Behrens – Bossa Nova – Seite 1 Bossa Nova. Fünf Versuche einer Annäherung Roger Behrens Der schöne Horizont. Erster Versuch Die Bossa Nova ist vom Urbanismus, von der Architektur, von der Idee der Stadt, vom Tropikalismus nicht zu trennen. Wenn die Bossa Nova eine Geschichte hat, dann nicht als Musikgeschichte, sondern als Tendenz eines Entwicklungsprozesses. Bossa Nova hat keine Vorgeschichte. Bossa Nova ist die Vorgeschichte. In Brasilien wird 1897 im Bundesland Minas Gerais eine Stadt gegründet, die ganz und gar dem Modernismus des Fin de Siècle genügen sollte, mit klaren, geraden und überschaubaren Strukturen, in der die neuen Menschen eines neuen Jahrhunderts leben sollten – zeitgleich wird in Brasilien offiziell die Sklaverei abgeschafft. In einem Tal gelegen, geben der immerblaue Himmel und die tropisch-grünen Hügel dieser Stadt ihren Namen: Belo Horizonte, der schöne Horizont. Die Stadt entspricht der Ordnung des gesellschaftlichen Traumesreichs, der Idee des modernen Zeitalters; im italienischen Wortklang Belo Horizonte schwingt noch etwas Renaissance mit. Die Stadt besteht aus drei übereinander gelagerten Strukturen: Eine Ringstraße, die »Avendia de Contorno«, die einmal um den Innenstadtbereich herumführt (»Circular«); sie wird durch die große Achsenallee, die »Avenida Avonso Pena«, die einmal durch die Stadt führt (»Reta«), durchbrochen, umgrenzt von einem Fluss und einer »Serra do Curral« (Wüste). Innerhalb dieser Grundstruktur sind die Straßen nach einer »primeira malha« (»das ruas«, ein Quadrate bildendes Straßennetz) und einer »segunda malha« (»das avenidas«, die diagonalen Alleen) angeordnet. Erst nach der Fertigstellung dieses urbanen Rasters wurden die einzelnen Planquadrate zur Bebauung verteilt. In der Struktur gleicht Belo Horizonte den amerikanischen Großstädten und folgt architektonisch deren sozialutopischen wie religiösen Gleichheitsidealen vom modernen Stadtmenschen. Und obwohl zunächst als Kleinstadt gegründet, ist Belo Horizonte bereits als »Megamaschine« (Lewis Mumford) konzipiert, als »funktionale Stadt«, wie sie in den Behrens – Bossa Nova – Seite 2 urbanistischen Programmen des Modernismus gefordert wurde (etwa 1933 in der Charta von Athen von Le Corbusier und der CIAM). Auf der einen Seite die enorme Ausbreitung der Städte, auf der anderen Seite ihre Konzentration in den Architekturen der habitionellen Megastrukturen. 1945, im selben Jahr, in dem die alliierten Truppen den Zweiten Weltkrieg beenden und das nazideutsche Reich zerschlagen, findet dies in Marseille mit der Unité d’Habitation von Le Corbusier seinen ersten exemplarischen Ausdruck. Ein halbes Jahrzehnt später, 1951, wird in Belo Horizonte – nunmehr eine wachsende Metropole mit 350.000 Einwohnern – der CJK geplant wird: ein riesiger Wohnkomplex, eine Stadt in der Stadt. Es ist das erste Projekt einer habitionellen Megastruktur in Brasilien.1 Der eines der Straßenplanquadrate komplett ausfüllende Großbau besteht aus zwei Türmen; der mit 120 Metern breitere Turm hat 26 Stockwerke, der mit 100 Metern höhere, aber schmalere Turm hat 34 Stockwerke. Benannt ist der CJK – der Conjunto Juscelino Kubitschek oder der JK Komplex – nach dem damaligen Gouverneur von Minas Gerais.2 Er war zusammen mit dem Architekten Oscar Niemeyer und dem Unternehmer Joaquim Rolla verantwortlich für den JK Komplex: in dem bis dahin weitgehend erst mit flachen Gebäuden und Villen erschlossenen Belo Horizonte sollte der JK Komplex zum Wahrzeichen der Stadt werden und eine ähnliche Berühmtheit erlangen wie der Eifelturm in Paris oder das Rockefeller Center in New York. Es ist der zur Architektur gewordene Ausdruck der kulturellen Logik der kapitalistischen Gesellschaft, die sich als fundamentale Krise der Moderne formiert. Ein kultureller Komplex, in dem Monumentalismus und soziales Experiment zu einer dialektischen Einheit verschmelzen, oder besser: verschmelzen sollten. Für die eintausendeinhundert Appartements waren Waschküchen, ein Kino, ein Hotel, ein Museum, Läden, eine Bäckerei, ein Friseur ebenso wie eine Schneiderei, dazu 1 Vgl. Carlos M. Teixeira, ›Em Obras: História do vazio em Belo Horizonte‹ [›Under construction: History of the Void in Belo Horizonte‹], São Paulo 1999, vor allem: The JK Complex – the anti-postcard, S. 242 ff. 2 Kubitschek war später – von 1956 bis 1961 – Präsident Brasiliens; in diese Zeit fällt auch die Gründung und Aufbau der heutigen Hauptstadt Brasilia, gleichsam die künstliche urbane Megastruktur schlechthin. Behrens – Bossa Nova – Seite 3 Swimmingpools, ein Kinderspielplatz, eine Busstation geplant – kaum etwas davon wird realisiert. Mitte der Fünfziger wird mit dem Bau begonnen, der allerdings 1970 halbfertig abgebrochen wird; die Baugeräte werden erst nach 1980 entfernt, der Komplex bleibt Baustelle. Während der Diktatur gibt es wenig Interesse an den emanzipatorischen Entwürfen der Moderne; der JK Komplex wird zu einer vom Terror überschatteten Bauruine. Dort, wo Niemeyer eine Tiefgarage für die Bewohner vorsah, hatte die Militärpolizei ihr Hauptquartier in Belo Horizonte. Dann kaufte in den achtziger Jahren der evangelikale Bischof Edir Macedo diesen Teil des Gebäudes und machte daraus einen Nachtclub mit Platz für über zweitausend Partygäste. In den Neunzigern verwandelte er den Nachclub in die größte Kirche der Stadt (heute dient dieser Gebäudeteil nur noch als eine Art Gemeindehaus für die ›Igreja Universal do Reino de Deus‹, die mittlerweile einen riesigpostmodernistischen, ägyptisch-antiken Betontempel keine zwanzig Meter vom JK Komplex entfernt errichtet hat). In Belo Horizonte bezeichnet man den JK Komplex als ein schlafendes Monster; regungslos und starr stehen die Monolithen in der lauten, lebendigen Stadt. Aus Angst davor, dass dieses Ungetüm aufwachen könnte, und mit ihm oder durch es die soziale Krise, die die ganze Stadt ohnehin überschattet, wird der Komplex ignoriert. Längst ist dieses Monstrum nicht mehr das einzige, von dem man besser nichts wissen möchte. Der Komplex gleicht einem abgestorbenen Organ des pulsierenden Dämons dieser Stadt. Militärpolizei, Nachtclub, Kirche – drei gewaltvolle Varianten der Dialektik der Aufklärung, die jeweils ohne jede Feierlichkeit in den Komplex einzogen; mitnichten wurde der Komplex zum Wahrzeichen einer Stadt, die wie so viele Metropolen sich als modern träumte und heute im