Daseinsanalyse 27 (2011) 176 – 154 Ars Medica Zu einer neuen Ästhetik in der Medizin Hrsg.: Michael Musalek und Martin Poltrum Charlotte Spitzer Buchbesprechung Das Leben des Menschen als ein Kunstwerk zu betrachten und die therapeutische Behandlung als künstlerischen Prozess, diesen Aufbruch unternahm im September 2005 eine kleine Gruppe von Medizinern, Philosophen, Historikern und Therapeuten in Mailand. Begonnen hat es unter dem Motto „Bella Vista“, mittlerweile wurde daraus die „European Society of Aesthetics and Medicine“ mit Sitz im Anton Proksch Institut Wien. Der nun vorliegende Band „Ars Medica. Zu einer neuen Ästhetik in der Medizin“ (erschienen im Frühjahr 2011) versteht sich als „erstes schriftliches Resumé, in dem die Kerngruppe von „Bella Vista“ zusammen neuen Mitgliedern und Sympathisanten die ersten Kostproben der ästhetisch-medizinischen Fusion darreicht“. Das Streben gilt einem vertiefenden Verständnis von Ästhetik, weg von der Alltagsauffassung, sie sei nur ein Oberflächenphänomen, oder – schlimmer – sie sei irrelevant weil „subjektiv“. Das griechische Wort Aisthesis bedeutet Wahrnehmung, Empfindung, Sinnesempfindung, worin das Vernehmen-Können des menschlichen Daseins anklingt. Das Schöne zudem, welches im Verständnis des Begriffes der Ästhetik großen Raum einnimmt, weist in den Bereich der Existenz, der sich als Weltoffenheit, als Anwesenlassen von Wahrheit zeigt. „Das Schöne ist nämlich die Spur des Guten und macht durch sein funkelndes Leuchten auch das Wahre zugänglich“ ist in der von Michael Musalek und Martin Poltrum verfassten Einleitung des Buches zu lesen. In dieser Weite verstanden leuchtet ein, dass sich die Beschäftigung mit Ästhetik nicht nur in einem enger verstandenen Bereich der bildenden Kunst bewegt, sondern das Hervorscheinen von Wahrheit im Schönen die ganze menschliche Existenz betrifft. Der Gedanke das Potenzial des Schönen als Therapeutikum und Prophylaktikum wirksam werden zu lassen liegt nahe und drückt sich in dem Ziel der „European Society of Aesthetics and Medicine“ aus „ …das Verbindende von Heilund Lebenskunst, die Schnittstelle von Medizin und Ästhetik, die Wirkungen des Schönen auf die weiten Felder der Seele und das Erfüllende und Beglückende der ästhetischen Erfahrung für die Medizin neu zu entdecken“. Das Orpheusprogramm des Anton Proksch Instituts in Wien ist ein Beispiel für die Umsetzung des Zieles ästhetische und philosophische Erkenntnisse zum Bestandteil 176 Charlotte Spitzer Ars Medica von Therapie und Rehabilitationskonzepten und deren Umsetzung werden zu lassen. Dort finden sich ein Kinotherapieprogramm und eine Vorlesung zur Lebenskunst, die sich vornehmlich an Patienten wendet. Durch Therapie soll nicht nur ein schönes sondern auchein gesundes Leben möglich werden. Das „Wie“ des sozialen Daseins rückt in den Vordergrund und wird in seinen ästhetischen Dimensionen in den Blick genommen. So werden wir auf Möglichkeiten des Vernehmens aber auch des Gestaltens aufmerksam, sie sich therapeutisch heilsam auswirken können. Musalek und Poltrum sprechen von einer Sozialästhetik, welche die ästhetischen Implikationen des sozialen Kontexts, der gelebten und erlebten sozialen Situation untersucht und das medizinisch-therapeutische Feld dieser ästhetischen Dimension öffnen möchte. So wird die Sozialästhetik zu einem medizinischen Vorhaben, welches sein Bemühen der Schaffung von ästhetischen Situationen im Sozialen widmet. Das naturwissenschaftlich verkürzte Menschenbild, welches der gegenwärtigen Medizin zugrunde liegt, reicht nicht aus um den Wesensreichtum menschlicher Existenz gerecht zu werden. Den Menschen und sein ästhetisches In–der-Welt-sein ursprünglicher, wahrhaftiger zu verstehen ist das Erkenntnisinteresse, welches eine Ästhetik des Sozialen letztlich vertritt mit Blick allerdings