44 wollte. Die Leiterin des Mädchenhauses lud daraufhin Vater und

Werbung
wollte. Die Leiterin des Mädchenhauses lud daraufhin Vater und
Mutter zu einem Gespräch ein. Ihr war es wichtig, dass der
sexuelle Missbrauch vor Renate nochmals deutlich ausgesprochen würde. Vater sagte vor Mutter und Renate, dass er eine
sexuelle Beziehung zu seiner Tochter unterhalten habe. Die
Mutter sagte daraufhin, dass sie das nicht glauben könne. Vater
wiederholte seine Aussage, worauf Mutter verzweifelt sagte,
dass sie darauf nichts zu antworten hätte, da ihr dasselbe ja
auch passiert sei.
Eine Mutter von sieben Kindern meinte im Gespräch, dass sie
die Erfahrungen auch gemacht hätte und trotzdem groß geworden wäre – das gehöre wahrscheinlich zum Leben einer Frau
dazu.
Der Vater einer Tochter, die er über mehrere Jahre sexuell
missbraucht hatte, berichtete über massive Vernachlässigung
durch seine Mutter, die ihn unehelich geboren hatte. Seinen
Vater hatte er nie kennen gelernt, nur der Großvater sei in
Erscheinung getreten. Immer nach Besuchen des Großvaters
folgte massive körperliche Gewalt durch seine Mutter. Anschließend tat es ihr leid und er durfte als Wiedergutmachung bei ihr
im Bett schlafen, was er als sehr schön empfand.
2.9.2 Familienstruktur
Missbrauchsfamilien weisen weder nach innen noch nach außen adäquate
Grenzen auf: auf der einen Seite sind die Grenzen nach außen starr und
undurchdringlich, so dass das Inzestgeheimnis gewahrt bleiben kann. Soziale Kontakte sind als Folge davon auf das Notwendigste beschränkt
(Beruf, Schule, Kita) und finden nur außerhalb des Familiensystems statt.
Der Missbrauch selbst wirkt stigmatisierend und trennend („Ich hatte immer das Gefühl, ein Kainszeichen auf der Stirn zu tragen. Ich fühlte mich
schmutzig und dachte immer, wenn die anderen Kinder nur wüssten, wer
ich bin. Die Pausen in der Schule waren mir ein Gräuel“ – Äußerung einer
28-jährigen Klientin in der Therapie). Auf der anderen Seite sind die Generationsgrenzen völlig verwischt. Die Familienmitglieder opfern ihre Autonomie oder entwickeln erst gar keine, um ihr Gefühl der Zugehörigkeit trotz
geringer emotionaler Ressourcen beibehalten zu können. Die persönlichen
Grenzen der Familienmitglieder sind wenig bis gar nicht ausgeprägt. Es
kommt zu symbiotischen Beziehungsmustern, der einzelne glaubt, nur
überleben zu können, wenn die Familie erhalten bleibt (LARSON, 1986;
GUTHEIL and AVERY, 1977).
44
Um die diffusen Beziehungsmuster aufrechterhalten zu können, entwickeln
die Familienmitglieder Abwehrmechanismen, die die Realitätseinschätzung
vermindern und die intrapsychischen Grenzen verwischen. Rationalisierung und Verleugnung von Gefühlen halten die Familienmitglieder in ihren
destruktiven Verhaltensmustern gefangen, verstärken ihre Ohnmachtsund Schamgefühle und damit wiederum ihre Isolation. Der Kreislauf ist
perfekt.
Soziale Isolation
Verwischung der
intrapsychischen
Grenzen
Verwischung der
Generationsgrenzen
Verwischung der
interpersonellen Grenzen
Abb. 10 (LARSON, 1986, S.107)
Des weiteren führen die Schamgefühle, die der Verletzung des Inzesttabus
entspringen, gepaart mit den Schamgefühlen, die die Eltern aus ihren
dysfunktionalen Familien mitbringen, dazu, dass der Inzest zwanghafte
Formen annimmt.
