6/2005 - PH Weingarten

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ethik –
report
Nr.6 Juli/August/
September 2005
IBE
Editorial
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Informationen und Rezensionen
zu ethischen Themen aus Tagespresse, Fachzeitschriften,
Gremien und von Fachtagungen
Presse- und Literaturspiegel
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herausgegeben
vom Institut für Bildung und Ethik
der Pädagogischen Hochschule
Weingarten
Stellungnahme der Enquete-Kommission zu Palliativmedizin und Hospizarbeit
Neues BGH-Urteil zur
Sterbehilfe
Assistierter Suizid von
Ausländern in der Schweiz
Rezension
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Leibnizstraße 3
88250 Weingarten
Tel.: 0751/5018377
e-mail: [email protected]
Schwerpunkte dieser Ausgabe
Herbsttagung des IBE in
Weingarten
Neue Studie des IBE zur
Patientenverfügung
Norbert Steinkamp, Bert
Gordijn: Ethik in der Klinik
– ein Arbeitsbuch. Zwischen Leitbild und Stationsalltag, München 2003
Tagung
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Treffen des IBE mit dem
Arbeitsbereich Ethik und
Bildung der Universität
Tübingen
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Editorial
Liebe Leserin, lieber Leser,
in unserer Sommerausgabe werden folgende Schwerpunkte behandelt: Die Enquetekommission Ethik und Recht der modernen Medizin hat kurz vor ihrer Auflösung
einen Zwischenbericht mit dem Titel: Die Verbesserung der Versorgung Schwerstkranker und Sterbender in Deutschland durch Palliativmedizin und Hospizarbeit vorgelegt. Wir fassen die wichtigsten Inhalte zusammen.
Ein neues BGH-Urteil zur Sterbehilfe hat – vorbehaltlich einer genaueren rechtlichen Prüfung - erhebliche Konsequenzen für Krankenhäuser und Pflegeheime sowie deren Personal. Es bestimmt, dass der Forderung von Patienten oder ihren gesetzlichen Vertretern nach Abbruch von lebenserhaltenden Maßnahmen (wie z.B. der
künstlichen Ernährung) nachgekommen werden muss. Gegenteilige Vereinbarungen
in Heimverträgen und die Gewissensfreiheit der Pflegenden haben Nachrang gegenüber dem Selbstbestimmungsrecht des Patienten.
Der assistierte Suizid soll auch weiterhin in der Schweiz für In- und Ausländer
straffrei bleiben. Zu diesem Votum kam kürzlich die Nationale Ethikkommission der
Schweiz.
In unserem Rezensionsteil besprechen wir das lesenswerte Buch von Norbert
Steinkamp, Bert Gordijn: Ethik in der Klinik – ein Arbeitsbuch. Zwischen Leitbild und Stationsalltag. Die Autoren entwickeln ein beispielhaftes Konzept, wie die
ethische Reflexions- und Urteilskompetenz in Krankenhäusern und Pflegeheimen
organisiert und verbessert werden kann.
Aus der Arbeit des IBE sind drei Dinge hervorzuheben: Unsere Kooperation mit
dem Arbeitsbereich Ethik und Bildung des Interfakultären Zentrums für Ethik in
den Wissenschaften (IZEW) der Universität Tübingen wurde auf einem gemeinsamen Arbeitstreffen vertieft. Christine Mann und Bruno Schmid berichten davon in
unserem Tagungsteil.
Die nächste Tagung des IBE steht unmittelbar bevor. Vom 27. bis 29. Oktober 2005
findet sie unter dem Titel: Bildung – Subjekt – Ethik. Bildung und Verantwortung
im Zeitalter der Biotechnologie in der Pädagogischen Hochschule in Weingarten
statt.
Das
vollständige
Tagungsprogramm
kann
unter
http://www.ph-
weingarten.de/homepage/ibe/tagung01/Programm_Bildung_Subjek_Ethik.pdf herun-
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ter geladen werden. Anmeldungen sind noch bis zum 14.10. 2005 über [email protected] möglich.
