Kulturphilosophie$–$drei$Stadien$ Marc$Rölli

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MARC%RÖLLI:%KULTURPHILOSOPHIE%–%DREI%STADIEN%%
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SIC$ET$NON.$[WWW.SICETNON.ORG]$
Kulturphilosophie$–$drei$Stadien$
Marc$Rölli$
Auf% den% ersten% Blick% scheint% es% klar% zu% sein,% was% Kulturphilosophie% ist% oder% zu% sein% hat:%
natürlich% eine% Philosophie% der% Kultur% –% und% dies% im% Unterschied% zu% einer% Philosophie% der%
Wissenschaft,% der% Natur% oder% der% Gesellschaft.% Ihre% Aufgabe% wäre% es,% zu% bestimmen,% was%
Kultur%heißt.%Und%anschließend%nähme%sie%sich%diese%Kultur%vor,%indem%sie%ihre%Bedeutung,%
ihre%Probleme,%ihren%Wandel,%aber%auch%Raum,%Zeit%und%Medien%ihrer%Gegebenheit%genauer%
erläuterte.%Ein%solcher%Ansatz%erscheint%aus%mehreren%Gründen%problematisch%unbestimmt.%
Mit% ihm% wird% unterstellt,% dass% Kultur% einen% von% anderen% klar% unterschiedenen% Bereich%
bezeichnet% –% als% ob% das% Kulturelle% ein% bestimmter% Stoff% wäre% oder% eine% von% anderen%
abgetrennte%Sphäre,%vergleichbar%mit%Ausdrücken%wie%ZökonomischZ,%ZgeistigZ,%ZpolitischZ.%Der%
Begriff% ZKulturphilosophieZ% markierte% eine% philosophische% Teildisziplin,% indem% sie% einen%
wesensartig%abgegrenzten%Objektbereich%für%sich%reklamierte.%%
Einmal% abgesehen% von% den% Umständen,% die% so% angehäuften% Beweislasten% zu% tragen,%
erscheint% der% Ansatz% aus% historischen% Gründen% reichlich% unbedarft.% Wie% man% weiß,% ist% die%
dezidiert%begriffliche%Auszeichnung%der%ZWelt%des%MenschenZ%als%ZKulturZ%(im%Unterschied%zu%
Natur% und% Schöpfung)% ein% Produkt% der% Spätaufklärung.% Im% deutschsprachigen% Raum% finden%
wir%sie%bei%Herder,%Kant%oder%Mendelssohn.%Und%dabei%fällt%auf,%dass%das%Thema%der%Kultur%
unter% dem% Titel% einer% Philosophie) der) Geschichte% verhandelt% wird.% Kulturphilosophie% ist%
längst%keine%autonome%Disziplin.%Behauptet%sie%sich%aber%als%selbständiger%Denkansatz,%wenn%
sie%(seit%Beginn%des%20.%Jahrhunderts)%ausdrücklich%als%Kulturphilosophie%auftritt,%erhebt%sie%
zugleich% den% Anspruch,% erste% und% grundlegende% Philosophie% –% oder% deren% legitime%
Nachfolgerin% –% zu% sein. 1 %Damit% verliert% sie% gleichzeitig% ihren% disziplinären% Charakter% und%
schwingt%sich%auf,%die%Probleme%der%Metaphysik,%Moral%etc.%auf%ihr%angemessenes%Niveau%zu%
heben.% Anders% gesagt,% begreift% sie% sich% als% Kritik% der% Philosophie,% wie% sie% vor% dem% Zcultural%
turnZ%aufgefasst%und%betrieben%worden%ist.%%%%%
Im% Folgenden% möchte% ich% die% Frage% nach% der% Kulturphilosophie% in% drei% Schritten%
beantworten,%indem%ich%nacheinander%auf%die%Situationen%um%1800,%um%1900%und%um%2000%
fokussiere.%Ich%lasse%mich%dabei%von%der%Hypothese%leiten,%dass%eine%Kulturphilosophie%heute%
zwei% Schwerpunkte% hat:% zum% einen% die% historisch% ausgerichtete% und% mehr% negative% Arbeit,%
die% eigene% Geschichte,% aber% auch% die% Geschichte% verwandter% kulturwissenschaftlicher%
Gebiete,% aufzuarbeiten.% Und% zum% anderen% die% positive% Arbeit% einer% systematischen%
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MARC%RÖLLI:%KULTURPHILOSOPHIE%–%DREI%STADIEN%%
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Konsolidierung% einer% kulturphilosophischen% Position,% die% auf% der% Höhe% der% gegenwärtigen%
Entwicklungen% operiert.% Als% ein% Ausgangspunkt% bietet% sich% an,% auf% die% zum% Ende% des% 18.%
Jahrhunderts% neu% in% den% Diskurs% gehobene% ZWelt% des% MenschenZ% einzugehen,% d.h.% auf% eine%
Idee%der%Geschichte%in%weltbürgerlicher%Absicht,%wie%es%bei%Kant%heißt,%nämlich%auf%eine%Idee%
„menschlicher% Handlungen“% als% „Erscheinungen% […]% der% Freiheit% des% Willens“. 2 %Nicht%
umsonst% wird% diese% Idee% mit% dem% Begriff% der% Kultur% –% oder% auch% mit% dem% Begriff% der%
Lebenswelt% –% erläutert.% In% einem% zweiten% Schritt% werden% die% veränderten%
theoriegeschichtlichen% Bedingungen% thematisch,% die% um% 1900% die% Entstehung% einer%
Kulturphilosophie%möglich%machen.%An%dieser%Stelle%werden%einige%kritische%Veränderungen%
im% Begriff% der% Philosophie% benannt,% indem% wirkungsgeschichtlich% relevante% Überlegungen%
Nietzsches% hinsichtlich% der% konzeptionellen% Theorieanlage% der% neuen,% lebensphilosophisch%
oder%hermeneutisch%aufgestellten%Kulturphilosophie%diskutiert%werden.%Abschließend%werde%
ich% vor% dem% Hintergrund% der% erreichten% historischhsystematischen% Klärung% einen% Vorschlag%
präsentieren,%wie%Kulturphilosophie%in%der%Gegenwart%bestimmt%werden%könnte.%%%%
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1.$$
Zum$Kulturbegriff$in$der$Philosophie$um$1800$
