Subjektivität, geschichtliche Praxis und Naturerkenntnis Überlegungen zu einer kritischen Theorie des Subjekts Michael Städtler Philosophisches Seminar Westfälische Wilhelms-Universität Münster 1 Probleme der Subjektivität. Einleitung So wenig wie die seit dem 20. Jahrhundert formulierten Angriffe aufs Subjektprinzip einfach als obsolet abzulegen wären, 1 so wenig bedenkenlos ist die neuere Renaissance von Subjektivität zu nehmen. 2 Die sprachphilosophische These, daß die Referenz beim Subjektgebrauch von ‚ich‘ unmittelbar und daher irrtumsresistent sei, 3 arbeitet, ohne es zu wollen oder auch nur zu wissen, mit einem mystischen Selbstbewußtseinsbegriff, wie er in der platonistischen Tradition von Jakob Böhme bis Schelling vertreten worden ist: 4 Die Vorstellung einer logischen Unmittelbarkeit reproduziert nämlich in der abstrakten Gestalt grammatischer Formen die Vorstellung einer ursprünglichunvermittelten Ich-Instanz, deren konsequenter metaphysischer Ausdruck die idea, visio oder intellektuelle Anschauung war. Ob mit dem Verzicht auf die metaphysischen Gehalte auch die Probleme auszuräumen sind, darf bezweifelt werden; im Gegenteil ist in der logischen Reduktion lediglich das Bewußtsein des Widerspruchs von Unmittelbarkeit und Vermittlung im Subjekt, das den metaphysischen Erkenntnistheorien stets gegenwärtig war, erloschen. Die neueren soziologischen Ansätze wiederum, 5 die das Subjekt als Resultat von Subjektivierungspraktiken rekonstruieren wollen, lösen Subjektivität in Individualität auf: Was einmal Prinzip von Praxis und Erfahrung sein sollte, kehrt nur mehr als deren singulärer Ausdruck zurück. Eine offene Destruktion von Subjektivität hingegen könnte, ohne selbst die eigene Subjektivität vorauszusetzen, gar nicht behauptet werden, sondern müßte sich noch im Behaupten selbst durchstreichen. 6 Allerdings haben die Angriffe auf den Begriff der Subjektivität ein Ungenügen 1 So aber Gerhardt 2000, S. 11. diese Renaissance weisen hin: Grundmann u. a. 2005, S. 9. 3 Vgl. grundlegend für eine lange Debatte Shoemaker 1968, S. 555-578. Einen Überblick über diese Debatte bietet Frank 1994. An diese Debatte schließt auch die pragmatische über personal identity an (für einen Überblick vgl. Olson 2010). Hier wird Subjektivität grundsätzlich auf eine Funktion reduziert, z.B. die der Zuschreibung von Verantwortung. Dafür ist etwa temporale Persistenz einer Person gefordert, um deren psychologische oder somatische Definition die Debatte sich bemüht. Der traditionelle Subjektbegriff, um den es im vorliegenden Beitrag geht, war hingegen von einem fundamental dysfunktionalen Moment geprägt, insofern Selbstbestimmung auch der formale Maßstab der kritischen Analyse mißlingender Praxis sein konnte, gegen die das Subjekt sich als Selbstzweck behauptete. Vgl. auch Berger 2012, S. 290-9. 4 Zu dieser Rezeptionslinie vgl. Leinkauf 1998. 5 Diese Ansätze gehen u.a. auf Pierre Bourdieu zurück. Zur neueren Lage vgl. z.B. Schmidt 2012. 6 Aus diesem Problem resultieren beispielsweise die Selbstkorrekturen in den Theorieentwicklungen von Michel Foucault oder auch Judith Butler. Während in Foucault 1974, S. 412 noch vom «verschwundenen Menschen» die Rede ist, bemüht sich Foucault 1987 um eine, wenn auch gebrochene, Rückkehr zum Subjekt. Ähnlich vehement hatte Butler 1990 das natürliche Geschlecht als sprachliche Fiktion dekonstruieren wollen, wovon sie sich, nach heftiger Kritik aus der Frauenbewegung, in Butler 1993 teilweise wieder distanzierte. 2 Auf Metodo. International Studies in Phenomenology and Philosophy Vol. 1, n. 2 (2013) ISSN 2281-9177 Michael Städtler 216 zum Ausdruck gebracht, das einen Grund in der Sache hat: Die individuellen Subjekte stehen in der modernen Gesellschaft mit dem Potential ihrer Subjektivität nicht in Übereinstimmung, sondern im Widerspruch. Deshalb scheiterten auch alle Bemühungen um eine Rettung des Subjekts, die davon ausgingen, in den Tiefen des Selbst doch noch eine Unmittelbarkeit verorten zu können, von der aus ein gehaltvolles und widerspruchsfreies Subjekt konstruierbar wäre. Irgendeine ursprüngliche Unmittelbarkeit, ob im Denken oder im Empfinden, soll jedem Erfahrungsgehalt vorausliegen, ohne doch leere Form der Reflexion zu sein. 7 Geht man hingegen davon aus, daß Menschen unter gegenständlichen Bedingungen leben, handeln und denken, so steht auch die Realisierung ihrer eigenen Subjektivität – die Selbsterkenntnis des Selbstbewußtseins – im Verhältnis zu diesen Bedingungen. Ohne daß deshalb der formale Kern von Selbstbewußtsein – das Ich denke, das alle meine Vorstellungen begleiten können muß – in Kontexten aufgelöst werden müßte, ja gegenüber diesen Kontexten gar nicht erst selbst bestünde, steht doch alles, was wir darüber wissen können, in der Beziehung zu jenen gegenständlichen Bedingungen. Dasselbe gilt auch für die Weise, wie wir uns als Subjekte unseres Denkens und Handelns jeweils selbst verstehen können. Der folgende Beitrag möchte versuchen, den Begriff der Subjektivität noch einmal grundsätzlich in der Dialektik des Verhältnisses von Subjekt und Objekt zu verorten, Objektivität selbst als Moment von Subjektivität zu fassen (2). Sodann soll gezeigt werden, daß ein Subjektbegriff, der aus der Objektbeziehung von Subjekten heraus verstanden wird, geschichtliche Praxis impliziert, in der Subjekte sich selbst im Verhältnis zu ihren objektiven Bedingungen realisieren und reproduzieren und in der sie ebenso diese Bedingungen selbst reproduzieren (3). Schließlich soll die wissenschaftliche Naturerkenntnis als ein maßgebliches Element dieser Subjekt-Objekt-Beziehung, als seine dem theoretischen Entwicklungsniveau des modernen Subjekts adäquate Form betrachtet werden, an der die zuvor entwickelten Probleme modellhaft zu zeigen sind (4). Intendiert ist damit die Skizze eines kritischen Subjektbegriffs, der sowohl gegenüber idealistischen als auch gegenüber kontextualistischen Subjektkonzeptionen ein Naturmoment betont, ohne doch einen Naturalismus zu vertreten. 8 2 Subjekt und Objekt Mit dem Begriff von Subjektivität steht zugleich der von Objektivität in Frage und mit diesem seine ontologische Basis: Natur. Noch der logisch reduzierte Gebrauch von ‚Objektivität‘ als Geltungsmodus von Urteilsverbindungen setzt – wie schon der Kantische als ‚Auffassung von Mannigfaltigem in der Weise, daß es für mich zum Gegenstand wird‘ 9 – ein basal ontologisches Moment von Objektivität voraus, das besagt, daß einer Vorstellung etwas korrespondiert, das nicht vollständig durch diese Vorstellung selbst hervorgebracht wird: Gegenständliches; noch die Unterscheidung 7 Zu dieser vor allem von Dieter Henrich und seinen Schülern diskutierten Problematik vgl. Städtler 2011, S. 398 mit weiteren Nachweisen in Fußnote 347. 