Das Raumschiff ist angedockt, seit Wochen liegt es unbeweglich auf

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Orion
Das Raumschiff ist angedockt, seit Wochen liegt es unbeweglich auf der kahlen Wiese.
Alles ist eisig gefroren, der nahe See glitzert silbrig und der Wald am Horizont sieht aus
wie eine drohende Wand aus schwarzem Metall. Nichts bewegt sich – Auszeit –
Sternenzeit – Orionzeit.
Seit drei Wochen befinde ich mich im Raumschiff; ich heisse This und bin siebzehn.
Meine Mutter mag es nicht, dass ich mich This nenne. „Wozu haben wir dir einen
schönen Namen gegeben, dass du ihn dann so versaust.“ Ja, ja, meine Mutter, sie kann
mich mal. Soll sie doch mit Papa und Melvin auf ihrem Designersofa hocken, was kratzt
es mich…….. . Na ja, eigentlich ist’s ein tolles Sofa, überhaupt ist unser Haus in
Ordnung. Nicht so spiessig, wie bei meinen Kumpels zu Hause und echt viel cooler als
in der WG, in der ich war, aber wohl war es mir doch nicht mehr. Ich weiss eigentlich
nicht, warum. Früher hat’s gestimmt. Da bin ich auch noch gerne in die Schu le
gegangen. Bei Frau Erzinger und Frau Weiss war ich gerne. Die hatten Geduld mit mir
und haben meine Fragen beantwortet. Darum kenne ich auch die Sternenzeit. Das ist
die Zeit von den Sternen aus gerechnet, die ist nicht ganz gleich, wie unsere Zeit. Hier
rechne ich die Zeit auch von der Gruppe Orion aus, nicht wie im wirklichen Leben……..
Mathe habe ich schlecht begriffen, aber in der Primarschule kam ich so irgendwie mit.
In der Oberstufe kam ich zu Herrn Zürrer, da war’s vorbei. Ich war bald der Trottel vom
Dienst; das hat mich fertig gemacht. Zu Hause klappte es auch nicht mehr. Ich hatte
keine Lust auf Familie; hängen mit den Kollegen, das brachte es. Mein Vater sagte nicht
viel dazu, er verschwand in seinem Betrieb, bei seinen schönen Büchern. Die Mutter
und ich stritten oft. Mal waren es die nicht gemachten Hausaufgaben, mal kam ich zu
spät nach Hause, mal waren es lumpige 40.- Fr. die ich in der Schule aus der
Klassenkasse gemopst hatte, mal wollte sie mir kein Geld für den Ausgang geben –
Stress ohne Ende. Eines Tages hatte ich definitiv genug. Ich fuhr übers Wochenende
mit Kumpels nach Zürich. Geld hatte ich zu Hause geklaut und auch noch Mutters
Designerschmuck mitgehen lassen. In Zürich kaufte ich Hipp Hopp-Klamotten und gab
voll einen durch. Alk, Stoff, alles eben. Na ja, dann war die Kohle alle, die Kumpels
verschwanden und ich war von dem Zeug sowieso fertig; ich trampte nach Hause und
meine Eltern nahmen mich wieder auf. Die alten Kleider hatte ich in Zürich
weggeschmissen, von jetzt an trug ich nur noch Hipp Hopp. „Neue Klamotten, neuer
Mensch, so geht das“, dachte ich. War’ dann nicht so. In die Schule ging ich dann nicht
mehr, bei meinem Vater im Betrieb zu arbeiten hatte ich echt keine Lust. Er hat es zwar
ein paar Wochen mit mir versucht, das ist wahr, aber es ging einfach nicht mit uns.
Dann machte ich ein Praktikum in einem Recyclingbetrieb, aber der Chef war total
stressig, so ging das auch nicht. Auch in der WG, in der ich während dieser Zeit
wohnte, gab’s oft Stress, also ging ich fast jeden Tag nach Hause und hing dort herum.