Alptraum des Scheiterns der Moderne tagtäglich erwacht. Alle ehedem geplanten öffentlichen Einrichtungen des JK Komplexes sind nie verwirklicht worden: Es gibt kein Hotel, kein Theater, kein Kino; die Busstation, die erst 1987 gebaut wurde, ist für den touristischen Verkehr gedacht und wird von den Bewohnern des CJK nicht genutzt. Die Fassade des höheren Turms hat Itaú, eine brasilianische Bank, als Werbefläche gemietet, oben, am Dach, wirbt eine weitere Bank, die Banco Hércules SA. Belo Horizonte, der schöne Horizont, galt einmal als das Gegenmodell zu Ouro Preto (»Schwarzes Gold«), der barocken, voller Allegorien Behrens – Bossa Nova – Seite 4 steckenden ehemaligen Hauptstadt von Minas Gerais. Ouro Preto repräsentierte das Ungeordnete, die chaotische Stadt – und nun ist Belo Horizonte der unüberschaubare Moloch, nur noch quantitativ von den Megapolen São Paulo oder Rio de Janeiro entfernt: Belo Horizonte zählt heute 2,3 Millionen Einwohner, die Stadtgrenzen haben sich längst in der Peripherie aus Gated Communities, Shopping Malls und Favelas verloren und den modernen Stadtplan weit überschritten. Schon 1966 wird in Belo Horizonte die erste Shopping Mall Brasiliens eröffnet; 1993 gibt es bereits 88 dieser Einkaufszentren. Und in den Favelas, die übrigens zur modernen Stadt gehören und keineswegs ein Residuum der Unterentwicklung sind, zählt man 1981 in Belo Horizonte 233.500 Bewohner; nur vier Jahre später hat sich die Zahl auf 550.000 Einwohner verdoppelt.3 Die Busse fahren in Belo Horizonte nach Sion (also nach Zion, ins gelobte Land …), nach Europa, nach Amerika und ins Paradies (und »Paraíso« heißt nicht nur Paradies, sondern auch Himmel) – aber man weiß nicht, ob sie in eine Favela fahren, zu einer Shopping Mall oder in ein Viertel überwachter Eigentumswohnungen. In Belo Horizonte, das mittlerweile verbaut ist mit Hochhäusern, ist das Conjunto JK noch immer das größte Bauwerk: ein negatives Wahrzeichen für das Scheitern der Moderne. Die Architektur Niemeyers ist oft mit der Bossa Nova verglichen worden; wenn es die schon früh in der Ästhetik konzedierte Beziehung zwischen Architektur und Musik gibt, dann tritt sie hier in einer besonderer Weise hervor: die Betonbauten des Kommunisten Niemeyer vereinigen mit ihren runden, vitalen Formen Tradition und Zukunft, oder, wenn man so will, Ordnung und Fortschritt (»Ordem e progresso«, dieser Satz Auguste Comtes steht auf der brasilianischen Nationalflagge). Zugleich ist diese Architektur sachlich, ist Standard und funktional. Gilt für den Funktionalismus die berühmte Formel »Form follows Function«, so folgen diese Formen offenbar gänzlich anderen Funktionen. In der Musik der Bossa Nova ist das nicht anders.4 Bossa Nova ist die Architektur einer Moderne, die sich jenseits der linearen Auffassung 3 Vgl. Teixeira, ›Em Obras‹, a.a.O., S. 177. 4 Siehe dazu den Artikel von Hans Kroier, ›Building Bossa Nova‹, in: NEID #10 jubilee issue (Berlin 2004), S. 48 ff. Behrens – Bossa Nova – Seite 5 von Geschichte bewegt; sie ist nachgeschichtlich, so wie auch in bestimmten Zügen die brasilianische Gesellschaft nachgeschichtlich ist. Vilém Flusser hat einmal behauptet, in Brasiliens Städten wohne man nicht wirklich, sondern man sei beständig auf der Suche. Dies entspricht zwar heute längst nicht mehr der sozialen Situation in den Favelas und Gated Communities, aber als Metapher scheint das Sinn zu machen. Vielleicht aber sind Suchen und Wohnen dasselbe, und die Architektur markiert keine Wohnorte, sondern Treffpunkte und Fundstellen. Dass eines der ersten Bossa-Stücke von der Heimweh und Nachhausekommen handelt, kommt so oder so nicht von ungefähr: ›Chega de saudade‹ heißt das Stück von João Gilbert, aufgenommen im März 1958. Flusser hat die Suche als Suche nach dem neuen Menschen bezeichnet. Auch wenn ihm der materialistische Zugriff auf gesellschaftliche Zusammenhänge fehlt und er etwas naiv die Möglichkeit wie Wirklichkeit Brasiliens überhöht, so hat er doch die Haltung beschrieben, die für die Bossa Nova charakteristisch war, und die im Tropikalismus der brasilianischen Kulturlinken ihr Programm fand. Insofern lohnt es, gegen die Mode, noch einmal die Frage zu stellen, was Bossa Nova war und vielleicht noch heute ist oder sein kann: als politische Avantgarde-Bewegung. Tradição e contradição. Versuch II Jemand legt Schallplatten auf; es soll brasilianisch sein. Das versprechen die Ankündigungen: »Tradição e Contradição!«5 Wilson Simonal, Tito Madi, Maysa, Johnny Alf, João Gilberto, Jorge Ben, Tom Jobim, Elis Regina, Noël Rosa und so weiter. Auch Sergio Mendes und Band. Dazu vielleicht einige Salsa- und Boogaloo-Stücke, die ja immer mit Lateinamerika identifiziert werden, obwohl sie mitten aus New York kommen. Irgendwann gibt es Funk und Disco aus Rio de Janeiro oder São Paulo. Zum Beispiel den auch hier nicht unbekannten Eumir Deodato: Fusion, Jazzrock, Synthesizerspielereien, E-Piano, bis auf die 5 Ein Wortspiel, das phonetisch im Deutschen leider nicht funktioniert: Tradição = »Tradition«, Contradição = »Widerspruch«, zugleich aber auch buchstäblich: »Mit Tradition«. Ebenso wäre etwas frei übersetzbar: Zug und Gegenzug. Behrens – Bossa Nova – Seite 6 Perkussion eigentlich nichts sonderlich Brasilianisches. Oder die großartige Kompilation ›Black Rio‹ mit Trio Mocoto, dem durch diverse Sampler bekannt gewordenen ›Onde Anda O Meu Amor‹ von Orlandivo, und einer ›Rapper’s Delight‹-Coverversion von Gang Do Tagarelas. Oder einige ältere Hip-Hop-Sachen aus den Favelas Rios, zum Beispiel Câmbio Negro. Bei einigen, die wegen der brasilianischen Musik gekommen sind, macht sich Unzufriedenheit bemerkbar: Der DJ solle doch gefälligst wieder die Musik spielen, die nach dem Schema eindeutig als brasilianisch identifizierbar ist. Und das heißt in der Regel: Bossa Nova – jedenfalls die Bossa Nova, die heute als Schematismus sich durchgesetzt hat, wenn irgendwo ein Rhythmus hörbar ist, der von schwebenden Synkopen getragen ist. Auf diesem Prinzip basiert der derzeitige kleine Erfolg von Nouvelle Vague, die Joy Devisions ›Love Will Tear Us Apart‹ bis Dead Kennedys ›To Drunk to Fuck‹ in BossaNova-Manier nacharrangieren. Auf diesem Prinzip basierte auch die mittlerweile wieder etwas verebbte Mode, Jazz und House mit Breakbeats und Bossa Nova zu kombinieren: als NuJazz, Brazilectro, oder Brazilian Flavours (so gelegentlich der Untertitel der von Rainer Trüby herausgegebenen Reihe ›Glücklich!