ADHS-Screening für Erwachsene

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Sören Schmidt und Franz Petermann
ADHS-Screening für Erwachsene
Ein Verfahren zur Erfassung von Symptomen
einer ADHS im Erwachsenenalter
Manual
ADHS-SCREENING FÜR ERWACHSENE (ADHS-E)
Autoren: Sören Schmidt und Franz Petermann
Copyright © 2009 Pearson Assessment & Information GmbH, Frankfurt am Main.
Titelfoto: © rolphoto - Fotolia.com
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und Verarbeitung in elektronischen Systemen.
Vorwort
Es gilt mittlerweile als erwiesen, dass die Aufmerksamkeitsdefizit-/ Hyperaktivitätsstörung
(ADHS) nicht nur im Kindes- und Jugendalter, sondern auch im Erwachsenenalter eine ernst
zu nehmende psychische Erkrankung darstellt, bei der häufig weitere psychische Störungen
komorbid auftreten. Während es für das Kindes- und Jugendalter sowohl für die Diagnostik
als auch die Therapie eine Reihe empirisch überprüfter Verfahren gibt, bestehen für das Erwachsenenalter große Lücken.
Das vorliegende Verfahren hat sich zum Ziel gesetzt, einen weiteren Schritt in die Richtung
einer guten und umfassenden diagnostischen Erhebung von ADHS-Symptomen zu unternehmen, wie sie in den diagnostischen Leitlinien empfohlen und im klinischen Alltag in der Arbeit
mit betroffenen Erwachsenen gebraucht wird.
Das ADHS-Screening für Erwachsene geht auf eine gemeinsame Initiative des Zentrums
für Klinische Psychologie und Rehabilitation der Universität Bremen (ZKPR; Direktor: Prof.
Dr. Franz Petermann) und des AMEOS-Klinikum Dr. Heines (Ärztlicher Direktor: Dr. Klaus
Brücher) zurück. Dabei entstand nach einer ausführlichen Erprobung das „Bremer ADHSScreening für Erwachsene (BAS-E)“, das letztlich den Grundstein zu dem nun vorliegenden
Verfahren bildete.
Ein Projekt dieser Größe kann nur mit der Unterstützung von vielen gelingen. So möchten wir
in erster Linie der Institutsambulanz des AMEOS-Klinikum Dr. Heines (insbesondere Dr. Klaus
Brücher, Boris Golunski, Petra Tietjen und Dipl.-Psych. Armgard Plötz) danken. Uns ist es auch
ein Anliegen, den zahlreichen Patienten zu danken, die diese Verfahren geduldig ausgefüllt und
somit einen großen Teil zur jetzigen Güte der Fragebögen ADHS-E und ADHS-LE beigetragen
haben. Dem Institut für Schulungsmaßnahmen in Hamburg (IfS) und dessen Geschäftsführer
Dr. Paul Brieler danken wir für die beispiellose Unterstützung bei der Datenerhebung und dem
großen Interesse an diesem Projekt. Ebenso ist an dieser Stelle das Engagement von Andreas
Jüttemann, Jasna-Anna Korte, Janka Struckmeyer und Johannes Stähle hervorzuheben, die uns
als Studierende unterstützten.
Zu allen Fragen der Testkonstruktion möchten wir uns vor allem bei Herrn PD Dr. HansChristian Waldmann (ZKPR) bedanken, der uns durch seine fachkundige und umfassende
Beratung unterstützte. Ebenfalls gilt unser Dank Herrn Dr. Ralf Horn (Pearson Assessment
and Information GmbH, Frankfurt), der die Erhebung des ADHS-E an einer Normstichprobe
finanziell großzügig unterstützte und unser Projekt durch sein Wohlwollen in allen Phasen
der Entwicklung förderte. Die repräsentative Erhebung führte die Firma USUMA (Berlin) in
unserem Auftrag im Sommer 2008 durch. In diesem Zusammenhang danken wir Prof. Dr.
Elmar Brähler (Universität Leipzig) für seine Unterstützung.
Bremen, im Mai 2009 Sören Schmidt
Franz Petermann
Inhaltsverzeichnis
Vorwort................................................................................................................................................... 3
1. ADHS-E im Überblick...........................................................................9
THEORETISCHER HINTERGRUND............................................................11
2. ADHS bei Erwachsenen- Einleitung und theoretischer
Hintergrund einer Lebensspannenerkrankung...................................11
3.
Grundlagen der ADHS – Ein biopsychosozialer Ansatz.......................13
3.1Genetik................................................................................................................................. 13
3.2Neurobiologie..................................................................................................................... 14
3.3 Epigenetik – Psychosoziale Einflussfaktoren................................................................. 15
4.
