Der politische Mensch. Akteure sozialer Realitäten im Übergang zum 21. Jahrhundert – Friedrich-Ebert-Stiftung in Verbindung mit dem Institut für soziale Bewegungen Bochum (RUB) und dem Institut für Europäische Sportentwicklung und Freizeitforschung Köln (DSHS) – Call for Papers Wann: 10.-12. Oktober 2012 Wo: Bonn, Friedrich-Ebert-Stiftung Im Europa des 21. Jahrhundert erfährt Politik eine kritisch-ambivalente Bewertung. Das Vertrauen in Problemlösekompetenz, Verantwortungsgefühl und Integrität der „politischen Prominenz“ gilt als beschädigt. Wirtschaftliche und sozialstaatliche Fehlentwicklungen sind in individuellen wie kollektiven Lebenswelten erfahrbar und münden vielfach in der Bewertung, die Volksvertretung regiere an den Sorgen und Nöten der Menschen vorbei. Kein Wunder also, so die vielfach gestellte Diagnose, dass der „Wutbürger“ die Dinge selbst in die Hand nimmt, Parks besetzt, in Gleisbetten „schottert“ und Internetseiten kapert. Obwohl doch der Bürger als weitgehend entpolitisiert gilt.1 Die anhaltenden gesellschaftlichen Proteste der letzten Zeit haben nicht nur in Deutschland, sondern in weiten Teilen Europas eine Diskussion über neue Varianten der Bürgerbeteiligung ausgelöst. Die debattierten Narrative sind zwar medial kompatibel, erfassen oftmals aber nur Ausschnitte „sozialer Realitäten“.2 Um sich (gesellschafts-)politischen Akteuren der Gegenwart analytisch zu nähern, gilt es das Blickfeld zu erweitern und Komplexität zuzulassen: Der politische Mensch ist ein sozial (aus-)handelndes Wesen. Im Sinne eines „zoon politikon“ gestaltet er seine alltägliche Wirklichkeit und prägt vor allem soziale Nahräume.3 In diesem 1 Vgl. z.B. Crouch, Collin: Postdemokratie, Frankfurt am Main 2008; ders.: Commercialisation or Citizenship. Education Policy and the Future of Public Services, Glasgow 2003; zu neuesten Formen politischer Partizipation vgl. exemplarisch Baringhorst, Sigrid et al.: Politische Partizipation im Social Web. Das Beispiel nachhaltiger Konsumkritik, in: Wissenschaft und Umwelt Interdisziplinär 14 (2011), S. 144-149 und dies. et al.: Protestkulturen im Netz, in: Hepp, Andreas/Höhn, Marco/Wimmer, Jeffrey (Hg.): Medienkultur im Wandel, Konstanz 2010, S. 385-400. 2 Soziale Realitäten bezeichnen empirisch beobachtbare Handlungsräume und sozial eingebundenes Verhalten. Vgl. exemplarisch Durkheim, Émile: Die Regeln der soziologischen Methode, Neuwied/Berlin 1961, S. 114. 3 Vgl. das Konzept der „Lebenswelten“ bei Husserl, Edmund: Die Krisis der europäischen Wissenschaften und die transzendentale Phänomenologie, Den Haag 1954, S. 136; Schütz, Alfred/Luckmann, Thomas: Strukturen der Lebenswelt, Neuwied/Darmstadt 1975, S. 25; Lefebvre, Henri: Das Alltagsleben in der modernen Welt, 1 Zusammenhang werden auch die traditionellen Muster repräsentativer Demokratie hinterfragt. Die klassischen Instrumente parlamentarischer Teilhabe – Wahlen, Wahlkämpfe, Parteienkonkurrenz – erscheinen zwar weiterhin funktionsfähig, die Legitimation politischen Handelns durch die Zustimmung des Volkes wird jedoch zunehmend in Zweifel gezogen. Vor dem Hintergrund dieser Beobachtungen verfolgt die Tagung das Ziel, Menschen als politisch-gesellschaftliche Akteure in den sozialen Zusammenhängen von individuellen und kollektiven Lebenswelt(en) zu betrachten. Im Fokus der Analyse sollen dabei die Individuen (auch: sich organisierende) in der Gesellschaft stehen, die als soziale, politische Wesen möglicherweise charakteristische Merkmale aufweisen, die schließlich auch Typisierungen zulassen können.4 Den Zielpunkt der Analysen sollte die Frage bilden, inwieweit gesellschaftspolitisches