‹). Bemerkenswerter Weise basiert aber der ehemalige Erfolg von etwa Sepultura nicht auf diesem Prinzip, obwohl Sepultura für die brasilianische Musikentwicklung durchaus genauso bedeutend sind wie Gilberto Gil. Nach den Rastern der Popkulturindustrie sind Sepultura ja eindeutig Metal, und eben nicht Bossa Nova. Gleichzeitig: die als Bossa Nova identifizierten Klänge erfreuen sich schon lange einer großen Beliebtheit. Man muss kein Experte sein, um kleine Melodien wie ›Garota de Ipanema‹ mitsummen zu können. Urlaubsmusik. James Last brachte die Bossa Nova dem Partypublikum nahe. George Michael hat mit ›Desafinado‹ die Bossa Nova in den Neunzigern popfähig gemacht. Elektronische Musik wird erträglicher für diejenigen, die elektronische Musik sonst pauschal als Techno ablehnen, wenn »typisch brasilianische« Rhythmen unterlegt sind oder eine zarte Stimme zurückhaltend über die missglückte Liebe singt. Bebel Gilberto ist schnell Konsens; und jede Kaufhausabteilung, die junge Mode für junge Angestellten wohlfeil bietet, genauso wie jede auf NewEconomy-Sachlichkeit getrimmte Bar, in der die jungen Angestellten ihre junge Mode vorführen, hat ihre Bossa-Nova- und Brazilectro-Platten im Hintergrund laufen. Bossa Nova war die erste Musik, die in den Behrens – Bossa Nova – Seite 7 Sechzigern von der Firma Muzak als Genre vermarktet wurde: für Fahrstühle, Flughäfen, Parkhäuser, Shopping Malls. ›Garota de Ipanema‹ ist das am meisten gecoverte Musikstück der Welt. Bossa Nova ist sozusagen zum Soundtrack des Spätkapitalismus geworden. Zu Beginn des neuen Jahrtausends, in dem die rücksichtlose Verwertungsökonomie nicht nur ihren Sieg feiern, sondern auch ständig scheint beweisen zu wollen, werden die Orte, an denen diese abstrakte Kapitallogik zum kulturellen Ausdruck kommt, ausgerechnet mit einer Musik beschallt, die genau das Gegenteil von Rücksichtslosigkeit suggeriert. Während der Postfordismus, der sich als Wiederkehr des Liberalismus entpuppt, sich hysterisch auf der Stelle dreht, klingt die Musik der Bossa Nova wie eine permanente (Selbst-) Beruhigung. Als Fahrstuhlmusik hat Bossa Nova auch die Funktion, Panik in Gefahrensituationen zu vermeiden; Musik gegen Platzangst. Nun bewegt sich vielleicht die gesamte Moderne in einem Fahrstuhl der Geschichte, hoch und runter. Die gegenwärtigen Zeiten sind turbulent. Die Bossa Nova und vielleicht noch ein Glas Sekt dazu, als sei das Leben eine einzige Vernissage, vermitteln das Gefühl, dieser Situation mit postmoderner Gelassenheit ausweichen zu können.6 Mehr noch: Anders als zum Beispiel deutsche Schlagermusik, die in Supermärkten und weniger glamourösen Angestelltenkneipen eine ähnliche Funktion erfüllt,7 gibt es bei der Bossa Nova den Anschein, man könne Unterhaltungsmusik und Hintergrundbeschallung mit Intellektualität 6 Diesen Konformismus vermeintlicher Nonkonformisten hat Herbert Marcuse bereits 1964 in seinem ›Eindimensionalen Menschen‹ beschrieben (ein weiteres Geburtsjahr der Bossa Nova und der Beginn der Militärdiktatur in Brasilien). Es gibt einen Werbespot, in dem zwei prototypische Werber – also unsympathische Idioten – auf dem schrägen Fenster der Aussichtsplattform des Hamburger Fernsehturms lehnen, unter ihnen der Abgrund, und sich mit Sekt zuprostend sagen: »Haben wir noch eine Chance?« – »Nö!« – Hämisches Lachen. Dazu: Musik in Bossa-Nova-Manier. 7 Einmal davon abgesehen, dass die Bossa Nova ja auch den deutschen Schlager beeinflusste: Berühmt der Hit ›Schuld war nur der Bossa Nova‹ und großartig Gillas Version von ›Girl from Ipanema‹. Behrens – Bossa Nova – Seite 8 und (guten) Geschmack verbinden.8 Das Gefühlvolle und Tiefe, was die von der Krise betroffene, aber sich nicht betreffen lassen wollende Angestelltenkultur emotional berührt, ist zugleich sehr deutsch: Innerlichkeit. So glaubt man sich gemein machen zu können mit der Melancholie, die jungen Männer und Frauen bei der Bossa Nova heraushören. Das Melancholische wird hierbei allerdings zum Ausdruck genau der ewigen Wiederkehr, die »offene Wunde« – die »genussreiche Selbstquälerei«: »Die Melancholie ist seelisch ausgezeichnet durch eine tief schmerzliche Verstimmung, eine Aufhebung des Interesses für die Außenwelt, durch den Verlust der Liebesfähigkeit, durch … die Herabsetzung des Selbstgefühls …«9 Melancholie schlägt um in eine spezifische Form der Arroganz, welche die gegenwärtigen Verhältnisse nicht mehr hinterfragt, sondern »locker«, »easy«, »cool« akzeptiert. Sozialpsychologisch manifestiert sich solche Melancholie als Depression; sie bildet das Spiegelbild zur ökonomischen Depression der gegenwärtigen Krise. Der wirtschaftliche Misserfolg, der Absturz von der Karriereleiter kann als persönliches Schicksal verklärt werden, ohne sich allzu sehr mit den tatsächlichen Umständen zu beschäftigen; man glaubt sich in der ähnlichen Lage wie im Text der Bossa Nova der auf ewig verlorenen Liebe nachgetrauert wird. Solche Melancholie schlägt in den Wunsch um, dass alles so bleiben soll, wie es ist; sie wird zur Ideologie. Die Musik wird dabei als gänzlich unpolitisch wahrgenommen, als wäre es sogar ein besonderes Merkmal der Bossa Nova, nicht politisch zu sein. Hip Hop zum Beispiel ist komplizierter. Da gibt es immer eine Reihe von Gretchenfragen, die irgendwie doch geklärt werden müssen: Wie hält man es mit dem Ghettostyle? Wie geht man mit dem Sexismus, der Homophobie um? Wie steht man zu den Ressentiments? Wie ist es mit Antisemitismus? Etc. Solche politischen Implikationen scheint es beim Konsum von Bossa Nova nicht zu geben; so unhistorisch die Musik 8 Einige Frauenzeitschriften haben ähnliche wie Musikjournals angefangen, ihren Ausgaben gelegentlich CDs beizufügen. Bei ›Allegra‹ heißen diese Kompilationen ›Latin Flavours‹ und bieten »presented by Bacardi« Brazil-House … 9 Sigmund Freud, ›Trauer und Melancholie‹, in: Studienausgabe Bd. II, Frankfurt am Main 2000, S. 206, 205, 198. Behrens – Bossa Nova – Seite 9 rezipiert wird, so unpolitisch verschwindet sie im Hintergrundrauschen des eigenen Lebens. Rainer Trüby hat auf seiner Kompilationsreihe ›Glücklich!