trilliumbibliothek Interdisziplinäre Parodontologie Die Parodontitis als Risikofaktor für Allgemeinerkrankungen Dr. med. Rudolf Raßhofer, Facharzt für Mikrobiologie LMU München, Max von Pettenkofer Institut Universität Essen, Institut für Mikrobiologie Seit 1993 niedergelassen in München Gründer der Parident GmbH , Spezielle Orale Mikrobiologie Seit 2012 MVZ Labor Bavariahaus, Bavaria Health Center; Präventive und regenerative Medizin, München Die marginale Parodontitis versetzt das Immunsystem in einen chronischen Alarmzustand und stellt dadurch einen Risikofaktor für Systemerkrankungen wie Atherosklerose oder rheumatoide Arthritis dar. Sie erfordert deshalb oft eine lebenslange Betreuung des Patienten. Dazu gehört auch der Nachweis von Markerbakterien mit molekular- und immundiagnostischen Verfahren. Entzündungen des Zahnhalteapparates (Parodontitis, PA) gehören zu den häufigsten Infektionskrankheiten weltweit. In Deutschland leiden etwa 60% (!) der Bevölkerung unter einer behandlungsbedürftigen Parodontitis, die wiederum ein erhebliches Risiko für Folgeerkrankungen darstellt. Der Parodontologe, dein Freund fürs Leben Schon Thomas Mann beschreibt in „Die Buddenbrooks“, dass der Senator Thomas Buddenbrook „an einem Zahne gestorben sei“, und bereits lange Zeit davor wusste man, dass schlechte Zähne und entzündetes Zahnfleisch ein erhebliches gesundheitliches Risiko darstellen. Mittlerweile lassen sich tatsächlich pathogenetische Verbindungen zwischen der Parodontitis und den Erkrankungen des kardiovaskulären und des rheumatischen Formenkreises und auch zu Diabetes herstellen. Aus einem eher nebensächlichen Krankheitsbild, einer unvermeidlichen, mehr oder weniger vernachlässigbaren Befindlichkeitsstörung, hat sich das Bild einer chronisch rezidivierenden Infektionskrankheit mit einer infizierten Gewebsfläche von Handtellergröße entwickelt, deren Erreger, bedingt durch die typischen Virulenzfaktoren gramnegativer Bakterien (z. B. Fimbrien, Adhäsine) eine außergewöhnlich hohe Pathogenität aufweisen. Die Behandlung der Parodontitis erfordert eine lebenslange Betreuung der betroffenen Patienten. Lange Zeit stand eine rein mechanistische Betrachtung des Krankheitsbildes und seiner Therapie im Vordergrund. Die Therapie bestand aus regelmäßiger, professioneller Zahnreinigung, und von Zeit zu Zeit in der Gabe eines pauschalen Antibiotikacocktails. Mittlerweile setzt sich unter den Fachleuten jedoch die Erkenntnis durch, dass die betroffenen Patienten eine differenzierte mikrobiologische Diagnostik und eine ebenso differenzierte Behandlung benötigen. Die Diagnostik im Rahmen der Infektions- und Inflammationskontrolle umfasst viele Parameter; die Therapie beinhaltet, neben der schon erwähnten professionellen Zahnreinigung, auch eine gezielte Steuerung der Ernährung und alternative Methoden der lokalen Antisepsis. Das Krankheitsgeschehen ist mittlerweile bis hinunter auf die Zell- und Molekularebene bekannt. Entsprechend dieser Erkenntnisse lassen sich die Optionen für die zahnärztliche Prophylaxe neu definieren und Maßnahmen entwickeln, die nicht nur für die Zahngesundheit, sondern auch für die allgemeine Vorsorge von fundamentaler Bedeutung sind. Denn der regelmäßige Besuch der zahnärztlichen Prophylaxe-Sprechstunde setzt sich mehr und mehr durch. Die Zahnärzte entwickeln sich zu der ärztlichen Berufsgruppe, die einen Gutteil der Bevölkerung regelmäßig betreut und damit flächendeckend wirken kann. Porphyromonas gingivalis und „Kollegen“ Der Einführungsvortrag zum weltweit größten RheumatologieKongress des Jahres 2010 (Amerikanische Rheumatologische Gesellschaft), gehalten von Gerald Weissmann, behandelte den