Entwicklungspsychopathologie der ADHS..........................................17
4.1 ADHS im Vorschul- und Schulalter................................................................................ 17
4.2 ADHS bei Erwachsenen..................................................................................................... 18
4.3 Entwicklungspsychopathologischer Verlauf.................................................................. 20
5. Diagnostik, Klassifikation und Behandlungsansätze..........................23
5.1 Kategoriale Diagnostik...................................................................................................... 23
5.2 Leitliniengestützte Diagnostik.......................................................................................... 25
TESTKONSTRUKTION UND GÜTEKRITERIEN...........................................27
6. Das ADHS-Screening für Erwachsene: Zielsetzung
und Konstruktion des Verfahrens......................................................27
6.1 Das Kernscreening ADHS-E............................................................................................. 27
6.1.1 Entwicklung der Testskalen.................................................................................... 29
6.1.2 Empirische Überprüfung an einer Konstruktionsstichprobe............................ 29
6.1.3Itemanalysen............................................................................................................. 31
6.1.4Faktorenanalysen..................................................................................................... 31
6.2 Die Fragebogenlangform ADHS-LE................................................................................... 35
6.2.1Itemanalysen............................................................................................................. 36
6.2.2Faktorenanalysen..................................................................................................... 36
7. Standardisierung der Verfahren........................................................41
7.1 Standardisierung des Kernscreenings (ADHS-E)............................................................. 41
7.1.1Stichprobe.................................................................................................................. 41
7.1.2Ortsbezogene Angaben........................................................................................... 42
7.1.3Rohwerteverteilung im ADHS-E........................................................................... 42
7.1.4Objektivität................................................................................................................ 44
7.1.5Reliabilität................................................................................................................. 44
7.1.6Validität...................................................................................................................... 46
7.1.6.1Konstruktvalidität......................................................................................... 46
7.1.6.2 Konvergente und Diskriminante Validität.................................................... 47
7.1.6.3 Klinische Validität......................................................................................... 49
7.1.6.4Kriteriumsvalidität........................................................................................ 52
7.2 Standardisierung der Langform (ADHS-LE).................................................................... 53
7.2.1Stichprobe.................................................................................................................. 53
7.2.2Rohwerteverteilung im ADHS-LE......................................................................... 54
7.2.3Objektivität................................................................................................................ 55
7.2.4Reliabilität................................................................................................................. 55
7.2.5Validität...................................................................................................................... 57
7.2.5.1Konstruktvalidität......................................................................................... 57
7.2.5.2 Konvergente und Diskriminante Validität.................................................... 58
7.2.5.3 Klinische Validität......................................................................................... 59
DURCHFÜHRUNG, AUSWERTUNG UND INTERPRETATION.......................63
8.
Praktische Anwendung der Fragebögen ADHS-E und ADHS-LE..........63
8.1Indikation
....................................................................................................................... 63
8.2Durchführung....................................................................................................................... 63
8.3Auswertung ....................................................................................................................... 65
8.4Fallbeispiele ....................................................................................................................... 68
Literatur.................................................................................................77
Anhang ..................................................................................................81
Anhang A: Normwerttabellen ADHS-E Gesamtstichprobe (N = 1845)....................................... 81
Anhang B: Normwerttabellen ADHS-LE Referenzstichprobe (N = 1296)................................... 87
Abbildungs- und Tabellenverzeichnis
Abbildungsverzeichnis
Abbildung 1. Schematisches Störungsmodell der ADHS ................................................................... 13
Abbildung 2. Entwicklungspsychopathologisches Modell der ADHS über die Lebensspanne....... 21
Abbildung 3. Kernbereiche des ADHS-E................................................................................................ 28
Abbildung 4. A priori Skalenübersicht des ADHS-Screening für Erwachsene................................. 29
Abbildung 5. Geschlechtsspezifische Verteilung der Altersgruppen aufgeteilt nach Geschlecht..... 30
Abbildung 6. Skalen des ADHS-E............................................................................................................ 32
Abbildung 7. Skalenverteilung im ADHS-LE........................................................................................ 35
Abbildung 8. Exemplarische Verteilungen des Skalenwerts „Aufmerksamkeitssteuerung“ im
ADHS-E über eine Klinische und eine Normstichprobe.............................................. 43
Abbildung 9. Mittelwertunterschiede zwischen den Gruppen über a) „Emotion & Affekt“,
b) „Aufmerksamkeitssteuerung“, c) „Stresstoleranz“, d) „Impulskontrolle/
Disinhibition“, e) „Unruhe & Überaktivität“ und f) „Gesamtwert“.......................... 50
Abbildung 10.Mittelwertunterschiede zwischen den Gruppen über a) „Emotion & Affekt“,
b) „Aufmerksamkeitssteuerung“, c) „Stresstoleranz“, d) „Impulskontrolle/
Disinhibition“, e) „Unruhe & Überaktivität“, f) „Extraversion“, g) „Retrospektive
Angaben und h) „Gesamtwert“....................................................................................... 60
Abbildung 11.Ansichtsausschnitt eines Profils im ADHS-E................................................................. 67
Abbildung 12.Ausschnitt einer Profilanalyse des ADHS-E; Fallbeispiel 1......................................... 69
Abbildung 13.Ausschnitt einer Profilanalyse des ADHS-LE; Fallbeispiel 2....................................... 72
Abbildung 14.Abschnitt „Drogenkonsum“ im Substanzmittelscreening des ADHS-LE................. 73
Abbildung 15.Ausschnitt einer Profilanalyse des ADHS-E; Fallbeispiel 3......................................... 75
