> Merkblätter Arten > Libellen Betroffene Regionen: Bodensee und Wallis > Sympecma paedisca (Brauer, 1877) Sibirische Winterlibelle – Leste enfant – Leste di Brauer RL: CR | PRIO: 1 | NHV: geschützt Beschreibung Ökologie Sympecma paedisca ist eine unauffällige, bräunliche Kleinlibelle. Die Brust trägt dunkle Binden und der Hinterleib auf der Oberseite der Segmente 3-6 dunkle, torpedoförmige Flecken. Männchen und Weibchen sind gleich gefärbt. Im Unterschied zu anderen Kleinlibellen tragen Winterlibellen alle vier Flügel geschlossen auf einer Körperseite, wobei die braunen Flügelmale von Vorder- und Hinterflügel kaum überlappen. Bei Jungtieren (Sommer, Herbst) schimmert die dunkelmetallische Zeichnung anfangs grünlich, später kupfer- bis bronzefarben. Mit Eintritt der Geschlechtsreife gegen Frühjahr wird die Färbung matter und dunkler und die Augenkuppen verfärben sich blau. Von der Gemeinen Winterlibelle Sympecma fusca, mit der sie oft gemeinsam vorkommt, ist S. paedisca durch die Ausbuchtung am Unterrand der oberen Thoraxseitenbinde zu unterscheiden, die allerdings auch nur angedeutet sein kann. Zudem ist die untere Thoraxseitenbinde meist schwächer entwickelt als bei S. fusca, unregelmässiger geformt und manchmal unterbrochen. Die Abdominalanhänge der Männchen sind kurz und erreichen die Spitzen der Basalzähne der Cerci nicht. Die Larven gleichen denjenigen der Gattung Lestes, doch ist bei Sympecma die Fangmaske nicht gestielt. Eine sichere Trennung der Larven von S. paedisca und S. fusca anhand äusserer Merkmale scheint problematisch. Sympecma paedisca besiedelt ganz unterschiedliche Gewässer, im Alpenvorland besonders Überflutungs- und Verlandungszonen an Seen, Weihern und Teichen, Moorgewässer wie Schlenken und kleine Handtorfstiche in Hoch- und Zwischenmooren, grundwasserbeeinflusste Stau- und Flutmulden in Flusstälern, gelegentlich auch vegetationsreiche Kies- und Lehmgrubentümpel. Als Larvalhabitat dienen in der Regel seichte, oft nur 5-30 cm tiefe Gewässerbereiche, die sich rasch erwärmen, meist mesotroph sind, zumindest von Mai bis August Wasser führen und eine reiche, aber nicht zu dichte, bult- und schlenkenreiche Vegetation mit einzelnen höheren Halmen aufweisen. Meist handelt es sich um leicht verschilftes Grossseggenried, Schneidebinsenried, sehr lückiges Stillwasser-Röhricht oder um Moortümpel mit Torfmoosen (Sphagnum spp.), Schnabelsegge (Carex rostrata) und gelegentlich etwas Schilf (Phragmites australis). Viele der besiedelten Gewässer weisen Wasserstandsschwankungen auf und können im Herbst oder Winter zeitweilig trockenfallen. Die Entwicklung vom Ei bis zur Imago dauert gewöhnlich 10-12 Wochen. Möglicherweise können die Eier Trockenzeiten überdauern. So wurden im Gottlieber Ried im August 2004 zahlreiche frisch geschlüpfte Imagines angetroffen, obwohl an dieser Stelle im trockenheissen Sommer 2003 praktisch keine Imagines flogen. Über die Lebensweise der Larven ist nichts bekannt. Sympecma paedisca frisch geschlüpft. © U. Pfändler > Merkblätter Arten > Libellen: Sympecma paedisca 2 Der Schlupf der Imagines beginnt schon am Morgen, sobald die Sonne genügend wärmt. Je nach Umständen kann man den ganzen Tag über frisch geschlüpfte Exemplare antreffen. Die Larvenhäute findet man meist 10-20 cm über der Wasseroberfläche an Rohrkolben, Schilf oder anderen Pflanzen im Wasser oder in der Ufervegetation unmittelbar am Gewässerrand. Die Schlüpfperiode