‹ immer ein Volkswagenmodell, ein Schwarzweiß-Foto auf unschuldig-weißer Fläche. Die Musik sampelt sich durch die späten Sechziger und Siebziger Südamerikas, vor allem Brasiliens. Hier ist viel von Sonnenschein und lauen Sommerabenden die Rede, die Copacabana als Dauerpartystrand. Auf anderen Kompilationen gibt es dazu gleich das Farbfoto, die untergehende Sonne über Ipanema, dazu der Zuckerhut und eine der vielen, über ganz Brasilien verteilten Jesuitenstatuen. Irgendwie scheint die Musik versprechen zu wollen, für eine CD lang die Sorgen vergessen zu können. Dass sich die Bossa Nova in der Zeit der Militärregierungen entwickelte, dass sie gleichsam eine künstlerische Strategie darstellte, sich der angestrebten kulturellen Hegemonie des Militärs zu entziehen, davon ist auf den Veröffentlichungen der letzten zehn, fünfzehn Jahre, die Bossa Nova zur europäischen und speziell deutschen Mode gemacht haben, nichts zu hören. Freilich auch nicht davon, dass in den Sechzigern und Siebzigern zwischen der deutschen Industrie und dem brasilianischen Militär gute Kontakte bestanden. Die Bossa Nova wird verdinglicht zu einem zeitlosen Stil der Mode, eingebettet in eine Popkulturindustrie, in der die künstlerische Kategorie des Stils mit Reklame konvergiert. Wenn irgendwo ein Produkt als heiß, »rassig«, feurig, temperamentvoll oder schlicht südamerikanisch beworben wird, erklingen lateinamerikanische Rhythmen, sieht man Bikinifrauen und kräftige Burschen, die jeder und jede rückenmarksmäßig als »typisch brasilianisch« erkennt. Doch ganz im Gegenteil ist die Bossa Nova weniger als Stil zu verstehen, vielmehr als Haltung, als Expression (also Ausdruck, aber durchaus im Sinne des Expressionismus). O que é »Bossa«? Porque »Bossa Nova«? Versuch III Wörtlich kann Bossa Nova so etwas heißen wie neuer Hügel, neue Traube, auch neue Führung oder, noch freier übersetzt, neue Welle. Entstanden ist der Begriff Bossa Nova allerdings aus dem Carioca-Slang der Endfünfziger, also aus der Alltagssprache der Einwohner Rios, und bedeutet »Art und Weise« oder »Fertigkeit«, »Vermögen«, auch »jeito«, Behrens – Bossa Nova – Seite 10 wobei ein »jeito« ein Trick oder ein Kniff ist. Wenn es Schwierigkeiten gibt, beruhigt man sich gerne mit den Sätzen »Há sempre um jeito!« oder »Há sempe um jeitinho!« – man sagt, es gibt immer einen Trick, oder eine kleine Lösung. Wenn jemand etwas in spezieller, origineller, aber auch unkomplizierter Weise erledigt, dann ist es »Bossa«. Der Ausdruck »Bossa Nova« entwickelte sich Anfang der Sechziger als Gegenbegriff zum Alten, Veralteten, Überkommenen. Für die Musik, die jetzt als Bossa Nova auftrat, hieß das: Alle bisherige Musik galt als obsolet, unbrauchbar. Als Avantgarde behauptete Bossa Nova also den Bruch mit der Tradition, ohne jedoch vollständig auf die Tradition zu verzichten. Die Bossa Nova ist eine Modernisierungsbewegung: Samba – um 1916 als Karnevalsmusik in Rio entstanden, auch als Musik der Banditen verachtet – wird modernisiert; auch vom Chorinho, dem Vorläufer der Samba finden sich Elemente. So liegen die Wurzeln der Bossa Nova bei den Sambatistas Cartola, Nelson Cavaquinho, Carlos Cachaça, Carmen Miranda, vor allem bei Ary Barroso und dem »Sambaphilosophen« Noël Rosa. Wir sind im Brasilien der zwanziger, dreißiger und vierziger Jahre. Europa wird vom nazideutschen Terror überschattet; neben den Vereinigten Staaten ist Brasilien das größte Einwandererland. Allerdings regiert Getúlio Vargas von 1937 bis 1945 Brasilien im Ausnahmezustand einer Diktatur. In dieser Zeit etabliert sich der brasilianische Bigband-Sound, Dick Farney nimmt ›Copacabana‹ 1942 auf; Farney ist eine brasilianische Version des Crooners, der brasilianische Frank Sinatra. Nach einem heutigen Modewort kann man von Aneignung sprechen; tatsächlich ist dieses parasitäre Verhältnis zur westlichen Massenkultur typisch für die Entwicklung der Populärkultur in Brasilien, schließlich auch wesentlich für die Entwicklung von Bossa Nova und Tropikalismus. Vargas kehrt 1951 bis 1954 als demokratisch gewählter Präsident zurück. Dann beginnt ab 1956 das Neue Brasilien mit der Regierung Kubitschek; dies ist der verspätete Aufbruch in die Moderne. Zur Bossa Nova gehört insofern als Haltung der Versuch, Brasilien vom Rassismus zu befreien, die Emanzipation der Frau, der Urbanismus und der sozialistische Humanismus als Lebensgefühl. Die Bossa Nova, die nicht nur die Musik umfasst, sondern ebenso Architektur, bildende Kunst und Literatur, vor allem aber auch das Alltagsleben und seine Künste, muss als verspätete ästhetische Moderne Brasiliens beschrieben worden, als Avantgarde. Das ist aus zwei Gründen aufschlussreich: Erstens entstand mithin in Brasilien eine Avantgarde-Bewegung, als anderenorts die Behrens – Bossa Nova – Seite 11 klassischen Avantgarden als gescheitert angesehen werden mussten – im postfaschistischen Europa und den USA ebenso wie in der stalinistischen und poststalinistischen Sowjetunion. Zweitens war hier die Entwicklung der Kunst nicht von der Entgegensetzung von Hochund Massenkultur bestimmt, nicht vom Widerspruch zwischen ›Avantgarde und Kitsch‹ (wie Clement Greenberg es 1939 für die USA konstatierte), sondern von einem Zusammenspiel der ästhetischen, kulturellen und in gewisser Weise auch politischen Kräfte. Das Verhältnis von Hochkultur und Massenkultur drückt sich in Brasilien ohnehin in einer anderen historischen Konfiguration aus: Brasilien ist eine Klassengesellschaft, die aber im 20. Jahrhundert noch wesentlich geprägt bleibt vom Gegensatz zwischen Stadt und Land, und vom Gegensatz zwischen Haus und Straße. Dabei ist zu berücksichtigen, mit welcher Deutlichkeit dieser Gegensatz sich darstellt: einerseits das Hinterland, die riesigen Latifundien, der Regenwald, andererseits die Riesenstädte wie São Paulo, Rio de Janeiro oder Belo Horizonte, schließlich eine vollkommen künstliche Metropole als Hauptstadt: Brasilia. Auch Anfang der sechziger Jahre bleibt Brasilien vom Rassismus dominiert. Er trifft die Schwarzen, ebenso die indigenen Ureinwohner und gründet in der alten portugiesischen Aristokratie, aber auch im jesuitischen Missionsgedanken, wobei die Jesuiten – was erst einmal paradox klingt – es ehedem auf »Rassenmischung« anlegten. Der Beginn der Moderne als Postmoderne Ende der fünfziger Jahre. Die Sklaverei wurde erst vor wenigen Jahrzehnten, Ende des 19. Jahrhunderts abgeschafft, wirkt aber inoffiziell weiter: in den Angestelltenverhältnissen des Haus- und Hofpersonals, das nicht selten in kleinen Kammern hinter der Küche lebt. In