Sternentwicklung – Theorie und Anwendung A. Weiss (Max-Planck-Institut für Astrophysik, Garching, Germany) 24. April 2014 Teil I Physik des Sternaufbaus 3 Kapitel 1 Einleitung Gegenstand Die Astronomie/Astrophysik zeichnet aus, dass sie ihren Forschungsgegenstand – das Universum und seine Bestandteile – nicht ins irdische Labor holen kann, von wenigen Ausnahmen (Meteoriten, Sonnenwind-Teilchen, etc.) abgesehen. Daher sind wir auf Informationen aus dem Universum angewiesen. Wegen der höchstmöglichen Geschwindigkeit und ihren fundamentalen Eigenschaften ist elektromagnetische Strahlung der dominante, fast einzige, Informationsträger. Durch die Anpassung des menschlichen Auges an das solare Spektrum sowie wegen der Tatsache, dass die Sonne ein typischer Stern ist, identifizieren alle Menschen den Weltraum mit Sternen. Tatsächlich, oder glücklicherweise, sind Sterne fast überall und zu allen Zeiten im Universum zu finden. Daher sind Sterne nicht nur aus biologischen oder historisch-technischen Gründen (optische Teleskope als erste astronomische Instrumente der Fernbeobachtung) die wichtigsten Quellen elektromagnetischer Strahlung. Obwohl die moderne, aktuelle Astronomie in allen Wellenlängenbereichen – vom langwelligen Radiobereich bis zum hochenergetischen Gammabereich – beobachtet, sind stellare Quellen immer noch die primären Quellen unseres Wissens über das Universum. Sprechen wir von Galaxien, so haben wir leuchtende Sterne in einer großen, gemeinsamen Struktur vor Augen; unter Galaxienentwicklung verstehen wir die Zusammenballung von dunkler und leuchtender Materie und die Entstehung und Entwicklung der Gaskomponente, insbesondere in Form der verschiedenen Sternpopulationen. Daher ist es nötig, die Eigenschaften von Sternen genau zu verstehen, um Rückschlüsse auf Galaxien, Galaxienhaufen, und die Geschichte des gesamten Kosmos ziehen zu können. Natürlich sind auch Sterne an sich ein interessanter Forschungsgegenstand. Wie lange wird die Sonne noch scheinen? Kann der nächstgelegene Stern bald explodieren und uns beeinflussen? Wie alt sind Sterne? Woraus bestehen sie? Alle diese Fragen versucht die Theorie des Aufbaus und der Entwicklung von Sternen zu verstehen. Dabei stellt sich heraus, dass Sterne komplizierte Gebilde sind, deren Eigenschaften von vielen physikalischen Effekten bestimmt sind: Thermodynamik, Atomund Kernphysik spielen alle eine große Rolle, bis hin zur Quanten- und Hydrodynamik. Um Sterne zu verstehen, muss man daher Ergebnisse aus vielen Bereichen der Physik zusammensammeln; andererseits erfordert die Modellierung von Sternen oft physikalische Daten, die im Labor nicht einfach zu messsen sind, weil Sterne extreme Dichten und Temperaturen erreichen können. Sterne können also auch als “himmlische Laboratorien” dienen, die uns helfen, die irdischen zu erweitern. In dieser Vorlesung wird auf die Entwicklung von Einzelsternen eingegangen. Sterne existieren aber auch in Paaren und Gruppen. Solange die Mitglieder nicht zu eng beieinander stehen, können sie immer noch als Einzelsterne betrachtet werden. Es ist aber wohlbekannt, dass Sterne sich gegenseitig beeinflussen und Materie austauschen. Solche wechselwirkenden Doppel- oder Mehrfachsysteme müssen ge4 sondert behandelt werden. Obwohl ein signifikanter Teil der Sterne (bis zu 50%?) in Doppel- oder Mehrfachsystemen stehen, scheint die überwältigende Zahl von Sternen sich aber wie Einzelsterne zu entwickeln; jedenfalls gibt es bisher keine Hinweise darauf, dass zum Verständnis von stellaren Populationen oder Galaxien Doppelsterne besonders berücksichtigt werden müssten. Grundannahmen Sterne sind heiße, selbst gravitierende Gaskugeln, und daher in erster Näherung