Vor% der% Jahrhundertwende% um% 1800% wird% in% der% Philosophie% ein% Kulturbegriff% im% Rahmen%
geschichtsphilosophischer% Überlegungen% eingeführt.% In% seinem% 1784% in% der% Berlinischen)
Monatsschrift% publik% gemachten% Aufsatz) Idee) zu) einer) allgemeinen) Geschichte) in)
weltbürgerlicher) Absicht% erläutert% Kant% mit% dem% Begriff% der% Kultur% einen%%
Entwicklungszustand% der% menschlichen% Gesellschaft.% Von% ZEntwicklungZ% zu% sprechen% setzt%
eine%geschichtliche%Betrachtung%voraus,%die%sich%an%einem%„Leitfaden%a%priori“%orientiert,%d.%i.%
die% „Idee% einer% Weltgeschichte“.% (IX)% Aufgeworfen% wird% das% systematische% Problem,%
Geschichte% wissenschaftlich,% wenigstens% in% Analogie% zu% einer% naturgesetzlichen%
Regelmäßigkeit% zu% begreifen.% Schließlich% „beweisen% die% jährlichen% Tafeln“% der% Ehen,%
Geburten% und% Todesfälle,% „daß% sie% eben% so% wohl% nach% beständigen% Naturgesetzen%
geschehen,%als%die%so%unbeständigen%Witterungen,%deren%Eräugnis%man%einzeln%nicht%vorher%
bestimmen%kann,%die%aber%im%Ganzen%nicht%ermangeln%den%Wachstum%der%Pflanzen,%den%Lauf%
der% Ströme% und% andere% Naturanstalten% in% einem% gleichförmigen,% ununterbrochenen% Gange%
zu% erhalten.“% (Einleitung)% Allerdings% ist% Kant% weit% davon% entfernt,% die% Geschichte% im% Sinne%
des% französischen% Positivismus% als% 'soziale% Physik'% aufzufassen.% Die% Analogie% zur%
naturwissenschaftlichen% Erkenntnis% dient% lediglich% dem% Zweck,% die% Möglichkeit% einer%
Geschichtsschreibung% auszuweisen,% die% sich% an% einer% Idee% der% Vernunft% orientiert,% d.h.% an%
einer%regulativen%Idee,%mit%der%historische%Begebenheiten%wie%empirische%Einzelerkenntnisse%
sinnvoll% geordnet% werden% können.% Die% Ordnungsleistung% liegt% darin,% die% Vielfalt% der%
historischen% Erscheinungen% als% kontinuierliche% Perfektionierung% der% Gattung% oder% als%
Entwicklung%ihrer%ursprünglichen%Anlagen%zu%begreifen.%Wenn%man%schon%keine%Ursache%zu%
1
%Vgl.%Wilhelm%Perpeet,)Kulturphilosophie,%in:%Archiv%für%Begriffsgeschichte,%20%(1976),%42h99.%Perpeet%verweist%
auf%eine%Arbeit%von%Ludwig%Stein,%An)der)Wende)des)Jahrhunderts.)Versuch)einer)Kulturphilosophie%(1899),%die%
erstmals% den% Begriff% im% Sinne% eines% neuartigen% Denkansatzes% verwendet.% Aufgegriffen% wird% er% durch% Rudolf%
Eucken,%Geistige)Strömungen)der)Gegenwart%(1904)%und%andere%(Leo%Frobenius,%Oswald%Spengler,%Theodor%Litt,%
Eduard%Spranger,%Georg%Simmel,%Ernst%Cassirer).%
Sic%et%non.%Zeitschrift%für%Philosophie%und%Kultur.%Im%Netz.%%
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%Immanuel% Kant,% Idee% zu% einer% allgemeinen% Geschichte% in% weltbürgerlicher% Absicht,% in:% Berlinische%
Monatsschrift,%11/1784,%385h411,%im%Folgenden%zit.%nach%'Einleitung'%und%den%neun%Sätzen%(IhIX),%hier%Einleitung.%
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der%Annahme%hat,%dass%die%Menschen%in%ihren%Umtrieben%„nach%einem%verabredeten%Plane%
im%Ganzen%verfahren“,%so%bleibt%dem%Philosophen%nur%übrig,%„in%diesem%widersinnigen%Gange%
menschlicher% Dinge“% eine% Naturabsicht% zu% entdecken,% „aus% welcher% von% Geschöpfen,% die%
ohne% eigenen% Plan% verfahren,% dennoch% eine% Geschichte% nach% einem% bestimmten% Plane% der%
Natur%möglich%sei.“%(Einleitung)%%%
Daraus% ergibt% sich,% dass% der% erste) Satz% zur% Idee% einer% allgemeinen% Geschichte% aus% der%
teleologischen% Naturlehre% übernommen% wird.% Er% besagt,% dass% die% Naturanlagen% des%
Menschen%wie%auch%aller%Lebewesen%dazu%bestimmt%sind,%sich%„vollständig%und%zweckmäßig%
auszuwickeln“.%(I)%Möglich%ist%die%Entfaltung%des%im%Keim%Angelegten%nur%der%Gattung,%nicht%
aber% den% verschiedenen% endlichen% Individuen,% die% nur% eine% begrenzte% Zeit% zur% Verfügung%
haben,%ihre%Vermögen%zu%erproben.%Tatsächlich%muss%die%Entwicklung%der%Anlagen%zu%einer%
Stufe% gebracht% werden,% die% der% Naturabsicht% „vollständig% angemessen% ist“.% „Und% dieser%
Zeitpunkt%muß%wenigstens%in%der%Idee%des%Menschen%das%Ziel%seiner%Bestrebungen%sein%[…].“%
(II)%Daher%kommt%es%auch%nicht%darauf%an,%zwischen%den%Generationen%Gerechtigkeit%walten%
zu%lassen:%die%Entwicklung%der%Gattung%wäre%unmöglich,%würden%nicht%die%späteren%auf%den%
Errungenschaften% der% früheren% Generationen% aufbauen% können.% Entscheidend% ist% nur,% dass%
der% Mensch% alles% „aus% sich% selbst% herausbringt“,% d.h.% dem% Gebrauch% seiner% Vernunft%
verdankt.%Dafür%hat%die%Natur%gesorgt,%indem%sie%seine%„thierische%Ausstattung“%in%„größter%
Sparsamkeit“% sehr% knapp% abgemessen% hat.% „Die% Erfindung% seiner% Nahrungsmittel,% seiner%
Bedeckung,%seiner%äußeren%Sicherheit%und%Verteidigung%(wozu%sie%ihm%weder%die%Hörner%des%
