Bossa Nova. Fünf Versuche einer Annäherung

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Behrens – Bossa Nova – Seite 1
Bossa Nova. Fünf Versuche einer Annäherung
Roger Behrens
Der schöne Horizont. Erster Versuch
Die Bossa Nova ist vom Urbanismus, von der Architektur, von der Idee
der Stadt, vom Tropikalismus nicht zu trennen. Wenn die Bossa Nova
eine Geschichte hat, dann nicht als Musikgeschichte, sondern als
Tendenz eines Entwicklungsprozesses. Bossa Nova hat keine
Vorgeschichte. Bossa Nova ist die Vorgeschichte.
In Brasilien wird 1897 im Bundesland Minas Gerais eine Stadt
gegründet, die ganz und gar dem Modernismus des Fin de Siècle
genügen sollte, mit klaren, geraden und überschaubaren Strukturen, in
der die neuen Menschen eines neuen Jahrhunderts leben sollten –
zeitgleich wird in Brasilien offiziell die Sklaverei abgeschafft. In einem Tal
gelegen, geben der immerblaue Himmel und die tropisch-grünen Hügel
dieser Stadt ihren Namen: Belo Horizonte, der schöne Horizont. Die
Stadt entspricht der Ordnung des gesellschaftlichen Traumesreichs, der
Idee des modernen Zeitalters; im italienischen Wortklang Belo Horizonte
schwingt noch etwas Renaissance mit. Die Stadt besteht aus drei
übereinander gelagerten Strukturen: Eine Ringstraße, die »Avendia de
Contorno«, die einmal um den Innenstadtbereich herumführt
(»Circular«); sie wird durch die große Achsenallee, die »Avenida Avonso
Pena«, die einmal durch die Stadt führt (»Reta«), durchbrochen,
umgrenzt von einem Fluss und einer »Serra do Curral« (Wüste).
Innerhalb dieser Grundstruktur sind die Straßen nach einer »primeira
malha« (»das ruas«, ein Quadrate bildendes Straßennetz) und einer
»segunda malha« (»das avenidas«, die diagonalen Alleen) angeordnet.
Erst nach der Fertigstellung dieses urbanen Rasters wurden die
einzelnen Planquadrate zur Bebauung verteilt. In der Struktur gleicht
Belo Horizonte den amerikanischen Großstädten und folgt
architektonisch deren sozialutopischen wie religiösen Gleichheitsidealen
vom modernen Stadtmenschen. Und obwohl zunächst als Kleinstadt
gegründet, ist Belo Horizonte bereits als »Megamaschine« (Lewis
Mumford) konzipiert, als »funktionale Stadt«, wie sie in den
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urbanistischen Programmen des Modernismus gefordert wurde (etwa
1933 in der Charta von Athen von Le Corbusier und der CIAM).
Auf der einen Seite die enorme Ausbreitung der Städte, auf der anderen
Seite ihre Konzentration in den Architekturen der habitionellen
Megastrukturen. 1945, im selben Jahr, in dem die alliierten Truppen den
Zweiten Weltkrieg beenden und das nazideutsche Reich zerschlagen,
findet dies in Marseille mit der Unité d’Habitation von Le Corbusier
seinen ersten exemplarischen Ausdruck. Ein halbes Jahrzehnt später,
1951, wird in Belo Horizonte – nunmehr eine wachsende Metropole mit
350.000 Einwohnern – der CJK geplant wird: ein riesiger Wohnkomplex,
eine Stadt in der Stadt. Es ist das erste Projekt einer habitionellen
Megastruktur in Brasilien.1 Der eines der Straßenplanquadrate komplett
ausfüllende Großbau besteht aus zwei Türmen; der mit 120 Metern
breitere Turm hat 26 Stockwerke, der mit 100 Metern höhere, aber
schmalere Turm hat 34 Stockwerke. Benannt ist der CJK – der Conjunto
Juscelino Kubitschek oder der JK Komplex – nach dem damaligen
Gouverneur von Minas Gerais.2 Er war zusammen mit dem Architekten
Oscar Niemeyer und dem Unternehmer Joaquim Rolla verantwortlich für
den JK Komplex: in dem bis dahin weitgehend erst mit flachen Gebäuden
und Villen erschlossenen Belo Horizonte sollte der JK Komplex zum
Wahrzeichen der Stadt werden und eine ähnliche Berühmtheit erlangen
wie der Eifelturm in Paris oder das Rockefeller Center in New York. Es
ist der zur Architektur gewordene Ausdruck der kulturellen Logik der
kapitalistischen Gesellschaft, die sich als fundamentale Krise der
Moderne formiert. Ein kultureller Komplex, in dem Monumentalismus
und soziales Experiment zu einer dialektischen Einheit verschmelzen,
oder besser: verschmelzen sollten. Für die eintausendeinhundert
Appartements waren Waschküchen, ein Kino, ein Hotel, ein Museum,
Läden, eine Bäckerei, ein Friseur ebenso wie eine Schneiderei, dazu
1
Vgl. Carlos M. Teixeira, ›Em Obras: História do vazio em Belo Horizonte‹
[›Under construction: History of the Void in Belo Horizonte‹], São Paulo 1999, vor
allem: The JK Complex – the anti-postcard, S. 242 ff.
2
Kubitschek war später – von 1956 bis 1961 – Präsident Brasiliens; in diese
Zeit fällt auch die Gründung und Aufbau der heutigen Hauptstadt Brasilia, gleichsam
die künstliche urbane Megastruktur schlechthin.
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Swimmingpools, ein Kinderspielplatz, eine Busstation geplant – kaum
etwas davon wird realisiert. Mitte der Fünfziger wird mit dem Bau
begonnen, der allerdings 1970 halbfertig abgebrochen wird; die
Baugeräte werden erst nach 1980 entfernt, der Komplex bleibt Baustelle.
Während der Diktatur gibt es wenig Interesse an den emanzipatorischen
Entwürfen der Moderne; der JK Komplex wird zu einer vom Terror
überschatteten Bauruine. Dort, wo Niemeyer eine Tiefgarage für die
Bewohner vorsah, hatte die Militärpolizei ihr Hauptquartier in Belo
Horizonte. Dann kaufte in den achtziger Jahren der evangelikale Bischof
Edir Macedo diesen Teil des Gebäudes und machte daraus einen
Nachtclub mit Platz für über zweitausend Partygäste. In den Neunzigern
verwandelte er den Nachclub in die größte Kirche der Stadt (heute dient
dieser Gebäudeteil nur noch als eine Art Gemeindehaus für die ›Igreja
Universal do Reino de Deus‹, die mittlerweile einen riesigpostmodernistischen, ägyptisch-antiken Betontempel keine zwanzig
Meter vom JK Komplex entfernt errichtet hat).
In Belo Horizonte bezeichnet man den JK Komplex als ein schlafendes
Monster; regungslos und starr stehen die Monolithen in der lauten,
lebendigen Stadt. Aus Angst davor, dass dieses Ungetüm aufwachen
könnte, und mit ihm oder durch es die soziale Krise, die die ganze Stadt
ohnehin überschattet, wird der Komplex ignoriert. Längst ist dieses
Monstrum nicht mehr das einzige, von dem man besser nichts wissen
möchte. Der Komplex gleicht einem abgestorbenen Organ des
pulsierenden Dämons dieser Stadt. Militärpolizei, Nachtclub, Kirche –
drei gewaltvolle Varianten der Dialektik der Aufklärung, die jeweils
ohne jede Feierlichkeit in den Komplex einzogen; mitnichten wurde der
Komplex zum Wahrzeichen einer Stadt, die wie so viele Metropolen sich
als modern träumte und heute im Alptraum des Scheiterns der Moderne
tagtäglich erwacht. Alle ehedem geplanten öffentlichen Einrichtungen
des JK Komplexes sind nie verwirklicht worden: Es gibt kein Hotel, kein
Theater, kein Kino; die Busstation, die erst 1987 gebaut wurde, ist für
den touristischen Verkehr gedacht und wird von den Bewohnern des
CJK nicht genutzt. Die Fassade des höheren Turms hat Itaú, eine
brasilianische Bank, als Werbefläche gemietet, oben, am Dach, wirbt eine
weitere Bank, die Banco Hércules SA.