Zusammenhang zwischen der Infektion mit Porphyromonas gingivalis (P. g.), einem der wichtigsten parodontalpathogenen Erreger, und der rheumatoiden Arthritis (rA). Querschnittsstudien belegen, dass Patienten mit schwerer chronischer Parodontitis überdurchschnittlich häufig an einer rheumatoiden Arthritis leiden. Auch die umgekehrte Assoziation trifft Trillium Internet-Bibliothek Juni 2013:1 zu. Patienten mit rA leiden häufiger an PA. Darüber hinaus zeigen Interventionsstudien eine Verbesserung der rA nach Behandlung einer gleichzeitigen bestehenden Parodontitis. Porphyromonas gingivalis ist das einzige Bakterium, von dem bekannt ist, dass es humane Zellen citrullinieren und damit zur Auslösung bzw. Beschleunigung autoimmuner Entzündungsprozesse, wie der rheumatoiden Arthritis, beitragen kann. Das Schlüsselenzym im Zusammenwirken von PA und rA ist das von Porphyromonas gingivalis produzierte Enzym PeptidylArginin-Desaminase (PAD), das die Aminosäure Arginin zu Citrullin umwandelt. Physiologisch ist die Reaktion im Rahmen der natürlichen Apoptose zu sehen, wenn Zellen am Ende ihres Lebenszyklus durch die Citrullinierung markiert und vom Immunsystem abgebaut werden. P. g. macht sich die Citrullinierung von parodontalen Epithelzellen zunutze, um sich durch die wirtsseitige Gewebsdestruktion leichter im Parodont etablieren zu können. Von dort aus gelangt P. g. direkt in die Gelenke. Man konnte in der Synovialflüssigkeit von rA-Patienten sowohl DNA von P. g. als auch Antikörper gegen P. g. nachweisen. In-vitro-Experimente bestätigen die Infiltration der Synovialzellen durch P. g. Somit kann über den Eintrag von P. g. in den Blutstrom mit anschließender Besiedelung der Synovia und gleichzeitiger Invasion der Synovialzellen ein direkter Zusammenhang zwischen PA und rA bestehen. Die P. g.-eigene PAD markiert die Oberflächenpeptide der Synovialzellen mit einem Citrullinrest und setzt sie dadurch den Angriffen des wirtseigenen Immunsystems aus. Generell kommt es zu einer Aktivierung des Immunsystems, genauer des MakrophagenMonozyten-Systems, mit den proinflammatorischen Mediatoren Interleukin 1β (IL1b) und Tumornekrosefaktor (TNF). Gleichzeitig werden ACPA (Anti-Citrullinated-Peptide-Antibodies) gebildet, was ebenfalls eine spezifische Destruktion von Synovialzellen zur Folge hat. Dadurch werden bereits bestehende Arthritiden aktiviert. Interleukin 1 beta (IL1b) und Parodontitis Die proinflammatorischen Mediatoren und Schlüsselmoleküle bilden das Bindeglied zwischen der Parodontitis und ihren Folgeerkrankungen. Kornman et al. zeigten, dass genetische Variationen der Zytokinexpression den Schweregrad der chronischen Parodontitis beeinflussen. Personen, die vermehrt IL1b auf infektiöse Reize hin produzieren, sogenannte High-Responder, leiden unter schneller fortschreitender Parodontitis mit höherem Risiko für Zahnverlust als Normoresponder mit dem IL1b Wildtyp-Gen. Hierin liegt möglicherweise ein konkreter Anhaltspunkt für die seit langem gehegte Vermutung, dass genetische Faktoren den Schweregrad einer Parodontitis beeinflussen. Daraus ergeben sich therapeutische Konsequenzen sowohl für die Parodontitis als auch für die rA. So kann zum Beispiel die Produktion des IL1b durch eine Ernährungssteuerung mit vermehrter Aufnahme von Omega-3-Fettsäuren gelenkt werden. In der Rheumatologie ist die Ernährungssteuerung bereits seit langem ein festverankerter Bestandteil der Therapie, der eine Dosisreduktion der Medikamente ermöglicht. Die bisher noch spärliche Literatur zum Thema Ernährungssteuerung in der Parodontologie zeigt deutlich die Verringerung der Aktivitätsparameter. Möglicherweise lassen sich dadurch Parodontitis-Krankheitsverläufe