dauert von Mitte Juli bis Anfang September, der Grossteil der Tiere schlüpft jedoch zwischen Ende Juli und Mitte August. Die frisch geschlüpften Tiere verbleiben vorerst in der nächsten Umgebung des Fortpflanzungsgewässers, wo sie im Schutz von Schilf, Gräsern und Seggen tagelang hängen können. In der Reifungsphase halten sie sich bevorzugt im näheren Umland auf, gegen Herbst suchen sie zunehmend auch weiter entfernt liegende Flächen auf. Dabei bevorzugen sie sonnige, insektenreiche Jagdgebiete, besonders vergilbte Grasfluren, wo sie dank ihrer Färbung gut getarnt sind, z.B. Pfeifengraswiesen, leicht verschilfte Kleinseggenriede, PfeifengrasMoorkiefer-Bestände in Hochmooren, lichte Bruchwälder mit grasigem Unterwuchs, mit Gräsern durchsetzte Heideflächen, Halbtrockenrasen oder im Wallis gar Felsensteppe. Die Vegetation sollte nicht zu dicht sein, so dass zwischen den Halmen genügend Platz bleibt für die kurzen Stossflüge, mit denen sie von ihren Sitzwarten aus Jagd auf kleine Insekten machen. Die zwei bis drei Monate bis in den Spätherbst nutzen die Tiere, um sich Fettreserven anzulegen. Sympecma paedisca und S. fusca sind die einzigen Libellenarten in Europa, die grundsätzlich als Imago überwintern. Nach Studien aus Deutschland und den Niederlanden überwintert die Sibirische Winterlibelle in der Regel frei in der Vegetation bis 60 cm ab Boden. Hier sitzen sie an Schilfhalmen, Seggen, Stauden, Heidekraut, jungen Gehölzen oder dürren Ästchen, wo sie dank ihrer Färbung gut getarnt sind. Dabei sind sie gegenüber Sonne, Wind, Regen und Schnee oft frei exponiert. Bei Temperaturen über dem Nullpunkt können sich die Tiere bewegen, über den Schnee kriechen und ab 12-15° C sogar fliegen. Bei ungünstiger Witterung krabbeln sie in dichtere Vegetation, bei milder Witterung steigen sie nach oben. Die Tiere überwintern entweder direkt in der Ufervegetation ihrer Brutgewässer, in der nahen Umgebung oder auch an bis zu 20 km entfernt liegenden Orten. In den Niederlanden wurde die Rückkehr eines markierten Tieres aus einem sieben Kilometer entfernten Winterhabitat an das mutmassliche Geburtsgewässer beobachtet. Vermutlich suchen viele der weit abgewanderten Tiere aber neue Brutgewässer. Als Winterhabitate nutzen die Tiere sowohl offene, gehölzfreie Flächen mit stehender Vegetation als auch Säume an Gehölzrändern, lichte Wäldchen und Gebüschkomplexe mit Pfeifengras, Seggen und Stauden im Unterwuchs. Oft sind mehrere Tiere auf kleinem Raum anzutreffen. In den Niederlanden überlebten mehr als die Hälfte der Sibirischen Winterlibellen den Winter nicht. Im März oder April werden die überlebenden Tiere geschlechtsreif und kehren allmählich an die Brutgewässer zurück. Hier besetzen die Männchen Reviere und warten auf paarungswillige Weibchen. Die Eiablage erfolgt meist im Tandem. Die Eier werden sowohl in totes Pflanzenmaterial als auch in grüne Pflanzen eingestochen. Die Eiablage beginnt ausnahmsweise schon Ende März (Wallis) und dauert bis Mitte Juni mit einem Maximum zwischen Ende April und Ende Mai. Aufgrund des guten Ausbreitungsvermögens dürften die Tiere geeignete neue Gewässer in der Nähe bestehender Vorkommen bald auffinden. Häufige Begleitarten sind in der Schweiz Lestes sponsa, Sympecma fusca, Ischnura pumilio, Aeshna mixta, Somatochlora flavomaculata, Sympetrum depressiusculum, S. fonscolombii, S. sanguineum und S. vulgatum. Entwicklungsgewässer von Sympecma paedisca