Ist die Jodierung das kleinere Übel?

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GESUND LEBEN
Jodsalz und jodierte Lebensmittel
Ist die Jodierung
das kleinere Übel?
Naturarzt-Interview mit Prof. Dr. med. Lothar-Andreas Hotze
Die Jodierung von Lebensmitteln ist umstritten – und war schon mehrfach Thema im Naturarzt. Zuletzt haben (in Heft 11/2003) die Professoren Scriba und Gärtner vom „Arbeitskreis Jodmangel” für die Jodierung argumentiert, in Auseinandersetzung mit im Naturarzt vorgetragenen Gegenpositionen (Hefte 2/2003 und 8/2002). Die Pro-Argumente
konnten die Bedenken der Redaktion nicht zerstreuen. Chefredakteur
Dr. med. Rainer Matejka bat daher Prof. Dr. med. Lothar-Andreas Hotze um klärende Worte. Hotze betreibt eine auf Schilddrüsenerkrankungen spezialisierte Praxis. Er war nie Mitglied des AK Jodmangel und hat
daher keinen aktiven Anteil an der „Jodierungskampagne”. Er ist allerdings auch kein Gegner der propagierten Maßnahmen.
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Über Jahre hinweg wurde gepredigt, Deutschland sei ein Jodmangelgebiet und deswegen sei
eine kontinuierliche Erhöhung der
Jodzufuhr anzustreben. Seit einiger
Zeit wird die generelle Jodierung teilweise in Frage gestellt. Woher resultiert die Trendwende?
Die mittlere Jodausscheidung (etwa
gleichzusetzen mit der Jodaufnahme) betrug im Jahr 1991 30 µg Jod/g Kreatinin.
Im Jahr 1996 lag sie bei 100, im Jahr
2000 bei 122 µg Jod/g Kreatinin. Ein
Wert ab 150 wird von den internationalen Fachgesellschaften für normal gehalten. Die Jodzufuhr durch die Nahrungsaufnahme hat sich also innerhalb
eines Jahrzehntes vervierfacht.
Im gleichen Zeitraum ist die Anzahl der
Kröpfe bei Jugendlichen und Kindern
zurückgegangen. Sie betrug früher etwa
20 Prozent, heute liegt sie bei Kindern
von 6-10 Jahren um 5 Prozent. Die Häufigkeit der Kröpfe bei Jugendlichen von
11-18 Jahren betrug früher 50 Prozent,
heute liegt sie bei 10 Prozent. Dies läßt
die positive Seite der verbesserten Jodversorgung erkennen.
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Wie sieht es mit den negativen
Folgen aus? Vor allem die Hashimoto-Thyreoiditis (chronische
Schilddrüsenentzündung) wird im Zusammenhang mit der generellen Jodierung, insbesondere des Speisesalzes
gesehen. Diese Krankheit, vor 15 Jah-
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ren fast unbekannt, wird heute doch
erstaunlich oft diagnostiziert.
In den USA konnte bereits in den 1920er
Jahren durch Untersuchungen gezeigt
werden, daß nach Einführung der Jodzufuhr die Zahl der Hashimoto-Erkrankungen zunahm. Diese Entwicklung
wird sicherlich auch in Mitteleuropa zu
beobachten sein. Beispiele dafür sind die
erhöhte Zahl der diagnostizierten Hashimoto-Thyreoiditiden. Dabei muß
berücksichtigt werden, daß auch die Entwicklung der Labortests in den letzten
zehn Jahren erst eine exakte Diagnose
ermöglicht hat.
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Ist es denn ein substantieller
Fortschritt, einerseits Kröpfe zu
verhindern, sich aber vermehrt
Autoimmunerkrankungen einzuhandeln (siehe Kasten)? Ist letzteres das
kleinere Übel? Könnte man nicht
durch Labortests in der Jugend herausfinden, wer wirklich vermehrt Jod
braucht und wer es meiden sollte?
Es war das Ziel der Jod-Befürworter, die
Zahl der Kröpfe und die der kalten und
heißen Knoten zu reduzieren, jetzt sind
wir auf dem Weg, dieses Ziel zu erreichen. Das damit verbundene vermehrte
Auftreten von Hashimoto-Erkrankungen
wurde von den Jod-Befürwortern nicht
als nachteilig angesehen. Individuelle
Tests bei Jugendlichen auf „Jod-Bedürftigkeit” sind nicht praktikabel, weder logistisch noch finanziell.
Prof. Dr. med.
Lothar-Andreas Hotze
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Manche Menschen meinen, sie
seien jodallergisch. Nach meinem Dafürhalten kann man nur
auf komplexgebundenes Jod allergisch sein, wie es beispielsweise in
Desinfektions- oder Röntgenkontrastmitteln vorkommt – nicht aber auf
das zugeführte Spurenelement Jodid,
wie es in der Natur vorkommt und
Nahrungsmitteln zugesetzt wird.
Ganz recht! Eine echte Jodallergie bei Zufuhr von Jodid-Tabletten haben wir in
unserer Praxis noch nicht beobachtet. Es
dürfte sich vielmehr um Symptome einer vermehrten Hormonproduktion bei
vorher nicht bekannten autonomen
Adenomen (siehe Kasten) handeln; oder
ähnlich auch bei Hashimoto-Patienten
wegen erhöhter Aktivität jenes Enzyms,
welches Jod in Eiweiß einbaut. Durch
vermehrtes Jodangebot verstärkt sich die
Enzymtätigkeit, dadurch – so ist zu vermuten – wird auch der Autoimmunprozeß, falls er vorhanden ist, verstärkt. Bei
solchen Patienten wird natürlich auf die
aktive Zufuhr von Jodtabletten verzichtet bzw. diese wird wieder abgesetzt.