Unsere neueste Studie: Die Patientenverfügung zwischen Patientenautonomie
und Lebensschutz. Eine Analyse der ethischen Positionen ist bereits an die sozialen Unternehmen unseres Unterstützerkreises exklusiv versandt worden. Offiziell
vorgestellt wird sie vom Autor Hans-Martin Brüll am 22. November 2005 um 18.15
Uhr in der Pädagogischen Hochschule im Schlossbau in Weingarten.
Für die Redaktion:
Hans-Martin Brüll und Elisabeth Schlemmer
Presse- und Literaturspiegel
Zwischenbericht der Enquetekommission Ethik und Recht der modernen Medizin: Verbesserung der Versorgung Schwerstkranker und Sterbender in
Deutschland durch Palliativmedizin und Hospizarbeit
Kurz vor Ende der 15. Legislaturperiode hat die Enquetekommission des Deutschen
Bundestages ihren Zwischenbericht zur Verbesserung der Versorgung Schwerstkranker und Sterbender in Deutschland durch Palliativmedizin und Hospizarbeit vorgelegt. Er enthält eine umfangreiche und kritische Bestandsaufnahme des Entwicklungsstandes der Palliativmedizin und der Hospizarbeit in Deutschland. Diese Bestandsaufnahme ergibt in der Palliativmedizin ein stark defizitäres Bild, besonders
hinsichtlich des miserablen Aus-, Fort- und Weiterbildungsstandes des ärztlichen und
pflegerischen Personals. Die Analyse der Hospizarbeit enthält ein differenziertes Ergebnis: Ehrenamtliches und institutionalisiertes Arbeiten in Hospizen hat einen hohen
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qualitativen und quantitativen status. Allerdings mangelt es noch an einer hinreichenden rechtlichen Absicherung dieser unverzichtbaren Arbeit.
Auf der Basis ihrer Bestandsanalyse erhebt die Kommission mehrere Forderungen:
Zunächst geht es um eine grundlegende Einstellungsänderung in der Bevölkerung.
Die Kommission fordert eine Enttabuisierung des Todes und eine allgemeine Akzeptanz des Sterbens durch die Integration der letzten Lebensphase ins eigene Leben.
Menschenwürdiges Sterben bedarf einer schmerzlindernden Medizin, die der Lebensqualität anstelle einer künstlichen Lebensverlängerung dient. Dieses Ziel soll
mittels einer umfassenden Hospiz- und Palliativversorgung entstehen. Daher fordert
die Kommission eine Stärkung des Patientenrechts auf eine bedarfsgerechte Palliativversorgung. Dazu gehört die Verpflichtung zur angemessenen Finanzierung einer
stationären und ambulanten palliativmedizinischen, palliativpflegerischen und palliativberaterischen Versorgung durch die Kostenträger. Diese finanziellen Ansprüche
und eine angemessene regionale Versorgung müssten gesetzlich durch eine Novellierung des SGB V und SGB XI abgesichert werden.
Die Kommission fordert die Stärkung der Sterbebegleitung und eine angemessene
Palliativversorgung im häuslichen Bereich. Sie empfiehlt daher die Freistellung Berufstätiger zur Sterbebegleitung und Pflege schwerkranker und sterbender Angehöriger und Personen, zu denen ein besonderes Näheverhältnis besteht. Dies könnte
etwa durch die Freistellung von der Arbeit für einen Zeitraum von drei bis maximal
sechs Monaten erreicht werden. Die häusliche Situation soll auch durch den Ausbau
der ambulanten Pflege am Lebensende und die Einführung von ambulanten Palliative-Care-Teams an der Schnittstelle zwischen Krankenhaus und ambulanter Versorgung gestärkt werden.
Als weiteren Optimierungsschwerpunkt empfiehlt die Kommission die Verbesserung
der Aus-, Fort- und Weiterbildung der beteiligten Berufsgruppen. Dazu muss die Approbationsordnung für Ärzte verändert werden, die ein obligatorisches Prüfungsfach
Palliativmedizin vorsieht. In der Krankenpflege- und in der Altenpflegeausbildung
empfiehlt die Kommission die Änderung der Ausbildungs- und Prüfungsordnung für
Berufe der Krankenpflege, die Palliativmedizin und Palliativpflege mit definierten
Stundenvorgaben und theoretische und praktische Lernanteile enthalten muss.