„Inzest ist eine „Familienangelegenheit“, die alle Familienmitglieder in die für
Inzest typischen Interaktionsmuster einbezieht.“ (HIRSMÜLLER, 1990, S. 26)
Nach TREPPER und BARRETT (1990) gibt es fünf Arten von dysfunktionalen
Familienstrukturen, die sexuellen Missbrauch begünstigen:
1. Vater ist die Exekutive der Familie
In dieser Familienstruktur ist der Vater eine mächtige und dominante Person, der die Mutter abwertet. Er fühlt sich für alles verantwortlich und zieht
seine Frau kaum zu Entscheidungen hinzu. Die Mutter zeigt sich passiv
und zeigt sich erleichtert, wenn die Tochter die Funktion der Ehefrau übernimmt. Die Tochter schlüpft in die Rolle der Mutter, wird Helferin und Partnerin des Vaters und bemuttert darüber hinaus noch die eigene Mutter.
45
Ist der Vater zuneigungsbedürftig, und ist für ihn Zuneigung und Sexualität
identisch, so kommt es zum sexuellen Missbrauch.
Beispiel: „In einer Beratungsstelle gab es eine „Mädchengruppe“. Die jungen Frauen waren zwischen 18 und 25 Jahren alt.
Als einen Höhepunkt organisierten die Mitarbeiterinnen ein Wochenende in den Bergen. Das Thema, das die Mädchen gewählt hatten, hieß „Mütter“. Die jungen Frauen berichteten über
ihre Erfahrungen mit ihren Müttern. Jede Schilderung ähnelte
der anderen. „Ich sorgte immer für meine jüngeren Geschwister,
fühlte mich immer für alles verantwortlich, auch für meine Mutter. Ich hatte das Gefühl, sie stützen und beschützen zu müssen. Mutter hatte mit ihrer Mutter eine sehr angespannte Beziehung. Während ich versuchte, sie zu entlasten, telefonierte sie
mindestens einmal am Tag mit ihrer Mutter, besuchte sie und
versorgte Großmutter physisch wie auch emotional.“
Bericht über Bericht folgte, es waren kaum Unterschiede zu
festzustellen. Zum Schluss meinte eine junge Frau: „Eigentlich
brauchen wir nur auch ein Kind zu bekommen, damit sich endlich jemand um uns kümmert.“
Diese lakonische Bemerkung führte zu einem großen Gelächter
in der Gruppe. Sehr richtig wurde festgestellt, dass sie Mutters
Platz und Funktion ausgefüllt hatten und auf ihr „Kindsein“ verzichtet hatten. Ihre Bedürftigkeit war ihnen schmerzlich bewusst. Die nahe liegende Lösungsidee war, es ihren Müttern
und Großmüttern gleichzutun, um als Mütter endlich selbst in
die Lage zu kommen, Kind sein zu dürfen.
Bemerkenswert war weiter, dass die Väter durchweg als Autoritäten dargestellt wurden. Es wurde zwar immer auch von der
Wut auf die Väter gesprochen, aber die Beziehung zum Vater
war für die jungen Frauen weitaus weniger belastend als die
Beziehung zur Mutter. Eine junge Frau fing eine Therapiesitzung so an: „Mein Vater steht für mich auf einem Sockel, und
über meine Mutter rede ich nicht“ (KELLERMANN, 1995, S. 79).
Vater
Generationale
Aufwärtsbewegung
Kind
------------------------------------------------ Generationsgrenze
Kind Kind
Mutter
Abb. 11
46
2. Mutter ist die Exekutive in der Familie
Bei dieser Familienstruktur ist die Mutter dominant und mächtig. Sie behandelt den Vater wie eines ihrer Kinder. Sie entscheidet eigenständig für
die Familie und fühlt sich von ihrem Mann, der sich wie ein Jugendlicher
verhält, isoliert.