Handeln bei der Gestaltung individueller und kollektiver Lebenswelten im 21. Jahrhundert möglich und durch welche Aktivitäten und Ausdrucksformen es gekennzeichnet ist. Seitens der Forschung werden hierfür Rahmungen, Bedingungen und Wandlungsprozesse identifiziert sowie veränderte soziale Räume und Verhaltensformen beschrieben.5 So wird für das ausgehende 20. und vor allem für das frühe 21. Jahrhundert die Bedeutung der Gleichzeitigkeit von fortschreitender Individualisierung mit sozialer Pluralisierung einerseits und die Festschreibung einer Massenkultur mit Homogenisierungstendenzen ( Konsum) anderer- seits postuliert. Sozialer Wandel und gesellschaftliche Bezugssysteme ( Werte & Normen, Klasse & Schicht, Milieu & Lebensstil, Familie, Religion, etc.) werden als plural und heterogen, dynamisch und kurzzyklisch sowie tendenziell instabil beschrieben.6 Der politische Mensch agiert im Spannungsfeld aus sich ausweitenden individuellen Partizipations- und Entfaltungsmöglichkeiten – Wohlstandssteigerung, Demokratisierung, Zeitkultur (Freizeit, Jugend, Alter)7, neue Medien, etc. – sowie einer strukturellen Begrenzung der Möglichkeiten ( soziale Ungleichheit, Flexibilisierung der Arbeitswelten, verändertere politische Kontexte).8 Frankfurt a.M. 1972. Die Idee des „zoon politikon“ findet sich in Aristoteles: Politik, übers. v. Olof Gigon, München 1978, I 2 1253a 2f. 4 Vgl. den historischen Ansatz von Frevert, Ute/Haupt, Heinz-Gerhard: Der politische Mensch des 20. Jahrhunderts, Frankfurt a.M./New York 1999. 5 Vgl. exemplarisch zur politischen Sozialisation Claußen, Berhard/Geißler, Rainer (Hg.): Die Politisierung des Menschen. Instanzen der politischen Sozialisation. Ein Handbuch, Opladen 1996. 6 Vgl. Inglehart, Ronald/Christian Welzel, Modernization, Cultural Change, and Democracy. The Human Development Sequence, Cambridge 2005; Inglehart, Ronald: Modernisierung und Postmodernisierung. Kultureller, wirtschaftlicher und politischer Wandel in 43 Gesellschaften, Frankfurt a.M. 1998; Roger Behrens: Krise und Illusion. Beiträge zur kritischen Theorie der Massenkultur, Münster/Hamburg 2003. Zur Geschichte des Massenkonsums unter neuen wissenschaftlichen Vorzeichen seit den 1990er Jahren vgl. vor allem auch Maase, Kasper: Grenzenloses Vergnügen. Der Aufstieg der Massenkultur 1850-1970, Frankfurt am Main 1997; Schildt, Axel: Medialisierung und Konsumgesellschaften in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, Essen 2004. 7 Während es im Kontext der Industrialisierung zu einer Differenzierung von Arbeits- und expliziter Freizeit kam, wurde letztere insb. im 20. Jh. deutlich ausgeweitet. Außerdem kam es zu einer Verlängerung der, wenn auch staatlich disziplinierten, Phase der Jugend sowie der Ausprägung eines selbstbestimmten Alters (steigendes 2 Das Streben nach Selbstverwirklichung wird Zwang, obgleich Identität stets auch nach Gruppenzugehörigkeit und gesellschaftlicher Verortung verlangt.9 Doch auf wen oder was Bezug nehmen? Woran das eigene Leben ausrichten? Soziale und räumliche Auflösung von Horizonten sind mit deutlichem Chancenzuwachs verbunden ( Wissen/Information, Mo- bilität, Lebensstile, etc.). Andererseits impliziert sie auch Risiken und Bedrohungen, die transnational erfahrbar sind ( Arbeitsmärkte, prekäre Lebensbedingungen, Umwelt/Klima, Krieg, Terror, etc.).10 Reflexionskontexte werden verändert und Bürger vor neue Herausforderungen gestellt. Menschen sind politisch. Mache mehr, andere weniger. Der politische Mensch ist Akteur in den sozialen Zusammenhängen seiner spezifischen Wirklichkeit.11 Im Rahmen der Tagung wird im interdisziplinären Dialog zu