Ein großes Bündel von Verbesserungsmaßnahmen empfiehlt die Kommission für die
Stärkung und Sicherung der ambulanten und stationären Hospizarbeit: Vorrang haben dabei einrichtungsbezogene Bedarfssatzverhandlungen, die durch eine Ände-
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rung des § 39 a Abs.1 SGB V das Aushandeln neuer Bedarfssätze ermöglichen, weil
die bestehenden Regelungen zu einer chronischen Unterfinanzierung der Hospizarbeit führen. Die Kommission empfiehlt bei Streitigkeiten die Einrichtung von Schiedsstellen auf Landesebene zur Durchsetzung einer bedarfsgerechten Finanzierung.
Weiterhelfen könnte der stationären Hospizarbeit auch eine Absenkung der gesetzlich erforderlichen Eigenfinanzierungsanteile. Zur Verbesserung der Finanzierung der
ambulanten Hospizarbeit könnte auch der gezielte Einsatz nicht abgerufener Fördermittel für kleinere Hospizinitiativen beitragen. Um der besonderen Situation und
der speziellen Atmosphäre in Hospizen gerecht zu werden, fordert die Kommission
u.a. die Überprüfung der Zuständigkeit des Heimgesetzes für stationäre Hospize.
Palliativpflegerische Nachqualifizierungen der Pflegeheimleitungen hält die Kommission für dringlich. Ebenso empfehlenswert ist die Änderung der Betäubungsmittelverschreibe-verordnung, die es ermöglicht nicht mehr benötigte Schmerzmedikamente anderen Patienten, die diese nötig haben, zu verabreichen. Damit könnte jährlich
viel Geld eingespart werden.
Ingesamt sieht die Kommission die Notwendigkeit einer sachgerechten Vergütung
von palliativmedizinischen Leistungen vor. Besonders wichtig ist der Kommission die
Forschungsförderung im Rahmen des Gesundheitsforschungsprogrammes des Bundesministeriums für Bildung und Forschung. Die Einführung einer Bundesstatistik zu
den Sterborten wäre hilfreich, um einen Qualitätsindikator für eine erfolgreiche Palliativ- und Hospizarbeit zu erhalten und um eine effektive Planung der Versorgungsstrukturen zu erreichen. Die Einrichtung „Runder Tische“ mit allen relevanten Gruppen der Palliativ- und Hospizversorgung auf Kommunal-, Landes- und Bundesebene
hält die Kommission zur Stärkung der Kommunikation für nötig. Damit das Anliegen
einer guten Palliativ- und Hospizversorgung in der politischen Öffentlichkeit wirksam
bleiben kann, wird die Berufung von Hospiz- und Palliativbeauftragten auf Landesund Bundesebene vorgeschlagen.
(Der
vollständige
Text
des
Zwischenberichtes
kann
unter
http://www.bundestag.de/parlament/kommissionen/ethik_med/berichte_stellg/05_06_
22_zwischenbericht_palliativmedizin.pdf herunter geladen werden.)
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Bundesgerichtsurteil zur Verbindlichkeit des mutmaßlichen Patientenwillens in
Pflegeheimen
Mit Datum vom 8. Juni 2005 und unter der Registriernummer XII ZR 177/03 fällte der
Bundesgerichtshof ein Urteil, das Pflegeheime zur strikten Befolgung des Patientenwillens verpflichtet. In der Hauptsache ging es um die Frage, wer die Rechtstreitskosten früherer Verfahren zu zahlen hat, wenn sich der Rechtsstreit durch den Tod eines
Patienten erledigt hat. Dieser war im vorliegendem Fall am 26.03.04 verstorben. Er
war seit 1998 Wachkomapatient. Seitdem wurde er mit einer PEG-Sonde ernährt.
Sein Vater, zugleich sein gesetzlicher Betreuer, verlangte vom Heim, seine künstliche Ernährung einzustellen, um ihn sterben zu lassen. Dies ordnete auch sein Hausarzt an. Das Heim lehnte den Abbruch der Nahrungszufuhr ab mit der Begründung,
die Pflegekräfte weigerten sich aus Gewissensgründen der ärztlichen Anordnung
nachzukommen. Daraufhin klagte der Betreuer im Namen des Patienten, seine
künstliche Ernährung in jeglicher Form zu unterlassen. Landgericht und Oberlandesgericht wiesen jedoch diese Klage ab.