Belo Horizonte, der schöne Horizont, galt einmal als das Gegenmodell zu
Ouro Preto (»Schwarzes Gold«), der barocken, voller Allegorien
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steckenden ehemaligen Hauptstadt von Minas Gerais. Ouro Preto
repräsentierte das Ungeordnete, die chaotische Stadt – und nun ist Belo
Horizonte der unüberschaubare Moloch, nur noch quantitativ von den
Megapolen São Paulo oder Rio de Janeiro entfernt: Belo Horizonte zählt
heute 2,3 Millionen Einwohner, die Stadtgrenzen haben sich längst in
der Peripherie aus Gated Communities, Shopping Malls und Favelas
verloren und den modernen Stadtplan weit überschritten. Schon 1966
wird in Belo Horizonte die erste Shopping Mall Brasiliens eröffnet; 1993
gibt es bereits 88 dieser Einkaufszentren. Und in den Favelas, die
übrigens zur modernen Stadt gehören und keineswegs ein Residuum
der Unterentwicklung sind, zählt man 1981 in Belo Horizonte 233.500
Bewohner; nur vier Jahre später hat sich die Zahl auf 550.000
Einwohner verdoppelt.3 Die Busse fahren in Belo Horizonte nach Sion
(also nach Zion, ins gelobte Land …), nach Europa, nach Amerika und
ins Paradies (und »Paraíso« heißt nicht nur Paradies, sondern auch
Himmel) – aber man weiß nicht, ob sie in eine Favela fahren, zu einer
Shopping Mall oder in ein Viertel überwachter Eigentumswohnungen.
In Belo Horizonte, das mittlerweile verbaut ist mit Hochhäusern, ist das
Conjunto JK noch immer das größte Bauwerk: ein negatives
Wahrzeichen für das Scheitern der Moderne.
Die Architektur Niemeyers ist oft mit der Bossa Nova verglichen
worden; wenn es die schon früh in der Ästhetik konzedierte Beziehung
zwischen Architektur und Musik gibt, dann tritt sie hier in einer
besonderer Weise hervor: die Betonbauten des Kommunisten Niemeyer
vereinigen mit ihren runden, vitalen Formen Tradition und Zukunft,
oder, wenn man so will, Ordnung und Fortschritt (»Ordem e progresso«,
dieser Satz Auguste Comtes steht auf der brasilianischen Nationalflagge).
Zugleich ist diese Architektur sachlich, ist Standard und funktional. Gilt
für den Funktionalismus die berühmte Formel »Form follows Function«,
so folgen diese Formen offenbar gänzlich anderen Funktionen. In der
Musik der Bossa Nova ist das nicht anders.4 Bossa Nova ist die
Architektur einer Moderne, die sich jenseits der linearen Auffassung
3
Vgl. Teixeira, ›Em Obras‹, a.a.O., S. 177.
4
Siehe dazu den Artikel von Hans Kroier, ›Building Bossa Nova‹, in: NEID
#10 jubilee issue (Berlin 2004), S. 48 ff.
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von Geschichte bewegt; sie ist nachgeschichtlich, so wie auch in
bestimmten Zügen die brasilianische Gesellschaft nachgeschichtlich ist.
Vilém Flusser hat einmal behauptet, in Brasiliens Städten wohne man
nicht wirklich, sondern man sei beständig auf der Suche. Dies entspricht
zwar heute längst nicht mehr der sozialen Situation in den Favelas und
Gated Communities, aber als Metapher scheint das Sinn zu machen.
Vielleicht aber sind Suchen und Wohnen dasselbe, und die Architektur
markiert keine Wohnorte, sondern Treffpunkte und Fundstellen. Dass
eines der ersten Bossa-Stücke von der Heimweh und Nachhausekommen
handelt, kommt so oder so nicht von ungefähr: ›Chega de saudade‹ heißt
das Stück von João Gilbert, aufgenommen im März 1958. Flusser hat die
Suche als Suche nach dem neuen Menschen bezeichnet. Auch wenn ihm
der materialistische Zugriff auf gesellschaftliche Zusammenhänge fehlt
und er etwas naiv die Möglichkeit wie Wirklichkeit Brasiliens überhöht,
so hat er doch die Haltung beschrieben, die für die Bossa Nova
charakteristisch war, und die im Tropikalismus der brasilianischen
Kulturlinken ihr Programm fand. Insofern lohnt es, gegen die Mode,
noch einmal die Frage zu stellen, was Bossa Nova war und vielleicht noch
heute ist oder sein kann: als politische Avantgarde-Bewegung.
Tradição e contradição. Versuch II
Jemand legt Schallplatten auf; es soll brasilianisch sein. Das versprechen
die Ankündigungen: »Tradição e Contradição!«5 Wilson Simonal, Tito
Madi, Maysa, Johnny Alf, João Gilberto, Jorge Ben, Tom Jobim, Elis
Regina, Noël Rosa und so weiter. Auch Sergio Mendes und Band. Dazu
vielleicht einige Salsa- und Boogaloo-Stücke, die ja immer mit
Lateinamerika identifiziert werden, obwohl sie mitten aus New York
kommen. Irgendwann gibt es Funk und Disco aus Rio de Janeiro oder
São Paulo. Zum Beispiel den auch hier nicht unbekannten Eumir
Deodato: Fusion, Jazzrock, Synthesizerspielereien, E-Piano, bis auf die
5
Ein Wortspiel, das phonetisch im Deutschen leider nicht funktioniert:
Tradição = »Tradition«, Contradição = »Widerspruch«, zugleich aber auch
buchstäblich: »Mit Tradition«. Ebenso wäre etwas frei übersetzbar: Zug und
Gegenzug.
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Perkussion eigentlich nichts sonderlich Brasilianisches. Oder die
großartige Kompilation ›Black Rio‹ mit Trio Mocoto, dem durch diverse
Sampler bekannt gewordenen ›Onde Anda O Meu Amor‹ von
Orlandivo, und einer ›Rapper’s Delight‹-Coverversion von Gang Do
Tagarelas. Oder einige ältere Hip-Hop-Sachen aus den Favelas Rios, zum
Beispiel Câmbio Negro. Bei einigen, die wegen der brasilianischen Musik
gekommen sind, macht sich Unzufriedenheit bemerkbar: Der DJ solle
doch gefälligst wieder die Musik spielen, die nach dem Schema eindeutig
als brasilianisch identifizierbar ist. Und das heißt in der Regel: Bossa
Nova – jedenfalls die Bossa Nova, die heute als Schematismus sich
durchgesetzt hat, wenn irgendwo ein Rhythmus hörbar ist, der von
schwebenden Synkopen getragen ist. Auf diesem Prinzip basiert der
derzeitige kleine Erfolg von Nouvelle Vague, die Joy Devisions ›Love
Will Tear Us Apart‹ bis Dead Kennedys ›To Drunk to Fuck‹ in BossaNova-Manier nacharrangieren. Auf diesem Prinzip basierte auch die
mittlerweile wieder etwas verebbte Mode, Jazz und House mit
Breakbeats und Bossa Nova zu kombinieren: als NuJazz, Brazilectro,
oder Brazilian Flavours (so gelegentlich der Untertitel der von Rainer
Trüby herausgegebenen Reihe ›Glücklich!‹). Bemerkenswerter Weise
basiert aber der ehemalige Erfolg von etwa Sepultura nicht auf diesem
Prinzip, obwohl Sepultura für die brasilianische Musikentwicklung
durchaus genauso bedeutend sind wie Gilberto Gil. Nach den Rastern
der Popkulturindustrie sind Sepultura ja eindeutig Metal, und eben
nicht Bossa Nova.
