedrungen, in der
Welt- und Lebensbejahung und Ethik miteinander enthalten sind! Nun wusste ich, dass die Weltanschauung ethischer
Welt- und Lebensbejahung samt ihren Kulturidealen im Denken
begründet ist.“ (Schweitzer, 1952, 144)5
Nicht das Motto Descartes’ – Cogito, ergo sum/Ich denke, also
bin ich – ist für Schweitzer maßgebend, sondern das, was jedem
Menschen denkbar ist: „Ich bin Leben, das leben will, inmitten von
Leben, das leben will.“ (Ebd., 145) Wenn dem einzelnen Menschen
ins Bewusstsein tritt, dass nicht nur ihm Wille zum Leben gegeben
ist, sondern allen Menschen, dann ändert sich der Satz, denn nun
sind wir Leben, das leben will. Alle Lebewesen, ja alles Leben fußt in
dem gleichen Willen zum Leben.Wer sich für dieses Erleben öffnen
kann, wird durch diese geheimnisvolle Erfahrung zutiefst erfüllt 5 Sein Leben lang behauptete
mit Ehrfurcht. (Vgl. Schweitzer, 1990, 330) Für Schweitzer folgt
Schweitzer, dass er den
daraus eine mit Verantwortung aufgeladene Interdependenz allen
Begriff „Ehrfurcht vor dem
Leben“ vorher nicht gekannt
Lebens: „Wir kennen kein völliges Für-Uns-Sein.“ (Schweitzer,
habe. Seinem phänomenalen
1999, 285 und vgl. dort 303) Lebens- und Weltbejahung führen
Gedächtnis ist dabei entso in ständig wachsenden Kreisen zu einem Dienst an allem Legangen, dass er ihn selbst
bendigen (vgl. ebd., 286 u.ö.), ja Schweitzer steigert den Anspruch:
in einer Vorlesung bereits
Verantwortung gegenüber allem Leben. (Schweitzer, 1990, 332;
1912 gebraucht hatte. Vgl.
Matzdorf/Cohn, 1992, 57f., 68 und 72f. u.ö.)
Schweitzer 1998, 693.
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2.5 Problematisierung der Leitidee Schweitzers
(und damit auch des TZI-Axioms)
Die letztgenannten Gedanken muten als Überforderung bedrückend an. (Vgl. Hauskeller, 2006, 210ff.) Albert Schweitzer war
sich dessen genauso bewusst, wie es Ruth Cohn war. Eine ihrer
Reaktionen lautete: „Die Abwehr sagt: ,Man kann doch wirklich
nicht alles berücksichtigen.Wir haben schon genug mit uns selbst
zu tun ….‘“ (Matzdorf/Cohn, 1992, 72) Aber über die Deutung
als Abwehr hinaus ist es lohnend zu überlegen, wie mit dem
Gefühl der Überforderung bzw. mit der Infragestellung der Leitidee umgegangen werden kann. Der Vorwurf lautet erst einmal
berechtigt, dass es wenig Sinn ergebe, eine Maxime aufzustellen,
die nicht eingehalten werden kann: Die Erhaltung des Lebens
ohne Zerstörung des Lebens ist nicht möglich. So räumt Cohn
trotz der Idee der Ehrfurcht ein, dass Leben getötet werden darf,
wenn menschliches Leben zur Disposition steht. Ebenso erschießt
Schweitzer Schlangen auf dem Spitalplatz, aber keine Krokodile
am Flussufer, rodet den Urwald zum Bau neuer Hütten für die
Kranken, verpönt aber das achtlose Ausreißen einer Blume, isst
Fleisch, schreibt aber nachts in der Schwüle bei geschlossenem
Fenster, damit kein Falter an der Flamme der Öllampe verbrennt,
rettet kleinste Tiere und tötet als Arzt Bakterien ab. So handelt
jemand, der ein hohes Ideal für ethisches Handeln setzt, eine anspruchsvolle Lebenshaltung fordert, sich aber als moralisches Subjekt einer „Stufung des Seienden“ (Sitter-Liver, 2006, 241), einer
scala naturae, bewusst ist. Angesichts des Lebens und des Willens
zum Leben alles Lebendigen ist die Person gezwungen, in jeder
sie konkret konfrontierenden Situation elementar zu reflektieren,
ob es moralisch begründet sein kann, dieses Leben zu erhalten
und jenes zu töten. In dieser Form denkend zu werden, appelliert
an eine Haltung gegen die Gedankenlosigkeit, überfordert aber
nicht. (Ebd., 247) Weder Cohn noch Schweitzer wollen in ihren