Der Bundesgerichtshof kommt nun im Rahmen seiner Prüfung der Erfolgsaussichten
des Klägers zu einer anderen Auffassung, die er folgendermaßen begründet:
1. Die PEG-Sondenlegung bedarf als Eingriff in die körperliche Integrität des erklärten Willens des Patienten. Eine solche Erklärung lag im vorliegenden Fall
nicht vor. Die PEG-Sonde widersprach nach Auffassung des BGH dem wirklichen und mutmaßlichen Willen des Patienten.
2. „Der mit dem Kläger (dem Wachkomapatienten d.V.) geschlossene Heimvertrag berechtigt die Beklagte (das Heim d.V.) nicht, die künstliche Ernährung
gegen seinen – durch seinen Betreuer verbindlich geäußerten – Willen fortzusetzen….Eine einmal erteilte Einwilligung in einen Eingriff in die körperliche Integrität kann bis zu dessen Vornahme jederzeit widerrufen werden…; ebenso
kann der Fortsetzung einer Dauerbehandlung jederzeit widersprochen werden.“(6)
3. Auch wenn im Heimvertrag eine Verpflichtung zur Lebenserhaltung niedergelegt ist, bedeutet eine solche Leistungspflicht keine Rechtspflicht für den Kläger, die vom beklagten Heim geschuldete Leistung anzunehmen. „Erst recht
schuf sie keine Befugnis der Beklagten, die Annahme dieser Leistung gegen
den Willen des Klägers zu erzwingen.“(6)
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4. Dem Heim steht lt. BGH auch kein Verweigerungsrecht zu, das sich unter Berufung auf die in Art.1, 2 und 4 GG verbürgten Rechte des Beklagten und seiner Pflegekräfte ableiten ließe. Der BGH konzediert den Pflegekräften zwar,
dass sie in ihrer beruflichen Tätigkeit Träger der Menschenwürde sind. „Das
bedeutet jedoch nicht, dass damit auch ihre ethischen und medizinischen Vorstellungen zum Schutzbereich des Art. 1 Abs. 1 GG umfasst sind oder mit
dem verlangten Unterlassen in diesen Schutzbereich eingegriffen würde.“(7)
Auch die Berufung der Pflegekräfte auf ihre Gewissensfreiheit im Rückgriff auf
Art. 4 Abs. 1 GG lehnt der BGH ab. „Im übrigen verleiht die Gewissensfreiheit
dem Pflegepersonal aber kein Recht, sich durch aktives Handeln über das
Selbstbestimmungsrecht des…Klägers hinwegzusetzen und seinerseits in
dessen Recht auf körperliche Unversehrtheit einzugreifen.“(7)
Der
vollständige
Text
des
BGH-Urteils
kann
über
http://wwwuser.gwdg.de/~ukee/bgh_050708.pdf heruntergeladen werden.
Assistierter Suizid von Ausländern in der Schweiz
Die Schweizer Nationale Ethikkommission in der Humanmedizin (NEK) empfiehlt eine staatliche Aufsicht für Sterbehilfeorganisationen und fordert, dass künftig psychisch kranke Menschen und Jugendliche von der Sterbehilfe ausgeschlossen werden. An der gesetzlichen Lage, die eine Beihilfe zum Suizid zulässt, möchte die
Kommission allerdings nichts geändert sehen. Der Artikel 115 des Schweizer Strafrechtes lässt die straffreie Hilfe zum Freitod zu, solange sie nicht aus „selbstsüchtigen Motiven“ erfolgt und der Betreffende nicht zum Suizid verleitet wurde. Allerdings
möchte die Kommission unterscheiden zwischen der Mitwirkung bei der Selbsttötung
und der Tötung auf Verlangen. Nur beim assistierten Suizid führt der Suizidwillige
den Tod selbst herbei.
