Alter-Liebe-Sexualität Dr. med. M. KirstenKrüger Universität Zürich Psychiatrische Universitätsklinik Abteilung für Psychiatrische Forschung kirsten@bli unizh ch ZITAT „Sexualität ist nichts endgültig Gegebenes, sie ist für den Menschen eine Aufgabe und ein zu vollbringendes Werk, sie ist nicht einfache Funktion des Bedürfnisses, des Instinkts oder des Triebes, noch auch von spezieller Wissenschaft gesichertes umgrenztes Gebiet. Sexualität ist auch im Alter eine Erfahrungs-Chance, die nur jeder selbst machen kann, die noch nicht einmal vom Sprechen darüber sich öffnet. Wo das Sexuelle anfängt, endet die Macht des Verbalen und damit auch die Wissenschaft.“(Ricoeur) STUDIEN Literatur Bucher,T., Hornung,R., Gutzwiller,F. & Buddeberg,C.: Sexualität in der zweiten Lebenshälfte. Erste Ergebnisse einer Studie in der deutschsprachigen Schweiz in: H.Berberich & Bähler(Hrsg.): Sexualität und Partnerschaft in der zweiten Lebenshälfte, Psychosozialverlag Giessen(2004) Schultz-Zehden,B.: Das Sexualleben älterer Frauen – ein tabuisiertes Thema in: fundiert, Das Wissenschaftsmagazin der Freien Universität Berlin, elfenbeinturm.net.(2004) Entwicklungsfaktoren der Sexualität im Alter Steigende Lebenserwartung 1050-60er Jahre:Prüderie, Sex in der Ehe (Kinderaufzucht) 1960-70er Jahre:“sexuelle Revolution“ instabilere Ehen, höhere Erwartung an erotisches Glück, mehr sexuelle Abwechslung 1980er Jahre: Aids, Suche nach sexuellem Glück u. erfüllter Beziehung (Psycho-Buchmarkt als Indikator) Sexuelle Aktivität und Interesse im Alter Die sexuelle Entwicklung im Alter Bedeutung der Sexualität: sinkend Bedeutung von Zärtlichkeit: gleich Koitale Aktivität: sinkend Beendet: Männer 68J., Frauen 60-65J. Manuell-genitaler und oraler Sex: ??? Sexueller Genuss: M. ?, F. steigend Orgasmus mit Partner/in:M.?, F. steigend Sexuelle Selbstbestimmung: M.?, F. steig. Gesprächsoffenheit über Sex: konstant Sexuelles Interesse im mittleren/ höherem Lebensalter Sexuelles Interesse vorhanden Mehrheit bis ca. 80 Jahre, danach wenige Frauen weniger als Männer(sagen sie) Erotische Träume Frauen ca.1/2 der 60-80-, 1/3 der 80+jährigen Männer 1/3 der 60-90jährigen Erotische Phantasien werden „zugegeben“ Frauen ca. ½ der 60-80jährigen; z.T. älter Männer 90% der 50-90jährigen Sexuelle Aktivität GV wird von der Mehrheit der 65-70jährigen ausgeübt; Häufigkeit eher gering Petting ohne GV eher Abnahme, wenig erforscht Zärtlichkeit konstant ca. 70-90%, lebenslang wichtig!!! Selbstbefriedigung F. 10-30%, M. 20-50%, starke Varianz auch von Verheirateten praktiziert Wichtige Einflussfaktoren Einflüsse auf die Alterssexualität Körper/Gesundheit Emotionale Qualität der Paarbeziehung Individuelle Sexualbiographie Umweltfaktoren Körper/Gesundheit 1. 2. ALTER Abnahme der Sexuellen Aktivität Veränderung der sexuellen Reaktionen Männer: deutliche Abnahmen (Errektionsvermögen; Libidoverlust) Frauen:geringere Effekte, geringere Lubrikation aber erhaltene Erregbarkeit/Orgasmus Gesundheitszustand Männer: Determinante der sexuellen Aktivität Frauen: schwächere, nichtsignifikante Einflüsse Körper/Gesundheit (Frauen) Status nach der Menopause sex. Aktivität: GV u. Selbstbefriedigung unverändert sexuelles Interesse unverändert sex. Genuss, Erregbarkeit, Orgasmus unverändert Sex. Probleme:leicht ansteigend (genitaler Sex) durch Östrogenmangelerscheinungen (Dyspareunie,Vaginalatrophie, Lubrikationsschwäche, Alterskolpitis) Hormontherapie wiedersprüchlich, lokal erwiesen Zufriedenheit: mit Partner als Liebhaber: eher weniger mit Partner als Freund:gleich Die weibliche Antwort auf VIAGRA 5 neue Medikamente zur Behandlung von weiblichen Sexualstörugen –die