Seine sexuellen Kontakte zu seiner Tochter erscheinen für ihn wie eine
sexuelle Spielerei unter Geschwistern. Die sexuellen Übergriffe können
manchmal gewalttätig stattfinden, insbesondere dann, wenn sie Ausdruck
von Zorn sind.
Beispiel: Eine junge Frau stellte in einem Selbsterfahrungsseminar ihre Familie, in der sie jahrelang missbraucht worden war,
wie folgt auf: sie saß auf einem Stuhl ihrem Vater gegenüber,
der ebenfalls auf einem Stuhl saß. Mutter stand auf einem Stuhl
und sah ihre Mutter an, die ebenfalls auf einem Stuhl stand. Die
Mutter sowie die Großmutter beherrschten das Bild, während
Vater wie ein Spielkamerad des Mädchens wirkte. Mutter war
auf einer anderen Hierarchieebene und sah ihre Mutter an. Das
Mädchen saß zwischen Mutter und Vater.
Großmutter
Vater
Tochter
Mutter
Abb. 12
Mutter sorgte, versorgte und war unermüdlich für die Familie
tätig, aber total verstrickt in der Beziehung zu ihrer eigenen Mutter. Durch die Erhöhung der Mutter wirkten Vater und das Mädchen wie Geschwisterkinder, die sich auf dem Spielplatz tummeln. Mutters Blick war so gefangen in ihrer Ausrichtung auf ihre
Mutter, dass sie überhaupt keine Notiz von den „Kindern“ nahm.
Generationale
Abwärtsbewegung
Mutter
------------------------------------------------ Generationsgrenze
Kind Kind Kind Vater
Abb. 13
47
3. Drei-Generationen-Mutter-Exekutive und die
Drei-Generationen-Vater-Exekutive
In der ersten Variante steht der Vater eine Generation unter der Mutter,
aber er steht noch eine Generation über den Kindern, so dass er die
Vaterrolle erfüllen kann. Der sexuelle Missbrauch ist väterliches Handeln,
er benutzt seine Autorität, um sexuelle Vergünstigungen zu erlangen.
Im zweiten Fall ist die Mutter eine Generation unter dem Vater, aber sie
füllt ihre Rolle als Mutter den Kindern gegenüber aus. Um sexuellen Verkehr mit der Tochter haben zu können, verlassen sowohl Vater wie auch
die Tochter ihre Generationen. Bei dieser Struktur bestehen geschwisterliche Rivalitäten zwischen Mutter und Tochter um die Anerkennung von
Vater.
Ein Ehepaar kam zu mir in Therapie, da die Tochter wiederholt
weggelaufen war. Die Tochter war von der zuständigen ASDMitarbeiterin des Jugendamts in einer Wohngruppe untergebracht worden und die Eltern zeigten sich sehr verzweifelt darüber. Vater berichtete, dass seine Tochter als Kind wie eine
Prinzessin gewesen sei und geriet zunehmend ins Schwärmen.
Ich griff die Metapher auf und fragte Vater, welche Position oder
Rolle im Bild der Prinzessin er denn einnehme und welche seine Frau. Er überlegte und antwortete: „Meine Tochter ist die
Prinzessin, meine Frau ist die Königin und ich bin der Ritter“
(drei Hierarchieebenen: Königin, Ritter, Prinzessin. Der Ritter
beschützt die Königin, darf ihr dienen, jedoch ist eine Beziehung mit ihr niemals erlaubt. Weiter steht der Ritter über der
Prinzessin.) Seine Frau schmunzelte und antwortete: „Nein, so
würde ich es nicht sehen. Mein Mann ist der König und ich und
meine Tochter sind Prinzessinnen.“ Nach längerem Nachdenken stimmte der Vater seiner Frau verhalten zu. Auf meine Frage, was aus einer Prinzessin eine Königin machen würde, antworteten beide gleichzeitig: „Sexualität“.
Mutter
------------------------------------------------ Generationsgrenze
Kind
------------------------------------------------ Generationsgrenze
Kind Vater Kind
Abb. 14
48
Herunterladen