8 Auch ein sogenannter ‚weicher Naturalismus‘, wie ihn Habermas 2005 vertreten hat, indem er den Determinismus ablehnt, aber ein sozial-evolutionäres Konzept der Subjektivität vorschlägt, ist abzulehnen, denn das Verhältnis von formaler Subjektivität und den empirischen Subjekten mit ihren individuellen und kulturellen Anpassungsleistungen ist nicht zugunsten einer organischen Einheit beider aufzulösen, weil die Form des Selbstbewußtseins stets relativ selbständig gegenüber dessen empirischen Gestalten bleibt, solange diese Gestalten überhaupt Gegenstände bewußter Erfahrung bleiben können. Das Programm der Detranszendentalisierung des Selbstbewußtseins eliminiert das Vermögen bestimmter Unterscheidung und mit ihm das der Kritik. Zur Sache vgl. auch Zunke 2008. 9 Vgl. Kant 1990, B 137-8. Metodo. International Studies in Phenomenology and Philosophy Vol. 1, n. 2 (2013) Subjektivität, geschichtliche Praxis und Naturerkenntnis 217 einer logischen und einer ontologischen Ebene des Begrifflichen setzt mit dem Unterschied in der Identität des Selbstbewußtseins etwas voraus, das zum Denken allo genos ist. In dieser grundsätzlichen Bedeutung des Ausdrucks ‚Objektivität‘ wird zunächst nur angezeigt, daß von etwas die Rede ist und daß der Maßstab der Beurteilung einer Rede auch in ihrem wie immer beschaffenen Gegenstand gründet. Er wird zwar erst im logischen Zusammenhang zum Maßstab, kann aber nicht auf diesen logischen Zusammenhang reduziert werden. Objekte müssen deshalb nicht facta bruta sein; um die Einsicht, daß sie es zumeist nicht sind, sondern daß sie ihre bestimmte Objektivität dem Verhältnis verdanken, in dem Menschen sich zu ihnen verhalten, ist es in dem vorliegenden Beitrag gerade zu tun. Das wirkt wiederum in die Subjektivität zurück, denn Subjekte können nur durch ihre eigene Reflexionstätigkeit Subjekte sein. Sie entfalten ihre Subjektivität, dasjenige, was sie zu Subjekten macht, indem sie – vermittelt über Anderes – sich selbst zum Objekt werden, ohne aber ihren Subjektstatus dabei aufzugeben. Genau genommen können sie diesen Status erst in Wirklichkeit einnehmen, indem sie ihn entfalten. Dieses Zusammenfallen von Voraussetzung und Resultat ist für das Subjekt wesentlich, wovon noch die Rede sein wird. Bekannt ist spätestens seit Thomas von Aquins De Veritate, Quaestio 10, im Keim seit Aristoteles’ De Anima, Buch III, Kapitel 5 oder bereits seit Platons Charmides, daß Subjekte sich selbst nur zum Objekt werden können, wenn sie auf Anderes, auf wie auch immer gegebene Objekte, reflektieren, denn die reine Selbstreflexion wäre unterschiedslose Identität und damit bestimmungslos, so gut wie nichts. Ebenso ist die Reflexion auf andere Subjekte vorausgesetzt, insofern die Form selbstbewußter Subjektivität ein erkenntnistheoretisches Prinzip ist: Die Frage nach der subjektiven Voraussetzung von Wissen meint bei den genannten Autoren keine unmittelbaren Bewußtseinsinhalte, sondern setzt immer schon ein gewisses Niveau von Vermittlung zur Allgemeinheit voraus und verweist damit auf den kollektiven Charakter wissenschaftlicher Erkenntnis. Diese Reflexionen auf Anderes und Andere gelingen aber – obwohl sie der bestimmten Reflexion vorausgesetzt sind – umgekehrt ebenso wenig von einem subjektlosen Sein oder auch Bewußtsein aus, denn auch so wäre dieses unbestimmt und könnte nicht einmal sich selbst in qualifizierter Weise von seinem Gegenstand unterscheiden. Wie sollte es dann auf diesen reflektieren, um zur Bestimmtheit zu gelangen? Daraus läßt sich schließen, daß die Konkretisierung von Subjektivität entweder unmöglich ist oder daß die Begriffe vom Subjekt und vom Objekt nur in einem dialektischen Verhältnis von Subjekt und Objekt zu entwickeln sind: Aus der erkenntnistheoretischen Reflexion auf die in der gelungenen Erkenntnis gegebene Subjekt-Objekt-Vermittlung lassen sich beide Begriffe als Bedingungen der Möglichkeit von Erkenntnis erschließen, nicht aber als unabhängige Entitäten setzen. Sie sind Reflexionsbegriffe, deren Geltungsstatus insofern negativ ist, als diese Begriffe nur in Relation auf die Reflexion, aus der sie gewonnen wurden, einen Sinn haben. 10 Über die reale Genese, das faktische Entstehen der objektiven Realität, der sachlichen Korrelate, dieser Begriffe, kann Philosophie in direkter Intention nichts sagen, weil 10 Damit ist freilich etwas fundamental Anderes gemeint als eine Funktion zur «Sortierung unserer Vorstellungen» (Hubig und Luckner 2008, S. 64), nämlich Begriffe, die zwar nur in Beziehung auf die Reflexion, aus der sie gewonnen wurden, einen Sinn haben, die aber durch diese Reflexion durchaus mit ihrem fundamentum in re korrespondieren: In diesem Sinn sind schon die Aristotelischen Begriffe von Form und Materie Reflexionsbegriffe, denn sie bestimmen ihre Gegenstände nur im Verhältnis zu dem Erfahrungsgegenstand, in dem Form und Materie als Einheit erscheinen. Unabhängig davon sind sie keine Gegenstände möglicher Erfahrung, aber ihre Begriffe bezeichnen dennoch nicht Nichts und sind auch keine bloßen Ordnungsfunktionen. Im Gegenteil läßt sich mit ihnen praktisch in die Welterfassung und – gestaltung eingreifen. Metodo. International Studies in Phenomenology and Philosophy Vol. 1, n. 2 (2013) 218 Michael Städtler Philosophen, wie andere Menschen auch, zwar unmittelbare Empfindungen haben mögen, aber deren Korrelate nicht extern, ohne die eigene Subjektivität anzusetzen, analysieren können. So bleiben die Begriffe vom Subjekt und vom Objekt negative Begriffe, die philosophisches Denken als Bedingungen des Denkens und des Handelns erschließt. Um es deutlich zu sagen: Der Widerspruch im Begriff des Subjekts, daß dieses sich selbst schon vorausgesetzt ist, daß es zugleich Voraussetzung und Resultat seiner eigenen Tätigkeit, ursprünglich und synthetisch, ist, ist vom Subjektbegriff nicht zu trennen. In jedem Versuch, die eigene Unmittelbarkeit zu denken, findet das Denken sich selbst als Vermittlung schon vor. Sinnvoll denkbar ist dieser Widerspruch als negativer Begriff der Reflexion des Denkens auf die eigene Tätigkeit. Dieser Begriff erklärt theoretisch erkennendes Denken, aber er zeigt nicht positiv oder unvermittelt dessen Genese oder Ursprung an. Indem das Subjekt im Verhältnis zu Objekten seiner selbst bewußt wird, bringt es auch Objektivität