sphärisch symmetrisch. Obwohl Abweichungen von dieser vereinfachten Symmetrie offensichtlich sind (Rotation, Magnetfelder), werden Modelle unter dieser Annahme berechnet. Die Rechtfertigung der Annahme wurde wiederholt bewiesen. Rotation und Magnetfelder werden daher in dieser Vorlesung keine Rolle spielen. In der wissenschaftlichen Forschung werden ihre Effekte als zusätzliche Störungen betrachtet. Der wichtigste Effekt ist dabei das durch Rotation induzierte Mischen der stellaren Materie. Beim derzeitigen Stand der Theorie der differentiellen Rotation sind eindimensionale Modelle noch ausreichend, wobei allerdings die radiale Koordinate nicht mehr Radius oder Masse, sondern der Wert des gesamten Potentials (aus Graviation und Fliehkraft) ist. Daneben existieren einige Rechnungen, die die Abweichungen von dieser speziellen Symmetrie berücksichtigen, bzw. tatsächlich mehrdimensional sind. Das sphärisch-symmetrische Modell ist also im Allgemeinen, und besonders hier in der Vorlesung, eindimensional. Die radiale Koordinate ist entweder der Radius r (Eulersche Beschreibung) oder die innerhalb r eingeschlossene Masse m (Lagrangesche Beschreibung). Letztere ist die technisch bevorzugte, weil einige Gleichungen in ihr einfacher sind. Die zweite wichtige Grundannahme ist, dass Sterne im hydrostatischen Gleichgewicht sind, d.h. (s. Abschnitt 2.2) dass sich Druck- und Gravitationskräfte die Waage halten, und sich alle Massenschalen in Ruhe befinden. Diese Annahme, die nicht strikt gelten kann, werden wir überprüfen. Globale Größen Die Beobachtung von Sternen, d.h. der experimentelle Zugriff, beschränkt sich traditionell auf globale Größen und Oberflächeneingenschaften. Dazu gehören die Masse M , wenn sie – z.B. im Fall eines (getrennten) Doppelsternsystems – bestimmt werden kann, die vom Stern abgestrahlte Energie pro Zeiteinheit (Leuchtkraft L), die Oberflächen- oder Effektivtemperatur (Teff ), die die globalen Eigenschaften des Spektrums kennzeichnet, sowie Abweichungen des stellaren Spektrums vom Schwarzkörper-Spektrum. Diese Abweichungen manifestieren sich vor allem als Absorptionslinien (s. Abb. 1.1), deren Analyse die Bestimmung der Oberflächenzusammensetzung erlaubt. Abbildung 1.1: Absorptions-Spektrum “Fraunhofer-Linien” der Sonne mit Absorptions- oder Ein aufstrebendes Teilgebiet ist die Asteroseismologie, die durch Analyse von Oberflächenoszillationen, die nichts anderes als stehende Schallwellen im Sterninnern sind, das ansonsten nicht zugängliche Sterninnere erschließt. Im Fall der Sonne (Helioseismologie) wurden außerordentliche Ergebnisse erzielt, so dass das Sonnen- 5 innere jetzt auf wenige Promill genau bekannt ist, und sogar dynamische Bewegungen in der Sonne gemessen werden können. Im Rahmen der Kepler-Mission stellte es sich heraus, dass auf viele Sterne einfache Skalierungsrelationen, die man von sonnenähnlichen Sternen her kennt, angewendet werden können, die es erlauben, bei bekannter Effektivtemperatur Masse und Radius des Sterns aus den Frequenzen relativ weniger Oszillationen mit erstaunlich hoher Genauigkeit zu bestimmen. Ebenso wurden bereits Einblicke in die innere Struktur verschiedener Sterne gewonnen. Da es sich bei den asteroseismologischen Beobachtungen um sehr langwierige und hochgenaue Messungen handelt, sind solche Resultate noch die Ausnahme. Im Allgemeinen bleibt uns daher der Blick ins Innere der Sterne verschlossen, so dass wir auf Modelle zurückgreifen müssen. Die erwähnten seismischen Ergebnisse dienen eher dazu, die Modelle auf ihre Exaktheit hin zu überprüfen. Leuchtkraft L1 und Effektivtemperatur Teff (meist als Logarithmus von Grad Kelvin) sind die bestimmenden Oberflächeneigenschaften, die