positiv beeinflussen bzw. bei genetisch prädisponierten Patienten eine Verringerung des Erkrankungsrisikos erzielen. Generell kann eine solche Ernährungsumstellung nur von Vorteil sein, denn sie reduziert gleichzeitig das Risiko für thromboembolische Ereignisse. Parodontitis und das kardiovaskuläre Risiko „Eine chronische Entzündung sensibilisiert die Gefäße für die pathogene Wirkung von Lipiden“ (Prof. D. Seidel, München). Diese Aussage fasst den seit langem aufgrund epidemiologischer Daten vermuteten Zusammenhang zwischen Parodontitis und dem thromboembolischen Risiko pointiert zusammen. Ein langer wissenschaftlicher Weg führte dorthin, beginnend mit Mattila et al., die bereits 1989 einen Zusammenhang zwischen Parodontitis und kardiovaskulären Erkrankungen postulierten. Weitere umfangreiche Studien erhärteten den Zusammenhang, der um andere Risikofaktoren (Rauchen) bereinigt wurde. Bekannt ist weiterhin, dass die schwere chronische Parodontitis mit einer Verdickung der Intima Media der Arteria carotis einhergeht. Interventionsstudien zeigten, dass die Parodontitis-Therapie zu einer verringerten Vasokonstriktion und zu einer verringerten Intima-Dicke der A. carotis führt. Kebschull und Jepsen (2011) wiesen eine moderat positive Assoziation zwischen parodontalen Infektionen und der Atherosklerose nach. Die wichtigsten Parodontitis-Erreger sind in Tab. 1 aufgeführt. Die Hypothese, dass es einen kausalen Zusammenhang zwischen der Parodontitis und dem Vorhandensein der in Tab. 1 aufgeführten Erreger und dem Risiko für kardiovaskuläre Ereignisse gibt, wurde durch neuere Arbeiten erhärtet. Renvert (2006), Desvarieux (2005) und weitere Autoren zeigten Zusammenhänge zwischen den parodontalen Markerbakterien und kardiovaskulären Ereignissen. Wie im Fall der rheumatoiden Arthritis werden auch bei der Atherogenese durch die Parodontitis-Erreger Monozyten und andere Mediatoren aktiviert. Als gramnegativer Erreger besitzt P. g. aufgrund seiner Oberflächenstruktur (Lipopolysaccharide, Fimbrien) eine sehr hohe Immunogenität. Zellen von P. g. dringen in den Blutkreislauf ein und können mit ihren Fimbrien an die Toll-like-Rezeptoren 2 (TLR2) der Gefäßendothelzellen andocken, wodurch diese Zellen zur Produktion von Adhäsionsmolekülen, Chemokinen und Proteinasen angeregt werden. Diese Mediatorsubstanzen locken wiederum Monozyten an, die sich an das Endothel anheften und einen weiteren Rezeptor, den CC-Motiv-Chemokinrezeptor 5 (CCR5), aktivieren. Der CCR5Rezeptor ermöglicht es den Monozyten, die Endothelzellen zu passieren. Die Monozyten wandern in die Gefäßintima ein, gefolgt von P. g.-Zellen, die sich intrazellulär in den Endothelzellen vermehren. Daraus folgt wieder eine Citrullinierung von Oberflächenproteinen und dann letztendlich die Apoptose von Endothelzellen. Die nun gewebsständigen Monozyten wandeln sich in ebenfalls gewebsständige Makrophagen um. Als solche nehmen sie in der Intima befindliches oxidiertes Low-Density Lipoprotein (LDL) auf und entwickeln sich zu Schaumzellen. Der durch die dauernde bakterielle Belastung und die chronische Entzündung erhöhte oxidative Stress beschleunigt die Oxidation von LDL, damit die Schaumzellbildung und deren Apoptose, was insgesamt zu einer beschleunigten Bildung von fatty streaks führt und in das Endstadium Atherom mündet. Parodontale Infektionen stellen daher einen unabhängigen Risikofaktor für thromboembolische Ereignisse dar. Insbesondere der Erreger Porphyromonas gingivalis verfügt über die Fähigkeit zur Invasion von Gefäßendothelzellen. Unabhängig von einer direkten Beeinflussung der Gefäße führt die chronische Entzündungsreaktion (silent inflammation) zu