Fallbeispiele entnommen aus dem Buch: Diagnose und Therapie von Autismus‐Spektrum‐Störungen; Steinhausen/ Gundelfinger Norman Vorstellungsanlass: Die Vorstellung erfolgt auf Initiative des Patienten, der sich wegen eines‐ aus seiner Sicht möglicherweise bestehenden Asperger‐Syndroms untersuchen lassen möchte. Warum er glaubt, an Asperger zu leiden? Er sei irgendwie anders, passe nirgends dazu. Was die anderen machen (Party, Trinken, Schwätzen) interessiere ihn nicht. Ihn interessiere nur das Programmieren und das Thema Ernährung. Er lese ständig Ernährungs‐ und Programmierbücher, mache mit der Ernährung seine eigenen Experimente. So habe er vegetarisch, Rohkost, vegan und gegenwärtig Trennkost probiert, um seine Depressionen wegzukriegen. Psychopathologischer Befund: Wach, in allen Qualitäten orientiert, formaler Gedankengang ist flüssig. Inhaltlich bestehen Größenideen (er könne für irgendetwas bestimmt, ein Genie sein), außerdem ein paranoider Wahn (Verfolgung durch Autos), beides mit inadäquatem, nicht manischem Affekt vorgetragen. Affektiv nicht depressiv, eher gleichgültig, wenig schwingungsfähig und stellenweise inadäquat. Psychomotorisch fallen eckige, manierierte Bewegungen auf. Krankheitsbewusstsein und Behandlungsbereitschaft sind nur partiell (bezüglich Selbstdiagnose Asperger) vorhanden. Peter Vorstellungsanlass: Die Vorstellung erfolgt auf Initiative einer Psychologin, die alle Leitsymptome des Asperger‐Syndroms erfüllt sieht: Früher Beginn (bereits im Kindergartenalter auffällig; Diagnose: Emotionale Störung im Jugendalter; umschriebene Rechenschwäche, schon damals aber: andere hänseln ihn, machen sich über ihn lustig) Interaktions‐ und Kommunikationsschwierigkeiten in sozialen Situationen Ausgeprägte Sonderinteressen und –begabungen, Rituale Besonderheiten der Sinneswahrnehmungen (visuell, auditiv) Probleme der fein‐ und grobmotorischen Koordination Fremdanamnese (Eltern): Der Sohn sei immer anders als die anderen Kinder gewesen. Vorstellung in psychiatrischen Kliniken. Diagnose: emotionale Störung. Die Mutter berichtet mit Ausnahme zwangsritualisierter Handlugen sämtliche Symptome eines Asperger‐Syndroms erkannt zu haben. Schwangerschaft, Geburt: normaler Schwangerschaftsverlauf, Spontangeburt, Apgar‐Index normal. Peter sei entwicklungsverzögert, die motorische Entwicklung normal gewesen, Sprechbeginn mit zwei Jahren. Die Entwicklung habe immer wieder stagniert. Er sei immer sehr langsam gewesen (nicht von dieser Welt). Im Kindergarten (Katastrophe) Angst vor den anderen Kindern, kein Interesse an anderen Kindern, Kindergartenwechsel. Mit einer engagierten Erzieherin sei Peter sehr gut zurechtgekommen. Einschulung mit sieben Jahren nach initialer Rückstufung. Zunächst guter Kontakt zu gleichaltrigen Nachbarskindern. Trotz Einladungen anderer Kinder am liebsten alleine. Bis zur dritten Klasse gute Schulleistungen. In der dritten Klasse habe er sich geweigert zu rechen. Diagnose: Akalkulie. Vorschlag Sonderschule. Ab der vierten Klasse habe er sich am Rechenunterricht wieder beteiligt. Peter habe nie Interesse an Mädchen gehabt, habe Menschen immer gemieden. Zu einer Cousine habe er aber ein gutes Verhältnis gehabt, auch zum Bruder sei das Verhältnis gut gewesen. Neu seien verbal‐aggressive Angriffe. Peter sei insgesamt ein Ich‐Mensch, reagiere aggressiv wenn ihm Wünsche nicht gewährt würden. Besondere Vorlieben: Der Computer sei sein Lebensgefährte. Peter erkenne soziale Situationen, habe ein Gespür für Emotionen anderer, gehe aber darauf nicht ein (ich hasse dieses soziale Getue) Psychopathologischer Befund: Während des Gesprächs kein Blickkontakt, außer