am Bodensee. Die Sibirische Winterlibelle überwintert oberhalb der Schneedecke. © U. Pfändler © J. Miller > Merkblätter Arten > Libellen: Sympecma paedisca 3 Situation in der Schweiz Das Verbreitungsareal erstreckt sich von Westeuropa über weite Teile Asiens bis nach Indien, China und Japan. Im östlichen Mitteleuropa und weiter ostwärts ist die Art meist häufig und weit verbreitet, in Westeuropa hingegen sehr lokal und oft gefährdet. Das westeuropäische Areal zerfällt in zwei Teilgebiete: Das nördliche zieht sich durch das küstennahe Norddeutschland bis ins niederländische Tiefland, das südliche entlang der Alpen bis Südostfrankreich und Norditalien. Nach längerem Bestandesrückgang in Westeuropa ist der Trend derzeit unklar, vereinzelt sind Bestandeserholungen (Niederlande) und Ausbreitungstendenzen (Finnland) zu beobachten, andernorts weitere Rückgänge (Baden-Württemberg). Für die künftige Entwicklung dürften nicht zuletzt klimatische Faktoren eine Rolle spielen. Sympecma paedisca ist eine Zielart des Schutzgebietnetzwerks «Smaragd» des Europarats und im Anhang IV der Fauna-Flora-Habitat-Richtlinie der EU aufgelistet. Die Schweiz liegt am Westrand des Verbreitungsgebietes. Sympecma paedisca ist hier schon seit Beginn der Aufzeichnungen selten gewesen und gilt heute als vom Aussterben bedroht (Kategorie CR). Aktuell kennt man nur noch zwei Lokalitäten mit Fortpflanzungsnachweisen: Im Kanton Wallis ist dies ein letztes, seit über 100 Jahren bestehendes, heute isoliertes Vorkommen im Rhonetal. Im Kanton Thurgau existiert ein grösserer, erst 1991 entdeckter und vitaler Bestand am Bodensee westlich Kreuzlingen, der mit dem Vorkommen am deutschen Seeufer in Verbindung stehen dürfte. Im Kanton St. Gallen wurden ausserhalb der Fortpflanzungszeit Tiere beobachtet, die möglicherweise aus der Population im österreichischen Rheindelta stammen; ein bodenständiges Vorkommen bei Altenrhein ist aber denkbar. Alte Nachweise gibt es aus den Kantonen Waadt, Wallis, Bern und Zürich. Die alten Funde deuten an, dass Sympecma paedisca vor den grossen Gewässerkorrektionen des 19. Jahrhunderts im Mittelland möglicherweise weiter verbreitet war. Einzelne neue oder bisher übersehene Vorkommen sind nicht auszuschliessen. 2500 Situation weltweit Altitude 2000 Verbreitung, Höhenverbreitung und Phänologie von Sympecma paedisca in der Schweiz. 500 1000 1500 © CSCF 0% 55% 15 10 5 < 1970 1970 - 1999 2000 - 2009 0 J F M A M J J A S O N D > Merkblätter Arten > Libellen: Sympecma paedisca 4 Priorität Gefährdungsursachem Schutz- und Förderungsmassnahmen Im Hauptverbreitungsgebiet in Zentralasien ist Sympecma paedisca häufig und ungefährdet, in Westeuropa dagegen sehr lokal und selten, regional ausgestorben und nur an wenigen Lokalitäten häufig. In der Schweiz wird sie in die höchste Prioritätsstufe 1a gestellt. Negative Veränderungen im Wasserhaushalt Wechselnde Wasserstände und periodische Überschwemmungen weiterhin zulassen. Verzicht auf Gewässerregulierung, neue Drainagen, Einstau, Tieferlegen oder andere Manipulationen am Wasserhaushalt im Bereich bestehender Larvengewässer Ausbreitung von Schilf und Gehölzen Streumahd weiterführen, Schnittgut abführen, evtl. zu dichte oder zu stark beschattende Gehölzpartien etappenweise auslichten Grossflächig gleichartige Pflege, jahreszeitlich zu früher Schnitt Streuwiesen erst spät mähen, damit den Winterlibellen auch im Herbst geeignete Landlebensräume