Gleichzeitig: die als Bossa Nova identifizierten Klänge erfreuen sich schon
lange einer großen Beliebtheit. Man muss kein Experte sein, um kleine
Melodien wie ›Garota de Ipanema‹ mitsummen zu können.
Urlaubsmusik. James Last brachte die Bossa Nova dem Partypublikum
nahe. George Michael hat mit ›Desafinado‹ die Bossa Nova in den
Neunzigern popfähig gemacht. Elektronische Musik wird erträglicher
für diejenigen, die elektronische Musik sonst pauschal als Techno
ablehnen, wenn »typisch brasilianische« Rhythmen unterlegt sind oder
eine zarte Stimme zurückhaltend über die missglückte Liebe singt. Bebel
Gilberto ist schnell Konsens; und jede Kaufhausabteilung, die junge
Mode für junge Angestellten wohlfeil bietet, genauso wie jede auf NewEconomy-Sachlichkeit getrimmte Bar, in der die jungen Angestellten ihre
junge Mode vorführen, hat ihre Bossa-Nova- und Brazilectro-Platten im
Hintergrund laufen. Bossa Nova war die erste Musik, die in den
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Sechzigern von der Firma Muzak als Genre vermarktet wurde: für
Fahrstühle, Flughäfen, Parkhäuser, Shopping Malls. ›Garota de Ipanema‹
ist das am meisten gecoverte Musikstück der Welt.
Bossa Nova ist sozusagen zum Soundtrack des Spätkapitalismus
geworden. Zu Beginn des neuen Jahrtausends, in dem die rücksichtlose
Verwertungsökonomie nicht nur ihren Sieg feiern, sondern auch ständig
scheint beweisen zu wollen, werden die Orte, an denen diese abstrakte
Kapitallogik zum kulturellen Ausdruck kommt, ausgerechnet mit einer
Musik beschallt, die genau das Gegenteil von Rücksichtslosigkeit
suggeriert. Während der Postfordismus, der sich als Wiederkehr des
Liberalismus entpuppt, sich hysterisch auf der Stelle dreht, klingt die
Musik der Bossa Nova wie eine permanente (Selbst-) Beruhigung. Als
Fahrstuhlmusik hat Bossa Nova auch die Funktion, Panik in
Gefahrensituationen zu vermeiden; Musik gegen Platzangst. Nun bewegt
sich vielleicht die gesamte Moderne in einem Fahrstuhl der Geschichte,
hoch und runter. Die gegenwärtigen Zeiten sind turbulent. Die Bossa
Nova und vielleicht noch ein Glas Sekt dazu, als sei das Leben eine
einzige Vernissage, vermitteln das Gefühl, dieser Situation mit
postmoderner Gelassenheit ausweichen zu können.6 Mehr noch: Anders
als zum Beispiel deutsche Schlagermusik, die in Supermärkten und
weniger glamourösen Angestelltenkneipen eine ähnliche Funktion
erfüllt,7 gibt es bei der Bossa Nova den Anschein, man könne
Unterhaltungsmusik und Hintergrundbeschallung mit Intellektualität
6
Diesen Konformismus vermeintlicher Nonkonformisten hat Herbert Marcuse
bereits 1964 in seinem ›Eindimensionalen Menschen‹ beschrieben (ein weiteres
Geburtsjahr der Bossa Nova und der Beginn der Militärdiktatur in Brasilien). Es gibt
einen Werbespot, in dem zwei prototypische Werber – also unsympathische Idioten
– auf dem schrägen Fenster der Aussichtsplattform des Hamburger Fernsehturms
lehnen, unter ihnen der Abgrund, und sich mit Sekt zuprostend sagen: »Haben wir
noch eine Chance?« – »Nö!« – Hämisches Lachen. Dazu: Musik in Bossa-Nova-Manier.
7
Einmal davon abgesehen, dass die Bossa Nova ja auch den deutschen
Schlager beeinflusste: Berühmt der Hit ›Schuld war nur der Bossa Nova‹ und
großartig Gillas Version von ›Girl from Ipanema‹.
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und (guten) Geschmack verbinden.8 Das Gefühlvolle und Tiefe, was die
von der Krise betroffene, aber sich nicht betreffen lassen wollende
Angestelltenkultur emotional berührt, ist zugleich sehr deutsch:
Innerlichkeit. So glaubt man sich gemein machen zu können mit der
Melancholie, die jungen Männer und Frauen bei der Bossa Nova
heraushören. Das Melancholische wird hierbei allerdings zum Ausdruck
genau der ewigen Wiederkehr, die »offene Wunde« – die »genussreiche
Selbstquälerei«: »Die Melancholie ist seelisch ausgezeichnet durch eine
tief schmerzliche Verstimmung, eine Aufhebung des Interesses für die
Außenwelt, durch den Verlust der Liebesfähigkeit, durch … die
Herabsetzung des Selbstgefühls …«9 Melancholie schlägt um in eine
spezifische Form der Arroganz, welche die gegenwärtigen Verhältnisse
nicht mehr hinterfragt, sondern »locker«, »easy«, »cool« akzeptiert.
Sozialpsychologisch manifestiert sich solche Melancholie als Depression;
sie bildet das Spiegelbild zur ökonomischen Depression der
gegenwärtigen Krise. Der wirtschaftliche Misserfolg, der Absturz von
der Karriereleiter kann als persönliches Schicksal verklärt werden, ohne
sich allzu sehr mit den tatsächlichen Umständen zu beschäftigen; man
glaubt sich in der ähnlichen Lage wie im Text der Bossa Nova der auf
ewig verlorenen Liebe nachgetrauert wird. Solche Melancholie schlägt in
den Wunsch um, dass alles so bleiben soll, wie es ist; sie wird zur
Ideologie. Die Musik wird dabei als gänzlich unpolitisch wahrgenommen,
als wäre es sogar ein besonderes Merkmal der Bossa Nova, nicht
politisch zu sein.
Hip Hop zum Beispiel ist komplizierter. Da gibt es immer eine Reihe von
Gretchenfragen, die irgendwie doch geklärt werden müssen: Wie hält
man es mit dem Ghettostyle? Wie geht man mit dem Sexismus, der
Homophobie um? Wie steht man zu den Ressentiments? Wie ist es mit
Antisemitismus? Etc. Solche politischen Implikationen scheint es beim
Konsum von Bossa Nova nicht zu geben; so unhistorisch die Musik
8
Einige Frauenzeitschriften haben ähnliche wie Musikjournals angefangen,
ihren Ausgaben gelegentlich CDs
beizufügen. Bei
›Allegra‹ heißen diese
Kompilationen ›Latin Flavours‹ und bieten »presented by Bacardi« Brazil-House …
9
Sigmund Freud, ›Trauer und Melancholie‹, in: Studienausgabe Bd. II,
Frankfurt am Main 2000, S. 206, 205, 198.
