wollte. Die Leiterin des Mädchenhauses lud daraufhin Vater und Mutter zu einem Gespräch ein. Ihr war es wichtig, dass der sexuelle Missbrauch vor Renate nochmals deutlich ausgesprochen würde. Vater sagte vor Mutter und Renate, dass er eine sexuelle Beziehung zu seiner Tochter unterhalten habe. Die Mutter sagte daraufhin, dass sie das nicht glauben könne. Vater wiederholte seine Aussage, worauf Mutter verzweifelt sagte, dass sie darauf nichts zu antworten hätte, da ihr dasselbe ja auch passiert sei. Eine Mutter von sieben Kindern meinte im Gespräch, dass sie die Erfahrungen auch gemacht hätte und trotzdem groß geworden wäre – das gehöre wahrscheinlich zum Leben einer Frau dazu. Der Vater einer Tochter, die er über mehrere Jahre sexuell missbraucht hatte, berichtete über massive Vernachlässigung durch seine Mutter, die ihn unehelich geboren hatte. Seinen Vater hatte er nie kennen gelernt, nur der Großvater sei in Erscheinung getreten. Immer nach Besuchen des Großvaters folgte massive körperliche Gewalt durch seine Mutter. Anschließend tat es ihr leid und er durfte als Wiedergutmachung bei ihr im Bett schlafen, was er als sehr schön empfand. 2.9.2 Familienstruktur Missbrauchsfamilien weisen weder nach innen noch nach außen adäquate Grenzen auf: auf der einen Seite sind die Grenzen nach außen starr und undurchdringlich, so dass das Inzestgeheimnis gewahrt bleiben kann. Soziale Kontakte sind als Folge davon auf das Notwendigste beschränkt (Beruf, Schule, Kita) und finden nur außerhalb des Familiensystems statt. Der Missbrauch selbst wirkt stigmatisierend und trennend („Ich hatte immer das Gefühl, ein Kainszeichen auf der Stirn zu tragen. Ich fühlte mich schmutzig und dachte immer, wenn die anderen Kinder nur wüssten, wer ich bin. Die Pausen in der Schule waren mir ein Gräuel“ – Äußerung einer 28-jährigen Klientin in der Therapie). Auf der anderen Seite sind die Generationsgrenzen völlig verwischt. Die Familienmitglieder opfern ihre Autonomie oder entwickeln erst gar keine, um ihr Gefühl der Zugehörigkeit trotz geringer emotionaler Ressourcen beibehalten zu können. Die persönlichen Grenzen der Familienmitglieder sind wenig bis gar nicht ausgeprägt. Es kommt zu symbiotischen Beziehungsmustern, der einzelne glaubt, nur überleben zu können, wenn die Familie erhalten bleibt (LARSON, 1986; GUTHEIL and AVERY, 1977). 44 Um die diffusen Beziehungsmuster aufrechterhalten zu können, entwickeln die Familienmitglieder Abwehrmechanismen, die die Realitätseinschätzung vermindern und die intrapsychischen Grenzen verwischen. Rationalisierung und Verleugnung von Gefühlen halten die Familienmitglieder in ihren destruktiven Verhaltensmustern gefangen, verstärken ihre Ohnmachtsund Schamgefühle und damit wiederum ihre Isolation. Der Kreislauf ist perfekt. Soziale Isolation Verwischung der intrapsychischen Grenzen Verwischung der Generationsgrenzen Verwischung der interpersonellen Grenzen Abb. 10 (LARSON, 1986, S.107) Des weiteren führen die Schamgefühle, die der Verletzung des Inzesttabus entspringen, gepaart mit den Schamgefühlen, die die Eltern aus ihren dysfunktionalen Familien mitbringen, dazu, dass der Inzest zwanghafte Formen annimmt. „Inzest ist eine „Familienangelegenheit“, die alle Familienmitglieder in die für Inzest typischen Interaktionsmuster einbezieht.“ (HIRSMÜLLER, 1990, S. 26) Nach TREPPER und BARRETT (1990) gibt es fünf Arten von dysfunktionalen Familienstrukturen, die sexuellen Missbrauch begünstigen: 1. Vater ist die Exekutive der Familie In dieser Familienstruktur ist der Vater eine mächtige und dominante Person, der die Mutter abwertet. Er fühlt sich für alles verantwortlich und zieht seine Frau kaum zu Entscheidungen hinzu. Die Mutter zeigt sich passiv und zeigt sich erleichtert, wenn die Tochter die Funktion der Ehefrau übernimmt. Die Tochter schlüpft in die Rolle der Mutter, wird Helferin und Partnerin des Vaters und bemuttert darüber hinaus noch die eigene Mutter. 45 Ist der Vater zuneigungsbedürftig, und ist für ihn Zuneigung und Sexualität identisch, so kommt es zum sexuellen Missbrauch. Beispiel: „In einer Beratungsstelle gab es eine „Mädchengruppe“. Die jungen Frauen waren zwischen 18 und 25 Jahren alt. Als einen Höhepunkt organisierten die Mitarbeiterinnen ein Wochenende in den Bergen. Das Thema, das die Mädchen gewählt hatten, hieß „Mütter“. Die jungen Frauen berichteten über ihre Erfahrungen mit ihren Müttern. Jede Schilderung ähnelte der anderen. „Ich sorgte immer für meine jüngeren Geschwister, fühlte mich immer für alles verantwortlich, auch für meine Mutter. Ich hatte das Gefühl, sie stützen und beschützen zu müssen. Mutter hatte mit ihrer Mutter eine sehr angespannte Beziehung. Während ich versuchte, sie zu entlasten, telefonierte sie mindestens einmal am Tag mit ihrer Mutter, besuchte sie und versorgte Großmutter physisch wie auch emotional.