zur Verfügung stehen. Räumlich und zeitlich gestaffelte Mahd fördern, jährlich alternierende Vegetationsinseln über den Winter stehen lassen, geeignete Teilflächen alternierend nur alle 2-3 Jahre mähen Nährstoffzufuhr aus der landwirtschaftlich genutzten Umgebung Nährstoffpufferzonen einrichten, angrenzende intensiv genutzte Parzellen wo immer möglich extensivieren und in zweischürige Magerwiesen oder extensive Weiden überführen Verlust von Fortpflanzungsgewässern infolge Absenkung des Grundwasserspiegels In der Nähe bestehender Vorkommen Ersatzgewässer anlegen, die an die neuen Grundwasser­verhältnisse angepasst sind; vorgängig abklären, ob damit keine anderen, gleichwertigen Schutzziele tangiert werden Gefährdungsursachen Potenzielle Gefahren sind die Intensivierung oder Aufgabe der Nutzung oder Pflege der Gebiete, unangemessene Gestaltungsund Pflegeeingriffe, das Abbrennen von Schilfbeständen oder dürren Grasbeständen, Eingriffe in den Wasserhaushalt wie Absenken des Grundwasserspiegels oder im Fall des Bodensees eine – momentan unwahrscheinliche – Regulierung des Seewasserstandes. Das Walliser Vorkommen scheint längerfristig durch seine isolierte Lage gefährdet. Der Bestand am Bodenseeufer scheint intakt und hat das Jahrhunderthochwasser von 1999 ebenso wie das Trockenjahr 2003 überstanden. Für die Bestandesentwicklung der Sibirischen Winterlibelle am Westrand ihres Verbreitungsareals dürfte auch die Entwicklung des Klimas eine massgebliche Rolle spielen. Erhaltungs- und Förderungsmassnahmen An den verbliebenen Vorkommen soll die Bestandesentwicklung überwacht werden. Bestehende Pflegepläne sind zu überprüfen, zu optimieren und gegebenenfalls an neue Erkenntnisse anzupassen. Neben den geeigneten Larvengewässern müssen auch günstige Jagd- und Reifungshabitate sowie geeignete Winterhabitate ausreichend erhalten und geschützt werden. Im Walliser Rhonetal ist zu prüfen, ob sich im Rahmen von Aufwertungsmassnahmen neue Gewässer mit einer potenziellen Eignung für Sympecma paedisca schaffen lassen, vorzugsweise in der Nähe des noch bestehenden Vorkommens. Weiter ist abzuklären, ob es am Bodensee zusätzliche Bereiche gibt, wo durch regelmässige Mahd des sekundären Schilfröhrichts Fortpflanzungshabitate für S. paedisca und weitere typische Libellenarten entstehen könnten. Landwirtschaftlich intensiv genutzte Parzellen im Anschluss an die bestehenden Röhricht- und Riedflächen sind nach Möglichkeit zu extensivieren. Am Seeufer soll auf jegliche gestalterische Eingriffe verzichtet werden; natürliche oder naturnahe Seeufer sollen so belassen werden, wie sie sind. Ergänzende Informationen finden sich in der Publikation «Libellen schützen, Libellen fördern – Leitfaden für die Naturschutzpraxis». > Merkblätter Arten > Libellen: Sympecma paedisca 5 Literatur Bönisch R. & A. Kraus (1998): Sibirische Winterlibelle Sympecma paedisca (Brauer 1877). In: Kuhn, K. & K. Burbach (Hrsg.): Libellen in Bayern. Ulmer, Stuttgart, S. 60-61. Dijkstra K.-D. B. (2006): Field Guide to the Dragonflies of Britain and Europe. British Wildlife Publishing, Dorset. 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Kontakt Schweizerische Arbeitsgemeinschaft für Libellenschutz, c/o Life Science SA, 4058 Basel · [email protected] Herausgegeben mit fachlicher und finanzieller Unterstützung des Bundesamtes für Umwelt (BAFU), dieses Merkblatt kann unter www.cscf.ch abgerufen werden SAGLS GTCLS