Tabellenverzeichnis
Tabelle 1. Störungsübergreifende Symptombeschreibung der ADHS mit anderen psychischen
Störungsbildern (modifiziert nach Schmidt, Brücher & Petermann, 2006)..................... 19
Tabelle 2. Leitliniengestützte Klassifikation der ADHS bei Erwachsenen
(mod. nach Ebert, Krause und Roth-Sackenheim, 2003) .................................................. 25
Tabelle 3. Absolute und prozentuale Häufigkeiten des Merkmals „Geschlecht“........................... 30
Tabelle 4. Mittelwerte und Standardabweichungen der Altersgruppen aufgeteilt nach Geschlecht..... 30
Tabelle 5. Ergebnisse der Faktorenanalyse im ADHS-E...................................................................... 33
Tabelle 6. Itemgüte und Faktorladung der Skala „Emotion & Affekt“............................................. 34
Tabelle 7. Itemgüte und Faktorladung der Skala „Aufmerksamkeitssteuerung“........................... 34
Tabelle 8. Itemgüte und Faktorladung der Skala „Unruhe & Überaktivität“.................................. 34
Tabelle 9. Itemgüte und Faktorladung der Skala „Impulskontrolle & Disinhibition“................... 34
Tabelle 10. Itemgüte und Faktorladung der Skala „Stresstoleranz“.................................................... 34
Tabelle 11. Ergebnisse der Faktorenanalyse im ADHS-LE................................................................... 36
Tabelle 12. Itemgüte und Faktorladungen der Skala „Aufmerksamkeitssteuerung“....................... 37
Tabelle 13. Itemgüte und Faktorladungen der Skala „Emotion und Affekt“..................................... 37
Tabelle 14. Itemgüte und Faktorladungen der Skala „Stresstoleranz“............................................... 37
Tabelle 15. Itemgüte und Faktorladungen der Skala „Impulskontrolle und Disinhibition“........... 38
Tabelle 16. Itemgüte und Faktorladungen der Skala „Unruhe und Überaktivität“.......................... 38
Tabelle 17. Itemgüte und Faktorladungen der Skala „Retrospektive Angaben“............................... 38
Tabelle 18. Itemgüte und Faktorladungen der Skala „Extraversion“.................................................. 38
Tabelle 19. Geschlechterverteilung der Normstichprobe (ADHS-E) ............................................... 41
Tabelle 20. Verteilung der Altersgruppen im ADHS-E über das Geschlecht .................................... 41
Tabelle 21. Zusammenhang der Stichprobe nach Bundesländern
(Bevölkerungsanteil lt. Staatlichem Bundesamt)................................................................ 42
Tabelle 22. Deskriptive Kennwerte der Skalen im ADHS-E................................................................. 43
Tabelle 23. Interne Konsistenz der Testskalen im ADHS-E in der Klinischen Stichprobe............... 44
Tabelle 24. Interne Konsistenz der Testskalen im ADHS-E in der Normstichprobe......................... 45
Tabelle 25. Deskriptive Statistiken und Retest-Reliabilität (rtt) der Testskalen im ADHS-E........... 45
Tabelle 26. Skaleninterkorrelationen im ADHS-E .............................................................................. 47
Tabelle 27. Korrelationen des ADHS-E mit dem ADHS-SB und dem WURS-K................................ 48
Tabelle 28. Korrelation des ADHS-E mit den Skalen „Somatisierung“ und „Psychotizismus“
aus dem BSI.............................................................................................................................. 49
Tabelle 29. Unterschiede zwischen den Subtests im ADHS-E (auf der Basis geschätzter Randmittel).... 51
Tabelle 30. Darstellung der Effekte von „Gruppe“ auf die einzelnen Subtests im ADHS-E
(auf der Basis geschätzter Randmittel)................................................................................. 51
Tabelle 31. Korrelationen zwischen den Skalen des ADHS-E, der Skala PSK aus dem SF-12 und
der SWLS ................................................................................................................................ 52
Tabelle 32. Verteilung der Altersgruppen im ADHS-E über das Geschlecht..................................... 53
Tabelle 33. Deskriptive Kennwerte der Skalen im ADHS-LE ........................................................... 54
Tabelle 34. Interne Konsistenz der Testskalen im ADHS-LE in einer Klinischen Stichprobe.......... 55
Tabelle 35. Interne Konsistenz der Testskalen im ADHS-LE in der Referenzstichprobe................. 56
Tabelle 36. Deskriptive Statistiken und Retest-Reliabilität (rtt) der Testskalen im ADHS-LE (N = 59)...... 56
Tabelle 37. Skaleninterkorrelationen im ADHS-LE................................................................................ 57
Tabelle 38. Korrelationen des ADHS-LE mit dem ADHS-SB und dem WURS-K............................. 58
Tabelle 39. Korrelation des ADHS-LE mit der Skala „Paranoides Denken“ aus dem BSI............... 59
Tabelle 40. Unterschiede zwischen den Subtests im ADHS-LE
(auf der Basis geschätzter Randmittel)................................................................................. 61
Tabelle 41. Darstellung der Effekte von „Gruppe“ auf die einzelnen Subtests im ADHS-LE
(auf der Basis geschätzter Randmittel)................................................................................. 61
Tabelle 42. Items mit positiver Ausrichtung im ADHS-E...................................................................... 65
Tabelle 43. Items mit positiver Ausrichtung im ADHS-LE................................................................... 66
Tabelle A-1.Normentabelle für die Skala „Emotion & Affekt“ ............................................................ 81
Tabelle A-2.Normentabelle für die Skala „Aufmerksamkeitssteuerung“ .......................................... 81
Tabelle A-3.Normentabelle für die Skala „Unruhe/Überaktivität“ ..................................................... 82
Tabelle A-4.Normentabelle für die Skala „Impulskontrolle/Disinhibition“ ...................................... 82
Tabelle A-5.Normentabelle für die Skala „Stresstoleranz“ .................................................................. 83
Tabelle A-6.Normentabelle für die Skala „Gesamtwert“ ..................................................................... 84
Tabelle B-1.Normentabelle für die Skala „Aufmerksamkeitssteuerung“ .......................................... 87
Tabelle B-2.Normentabelle für die Skala „Unruhe & Überaktivität“ ................................................. 88
Tabelle B-3.Normentabelle für die Skala „Impulskontrolle/Disinhibition“ ...................................... 89
Tabelle B-4.Normentabelle für die Skala „Emotion & Affekt“ ............................................................ 90
Tabelle B-5.Normentabelle für die Skala „Stresstoleranz“................................................................... 91
Tabelle B-6.Normentabelle für die Skala „Extraversion“ ..................................................................... 92
Tabelle B-7.Normentabelle für die Skala „Retrospektive Angaben“ .................................................. 92
Tabelle B-8.Normentabelle für die Skala „Gesamtwert“ ..................................................................... 93
1.ADHS-E im Überblick
Das Verfahren. Das ADHS-Screening für Erwachsene stellt ein mehrdimensionales Instrument zur Erfassung von Symptomen einer Aufmerksamkeits-Defizit/ Hyperaktivitätsstörung
(ADHS)1 bei Erwachsenen dar. Die über verschiedene Skalen erfassten Symptome orientieren
sich in ihrer konzeptionellen Zusammensetzung an den diagnostischen Leitlinien, die ein Expertenkonsensus mit der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie, Psychotherapie und Nervenheilkunde (DGPPN; vgl. Ebert, Krause & Roth-Sackenheim, 2003) festgelegt hat und beinhalten
zudem die wesentlichen Symptomkriterien, wie sie in den Klassifikationssystemen DSM-IV-TR
und ICD-10 zu finden sind.
