Einführung in die theoretische Astrophysik Vorlesung an der TU München Sommersemester 2008 (http://www.mpa-garching.mpg.de/lectures/TASTRO/) Wolfgang Hillebrandt & Ewald Müller Max-Planck-Institut für Astrophysik Karl-Schwarzschild-Straße 1 85748 Garching unter Mitarbeit von Dr. Friedrich Kupka 7. Juli 2008 Inhaltsverzeichnis 0 Vorbemerkungen 0.1 Zielsetzung der Vorlesung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 0.2 Zusammenhänge mit Teilgebieten der Physik . . . . . . . . . . . . . . . . . 3 3 5 1 Thermodynamische Grundlagen 1.1 Einige thermodynamische Relationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.2 Ideales Fermigas, Maxwell-Boltzmann Grenzfall . . . . . . . . . . . . . . . 1.3 Bosegas, Strahlungsdruck und Planck-Verteilung . . . . . . . . . . . . . . . 8 8 14 21 2 Sternaufbau und Sternentwicklung 2.1 Hydrostatisches Gleichgewicht und Polytrope Gaskugeln . . . . . . . . . . 2.2 Virialsatz, Stabilitätskriterien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3 Überblick über die Sternentwicklung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 24 24 28 29 3 Hydrodynamik, Strahlungstransport und MHD 3.1 Die hydrodynamischen Gleichungen . . . . . . . . . . . . . . 3.1.1 Bedingungen für eine hydrodynamische Beschreibung 3.1.2 Hydrodynamische Gleichungen . . . . . . . . . . . . . 3.1.3 Relativistische Hydrodynamik . . . . . . . . . . . . . 3.2 Strömungsunstetigkeiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2.1 Stoßwellen in einem idealen Gas . . . . . . . . . . . . 3.3 Strömungsinstabilitäten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.3.1 Rayleigh–Taylor Instabilität . . . . . . . . . . . . . . 3.3.2 Kelvin–Helmholtz Instabilität . . . . . . . . . . . . . 3.3.3 Konvektive Instabilität . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.4 Strahlungstransport . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.5 Magnetohydrodynamik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 38 38 38 40 46 49 53 54 54 57 59 61 72 4 Dynamische Phänomene 4.0 Zusammenfassung: Grundgleichungen von Sternaufbau und Entwicklung 4.1 Weiße Zwerge, Chandrasekharmasse und thermonukleare Supernovae . . 4.1.1 Die Chandrasekhar Grenzmasse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.1.2 Entwicklung von Weißen Zwergen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 77 77 81 81 85 1 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . INHALTSVERZEICHNIS 4.2 4.3 4.1.3 Thermonukleare Supernovae . . . . . . . . . . . . Gravitationskollaps und neutrino-getriebene Supernovae . Relativistische Jets . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.3.1 Beobachtungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.3.2 Simulationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur 2 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 88 101 110 110 112 126 Kapitel 0 Vorbemerkungen Die theoretische Astrophysik ist keine grundlegende Theorie wie z.B. die Elektrodynamik, die Quantenmechanik, die Allgemeine Relativitätstheorie oder die Statistische Mechanik, sondern theoretische Astrophysik ist angewandte theoretische Physik. Wer theoretische Astrophysik erfolgreich betreiben will, braucht ein gutes und breites Wissen aus fast allen Bereichen der theoretischen Physik. Viele astrophysikalische Phänomene können nur durch Verwendung und Vernetzung einer Vielzahl theoretischer Erkenntnisse sowie natürlich essentiell von Beobachtungsdaten verstanden werden. Daher ist die Beschäftigung mit der theoretischen Astrophysik eine sehr abwechslungsreiche, aber auch sehr anspruchsvolle Tätigkeit. 