hervor: Erscheinungen werden Objekte der Erkenntnis durch die konstituierende Beziehung auf sinnliche und intelligible Subjekte. Diese Subjekte sind aber nicht bloß Urheber von Objektivität, sondern sie gehören durch ihre objektive Praxis auch dieser Objektivität an: 11 Subjektive Zwecke werden durch Handeln zu objektiven Zwecken. Das Handeln steht aber selbst schon unter Bedingungen der Objektivität, weil es die gegenständliche Realisierung von Zwecken unter gegenständlichen Bedingungen ist. Subjektivität ist demnach nirgends, wenn nicht in individuellen Subjekten, in lebendigen Menschen. Dieser Begriff von Praxis umfaßt dabei jede bewußt auf Gegenstände oder auf andere Menschen bezogene, mithin alle durch Zwecke bestimmte menschliche Aktivität, auch wissenschaftliche Arbeit, insofern sie arbeitsteilig oder am Naturpräparat stattfindet. Sowenig menschliches Handeln im Besonderen ohne allgemeine Begriffe zu begreifen wäre, 12 sowenig kann doch auch die theoretische Selbstverständigung der Menschen über Selbstbewußtsein und Selbstbestimmung von den gegenständlichen Bedingungen absehen, unter denen gegenständliche Wesen allein denken und handeln können und ohne die auch kein Gedanke ans Subjekt wäre. 13 Das hat die erkenntnistheoretische Diskussion ums Subjekt fast durchgängig ignoriert. Sie ist dennoch nicht zu dem reinen Selbstbewußtsein – oder Selbstsein oder Bekanntsein mit sich – gekommen, das sie intendierte, weil ihre Subjekte sich letztlich in ganz materiellem Sinn selbst im Wege standen: Noch jede philosophisch ernste Theorie von Subjektivität muß letztlich eingestehen, daß kein Mensch ein Gott sei und daß den Menschen deshalb die zur Reinheit nötige intellektuelle Anschauung mangelt. 14 Wird dies aber konsequent genommen, so ist keine Theorie vom Subjekt möglich, ohne die geschichtlichen Existenzbedingungen 11 Einen so verstandenen kritischen Begriff von Subjektivität haben im Blick: Demirović u. a. 2010. Cassirer 1990, S. 111-2: «Alle menschlichen Tätigkeiten gründen in besonderen historischen und gesellschaftlichen Bedingungen. Aber wir könnten diese besonderen Bedingungen nicht verstehen, wenn wir nicht imstande wären, die allgemeinen Strukturprinzipien zu begreifen, die diesen Tätigkeiten zugrunde liegen.» 13 Vgl. Krieger 2005, S. 109: Selbstbewußtsein sei als Verknüpfung von Theorie und Praxis zu verstehen und deren Ziel als die «Möglichkeit des theoretischen Selbstverständnisses wissenschaftlicher Praxis». 14 Weder Fichtes Ich noch der Reflexion der Hegelschen Logik gelingt es, das Andere des Subjekts aus diesem zu generieren. Hegel bedarf des Begriffs einer äußeren wie einer äußerlichen Reflexion (vgl. Hegel 1978, S. 252-5) und Fichte bemerkt spätestens im praktischen Kontext der wissenschaftstheoretischen Grundlegung des Naturrechts, daß ein Subjekt, das seinen Gegenstand allein aus sich selbst setzte, von sich selbst nicht unterschieden wäre und daher bestimmungslos bleiben müßte (vgl. Fichte 1971, § 1 III). – Die idealistische Kritik an Kants Subjektbegriff unterstellt seit Reinhold und Jacobi, daß es Kant nicht gelungen sei, die Verbindung vom Subjekt zum Objekt zu deduzieren (vgl. Thein 2013, I.2); geht man davon aus, daß dies gar nicht Kants Absicht war, sondern daß er Subjektivität als Reflexionsbegriff faßt, aus dem zwar erklärt aber nicht deduziert werden kann, stellt sich dieses Problem gar nicht. 12 Vgl. Metodo. International Studies in Phenomenology and Philosophy Vol. 1, n. 2 (2013) Subjektivität, geschichtliche Praxis und Naturerkenntnis 219 der Subjekte darin zu reflektieren. Eine Kritik sowohl an den Subjektkonzepten des deutschen Idealismus und seiner Tradition als auch an der Auflösung von Subjektivität ist deshalb ohne Reflexion auf die Praxis, in der Subjekte agieren und aus der heraus sie sich allein verstehen müssen, nicht sinnvoll möglich. Auch eine kritische Theorie von Subjektivität kann sicher keinen wie immer positiven Begriff des Subjekts mehr gewinnen. Im Gegenteil ist schon an den klassischen Subjektivitätstheorien zu zeigen, daß ihr Begriff vom Subjekt immer schon ein negativer war: nicht ein dunkles Selbst, aus dem Individualität emergiert, sondern Bedingung der Möglichkeit von Wissenschaft und von sittlicher Praxis, deren beider Bewußtsein sich in notwendig allgemeingültigen Urteilen ausdrückt. 15 Vor allem der Versuch, diese negativ zu erschließende Grundlage des Wissens um eines vermeintlich nur positiv darstellbaren Systems des Wissens willen positiv zur Darstellung zu bringen, führt auf die Fichte und Schelling her bekannten Widersprüche und Aporien des Reflexionsbegriffs, entweder auf einen unendlichen Regreß oder einen Zirkel hinauszulaufen, sich selbst vorauszusetzen oder das Absolute in einer intellektuellen Anschauung präsent zu haben. Diese Widersprüche und Aporien der Subjekttheorie sind aber nicht einfach als Fehler im positiven Selbstverständnis von Subjektivität aufzufassen, sondern können als Ausdruck objektiver Widersprüche im Verhältnis der lebendigen Subjekte zur Natur verstanden werden. Das bedeutet aber, daß Subjekttheorie kein immanent geistiges, nicht einmal ein rein erkenntnistheoretisches Unternehmen sei, das gegen alles Äußerliche versichert ist. Vielmehr ist im Gang der Untersuchung nachzuweisen, daß das erkennende Bewußtsein und Selbstbewußtsein der Menschen in einem engen Wechselzusammenhang mit ihrer praktischen Selbstbestimmung und deren technischen wie sittlichen Objektivierungen steht. Bei der Betrachtung dieses Wechselzusammenhangs ist vom Selbstbewußtsein auszugehen, denn wenn die Menschen nicht je sie selbst wären oder wenn sie davon gar nichts wüßten, so könnten sie keine Zwecke setzen, weil sie nicht wüßten, was ein Zweck im Unterschied zur Naturkausalität überhaupt ist. – Insofern umgekehrt die Selbstunterscheidung des Subjekts von der Naturkausalität ein spezifisches Vermögen zur Praxis erkennen läßt, geht mit dem Selbstbewußtsein die Möglichkeit vernünftiger Selbstbestimmung einher, und insofern vernünftige Selbstbestimmung nicht individuell wirklich werden kann, sondern theoretische Erkenntnisse und zweckvolle Bearbeitungen der Natur voraussetzt, die beide auf entwickeltem Niveau nur arbeitsteilig und kooperativ möglich sind, verweist sie auf ein sowohl in geschichtlicher Erfahrung als auch in der Form des Selbstbewußtseins gründendes Verhältnis des Subjekts zu anderen Subjekten, das im Kern ein sittliches Verhältnis ist und nur als moralisches, der praktischen Vernunft gemäßes, adäquat realisiert werden