Die im ADHS-E erfassten Bereiche ermöglichen über eine differenzierte Profilanalyse die Einschätzung der Ausprägung und des Schweregrades einer ADHS-Symptomatik einerseits, liefern aber auch differenzialdiagnostische Zusatzinformationen, die sowohl für den Anwender
im psychodiagnostischen Prozess aber auch für den Forschungseinsatz relevant sind.
Zur dimensionalen Erfassung von ADHS-Symptomen bietet das ADHS-Screening für Erwachsene zwei Möglichkeiten:
a) Den Einsatz des Kernscreenings (ADHS-E), welches über fünf Skalen alle diagnose relevanten Merkmale enthält und somit einen differenzierten Überblick über die
psychopathologischen Ausprägung ermöglicht,
b)eine Langform (ADHS-LE), welche alle Skalen des Kernscreenings mit einer höheren
Itemzahl enthält und darüber hinaus noch zwei Skalen zur zusätzlichen Erhebung kli
nisch relevanter Merkmale sowie einem Alkohol-, Drogen-, und Medikamentenscreening.
Das Kernscreening (ADHS-E). Die fünf Skalen des ADHS-E erfassen:
• Emotion/Affekt
• Aufmerksamkeitssteuerung
• Unruhe/Überaktivität
• Impulskontrolle/Disinhibition
• Stresstoleranz
Zusätzlich zur Profilanalyse besteht die Möglichkeit, einen globalen Schweregrad der Beeinträchtigung über den Gesamtwert zu bestimmen. Alle Rohwerte können in T-Werte und
Prozentränge überführt werden.
Die Langform (ADHS-LE). Die sieben Skalen der Langform erfassen:
• Aufmerksamkeitssteuerung
• Impulskontrolle/Disinhibition
• Stresstoleranz
• Emotion/Affekt
• Unruhe/Überaktivität
• Extraversion
• Retrospektive Angaben
1 Im weiteren Verlauf der Arbeit wird vereinheitlichend die Abkürzung ADHS verwendet, da diese in der gegenwärtigen
Literatur die gebräuchlichste Form darstellt.
9
Neben der Profilanalyse besteht auch hier die Möglichkeit, den Schweregrad der Beeinträchtigungen zu bestimmen (Gesamtwert). Alle Rohwerte können in T-Werte und Prozentränge
überführt werden.
Einsatzbereich. In der klinischen Praxis und der Forschung bei Erwachsenen mit Verdacht auf
ADHS zwischen 18 und 65 im Kernscreening und in der Langform. Verwendung u. a. durch
Klinische Psychologen, Psychiater und Neuropsychologen2.
Material. Das ADHS-Screening für Erwachsene setzt sich zusammen aus den Fragebögen
ADHS-E und ADHS-LE sowie Auswertungsschablonen für ADHS-LE. Darüber hinaus liegen
Dokumentationsbögen zum Screening von Substanzmittelmissbrauch vor.
Zuverlässigkeit des Kernscreenings (ADHS-E). Die interne Konsistenz (Cronbach’s α) liegt
innerhalb einer klinischen Stichprobe zwischen α= .73 und .87. Die Bestimmung der Reliabilität nach der Testhalbierungsmethode (Split-Half) liegt mit einem Koeffizienten von rk= .81 in
einem guten Bereich. Die Test-Retest-Reliabilität (Produkt-Moment-Korrelation nach Pearson)
liegt zwischen rtt=.85 und rtt=.94.
Zuverlässigkeit der Langform (ADHS-LE). Die interne Konsistenz (Cronbach’s α) liegt innerhalb der klinischen Stichprobe zwischen α = .75 und .93. Die Bestimmung der Reliabilität nach
der Testhalbierungsmethode (Split-Half) liegt mit einem Koeffizienten von rk = .94 in einem sehr
guten Bereich. Die Test-Retest-Reliabilität (Produkt-Moment-Korrelation nach Pearson) liegt
zwischen rtt = .53 und rtt = .94.