bei Konfrontation (z.B. Aufforderung an ihn gestellte Fragen konkret zu beantworten). Verliert sich sonst mit unstillbarem Redefluss in weitschweifigen Gedankengängen. PX zeigt deutliche paranoide Verkennungen: bereits mit 15 Jahren vermutete er, jeder nehme Böses von ihm an, interpretierte er neutrale oder freundliche soziale Signale als feindlich und gegen sich gerichtet (Fremdanamnese u. a. bei Eltern und Schulkameraden). Deutlich zeigten sich formale Denkstörungen (Ambivalenz, Weitschweifigkeit, Sprunghaftigkeit), eine aggressiv‐paranoid, gespannte Grundstimmung. Außerdem gestörter Tag‐Nachtrhythmus. Kerstin Vorstellungsanlass: Diagnostische Abklärung bei V.a. Asperger‐Syndrom. Kerstin wünscht sich hierdurch Unterstützung bei ihrer Arbeitsplatzproblematik (Konzentrationsbeeinträchtigung nach 4‐stündiger Tätigkeit, Probleme bei Veränderungen, bei Sozialkontakten). Durch Literaturstudium selbst gestellte Verdachtsdiagnose: Sie hatte immer Probleme mit Gleichaltrigen, kaum Kontakt, nur Interesse für Buchtstaben und Zahlen, zeigte motorische Ungeschicklichkeit mit sehr schlechten Leistungen im Sportunterricht. Sie habe panikartige Ängste bei Veränderungen: früher bei Lehrerwechsel, jetzt bei bevorstehendem Umzug. Sie habe Körperkontakt immer abgelehnt, sei immer ernst und nachdenklich gewesen, habe immer viel gelesen. Von der Selbsteinschätzung bezeichnet sich Kerstin als introvertiert, ordentlich, pünktlich, sauber, intelligent, wenig ehrgeizig. Sie werde häufig überschätzt. Hilfsbereit sei sie im Rahmen ihrer Möglichkeiten, d. h. unter Berücksichtigung ihrer sozialen Einschränkungen. Im Laufe der Jahre habe sie durch Imitation sozial erwünschtes Verhalten antrainiert. Angaben (mit Einverständnis von Kerstin) der Mutter und des Vaters (ohne Kerstin) Nach schwerer Geburt und anfänglich motorischer Entwicklungsverzögerung habe sich Kerstin schon früh mit Buchstaben beschäftigt, habe mit drei Jahren angefangen zu Lesen. Dadurch habe sie sich die Schriftsprache angeeignet, die von anderen nicht verstanden worden sei. Dadurch habe sie keinen Kontakt zu Jüngeren und Gleichaltrigen gefunden, zu Älteren schon. Die Eltern hätten immer wieder versucht, für die Tochter Kontakte zu schaffen, hätten zu Geburtstagsfeiern bis zu 16 Kinder eingeladen. Es habe nicht an den anderen Kindern gelegen, sondern die Tochter habe einfach keinen Kontakt herstellen können, sei auch den Gegeneinladungen der Kinder nicht gefolgt. In der Schule sei sie isoliert gewesen, vor allem nach dem Wechsel von der Grundschule aufs Gymnasium. Ab der fünften Klasse sei die Tochter alleine gesessen, niemand habe sich zu ihr hingesetzt. Schon aus dem Kindergarten habe sie auf Wunsch der Kindergärtnerin herausgenommen werden müssen, da sie nicht integrationsfähig gewesen sei. Sie habe dort niemand verstanden, habe an keinen Gruppenaktivitäten teilnehmen können, habe Angst und Panik entwickelt und zum Schluss alles Essen und Trinken wieder ausgespuckt, sodass die Kindergärtnerinnen kapituliert hätten. Prozedere: Es waren verschiedene differenzialdiagnostische Erwägungen anzustellen. Unter anderem ob es sich angesichts der schweren Geburt und motorischen Entwicklungsverzögerung nicht um eine zerebrale Schädigung handelt. Eine MRT‐Untersuchung des Kopfes wurde angeregt. Darüber sollte die Verdachtsdiagnose eines ADHS ausgeschlossen werden. Zu diesem Zweck wurde die Durchführung einer umfangreichen neuro‐psychologischen Testdiagnostik mit besonderem Schwerpunkt auf Ausdauer‐ und Konzentrationsleistungen empfohlen. Weiterer Verlauf MRT: ohne pathologischen Befund; Testpsychologie: kein Hinweis auf ADHS