Stiers,%noch%die%Klauen%des%Löwen,%noch%das%Gebiß%des%Hundes,%sondern%bloß%Hände%gab),%
alle%Ergötzlichkeit,%die%das%Leben%angenehm%machen%kann,%selbst%seine%Einsicht%und%Klugheit%
und%sogar%die%Gutartigkeit%seines%Willens%sollten%gänzlich%sein%eigen%Werk%sein.“%(III)%%
Der% Begriff% der% Kultur% reflektiert% diese% Zusammenhänge:% dass% die% Natur% „dem% Menschen%
Vernunft% und% darauf% sich% gründende% Freiheit% des% Willens% gab“,% weshalb% er% nicht% durch%
Instinkt%oder%dogmatische%Vorgaben%bestimmt,%sondern%selbst%zu%denken%–%und%aus%Einsicht%
zu% handeln% –% genötigt% ist.% Bezieht% sich% der% Kulturbegriff% Kants% auf% die% „Idee% von%
Erscheinungen% des% freien% Willens“,% so% impliziert% er% ein% teleologisches% Urteil,% das% die%
Realisierung% der% Freiheit% mit% der% Entwicklung% der% natürlichen% Anlagen% zusammendenkt.%
Schließlich%ist%es%unmöglich,%dass%sich%die%Freiheit%in%der%Erscheinungswelt%empirisch%direkt%
manifestiert.%Diese%Unmöglichkeit%hebt%sie%überhaupt%als%Freiheit%aus%der%Notwendigkeit%der%
natürlichen%Kausalverhältnisse%heraus.%Ihre%indirekt%aber%doch%mögliche%Realisierung%ist%eine%
historische,% die% sich% des% spekulativen% Gedankens% der% Freiheit% als% problematische% Idee%
bedient,%um%auf%diese%Weise%Geschichte%als%fortschreitenden%Prozess%der%Kultivierung%lesbar%
zu% machen.% Freiheit% lässt% sich% historisch) und) kulturell% nur% unter% der% Voraussetzung% der%
Investition% eines% teleologischen% Naturbegriffs% verhandeln.% Anders% formuliert% ist% eine%
Philosophie% der% Kultur% bei% Kant% nur% als% eine% Philosophie% der% Geschichte,% d.% h.% als% eine%
Philosophie% möglich,% die% auf% die% Praxis% des% Menschen% als% Realisierung% seiner% Bestimmung%
(der%Freiheit)%reflektiert.%
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Als%Mittel%zum%Zweck%der%Entwicklung%aller%natürlichen%Anlagen%des%Menschen%hat%die%Natur%
den%Antagonismus%der%„ungeselligen%Geselligkeit“%etabliert.%(IV)%Es%liegt%in%der%menschlichen%
Natur% ebenso% wohl% eine% Neigung,% sich% zu% vergesellschaften,% als% auch% ein% Hang,% sich% zu%
vereinzeln.%Der%individuellen%Absicht,%alles%nach%ihrem%Sinn%zu%regeln,%steht%der%Widerstand%
der% anderen% entgegen.% „Dieser% Widerstand% ist% es% nun,% welcher% alle% Kräfte% des% Menschen%
erweckt,%ihn%dahin%bringt%seinen%Hang%zur%Faulheit%zu%überwinden%und%[…]%sich%einen%Rang%
unter%seinen%Mitgenossen%zu%verschaffen,%die%er%nicht%wohl%leiden,%von%denen%er%aber%auch%
nicht% lassen% kann.“% (IV)% Aus% dieser% antagonistischen% Spannung% heraus% entwickelt% sich% der%
Mensch% –% von% „Rohigkeit% zur% Kultur“,% die% seinen% „gesellschaftlichen% Werth“% zum% Ausdruck%
bringt% (IV)% und% auf% eine% ganze% Pädagogik% der% Vermögen% bezogen% ist:% Entwicklung% der%
Talente,%Bildung%des%Geschmacks,%Gründung%einer%Denkungsart,%die%sich%durch%fortgesetzte%
Aufklärung%in%der%Konsolidierung%der%bürgerlichen%Gesellschaft%dokumentiert.%
Im% natürlichen% Zustand% dagegen% verkümmerten% die% menschlichen% Anlagen,% sei% es,% weil% die%
Menschen% in% „wilder% Freiheit% nicht% lange% nebeneinander% bestehen% können“,% sei% es,% weil%
mangelnde%Konkurrenz%nicht%zur%Ausbildung%der%Fähigkeiten%führte.%Daher%singt%Kant%das%Lob%
der% Natur,% die% die% menschliche% Ungeselligkeit% einplante% –% und% damit% „die% mißgünstig%
wetteifernde% Eitelkeit“% als% Motor% der% menschlichen% Entwicklung.% „Ohne% sie% würden% alle%
vortrefflichen%Naturanlagen%in%der%Menschheit%ewig%unentwickelt%schlummern.“%(IV)%Aus%der%
Not,% die% Freiheiten% der% anderen% einschränken% zu% müssen,% wird% die% Tugend% geboren,% eine%
bürgerliche%Verfassung%zu%etablieren.%„Es%bedarf%also%einen%Herrn,%der%ihm%[dem%Menschen;%
Vf.]%den%eigenen%Willen%breche%und%ihn%nötige,%einem%allgemeingültigen%Willen,%dabei%jeder%
frei%sein%kann,%zu%gehorchen.“%(VI)%
Damit% wird% das% Thema% der% Kultur% im% Kontext% der% Theorien% des% Naturzustands% und% des%
Gesellschaftsvertrags%situiert.%Im%Unterschied%zu%Rousseau%begreift%Kant%den%Übergang%vom%
natürlichen% in% den% bürgerlichen% Zustand% teleologisch,% weshalb% er% nicht% nur% vom%
„gesetzlosen“,%sondern%auch%vom%„zwecklosen%Zustand%der%Wilden“%spricht,%nämlich%unfähig%
zu%sein,%die%„rohen“%(oder%noch%kulturlosen)%Naturanlagen%zu%entwickeln%(VII).%Entweder%hat%
die%Natur%den%Keim%der%Zwietracht%gesät%–%und%dann%bedarf%es%(wie%schon%bei%Hobbes)%zur%
Friedenssicherung% und% überhaupt% zur% kulturellen% Entwicklung% der% Etablierung% eines%
souveränen%Gesetzgebers%–%oder%die%menschliche%Natur%ist%eine%einfältighunentwickelte,%was%
in%einer%Polemik%des%„arkadischen%Schäferlebens“%ausläuft.%(IV)%Für%Kant%zeichnet%sich%gerade%
