Gott im Horizont der Existenz des Menschen Das Gottesverständnis der Neuzeit Rudolf Bultmann (Primärtexte zu Sachwissen Religion, 168-170) 5 129 Welchen Sinn hat es, von Gott zu reden? 10 15 20 25 Versteht man unter »von Gott« reden »über Gott« reden, so hat solches Reden überhaupt keinen Sinn; denn in dem Moment, wo es geschieht, hat es seinen Gegenstand, Gott, verloren. Denn wo überhaupt der Gedanke »Gott« gedacht ist, besagt er, dass Gott der Allmächtige, d.h. die Alles bestimmende Wirklichkeit sei. Dieser Gedanke ist aber überhaupt nicht gedacht, wenn ich über Gott rede, d.h. wenn ich Gott als ein Objekt des Denkens ansehe, über das ich mich orientieren kann, wenn ich einen Standpunkt einnehme, von dem aus ich neutral zur Gottesfrage stehe, über Gottes Wirklichkeit und sein Wesen Erwägungen anstelle, die ich ablehnen oder, wenn sie einleuchtend sind, akzeptieren kann. Wer durch Gründe bewogen wird, Gottes Wirklichkeit zu glauben, der kann sicher sein, dass er von der Wirklichkeit Gottes nichts erfasst hat; und wer mit Gottesbeweisen etwas über Gottes Wirklichkeit auszusagen meint, disputiert über ein Phantom. Denn jedes »Reden über« setzt einen Standpunkt außerhalb dessen, worüber geredet wird, voraus. Einen Standpunkt außerhalb Gottes aber kann es nicht geben, und von Gott lässt sich deshalb auch nicht in allgemeinen Sätzen, allgemeinen Wahrheiten reden, die wahr sind ohne Beziehung auf die konkrete existentielle Situation des Redenden. 30 Man kann über Gott sinnvoll so wenig reden wie man über Liebe reden kann. In der Tat, auch über Liebe kann man nicht reden, es sei denn, dass dies Reden über Liebe selber ein Akt des Liebens wäre. Jedes andere Reden über Liebe ist kein Reden von Liebe, da es sich außer35 halb der Liebe stellt. Also eine Psychologie der Liebe würde jedenfalls von allem andern reden als von Liebe. Liebe ist keine Gegebenheit, woraufhin ein Tun und Reden, ein Nichttun oder Nichtreden möglich wäre. Sie besteht nur als eine Bestimmtheit des Lebens selbst; sie 40 ist nur, indem ich liebe oder geliebt werde, nicht daneben oder dahinter. 130 Verstehbarkeit Gottes Der Mensch hat im voraus eine Beziehung zu Gott, die in den Worten Augustins ihren klassischen Ausdruck 45 gefunden hat: Tu nos fecisti ad te, et cor nostrum inquietum est, donec requiescat in te. (Du hast uns zu dir hin geschaffen, und unser Herz ist unruhig, bis es in dir seine Ruhe findet.) Der Mensch weiß von Gott im voraus, wenn auch nicht 50 von der Offenbarung Gottes, das heißt von seiner Tat in Christus. Er hat eine Beziehung zu Gott in seinem Suchen nach Gott, sei es bewusst oder unbewusst. Das Leben des Menschen wird bewegt durch das Suchen nach Gott, 55 weil es immer, bewusst oder unbewusst, von der Frage nach seiner eigenen Existenz bewegt wird. Die Frage nach Gott und die Frage nach mir selbst sind identisch. Die Unbegreifbarkeit Gottes liegt nicht auf der Ebene theoretischer Gedanken, sondern auf der Ebene der per60 sönlichen Existenz. Das Geheimnis, für das der Glaube sich interessiert, ist nicht, was Gott an sich ist, sondern wie er mit den Menschen handelt. Dies ist ein Geheimnis nicht für das theoretische Denken, sondern für die natürlichen Wünsche und Begierden des Menschen. 65 Das Wort Gottes ist meinem Verstehen kein Geheimnis. Im Gegenteil, ich kann nicht in Wahrheit an das Wort glauben, ohne es zu verstehen. Aber verstehen heißt nicht, es rational erklären. Ich kann beispielsweise verstehen, was Freundschaft ist, was Liebe und Treue, und 70 gerade dadurch, dass ich es echt verstehe, weiß ich: Die Freundschaft, Liebe und Treue, die ich genieße, sind ein Geheimnis, das ich nur dankbar empfangen kann. Ich begreife sie nämlich nicht durch mein rationales Denken oder durch psychologische Analyse, sondern allein in 75 offener Bereitschaft zur persönlichen Begegnung. In dieser Bereitschaft kann ich sie bereits bis zu einem gewissen Grade verstehen, bevor sie mir geschenkt werden, denn meine persönliche Existenz braucht sie. Dann verstehe ich sie, indem ich sie suche, indem ich 80 nach ihnen verlange. Dennoch bleibt die Tatsache selbst, dass mein Verlangen erfüllt wird und ein Freund zu mir kommt, ein Geheimnis. Auf die gleiche Weise kann ich verstehen, was Gottes Gnade bedeutet. Ich frage danach, solange sie nicht zu 85 mir kommt, und empfange sie dankbar, wenn sie kommt. Die Tatsache aber, dass sie zu mir kommt, dass der gnädige Gott mein Gott ist, bleibt auf ewig ein Geheimnis, nicht, weil Gott auf irrationale Art etwas tut, das den natürlichen Lauf der Dinge unterbricht, sondern weil es 90 unbegreiflich ist, dass er mir in seinem Wort als der gnädige Gott begegnen soll. Quelle: H. Freudenberg / K. Goßmann, Sachwissen Religion Texte, Göttingen 1989, 114f.