Gültigkeit. Zur Konstruktvalidität wurden faktorenanalytische Berechnungen sowie Skaleninterkorrelationen herangezogen. Die Faktorenanalysen ergaben differenzierte Skalen und
eine insgesamt gut interpretierbare Faktorenstruktur. Die zusätzlich herangezogenen Skaleninterkorrelationen belegen enge Zusammenhänge innerhalb der Skalen und dem globalen
Indexwert. Die konvergente und diskriminante Validität wurde über Korrelationen mit konstruktähnlichen und konstruktfernen Verfahren realisiert. Zum erstgenannten Bereich lassen
sich enge Zusammenhänge beschreiben, während sich kaum Zusammenhänge mit einem
konstruktfernen Verfahren feststellen lassen. Die Kriteriumsvalidität des ADHS-E wurde über
Zusammenhänge mit psychopathologischen Funktionsbereichen, welche nach gegenwärtigem Forschungsstand mit der ADHS in Verbindung stehen, ermittelt. Die klinische Validität
wird durch signifikante Unterschiede zwischen einer klinischen- und einer Kontrollgruppe
unterstrichen.
Normen und Referenzwerte. Das ADHS-E ist an einer bevölkerungsrepräsentativen Stichprobe
normiert worden (N = 1845). Für das ADHS-LE liegen Referenzwerte einer nicht-klinischen
Vergleichsgruppe vor (N = 1296).
Bearbeitungsdauer. Die Bearbeitung des ADHS-E beträgt im Durchschnitt 7 bis 10 Minuten,
die des ADHS-LE ungefähr 10–15 Minuten.
2 Aus Gründen der Lesbarkeit wird im Folgenden die männliche Sprachform gewählt. Selbstverständlich gelten die hier
beschriebenen Aussagen für beide Geschlechter.
10
THEORETISCHER HINTERGRUND
2. ADHS bei Erwachsenen – Einleitung und theoretischer
Hintergrund einer Lebensspannenerkrankung
Es existiert in den Arbeitsbereichen der Klinischen Psychologie und der Psychiatrie wohl kaum
eine Störung, die historisch einer derart kontroversen Betrachtungsweise unterlegen ist wie die
ADHS. Geprägt von unterschiedlichen Definitionen, psychopathologischen Einordnungen und
therapeutischen Ansätzen zur Linderung der Symptome, bleibt sie ein heterogenes Störungsbild, das vom Kindesalter an eine große Herausforderung für das Gesundheitssystem und die
Gesellschaft darstellt. So werden gleichermaßen Ärzte, Psychologen und Pädagogen in ihrer
alltäglichen Arbeit mit der Heterogenität des Störungsbildes konfrontiert.
Mit einem Blick auf das letzte Jahrzehnt fällt auf, dass es eine erhebliche Zunahme wissenschaftlicher Studien zur ADHS gibt, die neben der Altersgruppe der 6 bis 11-Jährigen auch das
Vorschulalter und Erwachsenenalter einbeziehen. Dabei ist die Integration neurobiologischer
Befunde als vorteilhaft anzusehen, da so weitere Faktoren zur Entstehung, der Manifestation
sowie zur Aufrechterhaltung der ADHS hervorgehoben werden konnten.
Die ADHS hat eine „bewegte Vergangenheit“. Dies beginnt aus historischer Sicht mit der Suche
nach einer Bezeichnung für die Phänomenologie. So gab es eine Vielzahl von Versuchen, die
Psychopathologie adäquat zu benennen. Dabei sind, neben einer Vielzahl historischer Quellen
aus der Psychiatrie des 19. Jahrhunderts, exemplarisch Begriffe wie Neurasthenie oder Minimale Cerebrale Dysfunktion zu nennen. Die damit zusammenhängenden Erklärungsansätze umschrieben stets die typische Pathologie der ADHS, die Erklärungsansätze basierten allerdings
meist auf einzelnen Komponenten (z. B. eine diffuse Hirnschädigung oder ein Erziehungsdefizit). Erst in den 1980er Jahren, mit Einführung des DSM-III-R, wurde das Störungsbild um ein
Defizit der basalen Aufmerksamkeitsfunktionen erweitert und blieb in seinem Grundgerüst so,
wie es heute Bestand hat, auch wenn eine Weiterentwicklung beziehungsweise genauere Differenzierung gerade in Betrachtung der Subtypen (vgl. Desman & Petermann, 2005) sicher in den
nächsten Jahren weiter erfolgen wird.
ADHS galt über viele Jahre als eine nur für das Kindes- und Jugendalter typische Erkrankung. Annahmen, dass sich das Störungsbild mit dem Übergang in das Erwachsenenalter
ausschleiche, lassen sich über eine Vielzahl einschlägiger Studien und Publikationen widerlegen. So liegt die Prävalenz ADHS-Betroffener Erwachsener bei 1 bis 4 % (Philipsen et al.,
2008; Sobanski et al., 2008; Spencer, Biederman & Mick, 2007). Dennoch lässt sich festhalten,
dass es gerade im Bereich Diagnostik und Therapie in vielerlei Hinsicht kaum Ansätze für das
Erwachsenenalter gibt, während die Altersspanne des Kindes- und Jugendalters vergleichsweise gut versorgt ist. Als Grund dafür lässt sich (unter anderem) die genauere Spezifität des
Störungsbildes in dieser Altersgruppe anführen. Während das Lebensumfeld bei Kindern und
Jugendlichen von ähnlichen Strukturen (Schule, Familie, Freunde) geprägt ist, so ist es im
Erwachsenenalter stark abhängig vom individuellen Lebensweg des Betroffenen (z. B. Art des
Berufs, Partnerschaft und Familie), wie und in welchem Maße sich eine ADHS ausprägt. Dies
erschwert sowohl den diagnostischen, als auch den therapeutischen Prozess.