das%Kulturelle%dadurch%aus,%die%in%der%Natur%des%Menschen%verwurzelte%Ungeselligkeit%(und%
Eigenliebe)%mittels%künstlicher%Einrichtungen%gesellschaftlich%verträglich%zu%machen.3%Es%liegt%
quasi% in% seiner% Natur,% sich% weder% von% anderen% Vorschriften% gefallen% zu% lassen,% noch% auf%
Gesetze% verzichten% zu% können,% die% das% Zusammenleben% regeln.% „Alle% Cultur% und% Kunst,%
welche% die% Menschheit% ziert,% die% schönste% gesellschaftliche% Ordnung% sind% Früchte% der%
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%„Der%Mensch%will%Eintracht;%aber%die%Natur%weiß%besser,%was%für%seine%Gattung%gut%ist:%sie%will%Zwietracht.%Er%
will%gemächlich%und%vergnügt%leben;%die%Natur%will%aber,%er%soll%aus%der%Lässigkeit%und%untätigen%Genügsamkeit%
hinaus%sich%in%Arbeit%und%Mühseligkeiten%stürzen,%um%dagegen%auch%Mittel%auszufinden,%sich%klüglich%wiederum%
aus%den%letztern%heraus%zu%ziehen.“%(IV)%
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Ungeselligkeit,% die% durch% sich% selbst% genötigt% wird% sich% zu% disciplinieren% und% so% durch%
abgedrungene%Kunst%die%Keime%der%Natur%vollständig%zu%entwickeln.“%(V)%%%%
Die%Kultur%steht%nicht%nur%in%einem%Verhältnis%zur%Natur,%sie%unterhält%auch%eine%Beziehung%
zur%Moralität.%Sie%steht%gewissermaßen%zwischen%beiden.%Diese%Stellung%ermöglicht%es%Kant%
gleichzeitig,% Rousseaus% Kritik% des% gesellschaftlichen% IsthZustandes% einiges% abzugewinnen.%
Zwar% liegt% der% kulturellen% Bildungsaufgabe% die% Idee% der% Moralität% zugrunde,% diese% ist% aber%
doch%nur%Ideal%und%Zweck%eines%geschichtlichen%Prozesses%der%langsamen%Vervollkommnung%
der% Menschheit,% nicht% aber% bereits% Realität% und% damit% gegebene% (und% doch% eigentlich%
unverzichtbare)% Voraussetzung% der% menschlichen% Bildungsanstalten.% Die% im% Begriff% der%
Kultur%angelegte%Verbindung%zur%Moralität%muss%sich%daher%im%realgeschichtlichen%Vorgang%
keineswegs% durchgreifend% manifestieren.% An% diesem% Punkt% macht% Kant% seine%
Unterscheidung%zwischen%Kultur%und%Zivilisation:%
„Wir% sind% im% hohen% Grade% durch% Kunst% und% Wissenschaft% cultivirt.% Wir% sind% civilisirt% bis% zum%
Überlästigen% zu% allerlei% gesellschaftlicher% Artigkeit% und% Anständigkeit.% Aber% uns% schon% für% moralisirt%
zu% halten,% daran% fehlt% noch% sehr% viel.% Denn% die% Idee% der% Moralität% gehört% noch% zur% Cultur;% der%
Gebrauch% dieser% Idee% aber,% welcher% nur% auf% das% Sittenähnliche% in% der% Ehrliebe% und% der% äußeren%
Anständigkeit%hinausläuft,%macht%blos%die%Civilisirung%aus.“%(VII)%
Die% Kultur% zeichnet% sich% vor% der% Zivilisation% dadurch% aus,% dass% sie% auch% den%
zwischenstaatlichen%Naturzustand%hinter%sich%lässt,%indem%sie%auf%eine%allgemeine%Geschichte%
in%weltbürgerlicher%Absicht%bezogen%ist.%Schließlich%kann%es%nur%in%einem%„weltbürgerlichen%
Zustand% der% öffentlichen% Staatssicherheit“% gelingen,% das% äußerliche% Verhältnis% der% Staaten%
zueinander% in% einem% kosmopolitischen% Völkerbund% zu% überwinden.% (VII)% In% nichts% anderem%
aber% besteht% die% „höchste% Absicht“% der% Natur% (VIII),% weil% alle% ursprünglichen% Anlagen% der%
Menschengattung% lediglich% in% einem% „allgemeinen% weltbürgerlichen% Zustand“% vollständig%
entwickelt% werden% können.% Zwar% ist% dieser% Zustand% längst% nicht% erreicht,% aber% es% gibt%
genügend%Anzeichen%dafür,%wenigstens%„in%unserem%Welttheile%(der%wahrscheinlicher%Weise%
allen%anderen%dereinst%Gesetze%geben%wird)%[…]%einen%regelmäßigen%Gang%der%Verbesserung%
der% Staatsverfassung“% zu% erkennen.% (IX)% Mit% der% Hilfe% der% Idee% der% Weltgeschichte% als%
Leitfaden% der% Geschichtsbetrachtung% wird% „eine% Aussicht% in% die% Zukunft% eröffnet% […],% in%
welcher%die%Menschengattung%in%weiter%Ferne%vorgestellt%wird,%wie%sie%sich%endlich%doch%aus%
dem% Zustande% empor% arbeitet,% in% welchem% alle% Keime,% die% die% Natur% in% sie% legte,% völlig%
können%entwickelt%und%ihre%Bestimmung%hier%auf%Erden%kann%erfüllt%werden.“%(IX)%Damit%ist%
aber%auch%gesagt,%dass%der%empirische%Plural%nationaler%Kulturen,%wie%er%in%der%Betrachtung%
der%Volkscharaktere%(oder%der%Volksgeister,%wie%Hegel%später%sagen%wird)%vorliegt,%in%einem%
Kulturbegriff%im%Singular%aufgehoben%sind,%nämlich%in%einer%weltbürgerlichen%Kultur,%die%sich%
unter%einer%geschichtlichen%Perspektive,%der%weltgeschichtlichen,%auf%die%bürgerliche%Freiheit%
einer% kosmopolitischen% Verfassung% bezieht.% Diese% Kultur% findet% ihren% Grund% in% der%
Bestimmung%des%Menschen%als%allgemeines%Vernunftwesen.%%%%
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Voraussetzungen$einer$Kulturphilosophie$um$1900$