könnte. – Vielleicht ist ein heimlicher Widerwille gegen diese Verpflichtungskraft von Selbstbestimmung der Grund dafür, daß der Zweckbegriff in der Sozialforschung bis in ihre 15 Zu denken ist hier, neben den erwähnten antiken und mittelalterlichen Vorläufern, vor allem an die Subjektphilosophie der klassischen Neuzeit bei Kant und im deutschen Idealismus. Bei allen Unterschieden in der jeweiligen Durchführung des Problems bleibt doch die von Kant paradigmatisch formulierte Frage nach der subjektiven Bedingung der Möglichkeit notwendiger und allgemeiner Geltung wissenschaftlicher Urteile der Ausgangspunkt für die Theorien der Subjektivität. Die Unterschiede – bis hin zu der, von Kant noch entschieden zurückgewiesenen, intellektuellen Anschauung bei Schelling und Fichte (vgl. Thein 2013, I. 2 § 4) – bezeugen gerade das Ringen mit dem gemeinsamen Problem. Schon bei Descartes, der als Prototyp eines ‚essentialistischen‘ Subjektbegriffs gilt, findet sich das Moment der erkenntnistheoretischen Reflexion: Das cogito ist Resultat einer abstrahierenden Reflexion, die von der Frage nach dem Geltungsgrund von Wissen ausgehend die Instanz ermittelt, von der aus Geltungsansprüche überhaupt nur befragt werden können. Metodo. International Studies in Phenomenology and Philosophy Vol. 1, n. 2 (2013) Michael Städtler 220 sozialphilosophische Grundlegung hinein heute weitgehend zerstört ist. Von Zwecken ist dort, wo vom Handeln gesprochen wird, kaum mehr die Rede, allenfalls noch von dessen ‚Struktur‘ oder ‚Funktion‘. 16 Allerdings kann vom Selbstbewußtsein als Ausgangspunkt nicht auf Selbsterkenntnis und Selbstbestimmung geschlossen werden, denn jener Ausgangspunkt ist formal und bietet selbst keine Kriterien dafür, wie er materiell zu füllen wäre: Das ‚Ich denke, das alle meine Vorstellungen begleiten können muß‘ ist die formale Einheit des Selbstbewußtseins, aus der selbst keine bestimmten Inhalte folgen; es ist die subjektive Form, unter der wir Inhalte als objektiv denken, aber es selbst ist kein bestimmter Inhalt. Deswegen führt die erkenntnistheoretische Reflexion nicht zu einer inhaltlich bestimmten Selbsterkenntnis 17 und der einzige Inhalt der rationalen Psychologie ist ‚Ich denke‘. 18 In einem darüber hinaus historisch oder persönlich konnotierten Subjektbegriff ließe sich wissenschaftliche Objektivität auch gar nicht begründen. Vielmehr sollte Subjektivität dasjenige bezeichnen, was alle historisch oder persönlich unterschiedenen Subjekte als Subjekte miteinander verbindet. Im folgenden soll gezeigt werden, daß es aber sehr wohl möglich ist, von der geschichtlichen Erfahrung der Realität mißglückter Selbstbestimmung, auch von den heteronom bestimmten Menschen und ihren Lebensbedingungen ausgehend auf die Einheit ihres Selbstbewußtseins zurückzugehen und auf diesem Weg reflektierend Bestimmungen zum Zusammenhang von Selbstbestimmung und Selbstbewußtsein zu ermitteln. Die Subjekte dieser Reflexion sind Einzelne, die sich als wesentlich auf gesellschaftliche und geschichtliche Praxis bezogene verstehen. Die heteronomen Bedingungen dieser Praxis erfahren sie, sofern sie an ihr scheitern, als Gegensatz zu der Allgemeinheit der transzendentalen Einheit der Apperzeption, die sie als denkend Erkennende unterstellen, sobald sie den Bereich ihrer Privatvorstellungen verlassen. So ist es das Verhältnis zu Anderen in der geschichtlichen Praxis der Menschen, das einerseits auf Allgemeinheit baut, andererseits aber diese auch in Frage stellen kann. 3 Geschichtliche Praxis Geschichtliche Erfahrung liegt im Subjektprinzip, insofern es das Prinzip der Neuzeit ist: Deren gesellschaftliche Form ist die Verwiesenheit von Einzelnen aufeinander, und zwar aller Einzelnen. Auch wenn die Menschen in der Gesellschaft, die sie bilden, heteronom fungieren und sich von – freilich selbstverfertigten – Sachzwängen und anderen Formen gesellschaftlicher Herrschaft dirigieren lassen, – auch wenn sie noch nicht Zweck der durch sie selbst bewegten Entwicklungen sind, sind diese nur möglich in einer Gesellschaft wenigstens formell freier und das heißt zwecksetzender Subjekte. Eine Überwindung des Subjektprinzips ist deshalb weder gesellschaftlich in Sicht, noch wäre sie die Aufgabe einer sich kritisch verstehenden Philosophie oder Gesellschaftstheorie. Im Gegenteil: Deren Aufgabe bleibt die radikale und konsequente Entfaltung der geltenden Prinzipien, bis deren eigene Stringenz sich gegen ihre defizitäre Wirklichkeit wendet; mit Subjektivität ernst zu machen, Autonomie, ist der einzige denkbare Weg, der aus den subjektwidrigen Bedingungen hinausführt, weil er in den realen Verhältnissen ansetzt und deren progressive Momente gegen ihre Beschränkungen forciert. Gegenüber ‚reinen‘ Subjektivitätskonzepten in der Tradition des Idealismus ist 16 So schon bei Luhmann 1968. Für die spätere, insbesondere gegen den philosophischen Intellektualismus gerichtete soziologische Kritik am Zweckbegriff vgl. Reckwitz 2003. 17 Vgl. Kant 1990, B 155. 18 Vgl. Kant 1990, B 401. Metodo. International Studies in Phenomenology and Philosophy Vol. 1, n. 2 (2013) Subjektivität, geschichtliche Praxis und Naturerkenntnis 221 hervorzuheben, daß Subjektivität, wie jede substantielle Bestimmung, erscheinen muß; sie muß sich objektivieren. In den empirischen, lebendigen Subjekten hat Subjektivität immer ein objektives Moment in deren notwendigen Beziehungen auf ihre objektiven Lebensbedingungen. Empirische Subjekte verhalten sich in ihrer Reflexion auf reine Subjektivität zwangsläufig auch zu jenen Bedingungen, die sie in der theoretischen Selbstbestimmung ausschließen. Der Begriff von Subjektivität ist einerseits durch Abstraktion zu konzipieren, andererseits ist er dadurch schon in ein – privatives – Verhältnis zur Objektivität gesetzt; vielleicht läßt sich die Betrachtung des Selbstbewußtseins durch ‚semantische Analyse‘ von der Frage nach seiner objektiven Realität in empirischen Wesen abtrennen – aber diese Betrachtung hat dann eben keine Objektivität mehr, worüber immer sie gehen mag. Der Gegensatz von Subjekt und Objekt ist nur in der Objektivierung, Instantiierung, von Subjektivität in empirischen Subjekten zu vermitteln. Das bedeutet nicht, daß nun doch eine reine Subjektivität vorausgesetzt wäre, die sich erst instantiierte; im Gegenteil meint Hegels Diktum, das Wesen müsse erscheinen, 19 daß es überhaupt nur im Verhältnis zu seiner Erscheinung und diese nur im Verhältnis zum Wesen zu denken sei. Ein reflektierendes Subjekt kann Subjektivität als Substanz seines Subjekt-Seins erschließen, ohne diese deshalb als etwas ihm Transzendentes oder Vorgängiges vorstellen zu müssen. Das meint bereits Kant mit dem Ausdruck ‚transzendental‘. 