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rezipiert wird, so unpolitisch verschwindet sie im Hintergrundrauschen
des eigenen Lebens. Rainer Trüby hat auf seiner Kompilationsreihe
›Glücklich!‹ immer ein Volkswagenmodell, ein Schwarzweiß-Foto auf
unschuldig-weißer Fläche. Die Musik sampelt sich durch die späten
Sechziger und Siebziger Südamerikas, vor allem Brasiliens. Hier ist viel
von Sonnenschein und lauen Sommerabenden die Rede, die Copacabana
als Dauerpartystrand. Auf anderen Kompilationen gibt es dazu gleich
das Farbfoto, die untergehende Sonne über Ipanema, dazu der
Zuckerhut und eine der vielen, über ganz Brasilien verteilten
Jesuitenstatuen. Irgendwie scheint die Musik versprechen zu wollen,
für eine CD lang die Sorgen vergessen zu können. Dass sich die Bossa
Nova in der Zeit der Militärregierungen entwickelte, dass sie gleichsam
eine künstlerische Strategie darstellte, sich der angestrebten kulturellen
Hegemonie des Militärs zu entziehen, davon ist auf den
Veröffentlichungen der letzten zehn, fünfzehn Jahre, die Bossa Nova zur
europäischen und speziell deutschen Mode gemacht haben, nichts zu
hören. Freilich auch nicht davon, dass in den Sechzigern und Siebzigern
zwischen der deutschen Industrie und dem brasilianischen Militär gute
Kontakte bestanden.
Die Bossa Nova wird verdinglicht zu einem zeitlosen Stil der Mode,
eingebettet in eine Popkulturindustrie, in der die künstlerische
Kategorie des Stils mit Reklame konvergiert. Wenn irgendwo ein
Produkt als heiß, »rassig«, feurig, temperamentvoll oder schlicht
südamerikanisch beworben wird, erklingen lateinamerikanische
Rhythmen, sieht man Bikinifrauen und kräftige Burschen, die jeder und
jede rückenmarksmäßig als »typisch brasilianisch« erkennt. Doch ganz
im Gegenteil ist die Bossa Nova weniger als Stil zu verstehen, vielmehr
als Haltung, als Expression (also Ausdruck, aber durchaus im Sinne des
Expressionismus).
O que é »Bossa«? Porque »Bossa Nova«? Versuch III
Wörtlich kann Bossa Nova so etwas heißen wie neuer Hügel, neue
Traube, auch neue Führung oder, noch freier übersetzt, neue Welle.
Entstanden ist der Begriff Bossa Nova allerdings aus dem Carioca-Slang
der Endfünfziger, also aus der Alltagssprache der Einwohner Rios, und
bedeutet »Art und Weise« oder »Fertigkeit«, »Vermögen«, auch »jeito«,
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wobei ein »jeito« ein Trick oder ein Kniff ist. Wenn es Schwierigkeiten
gibt, beruhigt man sich gerne mit den Sätzen »Há sempre um jeito!« oder
»Há sempe um jeitinho!« – man sagt, es gibt immer einen Trick, oder eine
kleine Lösung. Wenn jemand etwas in spezieller, origineller, aber auch
unkomplizierter Weise erledigt, dann ist es »Bossa«. Der Ausdruck
»Bossa Nova« entwickelte sich Anfang der Sechziger als Gegenbegriff
zum Alten, Veralteten, Überkommenen. Für die Musik, die jetzt als Bossa
Nova auftrat, hieß das: Alle bisherige Musik galt als obsolet,
unbrauchbar. Als Avantgarde behauptete Bossa Nova also den Bruch
mit der Tradition, ohne jedoch vollständig auf die Tradition zu
verzichten. Die Bossa Nova ist eine Modernisierungsbewegung: Samba –
um 1916 als Karnevalsmusik in Rio entstanden, auch als Musik der
Banditen verachtet – wird modernisiert; auch vom Chorinho, dem
Vorläufer der Samba finden sich Elemente. So liegen die Wurzeln der
Bossa Nova bei den Sambatistas Cartola, Nelson Cavaquinho, Carlos
Cachaça, Carmen Miranda, vor allem bei Ary Barroso und dem
»Sambaphilosophen« Noël Rosa. Wir sind im Brasilien der zwanziger,
dreißiger und vierziger Jahre. Europa wird vom nazideutschen Terror
überschattet; neben den Vereinigten Staaten ist Brasilien das größte
Einwandererland. Allerdings regiert Getúlio Vargas von 1937 bis 1945
Brasilien im Ausnahmezustand einer Diktatur. In dieser Zeit etabliert
sich der brasilianische Bigband-Sound, Dick Farney nimmt ›Copacabana‹
1942 auf; Farney ist eine brasilianische Version des Crooners, der
brasilianische Frank Sinatra. Nach einem heutigen Modewort kann man
von Aneignung sprechen; tatsächlich ist dieses parasitäre Verhältnis zur
westlichen Massenkultur typisch für die Entwicklung der
Populärkultur in Brasilien, schließlich auch wesentlich für die
Entwicklung von Bossa Nova und Tropikalismus. Vargas kehrt 1951 bis
1954 als demokratisch gewählter Präsident zurück. Dann beginnt ab
1956 das Neue Brasilien mit der Regierung Kubitschek; dies ist der
verspätete Aufbruch in die Moderne. Zur Bossa Nova gehört insofern
als Haltung der Versuch, Brasilien vom Rassismus zu befreien, die
Emanzipation der Frau, der Urbanismus und der sozialistische
Humanismus als Lebensgefühl. Die Bossa Nova, die nicht nur die Musik
umfasst, sondern ebenso Architektur, bildende Kunst und Literatur,
vor allem aber auch das Alltagsleben und seine Künste, muss als
verspätete ästhetische Moderne Brasiliens beschrieben worden, als
Avantgarde. Das ist aus zwei Gründen aufschlussreich: Erstens entstand
mithin in Brasilien eine Avantgarde-Bewegung, als anderenorts die
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klassischen Avantgarden als gescheitert angesehen werden mussten – im
postfaschistischen Europa und den USA ebenso wie in der
stalinistischen und poststalinistischen Sowjetunion. Zweitens war hier
die Entwicklung der Kunst nicht von der Entgegensetzung von Hochund Massenkultur bestimmt, nicht vom Widerspruch zwischen
›Avantgarde und Kitsch‹ (wie Clement Greenberg es 1939 für die USA
konstatierte), sondern von einem Zusammenspiel der ästhetischen,
kulturellen und in gewisser Weise auch politischen Kräfte.
Das Verhältnis von Hochkultur und Massenkultur drückt sich in
Brasilien ohnehin in einer anderen historischen Konfiguration aus:
Brasilien ist eine Klassengesellschaft, die aber im 20. Jahrhundert noch
wesentlich geprägt bleibt vom Gegensatz zwischen Stadt und Land, und
vom Gegensatz zwischen Haus und Straße. Dabei ist zu berücksichtigen,
mit welcher Deutlichkeit dieser Gegensatz sich darstellt: einerseits das
Hinterland, die riesigen Latifundien, der Regenwald, andererseits die
Riesenstädte wie São Paulo, Rio de Janeiro oder Belo Horizonte,
schließlich eine vollkommen künstliche Metropole als Hauptstadt:
Brasilia. Auch Anfang der sechziger Jahre bleibt Brasilien vom
Rassismus dominiert. Er trifft die Schwarzen, ebenso die indigenen
Ureinwohner und gründet in der alten portugiesischen Aristokratie,
aber auch im jesuitischen Missionsgedanken, wobei die Jesuiten – was
erst einmal paradox klingt – es ehedem auf »Rassenmischung« anlegten.
Der Beginn der Moderne als Postmoderne Ende der fünfziger Jahre. Die
Sklaverei wurde erst vor wenigen Jahrzehnten, Ende des 19.