Kulturphilosophie,%die%sich%selbst%auch%so%bezeichnet,%entsteht%um%1900%als%neue%Philosophie%
mit%fundamentalen%Ansprüchen.%Sie%etabliert%sich%damit%als%eine%nicht%disziplinär%begrenzte%
Denkweise,% die% mit% einem% traditionellen% –% hier% exemplarisch% auf% Kant% bezogenen% –%
Philosophieverständnis% bricht.% Kultur% erscheint% nun% als% ein% Sinnzusammenhang,% der% nicht%
länger% eine% transzendentale% Vernunft% voraussetzt,% die% ihn% in% teleologischer% Hinsicht%
übersteigt% und% so% historisch% oder% welthistorisch% organisiert.% Kurz% gesagt,% scheint% die%
Rationalität% der% Vernunft% lediglich% innerhalb% des% kulturellen% Sinnzusammenhangs%
bestimmbar%zu%sein.%Auf%diese%Weise%wird%dem%Befund%Rechnung%getragen,%der%die%Rede%von%
Kultur%per%se%im%Rahmen%einer%Vielzahl%von%Kulturen%verortet.%%
Im%Folgenden%werden%die%neuartigen%theoretischen%Bedingungen%der%Kulturphilosophie%zum%
Thema% gemacht,% indem% im% Rekurs% auf% Nietzsche% einige% Veränderungen% rekonstruiert%
werden,% die% im% Kulturdiskurs% bemerkenswert% sind.% Zu% diesem% Zweck% lassen% sich% die%
Ergebnisse% der% eben% geführten% KanthDiskussion% gut% verwenden,% sofern% sie% gezeigt% hat,% wie%
die% idealistische% Auffassung% der% Kultur% beschaffen% ist% und% mit% welchen% anderen%
philosophischen%Fragestellungen%sie%eng%verbunden%ist.%
Ich% beginne% mit% dem% Komplex% Kultur% und% Geschichte.% Dass% bei% Kant% die% Kultur% nur% im%
Rahmen% der% Geschichtsphilosophie% verhandelt% wird,% reflektiert% ihre% mangelnde%
wissenschaftliche% Selbständigkeit% –% oder% anders% gesagt,% ihren% Bezug% auf% einen% Leitfaden) a)
priori,% der% als% Voraussetzung% ihrer% Diskursivierung% fungiert.% Unter% Kultur% wird% ein% Komplex%
menschlicher% Handlungen% verstanden,% der% nur% mittels% einer% teleologischen% Betrachtung%
sinnvoll% geordnet% werden% kann.% Seine% Ordnung% ist% damit% gleichzeitig% eine% historische.% Für%
Nietzsche% hat% dagegen% die% Aufklärungsbewegung% destruktive% Qualitäten,% die% sich% im%
Zusammenbruch% des% idealistischen% Geschichtsbegriffs% manifestieren.% Üblicherweise% spricht%
man% von% Historismus,% wenn% man% auf% den% Zustand% der% Geschichtswissenschaft% nach% dem%
Ende% der% Geschichtsphilosophie% Bezug% nimmt.% Bereits% Anfang% der% 1870er% Jahre% hat%
Nietzsche% nicht% nur% an% Kant% und% Hegel,% sondern% auch% am% Historismus% Kritik% geübt.%
Kulturphilosophisch% relevant% ist% dabei,% dass% Nietzsche% gegen% den% quasi% theorielosen%
historistischen% Objektivismus,% der% aus% der% Verabschiedung% der% idealistischen%
Geschichtsphilosophie% resultiert,% auf% gegenwartsrelativen% Interpretationsperspektiven%
besteht,% die% zwar% keine% universale% Vernunft% mehr% für% sich% beanspruchen,% aber% doch% eine%
immanent% gebrochene.% In% Sichtweite% kommt% eine% wesentlich% veränderte% Rationalität,% die%
geschichtliche% Kulturen% nicht% in% ein% weltgeschichtliches% Gesamtbild% der% menschheitlichen%
Entwicklung%einordnet,%sondern%aus%sich%selbst%heraus%begreift%–%sagen%wir:%im%Sinne%einer%
historischen%Erfahrung,%die%ein%Interpret%relativ%auf%seine%Gegenwartssituation%macht.%Folgen%
dieser%Verschiebung%sind%z.%B.%ein%(ethnologischer)%Relativismus%der%Kulturen%und%Sprachen%–%
oder%eine%auf%Vorurteile%wirkungsvoller%Traditionen%aufbauende%Hermeneutik.%%
In% Jenseits) von) Gut) und) Böse% (1886)% macht% Nietzsche% explizit% von% einem% Begriff% der%
„unvollendeten% Culturen“% Gebrauch,% die% aus% dem% in% der% Moderne% entfesselten% Willen% zur%
Wahrheit% hervorgehen.% Dieser% unterhöhlt% nicht% nur% die% metaphysischen% Ideale,% er% wendet%
%
Sic%et%non.%Zeitschrift%für%Philosophie%und%Kultur.%Im%Netz.%%
MARC%RÖLLI:%KULTURPHILOSOPHIE%–%DREI%STADIEN%%
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Sic%et%non.%Zeitschrift%für%Philosophie%und%Kultur.%Im%Netz.%%
6%
MARC%RÖLLI:%KULTURPHILOSOPHIE%–%DREI%STADIEN%%
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%%%%%%%%%%%%%%%%#13/2012%
sich%auch%gegen%Moral%und%Religion,%indem%er%sie%als%nihilistische%Veranstaltungen%begreift,%
weil%sie%sich%von%ihren%stets%nur%partikular%bestimmbaren%Genealogien%abzugrenzen%suchen.%
Die% modernen% Kulturen% sind% „halbbarbarisch“% und% unvollendet,% nicht% weil% sie% auf% einen%
Zustand% der% Vollendung% abzielen,% sondern% weil% sie% unfähig% geworden% sind,% den% Schein%
kultureller% Identität% und% Ganzheit% zu% wahren% –% oder% die% Idee% einer% fortschreitenden%
Vollendung%des%Menschen%beizubehalten.4%%%%
Nietzsches% Gegenwartsdiagnose% verbindet% mit% der% Kritik% der% idealistischen%
Geschichtsauffassung% eine% Kritik% der% Moral,% der% weltgeschichtlichen% Perspektive% und% der%