11
Dies führt zu einem weiteren Problem. So ist es bei betroffenen Erwachsenen weitaus schwieriger, Trends in Bezug auf die Nutzung therapeutischer Einrichtungen oder Maßnahmen aufzudecken, da
a.
b.
aufgrund der hohen Komorbidität mit anderen Störungsbildern einer psychotherapeutischen Behandlung in vielen Fällen nicht die ADHS zugrunde liegt und
Statistiken zur Verordnung von entsprechenden Medikamenten zu Lasten der gesetzlichen Krankenkassen aufgrund der Notwendigkeit des „Off-Label-Use“ bislang nicht
altersspezifisch geführt wurden.
Somit ist davon auszugehen, dass viele betroffene Erwachsene sich in therapeutischer Behandlung
befinden, diese aber nicht „ADHS-basiert“ erfolgt. Ebenso verhält es sich mit Medikamenten, deren Wirksamkeit in der Behandlung ADHS-betroffener Erwachsener unbestritten ist (vgl. Ebert,
Krause & Roth-Sackenheim, 2003), welche aber dennoch nicht in offiziellen Statistiken erscheinen. Somit ist von einer weitaus höheren Dunkelziffer betroffener Erwachsener auszugehen.
Aus diesen Fakten lassen sich Schlussfolgerungen ableiten, die sowohl die klinische Praxis als
auch die Forschung betreffen. Es wird deutlich, dass es im Erwachsenenalter immer noch an Diagnostika fehlt, die aufgrund ihrer psychometrischen Eigenschaften eine valide Aussage ermöglichen. Neben neuropsychologischen Verfahren (z. B. Zimmermann & Fimm, 2002) lassen sich
lediglich die „Homburger ADHS-Skalen für Erwachsene“ (HASE; vgl. Rösler, Retz-Junginger,
Retz & Stieglitz, 2008) anführen.
Das vorliegende Verfahren kann in diesem Zusammenhang als ein weiterer Schritt zu einer
Erleichterung des diagnostischen Prozesses bei Erwachsenen mit ADHS verstanden werden.
12
die aufgrund ihrer psychometrischen Eigenschaften eine valide Aussage ermöglichen. Neben den neuropsychologischen Verfahren (z.B. Zimmermann & Fimm, 2002) lassen sich lediglich die „Homburger ADHS‐Skalen für Erwachsene“ (HASE; vgl. Rösler, Retz‐Junginger, Retz & Stieglitz, 2008) anführen. Das vorliegende Verfahren kann in diesem Zusammenhang als ein weiterer Schritt zu einer Erleichterung des diagnostischen Prozesses bei Erwachsenen mit ADHS verstanden werden. 3.Grundlagen der ADHS – Ein biopsychosozialer
Ansatz
3. Grundlagen der ADHS – Ein biopsychosozialer Ansatz Die ADHS ist ein mehrdimensionales Störungsbild. Sie ist bedingt durch das Zusammenspiel Diegenetischer, neurobiologischer und psychosozialer Faktoren. So lässt sich die genetische Disposition ADHS ist ein mehrdimensionales Störungsbild. Sie ist bedingt durch das Zusammenspiel genetischer,
neurobiologischer
psychosozialer
Faktoren.
So lässt
sich diefrontal‐striataler genetische Dispositials der grundlegendste Faktor und
anführen, in dessen Folge es zu einer Dysfunktion on als
grundlegender
Faktor
anführen,
in dessenUngleichgewicht Folge es zu einer
Dysfunktion
frontal-striataler
Areale kommt, was zu einem neurobiologischen der zentralen Katecholamine Areale
kommt,
was
zu
einem
neurobiologischen
Ungleichgewicht
der
zentralen
Katecholamine
Dopamin und Noradrenalin führt (Abbildung 1). Dopamin und Noradrenalin führt (Abbildung 1).
Genetische Disposition Verhaltensdefizit nach Dysfunktion fronto‐
striataler Netzwerke ICD‐10‐GM Imbalance katecholaminerger Neurotransmitter
Aufmerksamkeits‐
störung DSM‐IV‐TR Wender‐Utah‐
Kriterien
Abbildung 1. Schematisches Störungsmodell der ADHS Abbildung
1. Schematisches Störungsmodell der ADHS
Da die genetische Komponente zentral für die Entstehung der ADHS ist, wird diese im12 nächsten
Abschnitt
ausführlicher diskutiert. Danach folgen Erklärungsmodelle aus der Neurobiologie sowie epigenetische (psychosoziale) Faktoren.
3.1 Genetik
Gegenwärtig liegen verschiedene Studien zur Genetik der ADHS vor, die sich inhaltlich mit
unterschiedlichen Komponenten befassen und zunächst getrennt voneinander dargestellt
werden sollen. So existiert eine
a)
b)
familiäre Komponente, die insbesondere durch Zwillingsstudien belegt werden kann
und eine
molekulargenetische Komponente, wobei der Fokus auf Mutationen/Veränderungen
der DNA-Sequenzen liegt.