20 Entscheidend ist, daß das Subjekt Subjektivität als intelligiblen Grund seines Selbstbewußtseins und seiner Selbstbestimmung erkennt und zugleich die Erfahrung machen kann, daß ihm als empirischem Subjekt dies nur unter objektiven Bedingungen möglich ist, die unter der Einheit des Selbstbewußtseins nicht widerspruchsfrei zu denken sind, sofern sie unvernünftig sind. Die Vermittlung von Subjekt und Objekt ist dann nur mehr möglich, wenn die empirischen Subjekte sich in ihrer Selbstbestimmung, der Begründung ihres Selbstbewußtseins und ihrer Selbständigkeit, kritisch zur Objektivität verhalten. Sie müssen die objektiven Bedingungen auf deren Verträglichkeit mit dem Subjektivitätsprinzip überprüfen. Den Versuch, diese Aufgabe grundsätzlich zu reflektieren, ohne das Verhältnis von Subjekt und Objekt positiv nach einer Seite hin oder auch in einem wie immer materialistisch-dialektischen Relationismus aufzulösen, hat Adorno in seinem Aufsatz Zu Subjekt und Objekt unternommen, dessen erkenntnistheoretische Bedeutung fast regelmäßig ignoriert wurde. 21 Zwar steht Adorno mit seiner These vom ‚Vorrang des Objekts‘ in den idealismuskritischen Traditionen, wie sie einerseits von Feuerbach und Marx, andererseits von Nietzsche begründet wurden und in Benjamin und Lukács bedeutende Vertreter hatten. Allerdings geht es Adorno viel stärker als diesen Traditionen darum, die Philosophie des deutschen Idealismus als notwendiges Scheitern des philosophischen Denkens auf seinem höchsten Niveau zu verstehen und es gerade in den Widersprüchen, die es produziert, als adäquaten Ausdruck des modernen Selbstbewußtseins, des Subjekts der bürgerlichen Gesellschaft zu erfassen. 22 Entscheidend ist es zu bemerken, daß Adorno mit dem ‚Vorrang des Objekts‘ 23 keinen naiven Materialismus oder Empirismus vertritt, in dem sich ein Subjekt und ein Objekt 19 Vgl. Hegel 1978, S. 246-9. Kant 1990, B 397-8. 21 Vgl. Adorno 1977. 22 Den Traditionslinien kann hier nicht weiter nachgegangen werden. Vgl. hierzu demnächst Thein 2013. Interessant wäre ebenso die Bedeutung von Adornos Husserl-Kritik für seinen Subjektbegriff. Husserl war für Adorno gerade deshalb interessant, weil er keine abstrakte Idealismuskritik formulierte, sondern versucht, «den Idealismus der Epoche von dessen Voraussetzungen her aus den Angeln zu heben, ohne die Voraussetzungen anzutasten.» Adorno 1990, S. 193. Auch dies kann hier nur angedeutet werden. 23 Vgl. Adorno 1977, S. 747 sowie: Adorno 1966, S. 184-207. 20 Vgl. Metodo. International Studies in Phenomenology and Philosophy Vol. 1, n. 2 (2013) Michael Städtler 222 substantiiert gegenüberstünden und womöglich das Bewußtsein seine Bestimmungen vom Sein empfinge. 24 Im Gegenteil geht es Adorno darum zu zeigen, daß beide – Subjekt wie Objekt – Reflexionsbegriffe sind: Begriffe, die aus der Reflexion auf empirische und intelligible Erkenntnisprozesse nur zu gewinnen sind und die deshalb immer in Beziehung auf diese Prozesse und auf ihr Verhältnis in diesen angewiesen sind. Das drückt schon der mit Bedacht auffällige Verzicht auf den grammatischen Artikel aus: Nicht von ‚einem‘ oder gar von ‚dem‘ Subjekt beziehungsweise Objekt ist die Rede, sondern von Subjekt oder Objekt. – Adorno folgt zunächst der Tradition der intentio obliqua: Objekt wie Subjekt sind eben nicht im direkten Zugriff – realistisch, materialistisch oder auch naturalistisch, wie heute etwas naturvergessen oft formuliert wird – dingfest zu machen. Allerdings zieht Adorno die intentio obliqua erneut ein: Gewiß ist allein das Denken, und wenn dieses Gegenstand von Selbstgewißheit ist, muß es bestimmtes Denken – Denken von etwas – sein, weil Denken von nichts gegenstandslos, leer, selbst undenkbar und kein Denken wäre. Daraus gewinnt Adorno aber nicht eine Ontologie mentaler Zustände, sondern die Rückbindung des Denkens an das, was dem radikalen Zweifel am Grunde der intentio obliqua scheinbar erlegen war: Denken subsistiert offenbar nicht aus sich. Deshalb kann den Vorstellungen keine autarke ontologische Qualität zukommen, sondern sie verweisen das Denken zurück an ein von ihm relativ Unabhängiges, von dem es seine Inhalte bezieht. Dieses ist relativ unabhängig, weil es zwar getrennt vom Subjekt nicht bestimmt zu denken ist, aber doch auch seinen Existenzgrund nicht im Denken hat. Denken selbst dagegen hat seinen Existenzgrund in anderem, bliebe ohne Objektbeziehung reine Form, die ohne Inhalt Form von Nichts und damit gegenstandslos, ohne Dasein wäre: Von Objektivität kann Subjekt potentiell, wenngleich nicht aktuell weggedacht werden; [...] Aus Subjekt, gleichgültig, wie es bestimmt werde, läßt ein Seiendes nicht sich eskamotieren. Ist Subjekt nicht etwas – und ‚etwas‘ bezeichnet ein irreduzibel objektives Moment –, so ist es gar nichts. 25 Dieses Verhältnis von Subjekt und Objekt wiederholt sich in empirischen Subjekten, weil sie zugleich gegenständlich existieren, in vielfältiger Weise. Sie sind auf die Bearbeitung von Natur angewiesen, aus der sie existieren und gegen die sie als Einzelne keine kulturelle Selbständigkeit gewinnen können. Ihre Reflexion auf Subjektivität wie auf Objektivität schließt daher sowohl wissenschaftliche und technische als auch soziale, näher moralische, Praxis ein. Aber gerade mit der wissenschaftlichen und technischen Erschließung der Naturzusammenhänge in der Neuzeit und Moderne gehen Zwecksetzungen einher, durch die die Naturerscheinungen in einen widersprüchlichen Zusammenhang zweiter Natur gebracht werden, der von den empirischen Subjekten nicht nach allgemeinen vernünftigen Regeln denkbar ist: Die gesellschaftlichen und politischen Zwecke, denen die wissenschaftliche Naturerklärung und die aus ihr abgeleitete technische Anwendung unterliegen, sind mit der vernünftigen Form wissenschaftlicher Allgemeinheit nicht kompatibel. Solange Gott die Einheit wissenschaftlicher Allgemeinheit verbürgte, war der Zweck von Naturerkenntnis Gotteserkenntnis; jene diente den Menschen, um sich dieser zu nähern und Gott selbst ließ die Menschen am Wissen partizipieren, soweit es ihnen gemäß war. Sobald aber Gott nur mehr als Produkt der Einbildungskraft gilt, zerfällt die mit ihm vorgestellte objektive Allgemeinheit in subjektive Partikularität, deren mögliche Allgemeinheit nun erst epistemologisch aus der Subjektivität selbst neu gewonnen werden muß. Naturerkenntnis und Erkennt24 Diesen Vorwurf erhebt explizit Düsing 1997, S. 41-4, hier S. 44. 