Der „Suizid-Tourismus“ soll nach dem Votum der Kommission nicht unterbunden
werden. Serbehilfeorganisationen wie die Dignitas verhalfen im Jahr 2003 91 Ausländern zum Freitod. 2002 waren es noch 59 Personen gewesen. Laut Kommissionsbericht sind die Sterbehilfeorganisationen an 10 Prozent der Selbsttötungen beteiligt. Die Kommission begründet ihr Votum für die Zulässigkeit der Beihilfe zur Tö-
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tung bei Ausländern damit, dass diese dieselben Gründe geltend machen könnten
wie Schweizer Bürger. Allerdings mahnt die NEK eine „eingehende Kenntnis der
Person und Situation“ sowie des Sterbewunsches an. Zu prüfen sei, ob der Sterbewille Ergebnis einer langfristigen Entscheidung sei. Kritisiert wird damit die Praxis der
Sterbehilfeorganisationen, dass zwischen Anreise und Tod nur wenige Stunden liegen. Die Forderung nach einer staatlichen Aufsicht der Sterbehilfeorganisationen
wird verknüpft mit der Forderung nach Einhaltung von Qualitätskriterien bei Entscheidungen zur Selbsttötung. Bei psychisch Kranken und Jugendlichen soll eine
Beihilfe „in der Regel“ ausgeschlossen werden.
Quellen:
N.N.: Ethikrat gegen Verbot des Schweizer „Suizid-Tourismus“. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 12.07.2005
N.N.: Sterbehilfe soll legal bleiben. In: Südkurier vom 12.07.2005
Rezension
Norbert Steinkamp, Bert Gordijn: Ethik in der Klinik – ein Arbeitsbuch. Zwischen Leitbild und Stationsalltag, München 2003
Das Arbeitsbuch Ethik in der Klinik ist für leitende Mitarbeiter sowie Gesundheitsberufler in Kliniken und Pflegeheimen geschrieben. Die Autoren geben ihrer Zielgruppe
ein Handlungskonzept an die Hand, wie ethische Probleme in Krankenhaus und
Pflegeheim angegangen, diskutiert und wenn möglich gelöst werden können. Damit
unterscheidet sich dieser Band wohltuend von eher theoretisch-tugendorientierten
Berufsethiken. Der Gewinn der Lektüre liegt in der Verknüpfung von ethischen Theoremen und dem Alltag in den Stationen von Gesundheitseinrichtungen. Ein weiterer
Nutzen des Buches besteht darin, dass es klar gegliedert, didaktisch brauchbar und
mit verständlichen Kapitelzusammenfassungen versehen ist.
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Was bieten die Autoren inhaltlich? Im Mittelpunkt steht ein klinisch-ethisches Interaktionsmodell, das die Betroffenen in die Lage versetzen soll, ethische Probleme bei
der Patientenbehandlung, - pflege und –versorgung sowie ethische Fragen der Organisationen Krankenhaus und Pflegeheim auf sachgerechte Weise zu behandeln.
Das Modell nutzt dabei die Professionalität, das Handlungswissen und die kommunikative Kompetenz derer, die direkt mit dem Patienten umgehen. Es lebt von der Beteiligung aller und bezieht auch Fragen ein, die sich in organisatorischer Hinsicht stellen und zum Gegenstand auf der obersten Leitungsebene werden können. Das von
den Autoren entwickelte Interaktionsmodell zur Reflexion ethischer Fragen zielt darauf ab, „dass das für Organisationen dieser Art typische Zusammenspiel von Leitungsebene und Stationsebene für die Bearbeitung ethischer Fragen genutzt wird.
Wenn es auf der Organisationsebene wichtig erscheint, eine ethische Leitlinie zum
Umgang mit ärztlichen Entscheidungen vor Ort zu entwickeln, dann wird damit
zugleich vorausgesetzt, dass konkrete Entscheidungen vor Ort durch die behandelnden und versorgenden Teams selbst auch in ihren ethischen Dimensionen besprochen und getragen werden sollten.“(15) Der ethische Diskurs bleibt damit nicht die
Sache weniger Fachleute, die in Kommissionen, Seminaren und Veröffentlichungen
medizinethische Probleme diskutieren und lösen. Der Diskurs ist breit angelegt und
befähigt die Beteiligten in ihrer ethischen Urteilskompetenz. Das Buch dient als Leitfaden für die Implementierung des Modells. Dies geschieht allerdings nicht nur pragmatisch, sondern es werden der Zielgruppe der Praktiker auch verschiedene ethische Grundbegriffe nahe gebracht (Kapitel 2).