das Hertzsprung– Russell–Diagramm definieren; dieses ist das Hauptarbeitsdiagramm in der Sternentwicklung, weil es relativ gut den Entwicklungszustand eines Sterns angibt. Das Gegenstück in der beobachtenden Astronomie wird als Farb–Helligkeits–Diagramm bezeichnet; dabei ist die scheinbare oder absolute Helligkeit eines Sterns gegen seine Farbe aufgetragen. Die Farbe ist nichts anderes als das Verhältniss der Flüsse in zwei verschiedenen Filtern, welches für einen perfekten Schwarzkörper dessen Temperatur geben würde; die Helligkeit ist der Fluss in einem Filter, üblicherweise im Visuellen (V oder B) oder einem nahen Infrarot-Bereich (I). Die in der Astronomie übliche Flussgröße ist die Magnitude, eine logarithmische Leuchtkraftskala2 . Ein weiteres, immer häufiger gebrauchtes Diagramm, das dem Hertzsprung–Russel–Diagramm entspricht, ist das log g–Teff -Diagramm (auch “Kiel-Diagramm” genannt), in dem also die Oberflächen-Schwerebeschleunigung die Rolle der Leuchtkraft übernimmt, und das in der Spektroskopie weite Verwendung findet, weil diese beiden Größen aus der Analyse des Spektrums gewonnen werden können (allerdings mit nicht immer überzeugender Genauigkeit). Abb. 1.2 zeigt ein Hertzsprung–Russell-Diagramm von Sternen in der Sonnenumgebung, deren Entfernung bekannt ist, dh. absolute Helligkeiten (in einem Hipparcos-Filter) sind gegeben. Ohne die Information über zumindest relative Entfernungen macht das Diagramm keinen Sinn, mit ihr aber zeigt sich, dass Sterne nicht willkürlich darin verteilt sind. Aufgabe der Sternentwicklungstheorie war und ist es, zu verstehen, warum das so ist, was die jeweilige Position impliziert, und wie Sterne im Inneren strukturiert sind. Für die Struktur und Erscheinungsform eines Sterns sind seine Anfangsmasse und Anfangszusammensetzung die fundamentalen Parameter. Zu jedem Zeitpunkt ist seine Struktur bestimmt durch Masse und innere Zusammensetzung, die beide zeitlich variabel sind, sich aber aus den Anfangsbedingungen und der zeitlichen Entwicklung ergeben. 1 L wird meist als log L/L , dh. in den üblichen, weil bequemen solaren Einheiten angegeben. ⊙ L⊙ = 3.826 · 1033 erg/s (in cgi-Einheiten). Zwei weitere wichtige solare Referenzgrößen sind R⊙ = 6.9598 · 1010 cm sowie M⊙ = 1.989 · 1033 g. 2 z.B. ist die Helligkeit im visuellen, M , definiert durch −2.5 log L + const., wobei L V V V der Fluss im Visuellen ist und die Konstante vom Filter- und Referenzsystem abhängige Größen einschließt. Ist die Entfernung d unbekannt, geht auch diese ein, weil nicht LV , sondern der Fluss FV = LV /4πd2 gemessen wird, und die Magnitude wird mit mV bezeichnet und “scheinbar” statt “absolut” geheißen. Die Beziehung zwischen den beiden ist M − m ≡ 5 − 5 log d, d wird in parsec gemessen und M entspricht der Helligkeit in 10 parsec Entfernung 6 Abbildung 1.2: Hertzsprung–Russell-Diagramm von Sternen in der Sonnenumgebung, deren Entfernung durch Parallaxenmessungen des astrometrischen Satelliten Hipparcos auf 20% oder besser bekannt sind. Die Farbe kennzeichnet die Anzahldichte der Objekte im Diagramm Typische Größenordnungen Wir verschaffen uns nun einen kleinen Überblick über typische Bereiche, in denen sich die stellaren Parameter bewegen. Dabei lassen wir explosive Phasen (Novae, Supernovae) aus der Betrachtung. 1. Masse: 0.075 · · · ≈ 100 M⊙ • untere Grenze: Wasserstoff-Fusion reicht nie aus, abgestrahlte Energie zu produzieren (Braune Zwerge) • obere Grenze: Pulsations-Instabilität und/oder Erreichen der EddingtonLeuchtkraft (Strahlungsdruck übertrifft Schwerkraft) führt zu Verlust der äußeren Massenschalen 2. Leuchtkraft: −2 . log(L/ L⊙ ) . 