Heritabilität. Bei ADHS belegen eine Vielzahl unterschiedlicher Studien eine familiäre Häufung
des Störungsbildes (vgl. Ribases et al., im Druck). So werden ADHS-spezifische Merkmale innerhalb einer betroffenen Familie bei mehreren Mitgliedern beobachtet. Thompson et al. (2004)
berichteten in einer Studie zur Behandlung von Kindern mit ADHS und deren Familien eine
Häufung von ADHS-assoziierten Symptomen innerhalb der Familie (insbesondere Vater und
Geschwister). Dies lässt, neben problematischen psychosozialen Bedingungen innerhalb der
Familie, auch den Rückschluss auf eine genetische Komponente zu. Dabei steht in der Regel
die Identifikation derjenigen (psychopathologischen) Merkmale im Vordergrund, die innerhalb
einer Familie übergreifend festgestellt werden können und nicht durch verschiedene Umwelteinflüsse bedingt sind (Heritabilität). In vielen Fällen werden diese Studien an monozygoten
Zwillingen durchgeführt, da diese über identische Gene verfügen, während sich dizygote Zwillinge im Durchschnitt 50 % ihres genetischen Materials teilen (vgl. Bidwell, Willcutt, DeFries &
13
Pennington, 2007). Zahlreiche Zwillingsstudien berichten eine hohe Heritabilität, was den familiären Zusammenhang unterstreicht (Faraone et al., 2005; Waldman & Gizer, 2006). Bei monozygoten Zwillingen werden Konkordanzraten von 50 bis 80 % berichtet, während bei dizygoten
Zwillingen in 0 bis 33 % der Fälle beide von der ADHS betroffen sind (Bradley & Golden, 2001;
Renner et al., 2008). Bei Geschwistern von Kindern mit ADHS steigt das Risiko, eine ADHS zu
entwickeln, um das Drei- bis Fünffache im Vergleich zu Nicht-Betroffenen (Durston & Konrad,
2007).
Molekulargenetik. Die familiäre Häufung bei ADHS legt einen Zusammenhang auf molekulargenetischer Ebene nahe. Dabei steht die Identifikation spezifischer Mutationen/Veränderungen
in DNA-Sequenzen im Fokus einschlägiger Studien. Anhand genomweiter Kopplungsanalysen
wurden bestimmte chromosomale Abschnitte lokalisiert, die mit unterschiedlich hoher Wahrscheinlichkeit gekoppelt vererbt werden und somit potenziell mit der ADHS-Symptomatik in
Verbindung stehen können (vgl. Renner et al., 2008). Exemplarisch lässt sich das Chromosom
4q13.2 anführen, auf welchem ein vergleichsweise häufiger Haplotyp des Proteins Latrophilin-3
(LPHN3) festgestellt werden konnte. Dieses wiederum wird in Zusammenhang mit Merkmalen
des ADHS-Phänotyps gebracht, bei dem bestimmte Persönlichkeitsausprägungen durch den
Einfluss von LPHN3 erst das klinisch relevante Bild einer ADHS entstehen lassen (Arcos-Burgos
et al., 2004; Muenke, 2007). Dies wird dadurch unterstützt, dass die Expression von LPHN3 in
denjenigen cerebralen Regionen erfolgt (mesolimbisches System), die mit der ADHS assoziiert
sind. Weiterhin spielt die Identifizierung bestimmter Gene eine Rolle, die direkt mit den biologischen Phänomenen der ADHS (Imbalance der Katecholamine Dopamin, Noradrenalin, Serotonin) in Verbindung stehen. Eines der am besten untersuchten Gene ist das DopaminrezeptorD4-Gen (DRD4). In erster Linie liegt das daran, dass bereits festgestellt werden konnte, dass die
DRD4-Messenger RNA (mRNA) das klinische Bild der ADHS im Hinblick auf das kognitive und
emotionale Funktionsniveau deutlich beeinflusst (Lasky-Su et al., 2007). Weitere Studien belegen
einen deutlichen Zusammenhang zwischen einem Ungleichgewicht der Katecholamine Noradrenalin und Dopamin, die als potentielle DRD4-Agonisten auch Einfluss auf frontal-subkortikale Netzwerke aufweisen. Weitere Gene, die ebenfalls mit der ADHS in Zusammenhang gebracht
werden, sind die Dopaminrezeptor-Gene DRD5, DRD2, DRD3 und DRD1 sowie das Dopamintransporter-Gen DAT1 (Mick & Faraone, 2008; Spencer et al., 2007; Squassina et al., 2008).
Auch wenn der genetische Anteil an der ADHS als gesichert gilt, so variieren die Befunde unterschiedlicher Studien deutlich hinsichtlich der Lokalisation eines bestimmten Gens. So lassen
sich aus der Vielzahl einschlägiger Studien zur genetischen Disposition bei ADHS wie oben
beschrieben nur wenige Gene identifizieren, die einen (replizierbaren) hohen Zusammenhang
mit der ADHS aufweisen. Somit ist festzuhalten, dass neben dem genetischen Einfluss weitere
Faktoren in der Pathogenese der ADHS eine Rolle spielen, was in den nächsten Abschnitten
ausführlicher dargestellt wird.