der Vargaszeit war es der Soziologe Gilberto Freyre, der den Mythos der »Rassendemokratie« begründete, die er in der Rolle der Mulattin als Hausangestellte, als Geliebte und als Kinderfrau realisiert sah; Mestizierung hieß die in den positiven Rassismus gedrehte Forderung: größtmögliche Mischung war das Ziel, eine Hausmannisierung der Körper gegen die sozialen Klassenwidersprüche. Erst in den Neunzigern werden Antidiskriminierungsgesetze im vollen Umfang eingeführt. Vor diesem Hintergrund sind im Übrigen auch die für Brasilien typischen Favelas zu sehen. Sie entstehen erst im 20. Jahrhundert: »Befreite« Sklaven wandern mittellos in die Städte ab, bekommen als Bauland nur nutzlose, ökonomisch wertlose Hügelflächen, auf denen sie Not gedrungen Behrens – Bossa Nova – Seite 12 provisorisch ihre Stadtteile errichten. Es sind keine wirklichen Slums, sondern Ghettos, in denen sich auf maroden Fundamenten eine provisorische Infrastruktur entwickelt. Und Gewalt, Armut, Angst (der Film ›City of God‹ – ›Cidade de deus‹ – zeichnet ein sehr sozialromantisches Bild der größten Favela Rios, bemerkenswerter Weise mit Mitteln des modernen Werbefilms – Reklame für den fröhlichen Positivismus des Verbrechens. Tatsächlich besteht auch in Brasilien die Vorstellung, Favelas seien ausschließlich Orte der Unmenschlichkeit, Drogenkriminalität. Favelas werden nicht als Lebensraum, Wohnort, Alltagspraxis wahrgenommen. Diese Ideologie der Armut setzt sich heute vor allem im brasilianischen Fernsehen fort, insbesondere in den Telenovelas. In dem Film wird nicht einmal auf die Militärdiktatur eingegangen, die die Jahre bestimmte, von denen der Film handelt). Wenn in Berichten immer wieder zu lesen ist, dass die Bossa Nova mehr oder weniger am Strand, an der Copacabana, entstanden ist, so ist dies weniger eine romantische Verklärung, als konkreter Ausdruck einer spezifischen Konstellation der modernen brasilianischen Gesellschaft, die weniger im Klassengegensatz oder Rassismus sich bemerkbar macht, als im »Gesetz von Haus und Straße«. Die Straße ist trotz der Urbanisierung oder vielleicht gerade in der brasilianischen Stadtentwicklung ein öffentlicher Ort geblieben. Die in der Bossa Nova besungene Einsamkeit, die Traurigkeit, die Melancholie, die Liebe, das Alleinsein, das Du und das Wir – ›Você‹, ›Agente vai levando‹ etc. All dies ist von einer Atmosphäre der Anteilnahme, des Sympathie und Solidarität gekennzeichnet; weswegen im Übrigen ein Liebeslied leicht umgedeutet werden kann als Anklage einer Politik der Verschleppung und Einsperrung. Anderseits die isolierte Öffentlichkeit der herrschenden Gruppen: Sie leben abgetrennt, mit eigener Polizei, selbstüberwacht, eigentlich jenseits des Staates, den sie zugleich bilden. Es ist eine merkwürdig antiquierte und doch gegenwärtige höfische Gesellschaft, die die Straße missachtet und das Haus verteidigt. In den mafiotisch beherrschten Favelas in Rio und São Paulo regieren die Banden bereits in ähnlicher Weise – manche sprechen vom Krieg zwischen Straße und Haus. Und es ist selbstverständlich, dass ein Aristokrat nicht auf die Straße geht, dass ein Bewohner einer Favela nicht ins aristokratische Haus geht, sofern er dort nicht angestellt ist. Bossa Nova, und mehr noch die Tropicalismo-Bewegung – Gilberto Gil, Jorge Ben, Caetano Behrens – Bossa Nova – Seite 13 Veloso, Gal Gosta, Milton Nascimento – haben versucht, diesen Gegensatz von Haus und Straße zu überwinden. Flussers Suche. Versuch IV Der Philosoph Vilém Flusser lebt in São Paulo, als in Rio die Bossa Nova beginnt. Der 1920 in Prag geborene Flusser emigrierte 1940 von Southampton nach Brasilien; von Rio zieht er nach São Paulo. Seine Eltern hat er nie wieder gesehen: sie werden von den Deutschen ermordet, vergast. – Flusser veröffentlicht erst ab 1961; in den sechziger Jahren beschäftigt er sich in zahlreichen Artikeln mit der brasilianischen Gesellschaft – sie erscheinen in deutschen Tageszeitungen, der ›Süddeutschen‹ und der ›FAZ‹. Die Militärregierung, die politische Repression und die soziale Misere Brasiliens spielt in seinen Texten kaum eine Rolle. Er lehrt auch in Zeiten der Militärregierung weiter; als 1972 der Druck jedoch doch zu groß und von ihm etwa verlangt wird, sich positiv über das Regime zu äußern, verlässt Flusser Brasilien und zieht nach Europa zurück. Hier entwickelt er die Grundzüge seiner Medientheorie, die er Kommunikologie nennt: eine Mischung aus Fernsehkritik und postmoderner Diskurs- und Gestenanalyse in einem Weltzustand, den Flusser unabhängig von der Posthistoriedebatte als Nachgeschichte begreift. Flusser stirbt 1991 bei einem Autounfall. Seine Arbeiten erscheinen zum Teil erst posthum, so auch der Band 5 der ›Schriften‹: ›Brasilien oder Die Suche nach dem neuen Menschen. Versuch über den Brasilianer‹; eine kürzere Fassung der Textsammlung erscheint erst 1998 in Brasilien: ›Fenomenologia do Brasileiro: Em Busca de um Novo Homem‹. Eine neue Kultur, ein neuer Mensch. Kein neuer Brasilianer, aber doch ›Brasilien als Modell für die künftige menschliche Gesellschaft‹, wie ein Artikel aus der ›FAZ‹ 1966 übertitelt ist. »Was sich in Brasilien vorbereitet, ohne in seinen Wurzeln von der Welt verstanden, ja auch nur eigentlich beobachtet zu werden, ist eine revolutionäre neue Art des Denkens und Nachdenkens, kurz eine neue Kultur in den Tropen. Ob diese Möglichkeit sich verwirklicht, wird erst Behrens – Bossa Nova – Seite 14 die Zukunft weisen.«10 Das Grundmotiv ist die Suche. Ihr Ausgangspunkt ist »das Erlebnis der Tropen.«11 Was dabei heraus kommt, »ist ein Bild Brasiliens aus der Sicht eines immigrierten Intellektuellen.«12 Es ist eine Momentaufnahme Brasiliens. Wer sie näher betrachtet, der sieht, dass nicht nur Flusser auf der Suche ist, sondern Brasilien selbst als eine einzige große Suchbewegung erscheint: In Brasilien herrsche »die Stimmung des Suchens eindeutig« vor.13 Die Suche findet jenseits der Geschichte statt; für die Suche wird alles still gestellt. So, wie alle Innehalten müssen, wenn die Kontaktlinse heraus gefallen ist. Diesen Zustand des Nichtgeschichtlichen nennt Flusser »Dephasierung«.14 Dephasierung bezeichnet »die Tatsache, dass dem Brasilianer jeder Sinn für Geschichte abgeht. Der Brasilianer denkt völlig ungeschichtlich, und das auch dann, wenn sich sein Denken mit der Geschichte beschäftigt.