1977, S. 747. 25 Adorno Metodo. International Studies in Phenomenology and Philosophy Vol. 1, n. 2 (2013) Subjektivität, geschichtliche Praxis und Naturerkenntnis 223 nis der Bedingung wissenschaftlicher Allgemeinheit sind dann zwei gegeneinander selbständige Erkenntniszwecke. Diese Selbständigkeit erscheint in der technischen Reproduzierbarkeit von Naturerkenntnis, die keiner philosophischen Reflexion bedarf, wogegen zuvor jede naturphilosophische Erkenntnis grundsätzlich aus der Reflexion aufs Absolute begründet war. Die neue Reflexion aufs Allgemeine ist nur als Reflexion auf menschlich zu begründende Allgemeinheit möglich. Dem, was für alle Menschen gleichermaßen gilt, scheint aber in der Erfahrung nichts zu korrespondieren: In der historischen Situation der Neuzeit, in der die menschliche Gestaltung der Welt selbst zum bewußten Komplement wissenschaftlicher Allgemeinheit wird, in der also empirische Reproduktion in der Einbildung und formale Reproduzibilität in der transzendentalen Einbildungskraft 26 in das Verhältnis möglicher Adäquation treten, werden beide dadurch getrennt, daß die praktische Weltgestaltung nach konkurrierenden partikularen Zwecken erfolgt, die mit dem Zweck wissenschaftlicher Allgemeinheit nicht widerspruchsfrei zu vereinen sind. Das heißt, die Menschen werden zwar Subjekte ihres Erkennens und Handelns, aber dieses erkennen und Handeln folgt Zwecken, die grundsätzlich nicht mit selbstbestimmter Subjektivität zu vereinbaren sind. Es sind Zwecke, die in gesellschaftlich vermittelten Herrschaftsstrukturen moderner kapitalistischer Gesellschaften gründen, welche die individuelle Selbsterhaltung unter den Vorbehalt ihrer sozialen Zweckmäßigkeit stellen. 27 Die Universalität der Erkenntnis, in der einer das, was er erkannt hat, für alle erkannt hat, 28 findet sich in der Erfahrungswelt, in der die verwertbaren Resultate von Erkenntnis und Naturgestaltung privat, das heißt unter wechselseitigem Ausschluß aller anderen, angeeignet und genutzt werden, nicht wieder. Die wissenschaftliche Allgemeinheit wird unter diesen Bedingungen zur bloßen Form, die im Denken der Menschen keine Wirklichkeit hat und der die Erfahrung sich nicht widerspruchsfrei zuordnen läßt. Dies gilt letztlich für alle Wissenschaften, die notwendige und allgemeingültige Urteile formulieren. In der modernen Gesellschaft sind fast alle Menschen von der theoretischen Einsicht in solche Sätze ausgeschlossen, weil sie die nötige Bildung nicht haben und nicht haben können. Die Objektivität der Wissenschaft, die die Menschen nicht begreifen, tritt ihnen aber in Gestalt von Technik oder auch in Gestalt des immer stärker sich als Expertokratie gerierenden Wissenschaftsbetriebs gegenüber. Allgemeingültigkeit wird hier als partikularer ‚Besitz‘ von Wahrheit erfahren. Diese Erfahrung hat insofern objektive Realität, als Wahrheit und Erkenntnis, zum Beispiel unter der Bedingung des Patentrechts oder des faktischen Ausschlusses sogenannter bildungsferner Schichten vom Wissen, wirklich partikular angeeignet werden. Die allgemeine Geltung wissenschaftlicher Sätze ist dann bloß formal, sie hat keine Wirklichkeit im allgemeinen Bewußtsein. 29 Die Differenzierung, Entfremdung, des naiven oder kontemplativen Verhältnisses zur Natur, die auf dem Weg der Menschen durch die Moderne hervorging, ist aber auch nicht mehr einzuziehen; ein Bewußtsein, das solche Naivetät erstrebt, ist immer mit dem Gedanken an das, vor das es zurück will, verknüpft. Deshalb kann die Konsequenz aus der Erkenntnis einer mangelhaft gestalteten Wirklichkeit nicht der eremitenhafte ‚Ausstieg‘ aus ihr sein, sondern ihre bewußte Umgestaltung; dies umso mehr, weil die Erkenntnis mangelhafter Gestaltung ja ebenso die grundsätzliche 26 Zur Bedeutung der Einbildungskraft für die Verbindung subjektiver Formen mit objektiven Inhalten vgl. Kant 1990, § 24. 27 Zur Bedeutung gesellschaftlicher Herrschaft für den Subjektbegriff Adornos vgl. Weyand 2001. 28 So Schillers Wissenschaftsideal: Vgl. Schiller 1999, S. 16. 29 Zur Differenz von Natur-, Geistes- und Sozialwissenschaften hinsichtlich ihres Objektivitätsanspruchs vgl. Städtler 2010. Metodo. International Studies in Phenomenology and Philosophy Vol. 1, n. 2 (2013) Michael Städtler 224 Gestaltbarkeit offenlegt. Allerdings ist ein distanziertes Verhältnis der Menschen zu ihrem distanzierten Verhältnis zur Natur denkbar und notwendig. Zu erreichen wäre es durch die kritische Reflexion auf die Zwecke von Naturerkenntnis, und diese Zwecke lassen sich nur in der Konstellation von Geschichte, Politik, Recht, Moral, Erkenntnistheorie und Naturphilosophie erfassen. – Die Vermittlung vernünftiger Zwecke als Ziel der kritischen Reflexion verweist schließlich auf einen weiten Bildungsbegriff, der subjektive und objektive Bildung – Bildung von Menschen und Gestaltung der Welt – als wechselseitig reflektierte Momente einbegreift. 4 Naturerkenntnis Aus diesen Überlegungen ergibt sich die Notwendigkeit, in der Subjekttheorie nicht bloß überhaupt auf Natur zu reflektieren, sondern einen subjektiv vermittelten Naturbegriff zu entfalten, der das, was Menschen als Natur auffassen, selbst als Kulturleistung ausweist. Dazu gibt Kants Konstruktion der Zweckmäßigkeit als des Prinzips der reflektierenden Urteilskraft Anlaß. Als Bedingung der Möglichkeit, unter Naturbedingungen vernünftige Zwecke zu realisieren, wird die Angemessenheit der Natur an das menschliche Erkenntnisvermögen vorausgesetzt. Die Vermittlung beider leistet die reflektierende Urteilskraft, deren Funktion nur unter der weiteren Voraussetzung erklärbar erscheint, daß die Natur selbst als zweckmäßig gestaltete zumindest vorgestellt werden dürfe. Soweit der Natur aber überhaupt Zweckmäßigkeit zu unterstellen ist, ist dies ein Resultat der tätigen Differenzierung der Menschen von der unmittelbaren Natur. Der Naturzwang selbst ist zweckwidrig. Er ist lebensfeindlich und behindert die Realisierung spezifisch menschlicher Zwecke. Jener Differenzierung ist aber doch die Möglichkeit, in der Natur zu überleben, vorausgesetzt. Daß diese Möglichkeit aber zum Gegenstand der Reflexion auf Gesetzmäßigkeit wird, setzt eben seinerseits die tätige Differenzierung von der Natur voraus, wodurch die Natur erst zu dem Gegenstand gemacht wird, als der sie dann erscheint. 