0.1 Zielsetzung der Vorlesung Da in einer einsemestrigen, zweistündigen Vorlesung die ganze Fülle und Breite der theoretischen Astrophysik nicht zu bewältigen ist, mußte für diese Vorlesung eine thematische Auswahl vorgenommen werden. Wichtige Teilgebiete der theoretischen Astrophysik werden daher im Rahmen der Vorlesung nicht behandelt. Die vorgenommene Auswahl beinhaltet keinerlei Wertung, sondern ist durch die Arbeitsgebiete und Interessen der Autoren bestimmt. Sie setzt sich aus den folgenden Kapiteln zusammen: 1. Wiederholung thermodynamischer Grundlagen der Astrophysik; 2. Grundideen der Theorie des Sternaufbaus und der Sternentwicklung; 3. Einführung zu Hydrodynamik, Stoßwellen, Strömungsinstabilitäten, Strahlungstransport und Magnetohydrodynamik; 4. Anwendung dieser Konzepte auf astrophysikalische Objekte. Die Thermodynamik von Boltzmann-, Fermi- und Bosegasen, von der im 1. Kapitel eine Zusammenfassung gegeben wird, spielt in fast allen Teilgebieten der Astrophysik eine grundlegende Rolle. Denn mit ihrer Hilfe lassen sich die beobachtbaren Eigenschaften 3 KAPITEL 0. VORBEMERKUNGEN 4 von Vielteilchensystemen, wie sie in der Astrophysik erforscht werden, besonders gut beschreiben. Kapitel 2 zeigt dann, wie mittels der Thermodynamik, ergänzt um Ergebnisse aus der Hydrostatik und der Kernphysik, bereits eine einfache, aber qualitativ schon recht brauchbare Theorie des Sternaufbaus und der Sternentwicklung hergeleitet werden kann. Zum Verständnis der dynamischen Eigenschaften astrophysikalischer Systeme werden neben den erst durch Computersimulationen praktikabel gewordenen Vielteilchensimulationen vor allem Konzepte aus der Hydrodynamik herangezogen. Da letztere für fast alle Gebiete der theoretischen Astrophysik von herausragender Bedeutung ist, in der physikalischen Ausbildung aber meist eine untergeordnete Rolle spielt, soll im Kapitel 3 ein Überblick über dieses Gebiet gegeben werden. Mit den darin dargestellten Ergebnissen kann nun auch eine eingehende physikalische Diskussion wichtiger Forschungsobjekte der theoretischen Astrophysik erfolgen. Dies ist die Zielsetzung von Kapitel 4, wobei konkret folgende Themen behandelt werden: • Sternaufbau und Sternentwicklung; • Physik der weißen Zwerge und thermonuklearer Supernovae; • Graviationskollaps massereicher Sterne und neutrino-getriebene Supernovae; • Physik der Akkretionsscheiben. Viele andere, wichtige Teilgebiete der theoretischen Astrophysik können durch den gegebenen zeitlichen Rahmen der Vorlesung entweder gar nicht betrachtet oder nur gestreift werden. Hierzu zählen: • Stellardynamik • Strahlungsprozesse • Nukleosynthese und chemische Entwicklung • Relativitätstheorie und Schwarze Löcher • Hochenergieastrophysik • Physik der Planeten, Entstehung des Sonnensystems • Interstellares Medium und Sternentstehung • Kosmologie und Strukturbildung • Galaxien und Galaxienhaufen Die Konzepte aus den Kapiteln 1 und 3 sind für Untersuchungen in den meisten dieser Gebiete unabdingbar. Die konkrete Umsetzung der grundlegenden physikalischen Ideen in theoretische Astrophysik geschieht auch in jenen hier nicht behandelten Teilgebieten ganz ähnlich, wie es in den Kapiteln 2 und 4 für die Themenauswahl dieser Vorlesung gezeigt wird. KAPITEL 0. VORBEMERKUNGEN 0.2 5 Zusammenhänge mit Teilgebieten der Physik Die theoretische Astrophysik stand seit ihrer Entstehung in einem fruchtbaren Austausch mit den grundlegenden Gebieten der