Kapitel 3 zeigt die Häufung ethischer Probleme in Gesundheitsorganisationen auf
und beschreibt die bisherigen strukturellen Antworten auf die Problembewältigung.
Dabei wird unterschieden zwischen festen Strukturen wie sie sich z.B. in Ethikkomitees zeigen und losen Formen des ethischen Diskurses wie das ärztliche Konsil oder
die punktuelle ethische Fallbesprechung.
Im vierten Kapitel wird das klinisch-ethische Interaktionsmodell ausführlich vorgestellt. Dieses Modell sieht ein geordnetes Zusammenspiel zwischen dem Ethikkomitee und der Fallbesprechung vor Ort vor. Es verknüpft das Top-down-Modell, in dem
ethische Fragen auf einer hohen Organisations- und Abstraktionsebene behandelt
werden und das Bottom-up-Modell, das sich stark an konkreten ethischen Fragen in
der Patientenversorgung orientiert. Die Autoren bevorzugen dabei deutlich einen erfahrungsorientierten ethischen Argumentationstyp und bezweifeln den Nutzen eines
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Top-down-Modells. Sie bezweifeln vor allem den im Top-down-Modell unterstellten
Sickereffekt, wonach durch die Verbreitung ethischer Erkenntnisse der Spitze (wie
etwa in elitären Ethikkommitees) eine Kultur der ethischen Beratschlagung in der Organisation entstehen soll. Dieser Effekt stellt sich aber nachgewiesenermaßen nicht
ein. Es bedarf daher stattdessen des regelmäßigen Kontakts mit den Stationen und
deren Problemhorizonte durch das Ethikkomitee, um eine Lernwirkung in der Organisation zu erzielen. Andererseits fehlt dem Bottom-up-Modell die Rückbindung an die
Organisation. Wenn ethische Probleme nur im Kontext der Arzt-Patienten-Dyade behandelt werden, besteht die Gefahr, den Bezug zur organisationalen Außenwelt zu
verlieren. Um die Schwächen beider Modelle auszuschließen, entwerfen die Autoren
ihr klinisch-ethisches Interaktionsmodell als einen idealtypischen Kreisprozess. Ausgegangen wird von der Entwicklung ethischer Richtlinien im Ethikkomitee, die als
Orientierungshilfe für die Moderation von Fallbesprechungen auf der Station dienen
sollen. Die Fallbesprechungen selbst können wiederum durch ihre Anbindung an die
Praxis dazu betragen, die ethischen Leitlinien weiterzuentwickeln. Dies kann zu einer
erneuten Reflexion im alltagsdistanzierten Ethikkomitee führen. Der ethische Reflexionsprozess folgt dabei den Prinzipien der Interdisziplinarität der Fachleute, der Repräsentanz möglichst aller Beteiligter und der Partizipation möglichst Vieler, die zur
Lösung eines ethischen Problems beitragen können. Dabei ist besonders der Dialog
mit Patienten und Angehörigen wichtig und das strukturierte Teamgespräch. In der
Struktur des klinisch-ethischen Interaktionsmodells gibt es eine klare Rollenverteilung
und eine klares Verständnis der gegenseitigen Bezogenheit von Ethikkomitee und
der Fallbesprechung auf der Station. Das Ethikkomitee hat eine Letzt- und Ausführungsverantwortung. Es hat dafür Sorge zu tragen, dass Voraussetzungen für gelingende Fallbesprechungen geschaffen werden, wenn ein entsprechender Bedarf vorliegt. Dazu gehört die Bereitstellung einer Gruppe von Mitarbeitern, die Fallbesprechungen professionell moderieren können. Die Schaffung von Akzeptanz ethischer
Fallbesprechungen gehört ebenfalls zum Aufgabenfeld des Ethikkomitees. Von den
Autoren wird auch eine Arbeitsteilung zwischen dem Direktorium und dem Ethikkomitee empfohlen. Das Direktorium des Krankenhauses hat für die materiellen Rahmenbedingungen von ethischen Fallbesprechungen zu sorgen, das Ethikkomitee übernimmt die inhaltliche Verantwortung für das Gelingen von Fallbesprechungen. Das
Ethikkomitee hat einen Beratungsauftrag, den es in Form von ethischen Empfehlungen wahrnimmt. Die Leitung des Hauses hingegen sorgt für die Implementierung der
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im Ethikkomitee entstandenen ethischen Leitlinien. Empfehlungen und Leitlinien haben die Funktion einer Argumentations- und Orientierungshilfe für die Mitarbeiter. So
kann die Autonomie des Ethikkomitees und der Station gewährleistet werden.