30 Vorher sind die Naturwesen nur als unmittelbare Elemente des Naturzusammenhangs selbst vorstellbar, als grenzenlosamorphe in einer umfassenden Naturbewegung, in der für sie nicht einmal Tag und Nacht geschieden sind, ein Tröpfchen in den Wassern, über denen kein Geist schwebt. Wohl ist dafür, daß Menschen sich sukzessive aus der Natur herausarbeiten können, vorausgesetzt, daß Natur selbst nicht völlig unbestimmt ist, denn dies geschieht als gegenständliches Tun zugleich als Arbeit in der Natur; Gestaltung setzt mit Gestaltbarkeit auch Bestimmtheit voraus, zumal wenn die Gestaltung Regelmäßigkeit aufweist. Im wissenschaftlichen Erkennen bleibt daher den Naturgegenständen immer etwas von dem, was Natur im geschichtlichen Prozeß immer war: das irreduzible und als solches unverfügbare Substrat gestaltender gegenständlicher Tätigkeit, auf das Menschen als gegenständliche Wesen verwiesen sind. Insofern ist sie nicht allein formal, sondern eminent von den Menschen und ihrer Bearbeitung unterschieden; aber in allen Gestalten, in denen sie den Menschen erscheint – zumal wo sie ihnen 30 Vgl. Wahsner 1996, S. 172: «Der Mensch ist Mensch, weil und indem er die Natur verändert. Dies ist zwangsläufig mit der Entwicklung gewisser Arbeitsinstrumente, also der Entwicklung einer Technik verknüpft. Auf Technik zu verzichten hieße also, ins Tierreich zurückzukehren.» Selbstverständlich ist die ‚Emanzipation vom unmittelbaren Naturzwang‘ nicht Emanzipation von Natur überhaupt. Vgl. auch p. 173, FN 11: «Er kann sich auch nicht – selbst, wenn er es will – von der Natur schlechthin emanzipieren; denn er ist nicht nur ein soziales, sondern auch ein natürliches Wesen. [...] Er kann ‚nur‘ dafür sorgen – und das macht sein Menschsein aus –, daß er der Natur nicht blind ausgeliefert ist, er kann sie so gestalten, daß er mit ihr und in ihr seine Zwecke realisieren kann.» Metodo. International Studies in Phenomenology and Philosophy Vol. 1, n. 2 (2013) Subjektivität, geschichtliche Praxis und Naturerkenntnis 225 als zweckmäßig erscheint – ist sie Resultat von deren Geschichte. Darin hat allein die Rede vom «Vorrang des Objekts» 31 ihren Sinn: Gegenstände können nur durch ihre Erscheinungen hindurch als auch an sich bestimmte gedacht werden, aber sie müssen so gedacht werden, wenn überhaupt etwas soll gedacht werden können. So erweist sich die subjektive Abhängigkeit des ontologischen Gedankens als tiefer abhängig von der gegenständlichen Objektivität des Subjekts, jener Gedanke ist «intentio obliqua der intentio obliqua» 32 . Das gilt in besonderer Weise auch für den Subjektbegriff im Zusammenhang der Naturerkenntnis. Sofern Objektivität für das Subjekt der Naturerkenntnis faßbar ist, ist sie schon durch das Subjekt konstituiert, unter seiner Bewußtseinseinheit durch seine Anschauungsformen und Verstandesbegriffe bestimmt. Nicht das Objekt an sich, aber seine Objektivität ist Kant zufolge Resultat subjektiver Konstitution. Damit das äußerliche Material der Bestimmung durchs Subjekt aber überhaupt zugänglich sei, das heißt, sofern es in Erkenntnis eingehen könne, unterliege es immer schon subjektiven Bestimmungen. Wenn also das in der Anschauung gegebene gegenständliche Material als Gegenstand unserer Erfahrung erst durch kategoriale Bestimmung möglich wird, haben die Kategorien objektive Gültigkeit, das heißt sie beziehen sich notwendig und a priori auf Gegenstände der Erfahrung, weil ohne sie gar keine Erfahrung, gleich welchen Inhalts, möglich ist. 33 «Also steht auch das Mannigfaltige in einer gegebenen Anschauung notwendig unter den Kategorien. » 34 Hierbei ist jedoch innerhalb des Begriffs der Objektivität ein eminenter Unterschied zu beachten, der auf einem Unterschied im Begriff des Gegenstandes beruht: Die Gegenstände, deren Objektivität von den naturwissenschaftlichen Subjekten konstituiert wird – die Objekte wissenschaftlicher Erfahrung –, sind nicht die Gegenstände der naiven Erfahrung. Das naturwissenschaftliche Objekt wird konstituiert, indem es von den Naturwissenschaftlern selbst hergestellt wird. Das Objekt des Experiments ist ein technisch realisiertes, von unkontrollierten Randbedingungen befreites, das Objekt des Naturgesetzes ist erst recht ein idealisiertes. Nicht die Alltagswelt wird primär naturwissenschaftlich erkannt, sondern physische Welt überhaupt; die Beziehung dieser idealisierten Naturerkenntnis auf bestimmte einzelne Naturobjekte geschieht wiederum durch Technisierung der Erkenntnisse, d.h. ihre Anwendung unter bestimmten Bedingungen, über deren Bestimmtheit nicht a priori entschieden ist: [D]ie Aussagen der Naturwissenschaft, zumindest die der Physik, [sind] nicht unmittelbar schon Aussagen über die Natur [...]. Die naturwissenschaftliche, bzw. die physikalische Welt ist nicht die sinnlich-konkrete, sondern eine ideale oder ideierte Welt, gefaßt unter der Form des Objekts. [...] Diese Artifizierung ist erforderlich, um Messung und Berechnung zu ermöglichen. Die physikalischen Idealitäten verwandelt nun die Technik in gegenständliche Realitäten. Sie schafft eine bestimmte Wirklichkeit, die ‚von Natur aus‘ nicht da ist. Aber: Die Technik ist – wie übrigens auch jedes Experiment – nur die Realisierung bestimmter Lösungen der das physikalische Gesetz bildenden physikalischen Gleichungen. Das Gesetz für sich genommen beschreibt nämlich noch kein einziges physikalisches System. Das gelingt erst, wenn man unter Hinzugabe bestimmter Anfangs- und Randbedingungen aus dem Gleichungssystem eine bestimmte Lösung ausrechnet. [...] Und welche der im Gesetz enthaltenen Möglichkeiten verwirklicht werden, 31 Adorno 1966, p. 184 u.ö. 1977, S. 747. Vgl. Euler 1999, S. 251: Die Schwierigkeit bestehe darin «nicht sagen zu können, was die Natur sei und zugleich zu wissen, daß eine Vorstellung davon, was sie sei, Voraussetzung der Vernunft historisch war und allemal zukünftig ist». 33 Vgl. Kant 1990, § 14, B 124-7. 34 Kant 1990, B 143. 32 Adorno Metodo. International Studies in Phenomenology and Philosophy Vol. 1, n. 2 (2013) Michael Städtler 226 ist nicht durch die Physik bestimmt, sondern durch die kulturhistorisch und sozialökonomisch gebildeten Interessen derjenigen, die die Auswahl aus der Fülle der physikalischen Möglichkeiten entscheiden. 35 Diese Differenz zwischen Gegenstand wissenschaftlich konstruierter Erfahrung und naiver Erfahrung wird von Kant nicht konsequent beachtet. Sein noch nicht ausreichend differenzierter Objektbegriff verdankt sich noch der Tradition Bacons. Dessen Vorstellung, die Natur schaffe Gegenstände gemäß einer experimentell aufzudeckenden Gesetzmäßigkeit, 36 beerbt ihrerseits – gegen die eigene Intention – die mittelalterliche Naturvorstellung: Zwar wird der teleologische Prozeß naturalisiert vorgestellt, aber der experimentelle Eingriff geschieht noch nicht mit dem Bewußtsein, Natur dadurch grundsätzlich zu verändern, sondern mit dem, sie dadurch so, wie sie selbst ist, zugänglich zu machen. Kant freilich verwendet den Naturbegriff Bacons schon in der durch die empiristische Erkenntniskritik problematisierten Gestalt. 