Physik. Dies soll, auch ohne eine genauere historische Beschreibung, anhand folgender kleiner Sammlung an Beispielen für die verschiedenen Teilgebiete der Physik gezeigt werden. Der Einfachheit halber sei dieser Sammlung die traditionelle Unterteilung in Makrophysik und Mikrophysik zugrunde gelegt. Zur ersteren gehören Mechanik, Akustik, Wärmelehre, Optik, Elektromagnetismus und Festkörperphysik. Letztere wird jedoch auch als unmittelbarer Teil der Mikrophysik angesehen, ebenso wie die Physik von Atomen, Ionen und Molekülen, sowie die Kern- und natürlich die Elementarteilchenphysik. Um theoretische Astrophysik betreiben zu können, werden Kenntnisse aus all diesen Bereichen benötigt. Die Mechanik spielt etwa für die stellare Physik (Theorie des Sternaufbaus) und die Stellardynamik (Bewegung von Gruppen von Sternen oder aller Sterne in einer Galaxie) eine große Rolle. Die Schwingungen, die viele Sterne durchführen, unter anderem auch die Sonne, führen auf Problemstellungen der Akustik. Denn die Pulsationen etwa der Sonne sind die Folge von Schallwellen in einem heißen, ionisierten Gas, wie sie in der Akustik untersucht werden. Auf die grundlegende Bedeutung der Thermodynamik für die stellare Physik wird noch in den späteren Kapiteln eingegangen. Aber auch in der Kosmologie spielt sie eine Rolle (Abkühlung des Universums, Aufheizung einzelner Komponenten wie etwa des intergalaktischen Mediums), oder im Verständnis von Gas und Staub, die als interstellares Medium den Raum zwischen den Sternen einer Galaxie erfüllen. Die Optik spielt natürlich bei der Entwicklung von Beobachtungsgeräten für die Astrophysik eine entscheidende Rolle, aber Konzepte aus diesem Gebiet können in der theoretischen Astrophysik auch bei scheinbar ganz anderen Problemstellungen nützlich sein (etwa Gravitationslinsen, wie sie von Galaxienhaufen gebildet werden können). Phänomene des Elektromagnetismus kommen überall in der Astrophysik vor (Entstehung von stellaren Magnetfeldern durch Dynamoeffekte, Erklärung der Pulsare als Neutronensterne mit starr mitrotierendem Magnetfeld einer bestimmten Orientierung). Selbst die Festkörperphysik spielt bei manchen Fragestellungen eine Rolle (Bildung und Eigenschaften von interstellarem Staub). Strahlung, die wir von der Oberfläche von Sternen und Planeten empfangen, wird letztlich von den dort befindlichen Atomen, Ionen und Molekülen ausgesandt. Das erlaubt es, die “physikalischen Bedingungen am Ort der Entstehung” zu untersuchen – vorausgesetzt, man verfügt über ausreichend gute Kenntnisse in Atom- und Molekülphysik. Wie die Sonne ihre Energie im Inneren erzeugt, war eine der wichtigsten Fragen der Kernphysik. Wie es aber dazu kommt, daß wir eine ganz bestimmte Häufigkeitsverteilung der verschiedenen Elemente und ihrer Isotope im Universum beobachten, ist noch heute Gegenstand der aktuellen astrophysikalischen Forschung. Und erfordert es unter anderem, die detailierten Reaktionsraten beim Zusammenstoß verschiedener Kerne zu verstehen, welche bei gegebenen Temperaturen und Dichten auftreten können. Bei der Bildung von Neutronensternen wiederum tritt Kernmaterie in Extremzuständen auf, wie sie in keinem terrestrischen Beschleuniger erreicht werden können. Ganz ähnlich erklärt sich das wiedererwachte Interesse der Elementarteilchenphysik an der Astrophysik: Denn kosmische Jets, KAPITEL 0. VORBEMERKUNGEN 6 wie sie die extrem massereichen Schwarzen Löcher in den Zentren von Galaxien bilden, sind eine wichtige natürliche Quelle für hochenergetische