erörtern sein, inwieweit gesellschaftspolitisches Handeln in der Gestaltung individueller und kollektiver Lebenswelten gegenwärtig bedeutsam, d.h. möglich, sinnvoll und/oder notwendig ist. Dabei sind folgende Detailfragen von besonderem Interesse: Wer ist der (auch: organisierte) politische Mensch? Lassen sich spezifische Sozialtypen des politischen Menschen identifizieren? Was macht Menschen politisch? D.h., … …was motiviert oder nötigt sie zu politischem Handeln? …worin äußert sich ihr politisches Dasein und Handeln? Wie werden politische Ziele/Anliegen individuell und kollektiv umgesetzt? Was ist politisches Wissen und welche Rolle spielt es? Welche Themen werden besetzt? Welche Bereiche bleiben unbeachtet? Inwieweit prägt politisches Handeln den individuellen Alltag und sozialen Nahraum? Was sind die Formen, wo sind die Orte politischen Handelns? Welche sozialen/gesell. Strukturen fördern oder behindern politisches Handeln? Wie und von wem wird der politische Mensch bewertet? Welche gesellschaftliche Bedeutung hat der politische Mensch? Durchschnittsalter, begrenztes Erwerbsleben, Altersabsicherung, bessere medizinische Versorgung). Hierzu vgl. die Beiträge in: Andresen, Knud/Bitzegeio, Ursula/Mittag, Jürgen (Hg.): Nach dem Strukturbruch? Arbeitswelt(en) im Wandel seit den 1970er Jahren, Bonn 2011. 8 Gemeint sind vor allem vertikale (Klasse, Schicht, etc.) und horizontale (Geschlecht, Ethnie, Beruf, etc.) soziale Ungleichheiten, aber auch Aspekte der Ausgrenzung (In- vs. Exklusion). 9 Vgl. Bausinger, Hermann: Identität, in: ders./Jeggle, Utz/Korff, Gottfried/Scharfe, Martin: Grundzüge der Volkskunde, Darmstadt 1978, S. 204-263; Kaschuba, Wolfgang: Einführung in die Europäische Ethnologie, München 2006, S. 132-147. 10 Einen differenzierten Überblick über die fortschreitende Globalisierung liefert Osterhammel, Jürgen/Petersson, Niels P.: Geschichte der Globalisierung. Dimensionen, Prozesse, Epochen. München 2003. Beck, Ulrich: Risikogesellschaft. Auf dem Weg in eine andere Moderne, Frankfurt a.M. 1986; ders.: Weltrisikogesellschaft. Auf der Suche nach der verlorenen Sicherheit, Frankfurt a.M. 2008. 11 Vgl. Greverus, Ina-Maria: Kultur und Alltagswelt, München 1978, S. 97ff. 3 Die Tagung wird unter Beteiligung von Nachwuchswissenschaftler/-innen der FESPromotionsförderung organisiert. Sie soll den Austausch von etablierten Forscher/-innen und Nachwuchswissenschaftler/-innen vertiefen. Wir bitten um Zusendung aussagekräftiger Vortragsskizzen (Umfang ca. 2.500 Zeichen) bis spätestens 29. Juli 2012 an: [email protected] Die Auswahl der Vorträge und eine entsprechende Benachrichtigung der Referent/-innen erfolgt bis Ende August 2012. Bitte planen Sie für die Tagung eine Vortragsdauer von 20 min. ein. Wir legen großen Wert auf Interdisziplinarität. Eine Veröffentlichung der Tagungsergebnisse ist als Sonderband der Schriftenreihe der Stipendiatinnen und Stipendiaten der Friedrich-Ebert-Stiftung (LIT-Verlag) geplant. Die Auswahl der Beiträge erfolgt nach der Tagung und obliegt den Organisator/-innen. Wir freuen uns auf innovative Vortragsskizzen aller Fachrichtungen und stehen für Rückfragen gerne zur Verfügung. Tagungsleitung und Kontakt: Professor Dr. Jürgen Mittag Deutsche Sporthochschule Köln Institut für Europäische Sportentwicklung und Freizeitforschung Dr. Ursula Bitzegeio Friedrich-Ebert-Stiftung Referentin für Promotionsförderung und Doktorierendenprogramme Lars Winterberg M.A. Friedrich-Ebert-Stiftung Promotionsförderung Godesberger Allee 149 53175 Bonn Tel.: ++49 (0) 228/883-7929 (i.d.R. Mo. + Di., 9-12 h) Fax: ++49 (0) 228/883-9225 E-Mail: [email protected] 4