erhöhten Spiegeln von proinflammatorischen Immunmediatoren (IL1b, TNF) und damit zu Vasokonstriktion und Atherogenese. Trillium Internet-Bibliothek Juni 2013:2 Keim Besonderheiten Aggregatibacter actinomycetemcomitans Gramnegative Stäbchen, (fakultativ) anaerob Porphyromonas gingivalis Gramneg. Stäbchen, anaerob Prevotella intermedia Gramneg., anaerob Tannerella forsythia Gramneg., anaerob Treponema denticola Gramneg., anaerob, Spirochät Tab. 1 Parodontitis und Diabetes Diabetiker haben ein dreifach erhöhtes Risiko, an einer Parodontitis zu erkranken. Die parodontale Erkrankung bei Diabetikern verläuft schneller und mit schlechterer Therapieantwort. Die Parodontitis erhöht aufgrund systemisch erhöhter Mediatorenspiegel die Insulinresistenz und kann daher einen Diabetes auslösen bzw. einen bestehenden Diabetes verschlechtern und dessen Einstellung erschweren. Diabetiker mit schwerer Parodontitis tragen ein im Gegensatz zu solchen mit leichter Parodontitis 2,3fach erhöhtes Risiko, an einer ischämischen Herzkrankheit zu sterben und ein 8,5fach erhöhtes Risiko für eine diabetische Nephropathie. Umgekehrt kann eine Parodontitis-Behandlung den Blutzuckerspiegel bei Diabetikern senken und die Einstellung von Typ-2–Diabetikern verbessern. Wir kennen nun bis auf die molekulare Ebene herab den Zusammenhang zwischen beiden Erkrankungen. Dieser wird vor allem durch die Endprodukte der fortgeschrittenen Glykierung (Advanced Glycation End Products =AGE) hergestellt. Diese treten bei dauerhaft erhöhten Blutzuckerspiegeln auf. Es handelt sich dabei um nicht-enzymatische Glykosylierungen, bei denen so genannte Amadori-Produkte (Schiff’sche Basen) entstehen, das heißt, freie Glucose bindet an die Aminogruppen von Proteinen. Die dabei entstehenden AGE wiederum binden an Rezeptoren von Immunzellen (RAGE) und führen so zu einer proinflammatorischen Situation (silent inflammation). Daran beteiligt sind sogenannte „Skewed T-Cell-Compartments“ und Monozyten, die vermehrt Mediatoren produzieren. Insgesamt resultiert eine chronische vaskuläre Inflammation, die durch Endothelbiopsien nachgewiesen werden kann. Der so sich etablierende Teufelskreis beginnt mit dem dauerhaft erhöhten Blutzuckerspiegel eines Diabetikers, dem Auftreten von AGE, der Aktivierung von Monozyten und T-Zell-Linien, die wiederum zur vermehrten Ausschüttung von Mediatoren führt. Diese verstärken die Parodontitis, welche zu einem noch höheren Zytokinspiegel beiträgt. Die Zytokine tragen zu einer erhöhten Insulinresistenz der Zellen bei, wodurch wiederum der Blutzuckerspiegel erhöht wird. Damit schließt sich der Kreis. Labordiagnostik für die interdisziplinäre Parodontologie Die Diagnostik im Rahmen der Betreuung von Patienten mit Parodontitis basiert auf dem frühzeitigen Nachweis der aggressiven Markerbakterien (Mikrobiologie), dem Nachweis der Entzündungsreaktion (Immunologie) und weiterer Parameter zum Monitoring der Aktivität der chronischen Parodontitis (Vitamine, Knochenstoffwechsel, Stresslevel). Mikrobiologie: • Nachweis von anaeroben Parodontitis-Markerbakterien mittels PCR Aggregatibacter actinomycetemcomitans Porphyromonas gingivalis Tannerella forsythia Prevotella intermedia Parvimonas micra Fusobacterium nucleatum • Bakteriologische Kultur auf opportunistische Erreger • Mykologische Kultur Immunologie: • Bestimmung des Interleukin-I-Beta-Polymorphismus • Monozyten-Aktivität Knochenstoffwechsel: • Pyridinolin-Crosslinks Vitamin- und Spurenelement-Stoffwechsel • Vitamin D • Selen Stressdiagnostik • Cortisol-Morgenwert • Cortisol-Tagesprofil Analytik wichtiger Basisparameter • Glucose • TSH • Kreatinin • CRP Trillium Internet-Bibliothek Juni 2013:3