Jahrhunderts abgeschafft, wirkt aber inoffiziell weiter: in den
Angestelltenverhältnissen des Haus- und Hofpersonals, das nicht selten
in kleinen Kammern hinter der Küche lebt. In der Vargaszeit war es der
Soziologe Gilberto Freyre, der den Mythos der »Rassendemokratie«
begründete, die er in der Rolle der Mulattin als Hausangestellte, als
Geliebte und als Kinderfrau realisiert sah; Mestizierung hieß die in den
positiven Rassismus gedrehte Forderung: größtmögliche Mischung war
das Ziel, eine Hausmannisierung der Körper gegen die sozialen
Klassenwidersprüche. Erst in den Neunzigern werden
Antidiskriminierungsgesetze im vollen Umfang eingeführt. Vor diesem
Hintergrund sind im Übrigen auch die für Brasilien typischen Favelas zu
sehen. Sie entstehen erst im 20. Jahrhundert: »Befreite« Sklaven
wandern mittellos in die Städte ab, bekommen als Bauland nur nutzlose,
ökonomisch wertlose Hügelflächen, auf denen sie Not gedrungen
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provisorisch ihre Stadtteile errichten. Es sind keine wirklichen Slums,
sondern Ghettos, in denen sich auf maroden Fundamenten eine
provisorische Infrastruktur entwickelt. Und Gewalt, Armut, Angst (der
Film ›City of God‹ – ›Cidade de deus‹ – zeichnet ein sehr
sozialromantisches Bild der größten Favela Rios, bemerkenswerter Weise
mit Mitteln des modernen Werbefilms – Reklame für den fröhlichen
Positivismus des Verbrechens. Tatsächlich besteht auch in Brasilien die
Vorstellung, Favelas seien ausschließlich Orte der Unmenschlichkeit,
Drogenkriminalität. Favelas werden nicht als Lebensraum, Wohnort,
Alltagspraxis wahrgenommen. Diese Ideologie der Armut setzt sich
heute vor allem im brasilianischen Fernsehen fort, insbesondere in den
Telenovelas. In dem Film wird nicht einmal auf die Militärdiktatur
eingegangen, die die Jahre bestimmte, von denen der Film handelt).
Wenn in Berichten immer wieder zu lesen ist, dass die Bossa Nova mehr
oder weniger am Strand, an der Copacabana, entstanden ist, so ist dies
weniger eine romantische Verklärung, als konkreter Ausdruck einer
spezifischen Konstellation der modernen brasilianischen Gesellschaft, die
weniger im Klassengegensatz oder Rassismus sich bemerkbar macht, als
im »Gesetz von Haus und Straße«. Die Straße ist trotz der Urbanisierung
oder vielleicht gerade in der brasilianischen Stadtentwicklung ein
öffentlicher Ort geblieben. Die in der Bossa Nova besungene Einsamkeit,
die Traurigkeit, die Melancholie, die Liebe, das Alleinsein, das Du und
das Wir – ›Você‹, ›Agente vai levando‹ etc. All dies ist von einer
Atmosphäre der Anteilnahme, des Sympathie und Solidarität
gekennzeichnet; weswegen im Übrigen ein Liebeslied leicht umgedeutet
werden kann als Anklage einer Politik der Verschleppung und
Einsperrung. Anderseits die isolierte Öffentlichkeit der herrschenden
Gruppen: Sie leben abgetrennt, mit eigener Polizei, selbstüberwacht,
eigentlich jenseits des Staates, den sie zugleich bilden. Es ist eine
merkwürdig antiquierte und doch gegenwärtige höfische Gesellschaft,
die die Straße missachtet und das Haus verteidigt. In den mafiotisch
beherrschten Favelas in Rio und São Paulo regieren die Banden bereits in
ähnlicher Weise – manche sprechen vom Krieg zwischen Straße und
Haus. Und es ist selbstverständlich, dass ein Aristokrat nicht auf die
Straße geht, dass ein Bewohner einer Favela nicht ins aristokratische
Haus geht, sofern er dort nicht angestellt ist. Bossa Nova, und mehr
noch die Tropicalismo-Bewegung – Gilberto Gil, Jorge Ben, Caetano
Behrens – Bossa Nova – Seite 13
Veloso, Gal Gosta, Milton Nascimento – haben versucht, diesen
Gegensatz von Haus und Straße zu überwinden.
Flussers Suche. Versuch IV
Der Philosoph Vilém Flusser lebt in São Paulo, als in Rio die Bossa Nova
beginnt. Der 1920 in Prag geborene Flusser emigrierte 1940 von
Southampton nach Brasilien; von Rio zieht er nach São Paulo. Seine
Eltern hat er nie wieder gesehen: sie werden von den Deutschen
ermordet, vergast. – Flusser veröffentlicht erst ab 1961; in den sechziger
Jahren beschäftigt er sich in zahlreichen Artikeln mit der brasilianischen
Gesellschaft – sie erscheinen in deutschen Tageszeitungen, der
›Süddeutschen‹ und der ›FAZ‹. Die Militärregierung, die politische
Repression und die soziale Misere Brasiliens spielt in seinen Texten
kaum eine Rolle. Er lehrt auch in Zeiten der Militärregierung weiter; als
1972 der Druck jedoch doch zu groß und von ihm etwa verlangt wird,
sich positiv über das Regime zu äußern, verlässt Flusser Brasilien und
zieht nach Europa zurück. Hier entwickelt er die Grundzüge seiner
Medientheorie, die er Kommunikologie nennt: eine Mischung aus
Fernsehkritik und postmoderner Diskurs- und Gestenanalyse in einem
Weltzustand, den Flusser unabhängig von der Posthistoriedebatte als
Nachgeschichte begreift. Flusser stirbt 1991 bei einem Autounfall.
Seine Arbeiten erscheinen zum Teil erst posthum, so auch der Band 5
der ›Schriften‹: ›Brasilien oder Die Suche nach dem neuen Menschen.
Versuch über den Brasilianer‹; eine kürzere Fassung der Textsammlung
erscheint erst 1998 in Brasilien: ›Fenomenologia do Brasileiro: Em Busca
de um Novo Homem‹. Eine neue Kultur, ein neuer Mensch. Kein neuer
Brasilianer, aber doch ›Brasilien als Modell für die künftige menschliche
Gesellschaft‹, wie ein Artikel aus der ›FAZ‹ 1966 übertitelt ist. »Was sich
in Brasilien vorbereitet, ohne in seinen Wurzeln von der Welt
verstanden, ja auch nur eigentlich beobachtet zu werden, ist eine
revolutionäre neue Art des Denkens und Nachdenkens, kurz eine neue
Kultur in den Tropen. Ob diese Möglichkeit sich verwirklicht, wird erst
Behrens – Bossa Nova – Seite 14
die Zukunft weisen.«10 Das Grundmotiv ist die Suche. Ihr
Ausgangspunkt ist »das Erlebnis der Tropen.«11 Was dabei heraus
kommt, »ist ein Bild Brasiliens aus der Sicht eines immigrierten
Intellektuellen.«12 Es ist eine Momentaufnahme Brasiliens. Wer sie näher
betrachtet, der sieht, dass nicht nur Flusser auf der Suche ist, sondern
Brasilien selbst als eine einzige große Suchbewegung erscheint: In
Brasilien herrsche »die Stimmung des Suchens eindeutig« vor.13 Die
Suche findet jenseits der Geschichte statt; für die Suche wird alles still
gestellt. So, wie alle Innehalten müssen, wenn die Kontaktlinse heraus
gefallen ist. Diesen Zustand des Nichtgeschichtlichen nennt Flusser
»Dephasierung«.14 Dephasierung bezeichnet »die Tatsache, dass dem
Brasilianer jeder Sinn für Geschichte abgeht. Der Brasilianer denkt völlig
ungeschichtlich, und das auch dann, wenn sich sein Denken mit der
Geschichte beschäftigt.«15 So ist Brasilien durch eine Entfremdung
gekennzeichnet, durch die Abwesenheit von Tradition: »Das ganze Land
ist mit einem Aroma der Unwirklichkeit behaftet, alles ist in einem
Zustand der Schwebe und der Traumhaftigkeit und hat etwas leicht
Verrücktes … Brasilien ist eine Gesellschaft, die aus der historischen
Wirklichkeit herausgeschleudert wurde, und zwar so, dass jeder
Versuch, sich in ihr neuerlich zu verankern, Verlust der im Entstehen
begriffenen Eigenart bedeuten würde. (Ein solcher Versuch wäre
tatsächlich entfremdend.) Brasilien ist darüber hinaus eine Gesellschaft,
10
Vilém Flusser, ›Die Tropen‹, in: ›Brasilien oder Die Suche nach dem neuen
Menschen. Versuch über den Brasilianer‹, Schriften Bd. 5, Mannheim 1994, S. 256.