Teilchen. Dieser Austausch ist aber kein einseitiges Nehmen, kein bloßes Anwenden physikalischer Erkenntnisse. Gerade die grundlegenden Theorien der Physik haben unmittelbar von Fragestellungen zunächst der Astronomie und später dann der (theoretischen) Astrophysik bei ihrer eigenen Entwicklung profitiert. Die klassische Mechanik nahm ihre Entwicklung auch aus der Fragestellung heraus, eine bessere Erklärung für die beobachtete Bewegung der Planeten zu liefern, wie sie die Astronomie der Neuzeit in immer höherer Genauigkeit möglich machte. Die Unauffindbarkeit eines angeblichen “Äthers”, in dem sich die Erde im Raum bewegen sollte, trug ganz wesentlich dazu bei, die Elektrodynamik als eine fundamentale Theorie zu bekräftigen und die Entwicklung der speziellen Relativitätstheorie zu fördern. Die meisten Tests der Allgemeinen Relativitätstheorie entstammen astrophysikalischen Fragestellungen und die Frage, ob ein bestimmter Term in den Feldgleichungen dieser Theorie – jener mit der “kosmologischen Konstante” – überhaupt notwendig sei, war in jüngster Zeit einer der wichtigsten Streitfragen der Kosmologie und damit der theoretischen Astrophysik (die moderne Kosmologie fordert nun zwingend diesen Term in den Feldgleichungen für eine Beschreibung der kosmischen Expansion). Quantenmechanik und Statistische Mechanik haben in ihren frühen Entstehungsphasen zunächst scheinbar wenig von der Astrophysik profitiert. Doch die Vorhersage und die Untersuchung der Physik der Weißen Zwergsterne war einer der wichtigsten Bestätigungen gerade erst entwickelter Konzepte der statistischen Quantenmechanik (Fermigas, vollständig entartetes relativistisches Elektronengas, etc.). Noch vor den leistungsfähigen Teilchenbeschleunigern lieferte die kosmisch erzeugte Höhenstrahlung durch einen immer komplexer werdenden “Zoo” an neuen gefundenen Teilchen wesentliche Motivationen für die Quantenfeldtheorie. Und heute geschieht dies vielleicht ein zweites Mal, auf der Suche nach einem teilchenartigen Ursprung der “Dunklen Materie”, die einen erheblichen Anteil an der Gesamtmasse des Kosmos ausmacht. Trotz dieses gegenseitigen Austausches gibt es aber auch zwei wesentliche Unterschiede zwischen der Astrophysik und den meisten Teilgebieten der Physik. Diese beziehen sich jedoch nicht auf die theoretischen Ideen der Astrophysik selbst, sondern auf deren experimentelle Überprüfung. Diese kann ja meist nicht im Labor erfolgen, sondern nur durch das Sammeln von Signalen, die von den untersuchten Objekten ausgesandt werden (meist Photonen, wie bei den klassischen optischen Teleskopen, in jüngerer Zeit auch Neutrinos etc.), durch ein “Feldexperiment”. Daraus ergeben sich zwei Einschränkungen: 1. Bei manchen Beobachtungen ist eine “Wiederholung” des Experiments nicht möglich (eine bestimmte Supernova explodiert nur einmal, etc.). 2. Das Feldexperiment – die Beobachtung – ist nicht so gut kontrollierbar wie ein Labor. Insbesondere muß auch die weitgehend unkontrollierbare “Umgebung” bei der Interpretation der Daten stets und unmittelbar miteinbezogen werden (z.B. wellenlängenabhängige Absorption von Photonen durch das dazwischenliegende interstellare Medium bei der Beobachtung eines weit entfernten Objektes). KAPITEL 0. VORBEMERKUNGEN 7 Die astrophysikalische Forschung ist daher auch darauf ausgerichtet, diese zusätzlichen Unsicherheiten zu minimieren. Dies kann zwar häufig nicht für eine Einzelbeobachtung geschehen, wohl aber zum Beispiel für ein Klasse von Objekten oder ein Teilgebiet der Astrophysik.