3.2 Neurobiologie
Auf der Basis der genetischen Prädisposition sind bei der ADHS bestimmte funktionelle Beeinträchtigungen der Aufmerksamkeitsleistungen Folge einer Dysfunktion frontal-subkortikaler
Netzwerke. Da sich viele der bei ADHS auftretenden Symptome (z. B. disinhibitorische Verhaltenszüge, mangelnde Planungsfähigkeit und Defizite im Bereich der Arbeitsgedächtnisleistungen) auch bei Patienten beobachten lassen, die an den Folgen einer Frontalhirnschädigung leiden, wird die Rolle fronto-kortikaler Strukturen und deren Netzwerke zusätzlich unterstrichen
(Davids & Gastpar, 2005; Schmidt, Brücher & Petermann, 2006). Mittlerweile belegen zahlreiche
Studien komplexe Verarbeitungsmechanismen in Abhängigkeit von der jeweiligen Aufmerksamkeitsdimension (Konrad & Gilsbach, 2007). So lassen sich beispielsweise zur Erklärung von
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Defiziten in der Reizinhibition sowie dem visuell-räumlichen Arbeitsgedächtnis funktionelle
Störungen des rechten inferioren frontalen Gyrus anführen, was über Läsionsstudien ermittelt
werden konnte (z. B. Clark et al., 2007). Die Aktivierung scheint dabei durch das noradrenerge
System (Locus coeruleus) und dessen Projektionen in die rechte Hemisphäre beeinflusst. Zudem
kann angenommen werden, dass dieser Prozess durch den rechten präfrontalen Kortex reguliert
wird, was sich mit weiteren Befunden deckt, in denen Volumenverminderungen in der rechten
präfrontalen Kortexregion festgestellt werden konnten (vgl. Fallgatter et al., 2005). In einer fMRTStudie wurden Defizite im Zusammenspiel exekutiver und motivationaler Faktoren bei einem
Paradigma mit Verstärkung und Entzug des Verstärkers mit einer herabgesetzten Aktivierung
im ventralen Striatum (Erwartung eines Verstärkers) und erhöhter Aktivierung im orbitofrontalen Kortex (Antwort auf die Art der Verstärkung) in Verbindung gebracht. Dabei ließen sich zudem negative Korrelationen zwischen selbst geschilderten Symptomen von Hyperaktivität und
Impulsivität und der Abnahme ventral-striataler Aktivierung aufzeigen (Ströhle et al., 2008).
3.3 Epigenetik – Psychosoziale Einflussfaktoren
Neben dem genetischen Einfluss wird zur Entstehung der ADHS ein komplexes Interaktionsmodell angenommen, in dem Umweltbedingungen eine wesentliche Rolle spielen. Dazu gehören
sowohl Risikofaktoren, z. B. Komplikationen bei der Geburt wie geringes Geburtsgewicht oder
krisenhafte Geburtsumstände, aber auch risikobehaftetes Verhalten der Eltern, wie Nikotin-, Alkohol-, und Drogenabusus (z. B. Stevens et al., 2008). Hinzu kommen psychosoziale Faktoren
wie Auffälligkeiten in der Eltern-Kind-Interaktion, in der Schule sowie im Sozialkontakt mit
Gleichaltrigen.
Zu den Risikofaktoren belegen verschiedene prospektive Studien einen statistischen Zusammenhang insbesondere zwischen Zigarettenkonsum während der Schwangerschaft und einer
ADHS in der Kindheit (Indredavik, Brubakk, Romundstad & Vik, 2007; Obel et al., 2008). Dabei
wird neben einem generell höheren Risiko bei Nikotinkonsum eine Interaktion zwischen der
genetischen Vulnerabilität und dem Rauchverhalten der Mutter während der Schwangerschaft
und dem ADHS-Subtyp hervorgehoben (Kim et al., 2006; Neuman et al., 2007). Weitere Noxen,
wie Alkohol- oder Drogenkonsum ebenso wie Stress, gelten ebenfalls als Risikofaktoren; die
Ergebnisse verschiedener Studien liefern jedoch inhomogene Aussagen im Kontext der ADHS
(Smidts & Oosterlaan, 2007).
Die psychosoziale Komponente lässt sich nicht ohne weiteres von den oben beschriebenen Risikofaktoren trennen. So lässt sich als ein grundlegender Faktor die auffällige Eltern-Kind-Interaktion anführen, da diese in vielen Fällen durch das Vorhandensein der Störung negativ
beeinflusst wird (vgl. Daly, Creed, Xanthopoulos & Brown, 2007). So verfügen viele Eltern über
mangelhafte Strategien im Umgang mit der Störung, so dass diese (unter anderem) dadurch im
negativen Sinne beeinflusst und aufrechterhalten wird. Exemplarisch zu nennen sind Probleme
im Durchsetzen von Konsequenzen oder dem häufige Fehlen von verstärkender Zuwendung
auf positive Verhaltensweisen. Daraus entsteht in vielen Fällen ein ungünstiger Entwicklungspfad, indem betroffene Kinder neben der Aufmerksamkeitsstörung auch weitere komorbide
Störungen, wie beispielsweise Störung des Sozialverhaltens (externale Verhaltensstörungen),
oder emotionale Störungen (internale Verhaltensstörungen) entwickeln können.
Im Hinblick auf die oben beschriebenen Einflussfaktoren liegt der gegenwärtige Konsens in
einer komplexen Interaktion aller Bereiche. So ist ein multifaktorielles Entstehungsmodell auf
der Basis einer genetischen Prädisposition, einer neurobiologischen Dysregulation und einer
darauf aufbauend neuropsychologischen Inhibitionsstörung anzunehmen (Castellanos et al.,
2008; Durston & Konrad, 2007; Squassina et al., 2008; Volkow et al., 2007).
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