11
Flusser, ›Die Tropen‹, in: Schriften Bd. 5, a.a.O., S. 249.
12
Flusser, ›Brasilien oder Die Suche nach dem neuen Menschen‹, in: Schriften
Bd. 5, a.a.O., S. 16.
13
Flusser, ›Suche nach der neuen Kultur. Brasilien als Modell für die künftige
menschliche Gesellschaft‹, in: Schriften Bd. 5, a.a.O., S. 221.
14
Flusser, ›Brasilien oder Die Suche nach dem neuen Menschen‹, in: Schriften
Bd. 5, a.a.O., S. 63 ff.
15
Flusser, ›Brasilien oder Die Suche nach dem neuen Menschen‹, in: Schriften
Bd. 5, a.a.O., S. 66.
Behrens – Bossa Nova – Seite 15
die dabei ist, eine neue Wirklichkeit aus sich und für sich zu schaffen
und einen neuen Typ Mensch entstehen zu lassen. Was also als
Entfremdung gedeutet wird, kann im Gegenteil den ersten Schritt zu
einer Selbstbewusstwerdung bedeuten.«16 Flusser sieht in der
Dephasierung die Ursache für die besondere Entwicklung der Kultur in
Brasilien, die er als Mischung und Synthese charakterisiert.17 Hier
berührt Flusser wenigstens am Rand die politische Entwicklung der
ehemaligen Großkolonie Brasilien und kommt fast in die Nähe von
Lenins Zweikulturentheorie:18 bis zum Anfang des 20. Jahrhunderts war
Brasilien »eine seltsame Gesellschaft. An der Oberfläche herrschten
lateinische Begriffe, so wie sie die Kolonisatoren mit Portugal und
Frankreich erneuern versuchten. Aber in ihrer neuen Umgebung waren
diese Begriffe unecht, und die ganze offizielle Kultur hatte den Stempel
der Unauthentizität zu tragen. Unter der Oberfläche begann sich eine
Synthese des portugiesischen und afrikanischen Erbteils anzubahnen.
So kann man eigentlich von zwei Kulturen sprechen.«19 Wichtig dabei,
dass dieses Verhältnis von Hochkultur und Alltagskultur nicht dem
üblichen Schema der kulturellen Hegemonie zu folgen scheint. Eine
16
Flusser, ›Brasilien oder Die Suche nach dem neuen Menschen‹, in: Schriften
Bd. 5, a.a.O., S. 106.
17
Flusser, ›Brasilien oder Die Suche nach dem neuen Menschen‹, in: Schriften
Bd. 5, a.a.O., S. 36: »Offensichtlich ist Brasilien ein Land der Mischung. Aber
potenziell, und in mancher Hinsicht auch schon effektiv, ist es ein Land der
Synthese.«
18
Vgl. Wladimir I. Lenin, Werke Bd. 20, Moskau 1961 ff., S. 8 f.: »In jeder
nationalen Kultur gibt es – seien es auch unterentwickelte – Elemente einer
demokratischen und sozialistischen Kultur, denn in jeder Nation gibt es eine
werktätige und ausgebeutete Masse, deren Lebensbedingungen unvermeidlich eine
demokratische und sozialistische Ideologie erzeugen. In jeder Nation gibt es aber auch
eine bürgerliche (und in den meisten Fällen noch dazu erzreaktionäre und klerikale)
Kultur, und zwar nicht nur in Form von ›Elementen‹, sondern als herrschende
Kultur.«
19
Flusser, ›Suche nach der neuen Kultur. Brasilien als Modell für die künftige
menschliche Gesellschaft‹, in: Schriften Bd. 5, a.a.O., S. 222.
Behrens – Bossa Nova – Seite 16
bürgerliche Kultur hat sich in Brasilien als legitimatorische Leitkultur
nur mit Gewalt aufrechterhalten können. Während in Europa,
Nordamerika und teils auch Asien die Hochkultur sich im Zuge der
Modernisierung verfestigt hat oder sogar den Kern der Modernisierung
bildete (bis zur Ab- und Auflösung durch die Popkultur Ende des 20.
Jahrhunderts), ist in Afrika, Südamerika und insbesondere Brasilien die
Hochkultur gewissermaßen aus der Modernisierung herausgerutscht
und obsolet geworden und wirkt nunmehr antiquiert. Bereits im
brasilianischen Barock zeigen sich diese Spuren des Niedergangs. Im
Brasilien des 20. Jahrhunderts wirkt die offizielle Kultur (Opern etc.)
schließlich vollends gekünstelt. »Und die unterirdische, so wie sie sich
in Volksmusik, in Volksplastik und Malerei, in den Volkssagen und in
Tracht und Küche ausdrückt – und diese ist, nach meiner These, eines
der Elemente der neuen Kultur von heute. Die offizielle stirbt aus oder
ist ausgestorben.«20 Eine neue Kultur tritt auf die Straße hinaus. Nicht in
den Galerien und auf den Biennalen findet Kunst statt, »sondern im
Straßenbild in Gestalt von Plakaten, Auslagen und Kleidung, in den
Wohnungen in Gestalt von Möbeln, Wandbemalung und Verschalung,
in Banken und Fabriken in Gestalt von ›unzweckmäßigen‹
Einrichtungen usw. kommt ein neues ästhetisches Erleben zum
Ausdruck, das seinem Wesen nach spielerisch, ja verspielt ist.«21
In diesem Klima entwickelt sich in den Sechziger Jahren also die Bossa
Nova – als erster Ausdruck der Suche nach der neuen Kultur, als neue
Kultur selbst. Es gelingt der Bossa Nova »nämlich eine Verschmelzung
semantischer und syntaktischer Aspekte, die ihrerseits zu einer
Verschmelzung von Ästhetik und Ethik führt, wie sie der Westen seit
dem Mittelalter nicht kannte.«22 Oder: »Dichter und Komponisten aus
intellektuellen Klassen setzen Texte und Partituren zusammen, Texte, die
20
Flusser, ›Suche nach der neuen Kultur. Brasilien als Modell für die künftige
menschliche Gesellschaft‹, in: Schriften Bd. 5, a.a.O., S. 222.
21
Flusser, ›Brasilien oder Die Suche nach dem neuen Menschen‹, in: Schriften
Bd. 5, a.a.O., S. 140 f.
22
Flusser, ›Brasilien oder Die Suche nach dem neuen Menschen‹, in: Schriften
Bd. 5, a.a.O., S. 139.
Behrens – Bossa Nova – Seite 17
oft die politische Lage, oft die existenzielle Situation formulieren, und
Partituren, die die afrikanische religiöse Musik parodieren.«23 Bossa
Nova interpretiert Flusser als Symptom für seine Unterscheidung von
Zeitgeist und Ortsgeist. Trete der Zeitgeist stärker hervor, so Flusser,
handelt es sich um eine ausgesprochen historische Kultur (Flussers
Beispiel ist die romanische Kirche, für die bezeichnender ist, dass sie
romanisch ist, aber weniger bezeichnend, dass sie etwa katalanisch ist).