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Der Streit geht aber vor allem um
zusätzliches Jod in Lebensmitteln: Welche Symptome könnten
einen Betroffenen darauf hinweisen,
daß die gesteigerte Jodversorgung für
ihn ein Problem ist?
Nervosität, innere Unruhe, Zittrigkeit,
und lokale Mißempfindungen können
Hinweise sein. Wer das Gefühl oder die
Sorge hat, daß er zuviel Jod zu sich
nimmt, kann dies durch Labortests überprüfen lassen. Dabei werden unter anderem die Jod-Ausscheidung im Urin,
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schilddrüsenspezifische Antikörper und
das Steuerungshormon TSH kontrolliert.
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Wenn wir davon ausgehen, daß
es zunehmend mehr Menschen
gibt, für die der Verzehr von Nahrungsmitteln, denen jodhaltiges Salz
zugesetzt wurde, ein erhebliches Problem darstellt, wo bekommen diese
angesichts der flächendeckenden Jodierung nichtjodierte Nahrungsmittel
her?
In der Tat ist es für Patienten, die Lebensmittel ohne Jodsalz kaufen möchten, schwer, da mittlerweile viele industrielle Hersteller und auch lokale
Bäcker- und Metzgereien dazu übergegangen sind, ausschließlich Jodsalz zu
verwenden. Nach meiner Erfahrung sind
die meisten industriell hergestellten Lebensmittel (z. B. Käse, Wurst, Nudeln,
Tiefkühlware etc.) insoweit ausgezeichnet, als in dem Bereich „Inhaltsstoffe”
auch eine Angabe zum Gebrauch von
Jodsalz enthalten ist. Auch die Bäckereien und Metzgereien wissen natürlich, ob
sie Jodsalz verwenden. Insoweit bleibt
für die Betroffenen nur, vor Ort zu fragen bzw. beim Einkauf die Produkte daraufhin auszuwählen.
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Viele Patienten leiden an Zeichen der vegetativen Unruhe
und zeigen ähnliche Symptome
wie bei Schilddrüsenüberfunktion.
Trotzdem liefert die Diagnostik bei ihnen meist Normalbefunde der Schilddrüse. In der Naturheilkunde herrscht
nun die Auffassung, daß es auch in
solchen Fällen sinnvoll sein kann, die
Schilddrüse zu beruhigen, beispielsweise mit Wolfstrapp. Wie sieht das
die Schulmedizin?
Bei vielen Patienten mit vegetativer Unruhe wird diese durch eine Überaktivität
des sympathischen Nervensystems ausgelöst. Eine Schilddrüsenüberfunktion
verstärkt diese sympathische Überaktivität. Wenn Patienten mit vegetativer
Unruhe eine Schilddrüsenüberfunktion
aufweisen, ist die Gabe von Thyreostatika (= chemische Medikamente, die die
Schilddrüsenfunktion blocken) sinnvoll.
Zeigt die Schilddrüse dagegen Normalfunktion, werden natürlich keine Thyreostatika eingesetzt. Dem Einsatz des
Präparates „Wolfstrapp“ als Phytotherapeutikum steht selbstverständlich nichts
im Wege. Auch in der Schulmedizin wird
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dieses Präparat verwendet, wenn bei Patienten eine leichte Form der Überfunktion besteht und die Patienten kein Thyreostatikum einnehmen möchten bzw.
wenn man sich bei Grenzbefunden
schwer tut, eine definitive Therapie
(z. B. Radiojodtherapie) zu empfehlen.
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Was soll ein Patient tun, der
Symptome einer Überfunktion
aufweist (Gewichtsabnahme, innere Unruhe), in der Blutdiagnostik
dann aber Tendenzen zur Unterfunktion zeigt? Ist eine Behandlung „nach
Befinden” nicht besser als bloße Laborkosmetik?
Bei solchen Patienten, die klinische Zeichen einer Überfunktion haben, schließt
sich die Suche nach der Ursache an, z. B.
die Suche nach bestimmten Autoantikörpern, da die Hashimoto-Thyreoiditis
die häufigste Ursache für eine beginnende Unterfunktion ist. Es kann jedoch
auch eine zurückliegende Schilddrüsenoperation oder Radiojodtherapie vorgelegen haben, an die der Patient und
der behandelnde Arzt nicht mehr denken – es können selbst nach Jahren noch
sogenannte Spät-Unterfunktionen auftreten.
In jedem Fall würde man dem Patienten
anbieten, eine befristete Zeit Schilddrüsenhormone einzunehmen. Verschlechtert sich dadurch die Situation, das heißt
verstärkt sich die „Unruhe”, wird man
auf die „Erzwingung” eines normalen
TSH-Wertes verzichten. Bei der Behandlung einer Schilddrüsenunterfunktion
wird also beides angestrebt: das Befinden zu verbessern, die Beschwerden zu
reduzieren – und die Laborwerte zu normalisieren. Im Zweifelsfall hat aber in
der Tat das subjektive Befinden den
größeren Stellenwert!
Zur „vegetativen Unruhe” siehe auch den
Artikel „Immer mit der Ruhe!” in der Ausgabe 5/2003.
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