auf den Verwendungszusammenhang, nämlich die Heilungsmöglichkeiten die sich daraus im medizinisch-therapeutischen Kontext ergeben. Der vorliegende Band versucht dies in vielerlei Hinsicht mit einer Reihe von Beiträgen zu zeigen. Programmatisch wird es schließlich in der Aussage: „dass die Medizin eine die Geisteswissenschaften mitberücksichtigende Medizin „Medical Humanities“, braucht, ist die Forderung der Stunde. Dass der den Alltag kolonialisierende und jede politische Entscheidung mittlerweile beeinflussende Positivismus zerschlagen gehört …“ Die Autoren geben ein klares Bekenntnis zu einem ganzheitlichen Menschenverständnis ab, und dem daseinsanalytisch interessierten Leser werden einige Bekannte begegnen, wie z. B. Rainer Thurner (Titel des Beitrags: Warum Lachen gesund ist – eine phänomenologische Annäherung) oder Helmut Albrecht (Verkörperung im Schönen – Leben und Werk Frida Kahlos als Herausforderung für die Schmerztherapie). Das Grundanliegen der „European Society of Aesthetics and Medicine“ ist der Daseinsanalyse nicht neu, schließlich stellt sie sich seit Anbeginn in den Dienst eines ursprünglichen, wesenhaften Menschenverständnisses. Die Zollikoner Seminare geben ein beeindruckendes Zeugnis dieser Auseinandersetzung der sogenannten Schulmedizin mit der Philosophie Martin Heideggers und zeigen wie lange und intensiv sich die Daseinsanalyse schon um eine Überwindung des naturwissenschaftlichen Menschenverständnisses bemüht, welches das Wesen des Menschen so verkürzt und einen wesensgemäßen Zugang zur menschlichen Existenz verstellt. Soweit geht das Buch von Michael Musalek und Martin Poltrum (Hg.) freilich nicht. Es kann als ein Beitrag gesehen werden die Verbindung zwischen Philosophie und medizinischer Wissenschaft zu beleben und über die Beschäftigung mit ästhetischen 177 Ars Medica Charlotte Spitzer Perspektiven ein erweitertes Menschenverständnis in der Medizin zu erreichen. Es ist dennoch ein lesenswertes Buch, weil es dem medizinisch und therapeutisch interessierten Leser in einer Vielfalt von Beiträgen nahe bringt, welche Bereicherung die Öffnung für das Ästhetische, für das Schöne und Wahre in diesem Zusammenhang bedeuten kann. Sei es die Musik oder die Bildende Kunst, der Mythos oder das Lachen – um nur einen kleinen Ausschnitt aus den vielfältigen Themen zu nennen – alles verweist auf den Reichtum und die Vielfalt menschlicher Vernehmens- und Existenzmöglichkeiten. Allerdings bleibt der Begriff der Ästhetik noch recht offen und es entsteht der Wunsch nach Klärung. So kann das Buch auch als ein Aufbruch verstanden werden, als ein Sich-auf-den-Weg machen zur Beantwortung der Frage: Was ist unter Ästhetik eigentlich zu verstehen? An dieser Stelle sei auf die „Philosophische Ästhetik“ von Günther Pöltner (Grundkurs Philosophie Band 16, 2007) hingewiesen, welche ein neues Selbstverständnis der Ästhetik nicht nur als philosophische Disziplin der sondern als Wissenschaft von der ästhetischen Erfahrung als Wahrnehmungslehre vertritt. Die Daseinsanalyse kann viel beitragen zu dem Anliegen, welches das Buch „Ars Medica. Zu einer neuen Ästhetik in der Medizin“ vertritt. Ein guter Grund in den Dialog zu treten und sich einzumischen in diesen Diskurs um das Wesen des Menschen und der Behandlungsmöglichkeiten der Einschränkungen seiner Existenz im Kranksein. Literatur: Michael Musalek, Martin Poltrum (Hg.). Ars Medica. Zu einer neuen Ästhetik in der Medizin. Parodos Verlag, Berlin 2011 Günther Pöltner. Grundkurs Philosophie, Band 16: Philosophische Ästhetik. Kohlhammer Verlag 2007 Martin Heidegger (Hg. von Medard Boss). Zollikoner Seminare: Protokolle- Zwiegespräche – Briefe. Frankfurt am Main, Klostermann, 2. Auflage 1994 Adresse der Autorin Mag. art. Charlotte Spitzer Volkgasse 1-13/5/6 A-1130 Wien Email: [email protected] 178