Tritt dem entgegen der Ortsgeist stärker hervor, werde nach Flusser die
Geschichtlichkeit der Kultur in Frage gestellt (sein Beispiel: beim
ägyptischen Tempel ist der Ort Ägypten wichtig, weniger die Dynastie,
in der er gebaut wurde, weil die Historizität der ägyptischen Kultur
zweifelhaft ist). Schließlich gibt es die Kulturen, die gänzlich
ungeschichtlich seien, bestimmt durch das völlige Zurücktreten des
Zeitgeistes (Flussers Beispiel: die afrikanische Kultur, die afrikanische
Maske). Die Zeit ihrer Entstehung bleibt unbekannt, der Zeitgeist
sinnlos.24
Auch in der Retrospektive scheint diese Verschiebung von Zeitgeist und
Ortsgeist für die Bossa Nova konstatiert werden zu können. Überhaupt
entfaltet sich die Differenzierung von Zeitgeist und Ortsgeist in der
Popkultur. Ein merkwürdiges Verhältnis von Raum und Zeit, von
Geschichte und Mode, von Gegenwart und Aktualität bestimmt
Popkultur insgesamt: Popgenres wie Metal, Funk, Disco, Soul, Rock ’n’
Roll, Punk, Beat etc. können auf der Zeitachse der Popgeschichte
verortet werden; leicht lässt sich ungefähr sagen, welches Genre in
welches Jahrzehnt gehört, auch, welches Genre sich aus welchem
entwickelt hat. Hardcore, das waren die Achtziger; Nirvana, das war die
letzte globale Subkultur innerhalb der endgültig globalen
Kulturindustrie der Neunziger. Dass solche Musik hauptsächlich aus
den USA oder aus Großbritannien gekommen ist und kommt, ist
Nebensache. Mehr noch: Je weniger der räumliche Herkunft eine Rolle
spielt, umso wichtiger scheint der zeitliche Bezug zu sein – eine Mode,
23
Flusser, ›Suche nach der neuen Kultur. Brasilien als Modell für die künftige
menschliche Gesellschaft‹, in: Schriften Bd. 5, a.a.O., S. 227.
24
Vgl. Flusser, ›Brasilien oder Die Suche nach dem neuen Menschen‹, in:
Schriften Bd. 5, a.a.O., S. 125.
Behrens – Bossa Nova – Seite 18
die zur Geschichte wird, die erneuert werden muss, oder vergeht, die als
Retrophänomen wieder auftreten kann, oder wenigstens im Mainstream
kanonisiert wird (die besten Beispiele nach wie vor: The Beatles, Rolling
Stones, The Who etc.). Dagegen die Popgenres, die sich seit jeher im
Abseits der üblichen Pophistorisierung bewegen und innerhalb der
Popkultur tendenziell geschichts- beziehungsweise zeitlos auftreten:
Tango, Reggae, Weltmusik, Latin, Salsa, Country & Western eben auch
Samba oder Bossa Nova. Vielleicht kann der Jazz insgesamt dazugezählt
werden, oder zumindest der Jazz, den Adorno als eine ›Zeitlose Mode‹
bezeichnete.25 Wir assoziieren Tango mit Argentinien (oder, in
spezifischer Variante, mit Finnland), Reggae mit Jamaika, Weltmusik
jedenfalls nicht mit den USA und Europa, Latin mit Kuba oder
Südamerika, Country & Western in sehr expliziter Weise mit den
Vereinigten Staaten. Bei Samba denkt man gemeinhin an Karneval in Rio;
in der Musik, die wie Bossa Nova klingt, glaubt man die spezifische
brasilianische Lebenseinstellung, die traurigen Tropen, zu hören. Aber
an welche Zeit denken wir, wenn wir Bossa Nova oder Samba hören? Ist
es ein exakter Zeitbezug, ist er geschichtlich? Haben wir eine Vorstellung
vom Brasilien der sechziger und siebziger Jahre, wenn wir vage die
Bossa Nova mit diesen Jahrzehnten in Zusammenhang bringen?
Nutzlose Landschaft, Popkultur, letzter Versuch
Bossa Nova ist zunächst als eine Vereinfachung zu verstehen: Aus
einfachen Harmonien, Rhythmen, Texten wurden so Standards
entwickelt, ohne allerdings im kulturindustriellen Schematismus der
Standardisierung aufzugehen. Zwar kann ungefähr davon ausgegangen
werden, dass die Bossa Nova in Rio Anfang der sechziger Jahre begann,
doch gibt es keinen wirklichen Ursprung, keinen Ort, kein Datum. Bossa
Nova ist bereits in der Zeitlosigkeit gegründet, und überdauert auch in
dieser Zeitlosigkeit die Geschichte Brasiliens: Von 1964 bis 1985 wird
Brasilien vom Militär regiert, und die Bossa Nova, später der
Tropicalismo, die Idee der MPB, die Música popular brasileira, wird zu
25
ff.
Vgl. Theodor W. Adorno, ›Zeitlose Mode. Zum Jazz‹, in: GS Bd. 10·1, S. 123
Behrens – Bossa Nova – Seite 19
einer geradezu heimlichen Widerstandsform, zur kulturellen Opposition:
zu einer ästhetischen Avantgarde in einer Zeit, in der die politische
Avantgarde unterdrückt und marginalisiert ist.
Wenn man also versucht, der Bossa Nova einen Ort und ein Datum zu
geben, so erscheint die Copacabana, der Strand von Ipanema, als
sicherer Ort im Abseits. Nara Leão, Carlos Lyra, Roberto Menescal,
Ronaldo Boscoli, Baden Powell, João Gilberto, Chico Buarque etc.
Künstler und Intellektuelle, eine progressive Jugendbewegung, die
zusammen mit einer kleinen kommunistischen Linken wenige Jahre
später zum Schreckgespenst erklärt wird: Die Militärregierung hat ihre
Herrschaft stets dadurch legitimiert, dass sie Brasilien vor den Gefahren
des Sozialismus schützen muss – eine Gefahr indes, die leider nie
wirklich bestand. Im Gegensatz zu anderen Nationen Südamerikas war
die Arbeiterbewegung, waren die Kommunisten in Brasilien sehr
schwach, obwohl eine quasi-sozialistische Grundhaltung jenseits der
Politik verbreitet war. Chico Buarque ist der in der Diktatur am meisten
zensierte und verbotene Künstler. Und einer der beliebtesten.
Auch in der brasilianischen Militärdiktatur spiegelt sich das Verhältnis
von Haus und Straße, vom Alltagsleben und Staat: Die
Militärregierungen bedeuteten Terror, blieben aber zugleich in der
brasilianischen Gesellschaft der siebziger Jahre im Hintergrund.
Gleichwohl kann für die brasilianische Gesellschaft nicht von einem
regressiven Konformismus gesprochen werden, von einer massenhaften
Akzeptanz oder Unterstützung der Militärs wie etwa für die deutsche
NS-Gesellschaft. Gleichgültigkeit artikulierte sich als politische Haltung.