6 • ergibt sich aus Massenbereich 3. Radius: 0.001 · · · 2000 R⊙ • ergibt sich aus Masse und Entwicklungsphase • korreliert stark mit Teff 4. Effektivtemperatur: 2000 · · · 100.000 K 5. Maximaltemperatur: 107 · · · 109 K • typische Brenntemperaturen für Wasserstofffusion und Siliziumbrennen 7 • welche Temperatur tatsächlich erreicht wird, hängt vor allem von der Masse ab 6. Dichte: < 10−10 · · · 108 g/cm3 • unterer Wert in sehr ausgedehnten Hüllen; nahtloser Übergang zum insterstellaren Medium • oberer Wert: in späten Phasen, korreliert mit zentraler Temperatur 7. anfängliche Zusammensetzung: 70-80% der Masse in Form von Wasserstoff, 2535% Helium, 10−4 -4% übrige Elemente (“Metalle”), davon ca. 50% Sauerstoff Unabhängige und abhängige Variable Das Sterninnere wird durch einige wenige unabhängige Variablen beschrieben. Ist r die eindimensionale Koordinate, so ist m(r) oder auch Mr – die Masse innerhalb der Kugel um das Zentrum mit Radius r — die erste unabhängige Variable (Mr (R) = M ). Weiterhin folgen die Zustandsgrössen des Gases, Druck P , Temperatur T , und Dichte ρ, wobei nur zwei unabhängig sind; die dritte ergibt sich aus der Zustandsgleichung. In der Regel werden P und T als unabhängig angesehen. Da der Stern kein thermisch abgeschlossenes System darstellt, sind diese Grössen ebensowenig wie die Masse unabhängig von r, sondern räumlich variabel. Da der Stern Energie von der Oberfläche verliert, muss diese aus dem Innern transportiert werden. Das geschieht entlang eines Temperaturgradienten. Dieser Energiefluss ist die letzte unabhängige Variable; im Allgemeinen nimmt man nicht den Fluss selbst, sondern die am Radius r vorhandene Nettoenergie, die aus dem Innern pro Zeiteinheit nach außen fließt; sie wird mit Lr oder l gekennzeichnet (Lr (R) = L). Wir haben also in der klassischen Sternentwicklung vier unabhängige Variable, Mr (r) = m(r), P (r), T (r), Lr (r) = l(r) Neben der Dichte ρ gibt es noch weitere abhängige Variable; dazu gehört z.B. die Energieerzeugung ǫ(r), die aus mehreren physikalischen Einzelprozessen zusammengesetzt sein kann. Die wichtigste ist, wie wir sehen werden, die nukleare Energieerzeugung ǫn . Sie hängt von T , ρ und der chemischen Zusammensetzung ab. Der Transport der Energie erfolgt auf verschiedene Arten, deren wichtigste die durch Strahlung ist. Deren Effektivität hängt von der Transparenz der Materie ab, die in der Astrophysik durch ihren Kehrwert, die “Undurchsichtigkeit” oder Opazität κ gekennzeichnet wird. Auch diese ist von T , ρ und Zusammensetzung abhängig. Je nach Situation kann es noch weitere abhängige Variablen gehen, die oft auch als “Mikrophysik” bezeichnet werden. Literatur (Auswahl) 1. Die “Bibel” der Sternentwicklung ist das Buch von Cox und Giuli (1967), das jetzt in zweiter Auflage erschienen ist: Weiss, Hillebrandt, Thomas und Ritter: Cox & Giuli’s Principles of Stellar Structure, Cambridge Scientific Publishers (2004); auch als Taschenbuch erhältlich; ca. e60 2. Eine neuere “Bibel” ist das zweibändige Werk von I. Iben, Jr., erschienen bei Cambridge Univ. Press; Preis unbekannt. 3. Eine kompaktere Darstellung der Theorie mit einigen Einblicken in die Entwicklung von Sternen und die diversen Entwicklungsphasen ist Kippenhahn & Weigert, Stellar Structure and Evolution, Springer 2. Auflage (Kippenhahn, Weigert, Weiss), erschienen 2009, e96, als eBook e75, und als spezielle Softcover-Version (über den 3. Autor) e25. 8 4. Ein neues Buch mit einer sehr knappen Darstellung der Theorie, dafür aber ausführlichen Beschreibungen der Entwicklung von Sternen und einer Einführung in die Populationssynthese ist Evolution of Stars and Stellar Populations, von Salaris & Cassisi, Wiley (2005), e135; dieses Buch deckt am besten den Stoff der Vorlesung ab. 9