Steinkamp und Gordijn beschreiben in Kapitel 5 detailliert die Aufgaben eines Ethikkomitees. Geklärt werden muss zunächst das Verhältnis des Ethikkomitees zum Direktorium, zur mittleren Leitungsebene und zu den Teams auf Station. Empfohlen
wird eine Satzung, die Klärung der Arbeitsweise und der genauen Aufgabenstellung.
Sehr praxisnah wird die Entwicklung von Empfehlungen und ethischen Leitlinien beschrieben. Besonders wertvoll ist der praktische Verweis auf eigene Erfahrungen im
University Medical Center Nijmegen mit ethischen Leitlinien zu den Themen
Schwangerschaftsabbruch, pränatale Diagnostik, Fortpflanzungtechnologien und der
Umgang mit Meinungsverschiedenheiten über die medizinische Behandlung und
Versorgung. Empfohlen wird ein enger Kontakt des Ethikkomitees zur wissenschaftlichen Forschung und zur hausinternen Fort- und Weiterbildung zur Vermittlung des
entsprechenden Know-hows zur ethischen Urteilsbildung.
Die in der klinischen Praxis schon mehrfach erprobte Nijmweger Methode der ethischen Fallbesprechung wird im sechsten Kapitel genau beschrieben und im Kontrast
zur hermeneutischen Methode und dem sokratischen Gespräch vorgestellt. Steinkamp und Gordijn definieren die ethische Fallbesprechung folgendermaßen: „Ethische Fallbesprechung auf Station ist der systematische Versuch, im Rahmen eines
strukturierten, von einem Moderator geleiteten Gesprächs mit einem multidisziplinären Team innerhalb eines begrenzten Zeitraumes zu der ethisch am besten
begründbaren Entscheidung zu gelangen.“(234) Methodisch wird in folgenden Schritten vorgegangen: 1. Beschreibung des Problems, 2. Erhebung der Fakten unter unterschiedlichen fachlichen und organisatorischen Gesichtspunkten, 3. Bewertung des
Falls unter dem Gesichtspunkten des Wohlbefindens des Patienten, der Autonomie
des Patienten und der Verantwortlichkeit des pflegenden Personals sowie weiterer
Dritter und 4. die Beschlussfassung über die beste der diskutierten Handlungsweisen.
Den Schluss des Buches bildet eine kompakte und kritische Reflexion mit den Erfahrungen der Arbeit in Ethikkomitees und ethischen Fallbesprechungen. Die Autoren
plädieren bei der Implementierungsphase beider Instrumente klinisch-ethischer Reflexion für die notwendige Unterstützung der obersten Leitung für einen Prozess, der
nicht ohne Beratung gestaltet werden sollte.
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Wer schon in Ethikkommissionen arbeitet oder an ethischen Fallbesprechungen teilgenommen hat, kann dieses Buch als eine wertvolle Ergänzung und als gut brauchbare Meßlatte zur Reflexion der eigenen Praxis nutzen. Organisationen, die sich mit
dem Gedanken tragen, diese Instrumente in den Einrichtungsalltag einzuführen, haben mit dem Konzept von Steinkamp und Gordijn eine profunde Quelle, sich fachlich
und organisatorisch auf den Weg zu machen. Die Autoren bieten dazu auch ihre persönliche Hilfe und Beratung an.