teleologischen%Naturlehre,%d.%h.%all%jener%Komponenten,%die%für%Kant%den%Begriff%der%Kultur%
zusammensetzen.% Innerhalb% der% moralischen% Periode% entwickelt% sich% eine% intellektuelle%
Redlichkeit,%die%zur%„Selbstaufhebung%der%Moral“%führt.%In%diesem%Vorgang%sieht%er%zweierlei:%
den%Verlust%der%vornehmen,%apollinisch%maßvollen%Kultur%–%aber%auch%das%Vorspiel%zu%einer%
(„außermoralischen“)% Zukunft,% die% den% alten% metaphysischen% Werten% und% Idealen% nicht%
länger%nachtrauern%muss.%Die%also%weder%der%Natur%einen%vernünftigen%Plan%unterstellt,%noch%
die%modernen%Kulturen%im%Ausgreifen%auf%eine%moralische%Bestimmung%des%Menschen%und%
ihre%welthistorische%Realisierung%transzendiert.%%%
In%der%viel%gescholtenen%Dekadenz%der%Gegenwart%sieht%Nietzsche%daher%nicht%das%Problem%
eines% Werteverlusts.% Vielmehr% sieht% er% in% ihr% die% Auswirkungen% der% metaphysischen%
Fehldeutungen%der%Wirklichkeit,%die%sie%zugunsten%idealer%Vorstellungen%entwertet%haben%–%
und% die% Gegenwart% v.a.% in% Form% des% „romantischen% Pessimismus“% heimsuchen.% Wie% der%
Historismus%aus%einer%Skepsis%heraus%entsteht,%die%doch%weiterhin%auf%einen%Idealismus%der%
kulturellen%Sinngebilde%als%objektive%Gegebenheiten%vertraut.%Noch%im%Darwinismus%erkennt%
Nietzsche% die% Fortexistenz% der% älteren% Konzeptionen% der% progressiven% Entwicklung% der%
Gattung.% Nicht% Materialismus% heißt% daher% die% Lösung% des% Nihilismusproblems:% der%
Materialismus%unterscheidet%sich%in%diesem%Punkt%nicht%grundsätzlich%vom%Idealismus.%%
MARC%RÖLLI:%KULTURPHILOSOPHIE%–%DREI%STADIEN%%
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%%%%%%%%%%%%%%%%#13/2012%
moralisch% vertretbaren% egoistischen% Handlungsmotive% zur% Geltung% bringt.% Es% sind% vielmehr%
die% unvollendeten% Kulturen,% die% aus% dem% Zerfall% der% traditionellen% Ordnungen,% ja% der%
demokratischen%Auflösung%sozialer%Hierarchien%hervorgehen.%Und%sie%sind%es%auch,%in%denen%
sich%die%„psychologische%Perspektive“%des%Willens%zur%Wahrheit%(im%Sinne%der%intellektuellen%
Redlichkeit)% manifestiert.% Daher% genügt% es% nicht,% die% Kritik% der% Moderne% mittels% einer%
Rückwendung%auf%die%„vornehme%Seele“%zu%bewerkstelligen.%Mit%Blick%auf%die%konservativen%
Kulturkritiker%seiner%Zeit%heißt%es%bei%Nietzsche:%
„Man% soll% (...)% diesen% skeptischen% AntihWirklichen% und% ErkenntnishMikroskopikern% von% heute% Recht%
geben:% ihr% Instinkt,% welcher% sie% aus% der% modernen% Wirklichkeit% hinwegtreibt,% ist% unwiderlegt,% –% was%
gehen% uns% ihre% rückläufigen% Schleichwege% an!% Das% Wesentliche% an% ihnen% ist% nicht,% dass% sie% zurück%
wollen:%sondern,%dass%sie%–%weg%wollen.%Etwas%Kraft,%Flug,%Muth,%Künstlerschaft%mehr:%und%sie%würden%
hinaus%wollen,%–%und%nicht%zurück!%–“%(KSA%V,%24)%%
Auch%wenn%Nietzsche%daher%die%konservativ%eingestellte%Kulturkritik%zurückweist,%sofern%sie%
sich% nicht% aus% dem% Kontext% des% Nihilismus% befreien% kann,% so% integriert% er% doch% auch% eine%
kritische% Vernunftperspektive% in% seinen% Kulturbegriff.% An% diesem% Punkt% folgt% er% den%
Einteilungen% Kants,% sofern% er% Kultur% als% eine% pragmatische% (weder% spekulative% noch%
natürliche)% Empirie% begreift,% die% in% konstitutiver% Hinsicht% nicht% auf% wissenschaftlichen%
Erkenntnisbedingungen% a% priori% gegründet% ist% –% und% auch% nicht% religiöse,% moralische% oder%
naturteleologische% Prinzipien% geltend% machen% kann.% Im% Unterschied% zu% Kant% bestreitet% er%
zusätzlich%deren%regulative%Bedeutung,%sofern%es%aus%seiner%Sicht%keine%guten%Gründe%dafür%
gibt,% auf% einer% allgemeinmenschlichen,% auf% Fortschritt% in% Bezug% auf% moralische% Maßstäbe%
orientierten%Betrachtung%zu%insistieren.%%%%%%%%
%„Durch% unsre% Halbbarbarei% in% Leib% und% Begierde% haben% wir% geheime% Zugänge% überallhin,% wie% sie% ein%
vornehmes% Zeitalter% nie% besessen% hat,% vor% Allem% die% Zugänge% zum% Labyrinthe% der% unvollendeten% Culturen“% –%
und% d.% h.% zum% „beträchtlichsten% Theil% der% menschlichen% Cultur“% überhaupt.% (Nietzsche,% Jenseits% von% Gut% und%
Böse,% in% Kritische% Studienausgabe% (KSA)% Bd.% V,% München% 1988,% 158)% Der% vornehme% Wille% hingegen% ist%
selbstgenügsam,% hält% sich% vor% allem% Fremden% zurück,% lehnt% die% forschende% Neugierde% ab,% weigert% sich% „eine%
neue% Begehrlichkeit,% eine% Unbefriedigung% am% Eignen“% (KSA% V,% 158)% einzugestehen% –% und% ist% somit% in%
ablehnender%Haltung%gegen%alles%das,%was%er%sich%nicht%aneignen%kann,%und%seien%dies%auch%„die%besten%Dinge%
der%Welt“.%(KSA%V,%159)%Dem%modernen%Halbbarbaren%ist%das%eigentliche%Vornehme%kaum%fassbar,%nämlich%die%
apollinische% Vollkommenheit% von% Kunstwerken% und% Menschen% im% Augenblick% der% „Reife“% einer% Kultur.% Wie%