“ Bericht über Bericht folgte, es waren kaum Unterschiede zu festzustellen. Zum Schluss meinte eine junge Frau: „Eigentlich brauchen wir nur auch ein Kind zu bekommen, damit sich endlich jemand um uns kümmert.“ Diese lakonische Bemerkung führte zu einem großen Gelächter in der Gruppe. Sehr richtig wurde festgestellt, dass sie Mutters Platz und Funktion ausgefüllt hatten und auf ihr „Kindsein“ verzichtet hatten. Ihre Bedürftigkeit war ihnen schmerzlich bewusst. Die nahe liegende Lösungsidee war, es ihren Müttern und Großmüttern gleichzutun, um als Mütter endlich selbst in die Lage zu kommen, Kind sein zu dürfen. Bemerkenswert war weiter, dass die Väter durchweg als Autoritäten dargestellt wurden. Es wurde zwar immer auch von der Wut auf die Väter gesprochen, aber die Beziehung zum Vater war für die jungen Frauen weitaus weniger belastend als die Beziehung zur Mutter. Eine junge Frau fing eine Therapiesitzung so an: „Mein Vater steht für mich auf einem Sockel, und über meine Mutter rede ich nicht“ (KELLERMANN, 1995, S. 79). Vater Generationale Aufwärtsbewegung Kind ------------------------------------------------ Generationsgrenze Kind Kind Mutter Abb. 11 46 2. Mutter ist die Exekutive in der Familie Bei dieser Familienstruktur ist die Mutter dominant und mächtig. Sie behandelt den Vater wie eines ihrer Kinder. Sie entscheidet eigenständig für die Familie und fühlt sich von ihrem Mann, der sich wie ein Jugendlicher verhält, isoliert. Seine sexuellen Kontakte zu seiner Tochter erscheinen für ihn wie eine sexuelle Spielerei unter Geschwistern. Die sexuellen Übergriffe können manchmal gewalttätig stattfinden, insbesondere dann, wenn sie Ausdruck von Zorn sind. Beispiel: Eine junge Frau stellte in einem Selbsterfahrungsseminar ihre Familie, in der sie jahrelang missbraucht worden war, wie folgt auf: sie saß auf einem Stuhl ihrem Vater gegenüber, der ebenfalls auf einem Stuhl saß. Mutter stand auf einem Stuhl und sah ihre Mutter an, die ebenfalls auf einem Stuhl stand. Die Mutter sowie die Großmutter beherrschten das Bild, während Vater wie ein Spielkamerad des Mädchens wirkte. Mutter war auf einer anderen Hierarchieebene und sah ihre Mutter an. Das Mädchen saß zwischen Mutter und Vater. Großmutter Vater Tochter Mutter Abb. 12 Mutter sorgte, versorgte und war unermüdlich für die Familie tätig, aber total verstrickt in der Beziehung zu ihrer eigenen Mutter. Durch die Erhöhung der Mutter wirkten Vater und das Mädchen wie Geschwisterkinder, die sich auf dem Spielplatz tummeln. Mutters Blick war so gefangen in ihrer Ausrichtung auf ihre Mutter, dass sie überhaupt keine Notiz von den „Kindern“ nahm. Generationale Abwärtsbewegung Mutter ------------------------------------------------ Generationsgrenze Kind Kind Kind Vater Abb. 13 47 3. Drei-Generationen-Mutter-Exekutive und die Drei-Generationen-Vater-Exekutive In der ersten Variante steht der Vater eine Generation unter der Mutter, aber er steht noch eine Generation über den Kindern, so dass er die Vaterrolle erfüllen kann. Der sexuelle Missbrauch ist väterliches Handeln, er benutzt seine Autorität, um sexuelle Vergünstigungen zu erlangen. Im zweiten Fall ist die Mutter eine Generation unter dem Vater, aber sie füllt ihre Rolle als Mutter den Kindern gegenüber aus. Um sexuellen Verkehr mit der Tochter haben zu können, verlassen sowohl Vater wie auch die Tochter ihre Generationen. Bei dieser Struktur bestehen geschwisterliche Rivalitäten zwischen Mutter und Tochter um die Anerkennung von Vater. Ein Ehepaar kam zu mir in Therapie, da die Tochter wiederholt weggelaufen war. Die Tochter war von der zuständigen ASDMitarbeiterin des Jugendamts in einer Wohngruppe untergebracht worden und die Eltern zeigten sich sehr verzweifelt darüber. Vater berichtete, dass seine Tochter als Kind wie eine Prinzessin gewesen sei und geriet zunehmend ins Schwärmen. Ich griff die Metapher auf und fragte Vater, welche Position oder Rolle im Bild der Prinzessin er denn einnehme und welche seine Frau. Er überlegte und antwortete: „Meine Tochter ist die Prinzessin, meine Frau ist die Königin und ich bin der Ritter“ (drei Hierarchieebenen: Königin, Ritter, Prinzessin. Der Ritter beschützt die Königin, darf ihr dienen, jedoch ist eine Beziehung mit ihr niemals erlaubt. Weiter steht der Ritter über der Prinzessin.) Seine Frau schmunzelte und antwortete: „Nein, so würde ich es nicht sehen. Mein Mann ist der König und ich und meine Tochter sind Prinzessinnen.“ Nach längerem Nachdenken stimmte der Vater seiner Frau verhalten zu. Auf meine Frage, was aus einer Prinzessin eine Königin machen würde, antworteten beide gleichzeitig: „Sexualität“. Mutter ------------------------------------------------ Generationsgrenze Kind ------------------------------------------------ Generationsgrenze Kind Vater Kind Abb. 14 48