Hans-Martin Brüll
Tagung
Treffen des IBE mit dem Arbeitsbereich Ethik und Bildung der Universität
Tübingen
In den drei Jahren seines Bestehens knüpfte das Institut für Bildung und Ethik der
PH vielfältige Kontakte zu wissenschaftlichen Institutionen, die sich mit demselben
Themengebiet befassen. Besonders intensiv gestaltete sich von Anfang an die
Kommunikation zwischen dem IBE und dem Arbeitsbereich Ethik und Bildung des
Interfakultären Zentrums für Ethik in den Wissenschaften (IZEW) der Universität Tübingen.
Das Zentrum, das von sieben Fakultäten getragen wird, entwickelte in den letzten
Jahren u.a. ein Ethisch-Philosophisches Grundlagenstudium (EPG) für Studierende
des Lehramts an Universitäten, das inzwischen landesweit implementiert ist und im
Referendariat weitergeführt wird. Eine ethisch-philosophische Grundausbildung - in
etwa vergleichbar dem Studium der Grundlagenwahlfächer an der PH - ist damit für
die Ausbildung der Gymnasial- und BerufsschullehrerInnen verpflichtend. Das nächste Projekt des Arbeitsbereichs, das im Juli diesen Jahres angelaufen ist, heißt Konkrete Diskurse; es erprobt und evaluiert zwei komplementäre Diskursmethoden für
Schule und Hochschule im Themenfeld Bioethik, die theaterpädagogische Methode
und die Methode der reflexiven Beratung.
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Im vergangenen Winter wurde vom Arbeitsbereich Ethik und Bildung ein Treffen mit
dem IBE der PH Weingarten vorgeschlagen, um die mögliche Zusammenarbeit zu
intensivieren. Am 8. Juli 2005 fand dieses Treffen, zu dem auch die Kooperationspartner der Tübinger eingeladen waren, in Weingarten statt. Es kamen Prof. Dietmar
Mieth (Tübingen), Prof. Albrecht Müller (FH Nürtingen-Geislingen), Dr. Thomas von
Schell (Landesarbeitsgemeinschaft Theaterpädagogik, Reutlingen) und mehrere ihrer
wissenschaftlichen MitarbeiterInnen. Das IBE wurde vertreten durch den Vorstand,
die wissenschaftlichen Mitarbeiter und die Kollegiatinnen des FuN-Kollegs "Bioethik".
Ziel dieses Treffens war es, sich gegenseitig ausgewählte Projekte vorzustellen und
Rückmeldung zu diesen zu erhalten. Das IZEW erhoffte sich Anregungen zu Fragen
der Didaktik und Evaluation von Unterrichtsversuchen und gegebenenfalls auch
Möglichkeiten zur Kooperation beim Projekt Konkrete Diskurse. Das IBE stellte sich
seinerseits vor, wobei der Schwerpunkt auf dem FuN-Kolleg lag. Im Anschluss an die
Kurzvorstellung der Teilprojekte bestand Gelegenheit zu Nachfragen und Anregungen.
Der gesamte Nachmittag war geprägt von einer angenehmen Arbeitsatmosphäre und
äußerst konstruktiven Gesprächen. Im Zusammenhang mit dem Projekt „Konkrete
Diskurse“ wird eine Kooperation mit dem Teilprojekt 5 (Modelle fächerverbindenden
Unterrichts im Themenfeld Bioethik) des FuN-Kollegs stattfinden. Das IZEW schätzte
die Expertise des IBE insbesondere im Bereich der Didaktik und der Evaluation von
Unterrichtsversuchen. Die MitarbeiterInnen des IBE konnten hier aus ihren eigenen
Arbeiten wichtige und hilfreiche Anregungen geben. Die Gäste aus Tübingen, Reutlingen und Nürtingen, die sich seit vielen Jahren intensiv mit bioethischen Fragen
befassen, brachten ihrerseits interessante und konstruktive Hinweise für das FuNKolleg zur Sprache. Der Austausch wurde von beiden Seiten als ausgesprochen
fruchtbar erlebt; ein erneutes Treffen der beiden Einrichtungen ist bereits angedacht.
Die Zusammenarbeit wird den wissenschaftlichen Diskurs und die Arbeit in den Teilprojekten weiter fördern.
Christine Mann, Bruno Schmid
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