«15 So ist Brasilien durch eine Entfremdung gekennzeichnet, durch die Abwesenheit von Tradition: »Das ganze Land ist mit einem Aroma der Unwirklichkeit behaftet, alles ist in einem Zustand der Schwebe und der Traumhaftigkeit und hat etwas leicht Verrücktes … Brasilien ist eine Gesellschaft, die aus der historischen Wirklichkeit herausgeschleudert wurde, und zwar so, dass jeder Versuch, sich in ihr neuerlich zu verankern, Verlust der im Entstehen begriffenen Eigenart bedeuten würde. (Ein solcher Versuch wäre tatsächlich entfremdend.) Brasilien ist darüber hinaus eine Gesellschaft, 10 Vilém Flusser, ›Die Tropen‹, in: ›Brasilien oder Die Suche nach dem neuen Menschen. Versuch über den Brasilianer‹, Schriften Bd. 5, Mannheim 1994, S. 256. 11 Flusser, ›Die Tropen‹, in: Schriften Bd. 5, a.a.O., S. 249. 12 Flusser, ›Brasilien oder Die Suche nach dem neuen Menschen‹, in: Schriften Bd. 5, a.a.O., S. 16. 13 Flusser, ›Suche nach der neuen Kultur. Brasilien als Modell für die künftige menschliche Gesellschaft‹, in: Schriften Bd. 5, a.a.O., S. 221. 14 Flusser, ›Brasilien oder Die Suche nach dem neuen Menschen‹, in: Schriften Bd. 5, a.a.O., S. 63 ff. 15 Flusser, ›Brasilien oder Die Suche nach dem neuen Menschen‹, in: Schriften Bd. 5, a.a.O., S. 66. Behrens – Bossa Nova – Seite 15 die dabei ist, eine neue Wirklichkeit aus sich und für sich zu schaffen und einen neuen Typ Mensch entstehen zu lassen. Was also als Entfremdung gedeutet wird, kann im Gegenteil den ersten Schritt zu einer Selbstbewusstwerdung bedeuten.«16 Flusser sieht in der Dephasierung die Ursache für die besondere Entwicklung der Kultur in Brasilien, die er als Mischung und Synthese charakterisiert.17 Hier berührt Flusser wenigstens am Rand die politische Entwicklung der ehemaligen Großkolonie Brasilien und kommt fast in die Nähe von Lenins Zweikulturentheorie:18 bis zum Anfang des 20. Jahrhunderts war Brasilien »eine seltsame Gesellschaft. An der Oberfläche herrschten lateinische Begriffe, so wie sie die Kolonisatoren mit Portugal und Frankreich erneuern versuchten. Aber in ihrer neuen Umgebung waren diese Begriffe unecht, und die ganze offizielle Kultur hatte den Stempel der Unauthentizität zu tragen. Unter der Oberfläche begann sich eine Synthese des portugiesischen und afrikanischen Erbteils anzubahnen. So kann man eigentlich von zwei Kulturen sprechen.«19 Wichtig dabei, dass dieses Verhältnis von Hochkultur und Alltagskultur nicht dem üblichen Schema der kulturellen Hegemonie zu folgen scheint. Eine 16 Flusser, ›Brasilien oder Die Suche nach dem neuen Menschen‹, in: Schriften Bd. 5, a.a.O., S. 106. 17 Flusser, ›Brasilien oder Die Suche nach dem neuen Menschen‹, in: Schriften Bd. 5, a.a.O., S. 36: »Offensichtlich ist Brasilien ein Land der Mischung. Aber potenziell, und in mancher Hinsicht auch schon effektiv, ist es ein Land der Synthese.« 18 Vgl. Wladimir I. Lenin, Werke Bd. 20, Moskau 1961 ff., S. 8 f.: »In jeder nationalen Kultur gibt es – seien es auch unterentwickelte – Elemente einer demokratischen und sozialistischen Kultur, denn in jeder Nation gibt es eine werktätige und ausgebeutete Masse, deren Lebensbedingungen unvermeidlich eine demokratische und sozialistische Ideologie erzeugen. In jeder Nation gibt es aber auch eine bürgerliche (und in den meisten Fällen noch dazu erzreaktionäre und klerikale) Kultur, und zwar nicht nur in Form von ›Elementen‹, sondern als herrschende Kultur.« 19 Flusser, ›Suche nach der neuen Kultur. Brasilien als Modell für die künftige menschliche Gesellschaft‹, in: Schriften Bd. 5, a.a.O., S. 222. Behrens – Bossa Nova – Seite 16 bürgerliche Kultur hat sich in Brasilien als legitimatorische Leitkultur nur mit Gewalt aufrechterhalten können. Während in Europa, Nordamerika und teils auch Asien die Hochkultur sich im Zuge der Modernisierung verfestigt hat oder sogar den Kern der Modernisierung bildete (bis zur Ab- und Auflösung durch die Popkultur Ende des 20. Jahrhunderts), ist in Afrika, Südamerika und insbesondere Brasilien die Hochkultur gewissermaßen aus der Modernisierung herausgerutscht und obsolet geworden und wirkt nunmehr antiquiert. Bereits im brasilianischen Barock zeigen sich diese Spuren des Niedergangs. Im Brasilien des 20. Jahrhunderts wirkt die offizielle Kultur (Opern etc.) schließlich vollends gekünstelt. »Und die unterirdische, so wie sie sich in Volksmusik, in Volksplastik und Malerei, in den Volkssagen und in Tracht und Küche ausdrückt – und diese ist, nach meiner These, eines der Elemente der neuen Kultur von heute. Die offizielle stirbt aus oder ist ausgestorben.«20 Eine neue Kultur tritt auf die Straße hinaus. Nicht in den Galerien und auf den Biennalen findet Kunst statt, »sondern im Straßenbild in Gestalt von Plakaten, Auslagen und Kleidung, in den Wohnungen in Gestalt von Möbeln, Wandbemalung und Verschalung, in Banken und Fabriken in Gestalt von ›unzweckmäßigen‹ Einrichtungen usw. kommt ein neues ästhetisches Erleben zum Ausdruck, das seinem Wesen nach spielerisch, ja verspielt ist.«21 In diesem Klima entwickelt sich in den Sechziger Jahren also die Bossa Nova – als erster Ausdruck der Suche nach der neuen Kultur, als neue Kultur selbst. Es gelingt der Bossa Nova »nämlich eine Verschmelzung semantischer und syntaktischer Aspekte, die ihrerseits zu einer Verschmelzung von Ästhetik und Ethik führt, wie sie der Westen seit dem Mittelalter nicht kannte.«22 Oder: »Dichter und Komponisten aus intellektuellen Klassen setzen Texte und Partituren zusammen, Texte, die 20 Flusser, ›Suche nach der neuen Kultur. Brasilien als Modell für die künftige menschliche Gesellschaft‹, in: Schriften Bd. 5, a.a.O., S. 222. 21 Flusser, ›Brasilien oder Die Suche nach dem neuen Menschen‹, in: Schriften Bd. 5, a.a.O., S. 140 f. 22 Flusser, ›Brasilien oder Die Suche nach dem neuen Menschen‹, in: Schriften Bd. 5, a.a.O., S. 139. Behrens – Bossa Nova – Seite 17 oft die politische Lage, oft die existenzielle Situation formulieren, und Partituren, die die afrikanische religiöse Musik parodieren.