Sie fand in der Musik ihren Ausdruck. Die Diskussionen, die es
zwischen verschiedenen Strategien von Bossa Nova, Tropikalismus und
MPB gegeben hat, stehen in ästhetischer Opposition zum
Kulturverständnis der Militärs: Die Militärs wollten weißen, männlichen
Mainstreamrock zur universellen Leitkultur machen, gegen die
intellektuelle, urbanistische, avantgardistische Popkultur der Massen,
gegen Samba, gegen schwarze Musik, gegen Bossa Nova, gegen
Tropicalismo. In der Bossa Nova machte sich politische Frustration
bemerkbar, die Tropikalisten forderten dagegen eine traditionsbezogene
populäre Kultur, die Verbindung von Rock, Funk, später auch Punk mit
Samba. Vor allem bildende Künstler wie Lygia Clark, Hélio Oiticica oder
Cildo Meireles diskutierten, ob die Frage der ästhetischen Avantgarde
Behrens – Bossa Nova – Seite 20
inhaltlich oder formal zu lösen ist, drastischer: plakativ oder
formalistisch. Die Bossa Nova hat diese Dialektik von Form und Inhalt
als modernen Manierismus aufgelöst: im Gehalt, das heißt in der Form,
die dialektisch durch den Inhalt vermittelt ist. Aufgehoben ist das in
den melodischen Harmonien, in den singenden Septakkorden, in den
stehenden Tönen – zumeist Flöten oder Streicher –, in den rhythmischen
Figuren, den jede Hektik, jede Eile fehlt: Jazz. Die Haltung scheint
ohnehin dem Jazz verwandt; Bossa Nova verhält sich zu Samba wie Cool
Jazz zum Bebop. Dass die Bossa Nova über den Jazz nach Europa und in
die Vereinigten Staaten kam, ist bezeichnend (1962 Bossa-Nova-Konzert
in der Carnegie Hall New York). Die Aufhebung des FormalismusProblems gelang über die Setzung von Standards, die sich allerdings in
der Kulturindustrie als Standardisierungen verlängerten,
verdinglichten. Derart ist die Bossa Nova zum Stil geronnen, schließlich
zum Lifestyle: die brasilianische Ideologie vom Ortsgeist, von der ewigen
Wiederkehr der Schönheit, der Melancholie, des Karnevalesken: Rio,
Ipanema, Copacabana. Dagegen bleibt allerdings die unterirdische
Geschichte, die Inkraftsetzung des Zeitgeistes, die politische Avantgarde
einer ästhetischen Haltung, die in der Musik von Thereza Hermany und
Tom Jobim hörbar ist (und man sollte Vinicius de Moraes und Carlos
Drumond dazu nennen). Jobim komponierte in Ipanema BossaStandards: ›Garota de Ipanema‹, ›Agua de Beber‹, ›Eu sei que vou te
amar‹, ›A felicidade‹, ›Insensatez›‹, ›O amor em Paz‹, ›Por toda a minha
vida‹, ›O grande amor‹, ›O morro não tem vez‹, ›Ela é Carioca‹, ›Dindi‹,
›Samba do avião‹. Als das Militär 1964 die Straßen besetzt und den
Widerstand zerschlägt, sitzen Jobim und seine Freunde zuhause,
bekommen von der Machtergreifung nichts mit. Es wird klar: die Musik
hat keinen wirklichen Bezug zur Politik, ist in diesem Augenblick
nutzlos für den Widerstand. Im entscheidenden Moment fehlt die
Verbindung zwischen der ästhetischen Avantgarde und dem politischen
Widerstand. Als Jobim von dem Putsch hört, nennt er ein gerade
arrangierte Stück ›Inútil Paisagem‹, nutzlose Landschaft. Diese
Landschaft ist dieselbe politische Landschaft, mit der Heimweh in
Gilbertos ›Chega de saudade‹ gemeint war. Aus der Suche wird jetzt
Flucht: nach Los Angeles, New York, nach London, nach Nürnberg
(Baden Powell), oder ins brasilianische Hinterland. Jobim komponiert
epische Werke wie zum Beispiel ›Matita Perê‹ (1973), schließt damit an
seine frühen sinfonischen Arbeiten an.
Behrens – Bossa Nova – Seite 21
Die Kulturindustrie, die sich in der Nachkriegszeit entfaltet, ist allgemein
als demokratisch beschrieben worden. In den sechziger Jahren gerät das
System ins Wanken, dessen starrer Schematismus schon in den
Fünfzigern bloß ideologisch aufrechterhalten werden konnte: Rock ’n’
Roll, Soul, Reggae, Beat. Irgendwo zwischen »Klassik« und
Unterhaltungsmusik: Jazz. Die künstliche Dichotomie von Rock und Pop
wurde plötzlich von ganz anderer Musik durchkreuzt: zum Beispiel und
wesentlich die Bossa Nova. Das heißt die entscheidenden Impulse für die
massendemokratische Kulturindustrie und ihr eindimensionaler
Konformismus der Konsumenten kommen ausgerechnet von einer
Musik, die sich im Schatten einer protofaschistischen Diktatur
entwickelte. Die Bossa Nova bricht exzentrisch in den Mainstream ein,
kommt – wie zuvor schon in den Wartehallen und Fahrstühlen – aus
dem Off, von außen.
Auch wenn der exzentrische Perfektionismus der Bossa Nova
musikalisch erst einmal nichts mit Punk zu tun zu haben scheint: In der
Haltung haben Bossa Nova und Punk durchaus einiges gemein, vor
allem die Ironie, die Fähigkeit zur distanzierten Selbstkritik. Die ohnehin
schwierige Kategorie des Authentischen wird in der Bossa Nova sowenig
wie im Punk mit dem Echten, mit falscher Ehrlichkeit, mit Ursprung
verwechselt. Tatsächlich geht es auch hier um eine ironische Brechung
des Ernstes. Sowenig wie im Punk »No Future« Resignation meinte,
sowenig ist die Melancholie in der Bossa Nova Hoffnungslosigkeit und
Depression. Es kommt nicht von Ungefähr, dass ein postmoderner
Ironiker wie David Byrne Ende der Achtziger, also am Ende von New
Wave, die brasilianische Musik wieder entdeckt, vor allem den BossaNova-Zwölftöner Tom Zé; und dass Arto Lindsay sich heute, weg vom
Jazzcore, auf Bossa-Nova-Spuren bewegt, passt ebenfalls zu dieser
Wahlverwandtschaft zwischen Punk und Bossa Nova. Bands wie Os
Mutantes haben das schon in den Siebzigern versucht, musikalisch zu
fassen. Das Ironische in der Bossa Nova ist vielmehr als Engagement zu
verstehen, Ausdruck einer Haltung und eben nicht formalistischer Stil
der Mode. Es ist das radikale Eingeständnis, dass die Musik eigentlich
überflüssig ist, solange die Welt so ist, wie sie ist: eben eine nutzlose
Landschaft, eine sinnlose Geräuschkulisse – und so wurde die Bossa
Nova zur Geräuschkulisse einer absurden Welt. Die Bossa Nova soll
heute das Image musikalisch untermalen, dass man Sekt und Cocktails
trinken kann, ohne sich im Rausch daneben zu benehmen. Als Stil ist die
Behrens – Bossa Nova – Seite 22
Musik apollinisch, als Haltung aber ist sie dionysisch: Bossa Nova heißt,
sich mit musikalischen Mitteln sinnlos besaufen. Auf Tom Jobims
›Wave‹ findet sich als letztes Stück ein taumelndes, überzogenes
Trinklied: ›Captain Bacardi‹. Die Melodie stolpert im Breakbeat über sich
selber, einfach und unnötig, zum Tanzen unbrauchbar. Die Platte wurde
im Exil produziert. Auf dem Cover: Afrika, eine Giraffe, ein
schwankendes Tier. Die Suche nach dem neuen Menschen geht weiter.
(Und auf jeder Schallplatte steht drauf, dass sie Kultur ist: »Disco é
cultura«.)
Literatur
Ruy Castro, ›Chega de saudade: a história e as histórias da Bossa Nova‹,
São Paulo 1990. In diesem Buch findet sich eine sehr ausführliche
Diskografie, S. 437 ff.
José Eduardo Homem de Mello, ›Música popular brasileira‹, São Paulo
1976.
Vilém Flusser, ›Brasilien oder Die Suche nach dem neuen Menschen.
Versuch über den Brasilianer‹, Schriften Bd. 5, Mannheim 1994.
Vilém Flusser, ›Fenomenologia do Brasileiro: Em Busca de um Novo
Homem‹, Rio de Janeiro 1998.
John Malathronas, ›Brazil. Life, Blood, Soul‹, West Sussex 2003.
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