37 Daran aber, daß Kant immer wieder auf teleologische Argumentationen zurückgreift, um den allgemeinen Zusammenhang der Objektivität denkbar zu machen, zeigt sich, daß er im Ringen um die wissenschaftliche Erkennbarkeit von Erfahrungsgegenständen die Objekte der Naturwissenschaft und die Objekte der naiven Erfahrung nicht hinreichend unterscheidet. Teleologie ist bei Kant die problematische Annahme der zweckmäßigen Ordnung aller Gegenstände möglicher Erfahrung. Sie dient der Erklärung der Fähigkeit der reflektierenden Urteilskraft, Begriffe zu Erscheinungen zu bilden. Das ist nötig, um überhaupt in allgemeiner Weise über Natur reden zu können. Die gesamte Theorie der Erkenntnisvermögen dient bei Kant zunächst der Reflexion auf die Bedingungen der Möglichkeit reiner Naturerkenntnis, d.h. der mathematisierten Physik. Insofern Kant hierfür eine zweckmäßige Ordnung der Gegenstände möglicher Erfahrung voraussetzt, vermischt er diese Gegenstände mit den Gegenständen methodisch organisierter und präparierter wissenschaftlicher Erfahrung, die schon vom Begriff der Wissenschaft als System her gedacht ist. Die subjektive Konstitution der Objektivität naturwissenschaftlicher Erfahrung bedarf eines Anteils an technischer und wissenschaftlicher Konstruktion der Gegenstände, dessen die naive Erfahrung nicht bedarf, weil ihre Objekte womöglich nicht in einem System zusammenhängen. Wo sie dies zu tun scheinen, sind sie als Resultate technischer Eingriffe in die Natur und kultureller Distanzierung von dieser zu entdecken. Dieser Zusammenhang von Naturerkenntnis, Technik, Kultur und Gesellschaft ist bei Kant nicht ausgebildet. Deshalb ist sein Subjektbegriff, der an dem Modell der Naturerkenntnis entwickelt wird, in der Form singulärer Allgemeinheit gefaßt: Die allgemeine Form von Subjektivität kommt jedem Einzelnen zu, aber je für sich, so als ob jeder Einzelne je für sich mögliches Subjekt der ganzen Naturerkenntnis wäre, zu deren Möglichkeit die Subjektivität als maßgebliche Bedingung erschlossen wurde. Das Erkenntnissubjekt Kants ist zwar über die transzendentale Einheit der Apperzeption und über die Formen der Anschauung sowie die des Denkens der Möglichkeit nach mit allen anderen Subjekten synchron und diachron verbunden, aber diese Möglichkeit wird für das Subjekt selbst nicht bestimmend. Es steht im Modus einer singulären Allgemeinheit: ‚Ich‘ erkenne, nicht ‚Wir‘ erkennen. Das Subjekt der Naturerkenntnis ist aber ein kollektiv bestimmtes, das über die Arbeitsteilung und die Kooperation im darüber hinaus gesellschaftlich eingebetteten Wissenschaftsprozeß auf tendentiell alle anderen Menschen bezogen ist, und unabhängig von dieser 35 Wahsner 1996, S. 168-9. Vgl. auch ausführlicher: Wahsner und Borzeszkowski 1992. Bacon 1962, S. 99-100. 37 Vgl. Locke 1968, III c. 3, 15, 17, und Hume 1955, S. 41. 36 Vgl. Metodo. International Studies in Phenomenology and Philosophy Vol. 1, n. 2 (2013) Subjektivität, geschichtliche Praxis und Naturerkenntnis 227 Beziehung wäre keine Wissenschaft denkbar. Ermöglicht wird auch diese Beziehung über die transzendentale Einheit der Apperzeption, aber sie ist nicht die Beziehung von Einzelnen, die sich über Resultate verständigen, sondern die von planvoll und systematisch Zusammenwirkenden. Dieses Zusammenwirken muß als konstitutive Bedingung im Subjektbegriff reflektiert werden. Und für das so gefaßte Subjekt sind auch die mit den historischen, sozialen und politischen Relationen der Menschen untereinander verbundenen Zwecke der Naturerkenntnis nicht äußerlich. Deshalb ist, wenn es um einen adäquaten Begriff von Subjektivität zu tun ist, von der geschichtlichen Funktion von Subjektivität ausgehend, über deren theoretische Grundlegung in politischer Philosophie, Rechts- und Moralphilosophie sowie Erkenntnistheorie zurückzugehen auf das dem vorgeblich reinen Subjekt korrespondierende Andere: Die Zuspitzung der Subjektivitätslehre in teleologischen Überlegungen, die dem Subjekt einen adäquaten Gegenstand konstruieren sollen, ohne dessen Einheit zu gefährden, verweist aus der praktischen Perspektive dann auf den Begriff einer Zweckmäßigkeit, die als kulturgeschichtlich hervorgebrachte und deshalb als praktisch verfügbare zu fassen ist. Bezeichnender Weise löst Habermas das Teleologieproblem in der Naturerkenntnis auf entgegengesetzte Weise: [D]ie Möglichkeit objektiver Naturerkenntnis ist nur dann gegeben, wenn sich die organischen Ermöglichungsbedingungen selber schon als das Ergebnis von kognitiv relevanten Auslese- und Anpassungsprozessen begreifen lassen. 38 Dieser ‚weiche Naturalismus‘ versteht Subjektivität – Erkenntnisfähigkeit und Freiheit der Menschen im Verhältnis zur kausal geordneten Natur – als Resultat eines natürlichen Moments kultureller Evolution. Damit ließe sich vielleicht die Angemessenheit der Subjektivität an natürliche Objekte erklären, nicht aber die in dieser Angemessenheit bewahrte radikale Differenz, die der Kritik- und Gestaltungsfähigkeit der Menschen zugrundeliegt. Diese hatte Kant durch die Differenz von Natur und Freiheit, deren Vereinbarkeit seine Philosophie galt, bezeichnet und Hegel hatte sie als stringente Verwirklichung von Geist in der Natur geschichtlich erschließen wollen. Mit Adorno wird es möglich, auf der Grundlage der Marxschen Gesellschaftstheorie die Zweckmäßigkeit der kultivierten Natur als eine formal rationale, aber material vernunftwidrige zu denken, die als historische Gestalt der Zweckmäßigkeit Objekt der menschlichen Freiheit ist: Menschen können sich selbst und die Natur nur adäquat begreifen als kritische Urheber auch der externen Bedingungen ihres Denkens und Handelns. Darin liegt eine praktisch ganz unerschlossene Bedingung der angegriffenen modernen Subjektivität. Literatur Adorno, T. 1966, Negative Dialektik, Suhrkamp, Frankfurt am Main. — 1977, „Zu Subjekt und Objekt“, in Gesammelte Schriften 10.2, Suhrkamp, Frankfurt am Main. — 1990, Zur Metakritik der Erkenntnistheorie. Studien über Husserl und die phänomenologischen Antinomien, Suhrkamp, Frankfurt am Main. 38 Habermas 2008, S. 28. Metodo. 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