Das Epos in Griechenland, Rom und in der späteren Zeit Unter einem Épos (griech. Wort, Vers, Erzählung) verstand man in der Antike eine umfangreichere Dichtung, die meist den daktylischen Hexameter als Versmaß benutzte. Auf abendländischem Boden bildete Homer (um 800 v. Chr.) 1 mit seinen großen Werken Ilias (eine Episode aus dem troianischen Krieg, nämlich der Zorn des Achilleus und die Folgen, nicht aber die Einnahme Troias) und die Odyssee ( Heimkehr des Odysseus ) den Anfang literarischer Epik. Diese Werke sind bereits so vollkommen, dass es schon vor Homer Épen gegeben haben muss, die mündlich tradiert und von Aoiden (später Rhapsóden = Sängern) improvisierend auf den mykenischen Fürstenhöfen – d. h. bis zu deren Untergang durch die dorische Invasion um 1200 v. Chr. – vorgetragen wurden. Diese Épen stellten hauptsächlich Götter- und Heldenlieder dar. Unter dem Tyrannen Peisistratos (ca. 550 v. Chr.) sollen Homers Werke erstmals schriftlich in Athen fixiert worden sein. Hesiod (um 700 v. Chr.), der sich im Gegensatz zu Homer mit seinem Namen zu erkennen gibt, erstellte in seiner Theogonie einen Stammbaum der griechischen Götterwelt und zeigte sich so als der erste griechische Theologe. In seinen Érga kai hemérai (Werke und Tage) findet sich ein „Bauernkalender“, der in einem belehrenden Charakter darauf hinweist, in welcher Jahreszeit die verschiedenen Landarbeiten am besten zu erledigen sind. Homerischer Tradition folgten im 7. und 6. Jh. v. Chr. der sog. Epische Kyklos mit Themen aus dem troianischen und thebanischen Sagenkreis (nur fragmentarisch erhalten) und die sog. Homerischen Götterhymnen. Unter den Autoren aus der Zeit des Hellenismus ist besonders Apollonios von Rhodos mit seinen Argonautiká (Sage von den Argonauten) zu erwähnen. Unter Einfluss der griechischen Epen entstanden in Italien verhältnismäßig früh – gemessen z. B. an der literarischen Gattung der Lyrik – epische Werke. In Saturniern, nicht in Hexametern, schuf Livius Andronicus um 220 v. Chr. (?) eine Übersetzung der homerischen Odyssee (Odusia, nur fragmentarisch erhalten), die als Schulbuch konzipiert war, und Naevius verfasste danach ebenfalls in Saturniern ein Heldenepos, das Bellum Punicum. Erst später benutzte Ennius in seinen Annales (Geschichte Roms von den Anfängen bis auf seine Zeit) den Hexameter. Die Annales, in denen auch Roms Größe verkündet wird, galten lange Zeit als das Nationalepos der Römer, bis Vergils 2 Aeneis veröffentlicht wurde, die den Höhepunkt römischer Epik bildet. Unpolitisch und an Mythen orientiert sind die 15 Bücher Metamorphoses (Verwandlungen) des virtuosen Dichters Ovid, die eine sehr große und andauernde Wirkung hatten und vor allem die Antikerezeption bis in die heutige Zeit beflügeln. In der Kaiserzeit befasste sich Lucan in seinen Pharsalia ( oder auch De bello civili) mit dem über 140 Jahre zurückliegenden Bürgerkrieg zwischen Caesar und Pompeius, während sich Valerius Flaccus in seinen Argonautica (Argonautensage) wieder dem Mythos widmete. Die mittelalterliche und neuzeitliche Epik ist spürbar von der antiken Epik beeinflusst. So erklärt Vergil dem großen italienischen Dichter Dante Alighieri (1265-1321) in dessen Divina Commedia die Unterwelt. Im Nibelungenlied finden sich deutliche Anlehnungen an die Aeneis. Die deutschen Dichter Goethe (Achilleis und Hermann und Dorothea) sowie J. H. Voss orientieren sich in ihrer Epik mehr an dem griechischen Zeitgeist und damit an Homer. 1 Auf die sog. homerische Frage, ob Homer alles allein geschaffen hat oder ob mehrere Dichter an den Werken beteiligt waren, kann hier nicht eingegangen werden. Dazu siehe z. B. : Hölscher, Uvo. Die Odyssee. Epos zwischen Märchen und Roman. München 1990 oder Latacz, Joachim. Homer. Der erste Dichter des Abendlandes. München und Zürich 1989 2 Der Dichter wurde oft Virgil fälschlicherweise wegen seines keuschen Lebenswandels in Anlehnung (Volksetymologie) an virga = Zweig, Rute so genannt.