Nietzsche% sagt:% „Das% Maass% ist% uns% fremd,% gestehen% wir% es% uns;% unser% Kitzel% ist% gerade% der% Kitzel% des%
Unendlichen,% Ungemessenen.% Gleich% dem% Reiter% auf% vorwärts% schnaubendem% Rosse% lassen% wir% vor% dem%
Unendlichen%die%Zügel%fallen,%wir%modernen%Menschen,%wir%Halbbarbaren%[...].“%(KSA%V,%160)%
Etabliert% sich% Kulturphilosophie% nach% 1900% vor% diesem% theoretischen% Hintergrund,% so% wird%
auf%eine%lebensweltliche%Sinneinheit%fokussiert,%die%sich%von%anderen%abgrenzen%lässt.%Ohne%
auf% ihre% Vertreter% im% Einzelnen% einzugehen,% sollen% hier% nur% verschiedene% mögliche%
paradigmatische% Ansätze% kurz% benannt% werden.% Ins% Spiel% bringen% sich% neukantianische,%
lebensphilosophische,% hermeneutische,% anthropologische% und% phänomenologischh
existenzphilosophische%Positionen.%Gemeinsam%ist%ihnen,%dass%sie%eine%endliche%Subjektivität%
als%Modus%eines%kulturell%variablen%Entwurfs,%d.%h.%einer%schöpferisch%entwerfenden%Aktivität%
postulieren.%Dabei%ist%die%Variabilität%der%Entwürfe%auf%eine%Singularität%des%Entwerfens%(als%
Kategorie%des%Lebens,%menschlicher%Macht,%ontologischer%Existenzweise)%bezogen.%In%diesem%
Bezug%auf%ein%Wesen%liegt%die%Möglichkeit%begründet,%Kulturphilosophie%als%Erste%Philosophie%
zu% begreifen.% Anders% gesagt,% kann% aufgrund% der% allgemein% menschlichen% Entwurfsqualität%
jeder% in% dieser% Form% hervorgebrachte% Sinn% als% ein% kultureller% angenommen% werden.% Zum%
Beispiel% unterscheidet% Husserl% zwischen% einem% lebensweltlichen% Fundament% und% einer%
Vielzahl%von%Kulturen.%Die%Lebenswelt%beschreibt%dabei%nichts%anderes%als%die%Grundstruktur%
menschlichen% Daseins,% d.% h.% gleichsam% eine% Kultur% im% Singular,% die% allen% empirischen%
kulturellen% Gegebenheiten% immanent% ist.% Offensichtlich% entsteht% hieraus% ein% neuartiges%
Problem.% Die% singulär% ausgezeichnete% Lebenswelt% wird% nämlich% so% konzipiert,% dass% nur% ein%
bestimmter,% mit% ihr% in% Übereinstimmung% zu% bringender% Bereich% der% menschlichen%
Wirklichkeit% als% wesenskonform% gelten% darf.% Entweder% wird% Kultur% als% exklusive% betrachtet,%
Sic%et%non.%Zeitschrift%für%Philosophie%und%Kultur.%Im%Netz.%%
Sic%et%non.%Zeitschrift%für%Philosophie%und%Kultur.%Im%Netz.%%
Und% ebenso% wenig% geht% es% Nietzsche% darum,% die% traditionellen% Wertvorstellungen%
wiederzubeleben,% ihr% Verschwinden% zu% beklagen.% Zwar% greift% auch% er% in% der% Nachfolge%
Rousseaus%das%Thema%der%Kulturkritik%auf,%aber%er%folgt%der%schiefen%Bahn%der%Verweltlichung%
und%wendet%sich%nicht%vergangenen%Idealen%zu.%Nicht%steht%hinter%einer%eigentlichen%Kultur%
die% uneigentliche% Kulturverfallsform% einer% Zivilisation,% die% in% der% Ungeselligkeit% ihre% nicht%
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MARC%RÖLLI:%KULTURPHILOSOPHIE%–%DREI%STADIEN%%
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die% bestimmte% Bereiche% ausschließt,% z.% B.% Wirklichkeiten,% die% aus% einem% bloß% technischh
instrumentellen% Handeln% resultieren.% Oder% die% empirisch% vorliegenden% Kulturen% im% Plural%
sind% graduell% unterschiedlich% auf% die% allgemeine% Grundstruktur% des% existenziellen% Inhderh
Welthseins%bezogen.%In%beiden%Fällen%spiegeln%sich%in%der%Privilegierung%bestimmter%Aspekte%
des% menschlichen% Lebens% als% kulturell% wertvolle% die% idealistische% Hinterlassenschaft,%
empirische% Charaktere% des% Menschen% als% unwesentlich% (oder% von% Natur% aus% unentwickelt)%
anzusehen:% dabei% kann% es% sich% um% pathologische% Fälle% handeln,% aber% auch% um% das% andere%
Geschlecht%oder%um%nichtheuropäische%Rassen%bzw.%Völker.%Aus%dem%Rahmen%des%wahrhaft%
gebildeten% Charakters% fällt% zudem% alles% heraus,% was% nicht% dem% Erscheinungsbild% des%
wesentlich% Menschlichen% zugeordnet% wird:% die% Technik% und% die% Medien,% das% Populäre% und%
Alltägliche,%das%Elend%und%die%Massen.%%%%%
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3.$$
Kulturphilosophische$Ausblicke$um$2000$
Mit% diesen,% wie% ich% sagen% möchte,% 'anthropologischen'% Problemen% des% Kulturbegriffs% wird%
sich% eine% Kulturphilosophie% auseinandersetzen% müssen,% die% sich% in% der% Gegenwart%
systematisch%zu%positionieren%sucht.5%Sie%wird%daher%eine%außeranthropologische%Perspektive%
einnehmen,% die% auf% einen% pragmatischen% Begriff% der% Kultur% abzielt.% Das% bedeutet% in% der%
Sache,%dass%Kultur%im%Kantischen%Sinne%weder%spekulativ%noch%naturalistisch%gefasst%werden%
kann.%Sie%kann%aber%auch%nicht%in%einem%regulativen%Gebrauch%der%Urteilskraft%auf%eine%Idee%
bezogen% werden,% die% das% Kulturelle% überformt% und% in% einen% welthistorischen%