alle von Männern einzunehmen sind Talkra - belebt das Interesse an den Worten der Frau Anniversa - aktiviert die rechtzeitige Erinnerung an Hochzeits-&Geburtstage Flattra - gesteigertes Bedürfnis, Komplimente zu machen Respecta - fördert die Achtung Lovra - aktiviert die „wichtigste“ Sache Körper/ Gesundheit (Männer) Klimakterium verile bzw. altersbedingter Hypogonadismus bzw. Partielles Androgendefizit des alternden Mannes (PADAM) Impotenz bzw. Erektile Dysfunktion (ED) PADAM Verlauf langsamer als Klimakterium der Frau, grössere individuelle Schwankungsbreite Ab 40. Lbj. sinkt Spiegel des freien Testosterons jährlich um 1,2% Symptome:nachlassen der Muskelkraft & Muskelschwund auch im Penis Konzentrationsschwierigkeiten,Schlafstörungen, Libidoverlust,depressive Verstimmungen Therapie:Testosteronapplikation (oral, intramuskulär, transdermal, Pellets). Kontraindikationen: absolut –Prostatakarzinom relativ – Schlafapnoe, COPD, Polyzythämie ED Definition: anhaltende Unfähigkeit, eine für einen befriedigenden GV ausreichende Errektion zu erreichen und aufrechtzuerhalten Prävalenz: Massachusetts Male Aging Study (MMAS) Feldmann et al.1994) über 40jährige = 39% über 60jährige = 57% über 70jährige = 67% ED ( Fortsetzung) Risikofaktoren vaskulär Gefässprozesse, Hypertonie, D.m., Nikotin- u. Alkoholkonsum, Traumata, Bestrahlung Neurogen MS, Parkinson, Alzheimer-Demenz, periphere Neuropathie Hormonell PADAM, Medikamente (Antihypertensiva, -depressiva, -androgene, Tranquilizer) ED (Fortsetzung) Diagnostik Stufe 1: Standartdiagnostik beim Hausarzt Stufe 2: Spezialdiagnostik beim Urologen Prostaglandininjektion (intrakavernöse Kompetenz), Dopplersonografie (arterielle Achse) Stufe 3: Arteriographie (Corpora cavernosa), neurologische & radiologische Zusatzuntersuchungen Therapie - medikamentös: Yohimbin (alpha-Rezeptorenblocker), Apomorphin (Dopaminrezeptorantagonist), Sildenafil (Phosphodiesterase5–Hemmer), Tadalafil, Vardenafil (selektive Phosphod.5-Hemmer) Aphrodisiaka Mythos oder Zaubermittel Phallus = Fruchtbarkeit und Macht Pflanzliche Potenzmittel Kürbis, Meerrettich – Vit.E kräftigt Körper Chili, Paprika, Petersilie- reizen Sexualorgane Hopfenextrakt – entspannend, Hemmungen Rosmarin, Sandelholz, Zimt – Düfte wecken Bereitschaft zum Sex Tierische Potenzmittel = bedrohte Tierarten Sibirien – Penis des Seebären (200$) Afrika – Horn des Spitzmaulnashorns Asien – Flossen des Haifischs (250 $) Indien/China – Knochen des Tiger (30‘000,-CHF) Sanskrit-Wort für Tiger: Vyaghra Beziehungsformen im Alter Langzeitehe „Sugardaddys“ Altersliebe ab 70 - Männer:Frauen 1:4 Emotionale Qualität der Beziehung Geschlechtsverkehr häufiger wenn: Mann & Frau ihre Sexualität geniessen Sexuelle Wünsche übereinstimmen die partnerliche Arbeitsteilung aus weiblicher Sicht gerecht ist der Mann sich weniger belastet fühlt durch Ehekonflikte (Ehe und aussereheliche Beziehung) Typische Situationen für das Auftreten sexueller Probleme Ungelöste Konflikte in anderen Lebensbereichen (z.B. Pensionierung des Mannes) Schwere unverarbeitete Verletzungen in der Partnerschaft Symbiotische Beziehung – durch zu grosse Nähe Verlust der Neugier Scheu, eigene sexuelle Bedürfnisse zu zeigen Probleme bei der Bewältigung ernster Erkrankungen Schlussfolgerung: Sexprobleme selten monokausal, Diagnostik & Therapie immer körperlich und psychisch Therapievorschläge (VT) Normalisieren und Akzeptieren Reduktion überhöhter Ansprüche Auseinandersetzung mit Alternsängsten Arbeit an der sexuellen Beziehung verbesserte Kommunikation über sexuelle Wünsche Sensualitätsübungen(Singer-Kaplan) Inszenieren von Ausnahmesituationen Arbeit an der nichtsexuellen Beziehung Emotionale „Entflechtung“ der Partner, Abgrenzung des Paares nach „aussen“(Kinder, Enkel) Auseinandersetzung mit alten Verletzungen Wiederherstellung einer Gesprächskultur Individuelle Sexualbiographie Eine der wichtigsten Determinanten sexueller Aktivität in höherem Alter ist die sexuelle Genussfähigkeit in jüngeren Jahren! Melanie, 75 Jahre, frisch verheiratet „...im Alter gibt man weder das Essen, noch das Trinken noch das Schlafen auf. Warum also sollte man den Sex aufgeben?..