ethischen Überlegungen einen Katalog angeben, was im Einzelnen
zu tun oder zu lassen ist, bieten keine konkreten Regeln, sondern
zwingen die Personen, je neu abzuwägen und mit dem „Ehrfurcht
vor dem Leben-Kompass“ bewertend zu entscheiden (s. o.). Wie
Cohn eine sich immer ausweitende Interdependenz sieht, die
die Verantwortung für den Globe ins Kosmische fortschreibt, so
Schweitzer die, die Mensch, Kreatur, Sein, Welt und Kosmos in
den Blick nimmt. (Vgl. Günzler, 2008, 39)
Oft genug werden wir in diesen Entscheidungsprozessen in
Dilemmata geraten, aus denen uns die Abwehr oder die Vernünftelei (vgl. Hauskeller, 2006, 233) befreien wollen. Stattdessen
gilt es wohl, sich der jeweiligen Situation (ver-)antwortend zu
stellen, vielleicht sogar über sich hinauszuwachsen – hat doch die
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TZI eine Vision des Menschen (vgl. Kroeger, 1992, 106) – und
gegebenenfalls zu scheitern. In der Axiomatik Ruth Cohns und
in der Ethik Schweitzers6geht es um nicht weniger als um unsere
wertegeleitete Lebensführung als Person. Beide rufen uns auf, dabei
unsere Entwicklungspotenziale zu entfalten und die Humanität
auszubilden, und folgen damit treu in der Spur ihres gemeinsamen
Lehrers: Goethe. (Cohn, 1991, 470, 564 u.ö.; Schweitzer, 1974,
477 u.ö.)
Literatur
Cohn, Ruth C.; Farau, Alfred: Gelebte Geschichte der Psychotherapie. Zwei Perspektiven. Stuttgart 1991.
Cohn, Ruth C.: Von der Psychoanalyse zur themenzentrierten Interaktion. Von der Behandlung einzelner zu
einer Pädagogik für alle. Stuttgart 111992.
Günzler, Claus: Vom „Park“ in die „Wildnis“ – Albert Schweitzers Modell einer elementaren Alltagsethik.
Bonn 2008.
Hauskeller, Michael (Hrsg.): Ethik des Lebens. Albert Schweitzer als Philosoph. Kusterdingen 2006.
Hauskeller, Michael: Verantwortung für alles Leben? Schweitzers Dilemma. In: Hauskeller, 2006, 210–236.
Kanitz, Anja von: Einführung zu den Axiomen und Postulaten. In: Schneider-Landolf, 2009, 78–79.
Kroeger, Matthias: Anthropologische Grundannahmen der Themenzentrierten Interaktion. In: Löhmer, 1992,
93–124.
Löhmer, Cornelia; Standhardt, Rüdiger (Hrsg.): Pädagogisch-therapeutische Gruppenarbeit nach Ruth C. Cohn.
Stuttgart 1992.
Matzdorf, Paul; Cohn, Ruth C.: Das Konzept der Themenzentrierten Interaktion. In:Löhmer 1992, 39–92.
Rössler, Andreas: „Durch Denken religiös und christlich geblieben“ und geworden – „Elementares Denken“ nach
Albert Schweitzer. In: Albert-Schweitzer-Rundbrief 101 (=Jahrbuch 2009), 7–22.
Schiffer, Walter: Über die Souveränität des Ich innerhalb der TZI. In: Themenzentrierte Interaktion 1 (2010),
46–55.
Schneider-Landolf, Mina u. a. (Hrsg.): Handbuch Themenzentrierte Interaktion (TZI). Göttingen 2009.
Schweitzer, Albert: Aus meinem Leben und Denken. Hamburg 1952.
Schweitzer, Albert: Goethe. Vier Reden. In: Ders.: Gesammelte Werke in fünf Bänden. Bd.5. München 1974,
467–554.
Schweitzer, Albert: Kultur und Ethik (=Kulturphilosophie 1 und 2). München 1990.
Schweitzer, Albert: Straßburger Vorlesungen. München 1998.
Schweitzer, Albert: Die Weltanschauung der Ehrfurcht vor dem Leben. Kulturphilosophie III. Erster und zweiter
Teil. München 1999.
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Steffahn, Harald: Albert Schweitzer. Reinbek 182009.
Vogel, Peter: 2. Axiom: ethisches Axiom. In: Schneider-Landolf, 2009, 86–89.
6 Auf die Aspekte der Hingebung, Selbstvervollkommnung und die Erweiterung
ins Kosmische kann hier
nicht mehr eingegangen
werden; vgl. Schweitzer,
1990, 316ff.
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