Entwicklungsgang% einordnet.% An% diesem% Punkt% markiert% Nietzsche% und% seine% Deutung% des%
Historismus%eine%Zäsur.%Während%die%um%1900%entstehenden%Kulturphilosophien%in%der%Regel%
das% idealistische% Erbe% weitertradieren,% indem% sie% philosophische% Wesenheiten% mit% einem%
eigentlichen%Kulturschaffen%verbinden,%lässt%sich%in%der%Gegenwart%die%exklusive%Bestimmung%
des% Kulturellen% im% Unterschied% zum% Populären,% Alltäglichen,% Medialen% oder% Technischen%
nicht% aufrecht% erhalten.% Mit% dieser% Exklusivität% steht% und% fällt% der% Anspruch% der%
Kulturphilosophie,% Erste) Philosophie% zu% sein,% d.% h.% anthropologische% –% oder% auch%
ontologische,% lebensphilosophische,% phänomenologische,% transzendentalphilosophische%
oder%selbst%moralische%–%Prinzipien%für%sich%zu%reklamieren,%die%für%alle%gelten%(und%an%denen%
sich%Kulturen%im%Plural%messen%lassen%müssen).%%
MARC%RÖLLI:%KULTURPHILOSOPHIE%–%DREI%STADIEN%%
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%%%%%%%%%%%%%%%%#13/2012%
Theoretikerin% oder% dem% Theoretiker% zu,% von% vornherein% eine% Liste% derjenigen% Entitäten% zu%
erstellen,%die%zum%Bereich%des%Kulturellen%gezählt%werden%können.%Kontroversen%darüber,%ob%
Menschen% oder% Systeme,% kommunikatives% oder% strategisches% Handeln% usw.% kulturelle%
Qualitäten% aufweisen% oder% nicht,% können% dann% aus% einiger% Distanz% hinsichtlich% ihrer%
Wirksamkeit% oder% hinsichtlich% ihrer% Folgen% für% ein% kulturelles% Selbstverständnis% betrachtet%
werden.% In% den% Blick% kommen% damit% gesellschaftliche% Machtverhältnisse,% die% sich% mit% der%
Auszeichnung% eines% kulturellen% Bereichs% und% der% mit% ihr% verbundenen% Ausgrenzung% nicht%
zugelassener%Dinge%konstituieren.%Was%systemisch%programmiert%geschieht%oder%im%Rahmen%
eines% Massenphänomens,% als% notwendige% Folge% eines% ursächlichen% Zusammenhangs% oder%
auch%als%bloßes%Mittel%zu%einem%anderswo%bestimmten%Zweck,%das%resultiert%nicht%aus%dem%
freien% und% souveränen% Gebrauch% der% menschlichen% Fähigkeit,% zu% denken% und% zu% handeln.%
Wird% aber% unter% dem% Begriff% der% Kultur% eine% „pragmatische% Weltkenntnis“% verstanden,% die%
sich% nicht% in% einer% Praxis% des% eigentlich% selbstzweckhaften% Handelns% konsolidiert,% dann%
können% die% üblichen% handlungstheoretischen% Dualismen% –% und% mit% ihnen% die% geläufigen%
Unterscheidungen% eines% freien% und% eines% instrumentellen% Handelns% –% außer% Kraft% gesetzt%
werden.% In% diesem% Sinne% schließt% sich% ein% kulturphilosophischer% Ansatz% mit% neueren%
soziologischen% Praxistheorien% zusammen,% die% weder% subjektivistisch% auf% individuelle%
Intentionen% noch% objektivistisch% auf% strukturellhdeterminierende% Handlungsursachen%
ausgerichtet%sind.%%%%%%%
Auf% diese% Weise% ist% es% möglich,% Kultur% nichthexklusiv% als% ein% Ensemble% von% Bedingungen% zu%
identifizieren,% die% lebensweltliche% Praktiken% als% assoziativ% verbundene% bestimmen.% Die%
disparate% Vielfalt% kultureller% Phänomene% wird% damit% weder% essentialistisch% vereinheitlicht%
noch% relativistisch% überhöht.% Schließlich% bleibt% sie% auf% Bedingungen% bezogen,% die% historisch%
oder%linguistisch%variabel%sind%und%gleichzeitig%in%ihrer%Besonderheit%und%determinierenden%
Wirkung% bestimmbar% bleiben.% Man% könnte% von% Netzwerken% sprechen,% die% infrastrukturelle%
Komponenten% aufweisen,% sofern% gerade% technologische% und% mediale% Gegebenheiten% die%
Ausformung% lebensweltlicher% Praktiken% als% kulturelle% Phänomene% bedingen.% Ihre%
kulturgeschichtliche%Marginalisierung%ist%damit%aus%kulturphilosophischer%Sicht%zu%revidieren.%%
%
Eine% alternative% Möglichkeit% der% Kulturphilosophie% liegt% im% Verzicht% auf% einen% exklusiven%
Kulturbegriff%und%in%der%Verweigerung%essentialistischer%Bestimmungen.%Positiv%ausgedrückt,%
handelt% es% sich% um% die% Möglichkeit% eines% pragmatischen% Ansatzes% einer% Philosophie% der%
Kulturen,% die% zu% ihrer% Beschreibung% im% Kern% auf% die% empirisch% nachvollziehbaren% Aussagen%
beteiligter% Akteure% rekurriert.% Kulturen% sind% dann% nicht% einfach% als% Sinngebilde% gegeben,%
vielmehr% ergeben% sich% ihre% Definitionen,% Abgrenzungen% und% Identitäten% aus% einem%
permanenten% Prozess% der% Reproduktion% und% Transformation.% Es% fällt% nicht% länger% der%
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%Vgl.%zum%Thema%der%'Anthropologie':%Marc%Rölli,%Kritik%der%anthropologischen%Vernunft,%Berlin%2011.%
Sic%et%non.%Zeitschrift%für%Philosophie%und%Kultur.%Im%Netz.%%
9%
Sic%et%non.%Zeitschrift%für%Philosophie%und%Kultur.%Im%Netz.%%
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