“ Betty Friedan “Mythos Alter“ (1993) „Wenn das sexuelle Erleben- wie immer der Akt der Berührung aussehen magdas ganze Selbst einschliesst, dann entsteht eine Nähe, die alle jugendlichen Phantasien... in den Schatten stellt und das Gefühl der Selbstidentität, Lebendigkeit und Kontrolle über das eigene Leben ... entscheident stärkt.“ Literatur: C. Geissler, M. Held:“Generation Plus – Von der Lüge, das Altwerden Spass macht“ Schwarzkopf & Schwarzkopf Verlag (2003) M. Koch: „Körperintelligenz“ Deutscher Taschenbuchverlag (2003) P. Perrig, F. Höpflinger(Hrsg.):“Jenseits des Zenits – Frauen und Männer in der 2.Lebenshälfte“ Haupt Verlag (2000) R. Daimler: „Verschwiegene Lust“ Deuticke Verlag (1999) W. Cyran, M. Halhuber:„Erotik und Sexualität im Alter“ Gustav Fischer Verlag (1992) Sexualität in Altersund Pflegeheimen 1. 2. 3. Junge pflegen Alte Pflegebedürftigkeit und Sex Vorstellung von der Würde des Alters Fragebogen Haben Bewohner genügend Intimsphäre, Rückzugsmöglichkeiten? 75 % Nein (50% bei Jüngeren) Können Sie sich vorstellen, einen Bordellbesuch für Bewohner zu organisieren? 51% Ja, 40% Nein Können Sie sich vorstellen, dass eine Berührerin im Heim Dienste anbietet? 20% unvorstellbar, 30% bedingt vorstellbar, 48% vorstellbar, 2% normal Fragebogen - Fortsetzung Über Anschaffung von Sexvideos nachgedacht? 70% Nein, 10% unvorstellbar, 17% vorstellbar, 2% Ja Folgen von gelebtem und ungelebtem Sex? 10% Erschöpfung der BewohnerInnen, 9% Herzinfarkt, 43% an gehobenes Selbstbewusstsein der BewohnerInnen 20% befürchten Übergriffe auf Personal (50% der unter 30jährigen) Reingold, D.A.: Reights of nursing home residents to sexual expression(1997) Die Betreiber des Heimes bekennen sich zum Respekt vor emotionaler und physischer Intimität und der Tatsache, dass sexuelle Beziehungen zum Leben gehören. Die Bewohner haben das Recht, ihre Partner unter Mitbewohnern oder Besuchern zu wählen und Bücher, Magazine und Videos mit sexuellem Inhalt zu besitzen. Es gehört zur Verantwortung des Personals, die sexuellen Bedürfnisse der Heimbewohner zu ermöglichen.Findet ein Paar zusammen, so muss einem von beiden ein Einzelzimmer zur Verfügung gestellt werden, um die Privatspäre zu wahren. ZULETZT DREI WÜNSCHE Günter Grass: „Letzte Tänze“ Steidl Verlag Göttingen 2003 Komm, tanz mit mir solang ich noch bei Puste und von den Sohlen aufwärts existiere. Komm, lieg mir bei, solang mein Einundalles steht und wichtig tut, als stünd er zum Beweis. Komm, sieh mir zu, ob ich den Kopfstand schaffe und aus verkehrter Sicht die Dinge rings erkenne. Komm tanz, lieg bei, sieh zu und staune, was mir noch möglich ist bei Gunst und Laune. Elisabeth Bachmann Richtlinien für Umgang mit Sexualität Alle Pflegenden über Probleme der Geschlechtlichkeit aufklären Reflexion der Mitarbeiter über eigene Sexualität Vertrauensverhältnis vor Ganzkörperwäsche Intimsphäre nur im Notfall durchbrechen Zuviel Intimsphäre gibt es nicht Umbauten generell Einzelzimmer anstreben „Anmache“ durch Bewohner auf Gefühlsebene abholen, nie drohen oder strafen Teamsupervision bei gravierenden Übergriffen Vorkommnisse stets im geschützten Rahmen reflektieren