Für meine Familie war das wohl sehr schwierig. Mein Bruder gab mir schon lange kein
Geld mehr und verliess das Haus, wenn ich aufkreuzte und meine Mutter hatte auch
genug von mir. Obwohl sie doch echt genug Kohle hat, schliesslich hat sie einen guten
Job, wollte sie keine herausrücken. Da nahm ich den Baseballschläger und stand ganz
cool vor sie hin. Ich zitterte, denn ich liebe meine Mutter, aber was sollte ich machen,
ich brauchte die Kohle. Ich stand also da und forderte Mama auf, ein paar Lappen
herauszurücken. Sie wurde ganz bleich, sagte kein Wort, nahm das grosse Messer aus
der Schublade und ging rückwärts aus der Küche. Bevor ich checkte, was Sache war,
stand die Polizei da und zwei Beamte nahmen mich in Handschellen und
Sicherungsketten mit. Krass! Ich hatte die Hosen gestrichen voll.
Die Gruppe, in der ich jetzt bin, heisst Orion. Mein Vater hat Videos aus den Sechzigern
von einem Raumschiff Orion, die haben wir früher an Regensonntagen zusammen
angeguckt, war echt spannend. Jetzt bin ich selber im Raumschiff, kommt mir jedenfalls
so vor. Da sind noch andere Buben und Mädchen und da ist die Besatzung. Auf Orion
herrschen strenge Regeln. Das muss so sein, sonst geraten wir ausser Kurs. No drinks,
no drugs, no fun, einfach gar nichts. Es ist hart und an manchen Tagen kaum
auszuhalten. So kamen einige auf die hirnverbrannte Idee, auszubrechen. Der Plan war
gemein – Angriff auf die Betreuer - aber gut; nun, die Besatzung war schlauer. Das
Resultat war dann halt nicht die Kurve; statt Silvesterparty mit Kumpels und Weibern
gab’s eine Woche SP. Sonderprogramm auf Orion, super: Schriftliche Stellungnahme,
Gruppentrennung, Einschluss, das ganze Programm…… Es tut ganz schön weh, kein
gemeinsames Essen, keine Schule, kein Sport, kein Töggelikasten – immer im Zimmer
eingeschlossen, alleine essen und kein Kontakt nach aussen. Man hat viel Zeit
nachzudenken, man kommt echt ins Grübeln. Regeln und so – ein wichtiges Wort im
Raumschiff. Ich könnte gut ohne Regeln leben, das wär’ viel einfacher. Anderseits
geht’s mir eigentlich gut. Hier ist alles, aber wirklich alles, streng reglementiert, da
herrscht Klarheit, das tut meinem Kopf gut. Ich weiss was Sache ist, jeden Tag, bei
jeder Gelegenheit. Ob auf der Gruppe, in der Schule oder im Atelier. Bei Herr Grob. ist’s
genau gleich wie bei Frau Anderegg, bei Herr Bohner gleich, wie bei Herr Koller. Zu
Hause war das anders. Es kam halt drauf an, wie Mama drauf war. Da konnte ich
motzen und „handeln“ oder mich drücken; bei Papa sowieso, der merkte kaum, was
abging. Ich würde gerne mit Mama telefonieren, ihre Stimme hören. Ich vermisse sie.
Aber im SP ist da nichts drin, alle innern Luken sind geschlossen, kein Kontakt mit
„Erdlingen“, das Raumschiff ist auf Kurs und ich mit. Nur die Aussenluke mit
Sicherheitsglas in meinem „Schott“ ist geöffnet, zwischen den Seitenblenden sehe ich
ein Stück Sternenhimmel. Im Lexikon auf der Gruppe habe ich gelesen, dass es am
Äquator ein Sternbild mit Namen Orion gibt. Das gefällt mir. Die alten Seefahrer haben
sich nach den Sternen orientiert, das habe ich bei Herr Zürrer in der Schule gelernt.
Orion besteht aus neun Sternen. Genau so viele Wochen bin ich noch auf Orion. Ich
möchte nach Hause, aber ich glaube nicht, dass das gehen würde. Meine Mutter und
ich, das funktioniert noch nicht, ich habe sie zu sehr verletzt. Es ist besser, wenn ich in
ein Heim oder in eine WG komme. In der Kreativstunde habe ich ein Bild mit dem Orion
gemalt, das nehme ich mit. Seefahrer und Astronauten orientieren sich nach den
Sternen!
Januar 2008, Monika Rösinger
Frau Rösinger ist Teammitglied der Schulleitung an der Oberstufe in Bütschwil und
schrieb obige Kurzgeschichte nach einem wöchigen Einblick im JH Platanenhof.
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