«23 Bossa Nova interpretiert Flusser als Symptom für seine Unterscheidung von Zeitgeist und Ortsgeist. Trete der Zeitgeist stärker hervor, so Flusser, handelt es sich um eine ausgesprochen historische Kultur (Flussers Beispiel ist die romanische Kirche, für die bezeichnender ist, dass sie romanisch ist, aber weniger bezeichnend, dass sie etwa katalanisch ist). Tritt dem entgegen der Ortsgeist stärker hervor, werde nach Flusser die Geschichtlichkeit der Kultur in Frage gestellt (sein Beispiel: beim ägyptischen Tempel ist der Ort Ägypten wichtig, weniger die Dynastie, in der er gebaut wurde, weil die Historizität der ägyptischen Kultur zweifelhaft ist). Schließlich gibt es die Kulturen, die gänzlich ungeschichtlich seien, bestimmt durch das völlige Zurücktreten des Zeitgeistes (Flussers Beispiel: die afrikanische Kultur, die afrikanische Maske). Die Zeit ihrer Entstehung bleibt unbekannt, der Zeitgeist sinnlos.24 Auch in der Retrospektive scheint diese Verschiebung von Zeitgeist und Ortsgeist für die Bossa Nova konstatiert werden zu können. Überhaupt entfaltet sich die Differenzierung von Zeitgeist und Ortsgeist in der Popkultur. Ein merkwürdiges Verhältnis von Raum und Zeit, von Geschichte und Mode, von Gegenwart und Aktualität bestimmt Popkultur insgesamt: Popgenres wie Metal, Funk, Disco, Soul, Rock ’n’ Roll, Punk, Beat etc. können auf der Zeitachse der Popgeschichte verortet werden; leicht lässt sich ungefähr sagen, welches Genre in welches Jahrzehnt gehört, auch, welches Genre sich aus welchem entwickelt hat. Hardcore, das waren die Achtziger; Nirvana, das war die letzte globale Subkultur innerhalb der endgültig globalen Kulturindustrie der Neunziger. Dass solche Musik hauptsächlich aus den USA oder aus Großbritannien gekommen ist und kommt, ist Nebensache. Mehr noch: Je weniger der räumliche Herkunft eine Rolle spielt, umso wichtiger scheint der zeitliche Bezug zu sein – eine Mode, 23 Flusser, ›Suche nach der neuen Kultur. Brasilien als Modell für die künftige menschliche Gesellschaft‹, in: Schriften Bd. 5, a.a.O., S. 227. 24 Vgl. Flusser, ›Brasilien oder Die Suche nach dem neuen Menschen‹, in: Schriften Bd. 5, a.a.O., S. 125. Behrens – Bossa Nova – Seite 18 die zur Geschichte wird, die erneuert werden muss, oder vergeht, die als Retrophänomen wieder auftreten kann, oder wenigstens im Mainstream kanonisiert wird (die besten Beispiele nach wie vor: The Beatles, Rolling Stones, The Who etc.). Dagegen die Popgenres, die sich seit jeher im Abseits der üblichen Pophistorisierung bewegen und innerhalb der Popkultur tendenziell geschichts- beziehungsweise zeitlos auftreten: Tango, Reggae, Weltmusik, Latin, Salsa, Country & Western eben auch Samba oder Bossa Nova. Vielleicht kann der Jazz insgesamt dazugezählt werden, oder zumindest der Jazz, den Adorno als eine ›Zeitlose Mode‹ bezeichnete.25 Wir assoziieren Tango mit Argentinien (oder, in spezifischer Variante, mit Finnland), Reggae mit Jamaika, Weltmusik jedenfalls nicht mit den USA und Europa, Latin mit Kuba oder Südamerika, Country & Western in sehr expliziter Weise mit den Vereinigten Staaten. Bei Samba denkt man gemeinhin an Karneval in Rio; in der Musik, die wie Bossa Nova klingt, glaubt man die spezifische brasilianische Lebenseinstellung, die traurigen Tropen, zu hören. Aber an welche Zeit denken wir, wenn wir Bossa Nova oder Samba hören? Ist es ein exakter Zeitbezug, ist er geschichtlich? Haben wir eine Vorstellung vom Brasilien der sechziger und siebziger Jahre, wenn wir vage die Bossa Nova mit diesen Jahrzehnten in Zusammenhang bringen? Nutzlose Landschaft, Popkultur, letzter Versuch Bossa Nova ist zunächst als eine Vereinfachung zu verstehen: Aus einfachen Harmonien, Rhythmen, Texten wurden so Standards entwickelt, ohne allerdings im kulturindustriellen Schematismus der Standardisierung aufzugehen. Zwar kann ungefähr davon ausgegangen werden, dass die Bossa Nova in Rio Anfang der sechziger Jahre begann, doch gibt es keinen wirklichen Ursprung, keinen Ort, kein Datum. Bossa Nova ist bereits in der Zeitlosigkeit gegründet, und überdauert auch in dieser Zeitlosigkeit die Geschichte Brasiliens: Von 1964 bis 1985 wird Brasilien vom Militär regiert, und die Bossa Nova, später der Tropicalismo, die Idee der MPB, die Música popular brasileira, wird zu 25 ff. Vgl. Theodor W. Adorno, ›Zeitlose Mode. Zum Jazz‹, in: GS Bd. 10·1, S. 123 Behrens – Bossa Nova – Seite 19 einer geradezu heimlichen Widerstandsform, zur kulturellen Opposition: zu einer ästhetischen Avantgarde in einer Zeit, in der die politische Avantgarde unterdrückt und marginalisiert ist. Wenn man also versucht, der Bossa Nova einen Ort und ein Datum zu geben, so erscheint die Copacabana, der Strand von Ipanema, als sicherer Ort im Abseits. Nara Leão, Carlos Lyra, Roberto Menescal, Ronaldo Boscoli, Baden Powell, João Gilberto, Chico Buarque etc. Künstler und Intellektuelle, eine progressive Jugendbewegung, die zusammen mit einer kleinen kommunistischen Linken wenige Jahre später zum Schreckgespenst erklärt wird: Die Militärregierung hat ihre Herrschaft stets dadurch legitimiert, dass sie Brasilien vor den Gefahren des Sozialismus schützen muss – eine Gefahr indes, die leider nie wirklich bestand. Im Gegensatz zu anderen Nationen Südamerikas war die Arbeiterbewegung, waren die Kommunisten in Brasilien sehr schwach, obwohl eine quasi-sozialistische Grundhaltung jenseits der Politik verbreitet war. Chico Buarque ist der in der Diktatur am meisten zensierte und verbotene Künstler. Und einer der beliebtesten. Auch in der brasilianischen Militärdiktatur spiegelt sich das Verhältnis von Haus und Straße, vom Alltagsleben und Staat: Die Militärregierungen bedeuteten Terror, blieben aber zugleich in der brasilianischen Gesellschaft der siebziger Jahre im Hintergrund. Gleichwohl kann für die brasilianische Gesellschaft nicht von einem regressiven Konformismus gesprochen werden, von einer massenhaften Akzeptanz oder Unterstützung der Militärs wie etwa für die deutsche NS-Gesellschaft. Gleichgültigkeit artikulierte sich als politische Haltung. Sie fand in der Musik ihren Ausdruck. Die Diskussionen, die es zwischen verschiedenen Strategien von Bossa Nova, Tropikalismus und MPB gegeben hat, stehen in ästhetischer Opposition zum Kulturverständnis der Militärs: Die Militärs wollten weißen, männlichen Mainstreamrock zur universellen Leitkultur machen, gegen die intellektuelle, urbanistische, avantgardistische Popkultur der Massen, gegen Samba, gegen schwarze Musik, gegen Bossa Nova, gegen Tropicalismo. In der Bossa Nova machte sich politische Frustration bemerkbar, die Tropikalisten forderten dagegen eine traditionsbezogene populäre Kultur, die Verbindung von Rock, Funk, später auch Punk mit Samba. Vor allem