dossier „Der Körper ist langsam“ Das Motto des „Nu Project“ ist „Beauty in every body“ – Schönheit in jedem Körper. Wer die Bilder sieht, wird dem nur zustimmen können Anja Frost ist von Beruf „Sexological Bodyworker“. Ihre Kunden sind Menschen, die sich wieder mehr spüren wollen. Auch, aber nicht nur, beim Sex D as Schwierigste, sagt Anja Frost, sei es, am Telefon die Männer abzuwimmeln, die eigentlich nur eine Erotikmassage wollen. Nur dass die 42-Jährige es nicht so sagt, dazu ist sie zu diplomatisch, sie sagt stattdessen: „Ich finde am Telefon heraus, was der Kunde oder die Kundin wirklich wollen, und wenn ich das nicht anbieten kann, dann lehne ich sie nicht ab, sondern leite sie an die ­richtige Stelle weiter.“ Bedürfnisse seien schließlich unterschiedlich, da sei ja auch nichts verwerflich dran, aber in ihrer kleinen Praxis in Hamburg-Eimsbüttel gehe es nun mal nicht um schnelle Bedürfnisbefriedigung, sondern darum, „wieder in den Körper zu kommen“. Was sie anbietet, ist also nicht Erotik, sondern nennt sich „Sexological Bodywork“. In Kalifornien, immerhin, ist das bereits ein anerkannter, zertifizierter Beruf, den man an Instituten lernen ­ kann. Anja Frost führt mit ihren Kunden und Kundinnen beratende Gespräche über Sexualität und das Verhältnis zum eigenen Körper, sie macht Atmungsund Körperwahrnehmungs-Übungen mit ­ ihnen, aber ja, sie berührt und ­massiert sie auch, achtsam, aber über­all: „Der ­ Genital- und Analbereich ist schließlich ein ganz normaler Teil des Körpers, ­genau wie ein Arm.“ Die studierte Pädagogin möchte Menschen, die glauben, die Verbindung zu ihrem eigenen Körper und zu ihrer Sexualität verloren zu haben, die sich zu ­unsinnlich, unerotisch, unerregt fühlen, auf die Sprünge helfen. Es kommen Männer, Frauen und Paare, der Anteil an weiblichen und männlichen Kunden hält sich etwa die Waage. Einige sind einfach nur neugierig, sie wollen wissen, was noch so geht. Die meisten Männer kommen aber wegen Erektionsschwierigkeiten. Die meisten Frauen, weil sie nicht zum Orgasmus kommen oder schwer erregt werden. Sie alle wollen nun schnelle ­Lösungen, eine Technik, ein Rezept. Die Sache ist nur die: Das schnelle Rezept gibt es nicht. Der Körper hat nun mal seinen eigenen Willen. Anja Frost merkt das jedes Mal, wenn eine Frau vor ihr liegt, anfangs noch eingehüllt in ein Tuch, Anja Frost legt ihr eine Hand auf den Bauch, eine Hand auf den Brustkorb, ganz ruhig, und plötzlich öffnen sich da schon alle Schleusen, Tränen fließen. Durch eine simple, harmlose Berührung, die nichts will. „Die Frauen haben oft das Gefühl, nur bis zum Hals zu existieren, die Verbindung zum Körper darunter haben sie verloren“, sagt Anja Frost. Sie wundert sich darüber nicht. „Wir sind den ganzen Tag immer im Kopf unterwegs. Und ­Sexualität soll dann, wenn wir mit dem Partner zusammen sind, plötzlich da sein, und diese Sexualität ist fordernd, schnell, zielgerichtet. Der Körper aber ist langsam.“ Der wichtigste Ansatz sei daher, ihn wieder mehr wahrzunehmen. „Angefangen bei ganz simplen Beobachtungen wie: Wie sitze ich eigentlich? Wie fühlt sich der Stoff vom Sessel an?“ Viele Menschen, sagt Anja Frost, hätten ihre Sinnlichkeit vergessen. Einige finden ihren Beruf etwas an­ rüchig, Anja Frost weiß das, zumal sie auch Tantra-Massagen anbietet. Doch die Nachfrage nach ihren Diensten ist da, von ganz normalen Menschen, die dafür all ihre Scham und ihre Hemmungen überwinden müssen. Sie glaubt, dass es zunehmend normaler wird, bei jemandem wie ihr Hilfe zu suchen. „Viele Menschen sind hungrig und durstig, sie suchen nach jemandem, der sie füttert. Frauen denken immer, sie müssen attraktiv sein, schöne Brüste, einen schönen Hintern haben, das ist ­ das, woran sie arbeiten müssten, dann bekämen sie die Bestätigung von anderen, auch in Form von Berührungen und Sexualität. Aber das ist eine verdrehte Sichtweise. Das Wichtigste ist doch, sich erst mal selbst zu lieben.“ Dazu gehört, die Scham zu verlieren, Erregung zu zeigen, nicht nur sexuelle. Dass man wieder eine Freude daran „Viele Frauen haben das Gefühl, nur bis zum Hals zu Existieren“ e­ ntwickelt, sich selbst körperlich zu erleben. Wie ein Kind, das übermütig vom Baumhaus springt. „Aber das allein verbal zu vermitteln ist schwer“, sagt Anja Frost. Genau ­deswegen arbeite sie ja körperlich, mit Berührungen, der Massage. Der Körper lernt. Der Verstand könne zwar nicht glauben, dass der Körper so eine Weisheit besäße. Aber das täte er. Ich, die Journalistin, konnte das nicht nachprüfen, ich habe mich bis jetzt nicht getraut, eine Session bei Anja Frost zu buchen, jedenfalls nicht, um darüber zu schreiben. Meine Kolleginnen wollten auch nicht. Zu viel Scham, zu viele Hemmungen. Aber sagt das etwas über uns aus? Und wenn ja, was? Sonja Niemann Br i g i tte. de 5 / 20 1 4 117