bildende Künstler wie Lygia Clark, Hélio Oiticica oder Cildo Meireles diskutierten, ob die Frage der ästhetischen Avantgarde Behrens – Bossa Nova – Seite 20 inhaltlich oder formal zu lösen ist, drastischer: plakativ oder formalistisch. Die Bossa Nova hat diese Dialektik von Form und Inhalt als modernen Manierismus aufgelöst: im Gehalt, das heißt in der Form, die dialektisch durch den Inhalt vermittelt ist. Aufgehoben ist das in den melodischen Harmonien, in den singenden Septakkorden, in den stehenden Tönen – zumeist Flöten oder Streicher –, in den rhythmischen Figuren, den jede Hektik, jede Eile fehlt: Jazz. Die Haltung scheint ohnehin dem Jazz verwandt; Bossa Nova verhält sich zu Samba wie Cool Jazz zum Bebop. Dass die Bossa Nova über den Jazz nach Europa und in die Vereinigten Staaten kam, ist bezeichnend (1962 Bossa-Nova-Konzert in der Carnegie Hall New York). Die Aufhebung des FormalismusProblems gelang über die Setzung von Standards, die sich allerdings in der Kulturindustrie als Standardisierungen verlängerten, verdinglichten. Derart ist die Bossa Nova zum Stil geronnen, schließlich zum Lifestyle: die brasilianische Ideologie vom Ortsgeist, von der ewigen Wiederkehr der Schönheit, der Melancholie, des Karnevalesken: Rio, Ipanema, Copacabana. Dagegen bleibt allerdings die unterirdische Geschichte, die Inkraftsetzung des Zeitgeistes, die politische Avantgarde einer ästhetischen Haltung, die in der Musik von Thereza Hermany und Tom Jobim hörbar ist (und man sollte Vinicius de Moraes und Carlos Drumond dazu nennen). Jobim komponierte in Ipanema BossaStandards: ›Garota de Ipanema‹, ›Agua de Beber‹, ›Eu sei que vou te amar‹, ›A felicidade‹, ›Insensatez›‹, ›O amor em Paz‹, ›Por toda a minha vida‹, ›O grande amor‹, ›O morro não tem vez‹, ›Ela é Carioca‹, ›Dindi‹, ›Samba do avião‹. Als das Militär 1964 die Straßen besetzt und den Widerstand zerschlägt, sitzen Jobim und seine Freunde zuhause, bekommen von der Machtergreifung nichts mit. Es wird klar: die Musik hat keinen wirklichen Bezug zur Politik, ist in diesem Augenblick nutzlos für den Widerstand. Im entscheidenden Moment fehlt die Verbindung zwischen der ästhetischen Avantgarde und dem politischen Widerstand. Als Jobim von dem Putsch hört, nennt er ein gerade arrangierte Stück ›Inútil Paisagem‹, nutzlose Landschaft. Diese Landschaft ist dieselbe politische Landschaft, mit der Heimweh in Gilbertos ›Chega de saudade‹ gemeint war. Aus der Suche wird jetzt Flucht: nach Los Angeles, New York, nach London, nach Nürnberg (Baden Powell), oder ins brasilianische Hinterland. Jobim komponiert epische Werke wie zum Beispiel ›Matita Perê‹ (1973), schließt damit an seine frühen sinfonischen Arbeiten an. Behrens – Bossa Nova – Seite 21 Die Kulturindustrie, die sich in der Nachkriegszeit entfaltet, ist allgemein als demokratisch beschrieben worden. In den sechziger Jahren gerät das System ins Wanken, dessen starrer Schematismus schon in den Fünfzigern bloß ideologisch aufrechterhalten werden konnte: Rock ’n’ Roll, Soul, Reggae, Beat. Irgendwo zwischen »Klassik« und Unterhaltungsmusik: Jazz. Die künstliche Dichotomie von Rock und Pop wurde plötzlich von ganz anderer Musik durchkreuzt: zum Beispiel und wesentlich die Bossa Nova. Das heißt die entscheidenden Impulse für die massendemokratische Kulturindustrie und ihr eindimensionaler Konformismus der Konsumenten kommen ausgerechnet von einer Musik, die sich im Schatten einer protofaschistischen Diktatur entwickelte. Die Bossa Nova bricht exzentrisch in den Mainstream ein, kommt – wie zuvor schon in den Wartehallen und Fahrstühlen – aus dem Off, von außen. Auch wenn der exzentrische Perfektionismus der Bossa Nova musikalisch erst einmal nichts mit Punk zu tun zu haben scheint: In der Haltung haben Bossa Nova und Punk durchaus einiges gemein, vor allem die Ironie, die Fähigkeit zur distanzierten Selbstkritik. Die ohnehin schwierige Kategorie des Authentischen wird in der Bossa Nova sowenig wie im Punk mit dem Echten, mit falscher Ehrlichkeit, mit Ursprung verwechselt. Tatsächlich geht es auch hier um eine ironische Brechung des Ernstes. Sowenig wie im Punk »No Future« Resignation meinte, sowenig ist die Melancholie in der Bossa Nova Hoffnungslosigkeit und Depression. Es kommt nicht von Ungefähr, dass ein postmoderner Ironiker wie David Byrne Ende der Achtziger, also am Ende von New Wave, die brasilianische Musik wieder entdeckt, vor allem den BossaNova-Zwölftöner Tom Zé; und dass Arto Lindsay sich heute, weg vom Jazzcore, auf Bossa-Nova-Spuren bewegt, passt ebenfalls zu dieser Wahlverwandtschaft zwischen Punk und Bossa Nova. Bands wie Os Mutantes haben das schon in den Siebzigern versucht, musikalisch zu fassen. Das Ironische in der Bossa Nova ist vielmehr als Engagement zu verstehen, Ausdruck einer Haltung und eben nicht formalistischer Stil der Mode. Es ist das radikale Eingeständnis, dass die Musik eigentlich überflüssig ist, solange die Welt so ist, wie sie ist: eben eine nutzlose Landschaft, eine sinnlose Geräuschkulisse – und so wurde die Bossa Nova zur Geräuschkulisse einer absurden Welt. Die Bossa Nova soll heute das Image musikalisch untermalen, dass man Sekt und Cocktails trinken kann, ohne sich im Rausch daneben zu benehmen. Als Stil ist die Behrens – Bossa Nova – Seite 22 Musik apollinisch, als Haltung aber ist sie dionysisch: Bossa Nova heißt, sich mit musikalischen Mitteln sinnlos besaufen. Auf Tom Jobims ›Wave‹ findet sich als letztes Stück ein taumelndes, überzogenes Trinklied: ›Captain Bacardi‹. Die Melodie stolpert im Breakbeat über sich selber, einfach und unnötig, zum Tanzen unbrauchbar. Die Platte wurde im Exil produziert. Auf dem Cover: Afrika, eine Giraffe, ein schwankendes Tier. Die Suche nach dem neuen Menschen geht weiter. (Und auf jeder Schallplatte steht drauf, dass sie Kultur ist: »Disco é cultura«.) Literatur Ruy Castro, ›Chega de saudade: a história e as histórias da Bossa Nova‹, São Paulo 1990. In diesem Buch findet sich eine sehr ausführliche Diskografie, S. 437 ff. José Eduardo Homem de Mello, ›Música popular brasileira‹, São Paulo 1976. Vilém Flusser, ›Brasilien oder Die Suche nach dem neuen Menschen. Versuch über den Brasilianer‹, Schriften Bd. 5, Mannheim 1994. Vilém Flusser, ›Fenomenologia do Brasileiro: Em Busca de um Novo Homem‹, Rio de Janeiro 1998. John Malathronas, ›Brazil. Life, Blood, Soul‹, West Sussex 2003.