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ERWACHSEN WERDEN UND BEHINDERUNG –
BRÜCHE UND BEZÜGE
CATHERINE AGTHE-DISERENS / MICHEL MERCIER
Der folgende Text nimmt Überlegungen eines Gesprächs auf, das wir mit Eltern und
Fachleuten in der Arbeitsgruppe "Loslassen" der Bieler Tagung 2001 führten. Die von
insieme organisierte Tagung trug den Titel: Fast eine ganz normale Familie.
Wir hatten als Leiterin und Leiter der Arbeitsgruppe für den Einstieg Brüche definiert, auf die
Jugendliche mit einer geistigen Behinderung und ihre Umgebung gefasst sein sollten,
besonders dann, wenn ein Eintritt in eine Institution bevorsteht. Als Vorgehen schlugen wir
den anwesenden Eltern und Fachleuten vor, Orientierungen und Bezugspunkte zu
erarbeiten, welche die unvermeidlichen Brüche beim Erwachsenwerden besser markieren:
Die Bezugspunkte bringen die gesellschaftlichen und individuellen Vorstellungen von
Sexualität und Behinderung ins Spiel, denen unbedingt Rechnung getragen werden muss
(Michel Mercier : « Représentations sociales du handicap mental », Approches
Interculturelles en Déficience Mentale, tome 1/ Presses Universitaires de Namur, Belgique
1999).
Auf diese Weise entstand das Projekt, einen Leitfaden für das Erwachsenwerden zu
entwickeln. Er soll den verschiedenen Beteiligten helfen, sich klar zu verhalten und dabei
sowohl dem persönlichen wie dem gesellschaftlichen Aspekt einer Person Rechnung zu
tragen. Mit diesem Vorhaben werden den Heranwachsenden die Besonderheiten der
seelischen und sexuellen Entwicklung zugestanden und erhält die geistige Behinderung
soziale Anerkennung.
ERWACHSEN WERDEN, EINE PHASE DES ÜBERGANGS
Wenn wir uns mit dem Leben junger Menschen mit einer geistigen Behinderung
beschäftigen, die ihre Kindheit abschliessen und sich auf das Erwachsenensein vorbereiten
müssen, blicken wir zwangsläufig gleichzeitig in die Vergangenheit und in die Zukunft. Ein
anstrengender Vorgang, der von allen Innovation, Kreativität und Anpassung verlangt:
Genau das, was auch die betroffenen jungen Menschen leben müssen.
Das Erwachsenwerden ist das Alter "dazwischen" und hat seine Eigenheiten. Jungendliche
mit einer geistigen Behinderung drücken dies folgendermassen aus:
•
Jérôme, Down Syndrom, 18 Jahre, zu seinen Eltern: "Ich will wie meine Freunde aus
der Werkstatt im Wohnheim leben."
Schweizerische Vereinigung der Elternvereine für Menschen mit einer geistigen Behinderung
Postfach 6819 - 3001 Bern - Tel. 031 305 13 13 - Fax 031 305 13 14 - e-mail: [email protected] - www.insieme.ch - Spenden PC 25-15000-6
•
Adela, 15 Jahre, mit Missbildungen, fragt jeden Morgen bei der Toilette ihre
Betreuerin: "Warum willst nicht, dass ich mich schminke?"
•
Marianne, mit einer schweren Behinderung, 16 Jahre: Sie weint verzweifelt, wenn sie
ihre Regel hat, unternimmt nichts mehr und schliesst sich von der Umwelt ab.
•
Ein Vater: "Clara, 14 Jahre, setzt sich seit ihrer frühesten Kindheit allen auf die Knie.
Ich ertrage es nicht mehr, wenn sie sich so andern gegenüber verhält. Ihretwegen
und meinetwegen nicht."
•
René, 13 Jahre, zu seinem Betreuer: "Wann werde ich ganz allein entscheiden
können, was ich esse?"
•
Adrien, 16 Jahre: "Man sagt mir, ich dürfe nicht mehr küssen, weil ich gross sei.
Warum?"
Aber auch:
- Victor Hugo: "Die Jugend ist der heikelste Übergang"
- Gérard Mauger: "Weder Kind noch Erwachsener"
Kein Kind mehr sein und noch nicht erwachsen.... und dennoch alles auf einmal: Kind und
erwachsen.
Diese Zweideutigkeit, die wir alle erleben, wird besonders verwickelt, wenn wir die
Aufmerksamkeit auf junge Menschen mit einer geistigen Behinderung richten. Der Grund
dafür liegt nicht so sehr darin, dass sie ganz anders erwachsen werden. Vielmehr bewirken
unsere gesellschaftlichen Vorstellungen, dass wir aus Angst vor ihrem Erwachsenwerden die
sich verändernden Körper und Seelen leugnen oder sie dramatisieren. Unsere Widerstände,
die übrigens sehr menschlich sind, haben ihren Ursprung im Tabu der Sexualität. Aber sie
stammen auch aus einem wirklichen und offensicht-lichen Widerspruch zwischen den
erwachsen gewordenen Körper und dem kindlich gebliebenen Denken.
Ein Bilderbogen von Epinal illustriert in einer Darstellung aus dem 19. Jahrhundert "die
Grade des Alters" von der Kindheit bis zur Vergreisung: Die Jugend belegt das Alter von 10
bis 20 Jahren und ist durch ein junges Mädchen versinnbildlicht, das eine Puppe in der Hand
hält, Spielzeug und Symbol der Müttelichkeit in einem.
Jugendlichen mit einer geistigen Behinderung Bezugspunkte zu geben bedeutet, ihre
Sexualität und ihr gesellschaftliches Leben zu humanisieren und zu normalisieren. Dennoch
müssen wir anerkennen, dass der Entwurf eines Erwachsenenzustandes einerseits durch die
intellektuellen Einschränkungen, andererseits durch die Haltungen, die wir ihnen
gesellschaftlich zuschreiben und die sie zu Kindern machen, begrenzt ist.
BRUCHSTELLEN UND BEZUGPUNKTE
Nach Françoise Dolto, ist die Jugend "der Tod der Kindheit".
Sie bedeutet also für alle Jugendlichen und auch für ihre Eltern einen Verzicht und einen
Bruch. Der Verzicht führt zu einer Neuverteilung der Regeln, einer Neudefiniftion der
Beziehung zur Umwelt. Die Bezugspunkte kennzeichnen den Weg, der zurückgelegt werden
muss.
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•
Jugendliche mit einer geistigen Behinderung brauchen in dieser Phase der
Verstörung angepasste Bezugspunkte, die das Erwachsenwerden zeitlich
strukturieren und ihm Anerkennung vermitteln, trotz der Beeinträchtigungen, die mit
der Behinderung verbunden sind.
•
Die Bezugspunkte helfen den Eltern und Fachleuten, ihre Interventionen nicht allein
auf guten Willen und auf die Willkür ihrer subjektiven Interpretationen zu
beschränken.
Ein Bezugspunkt ist ein Hinweis, der es erlaubt, sich zu situieren.
Ein Vorbehalt ist anzubringen: Im Bereich der geistigen Behinderung wird man Jugendliche
nicht wirklich als werdende Erwachsene anerkennen, indem man eine gewisse Anzahl
Bezüge bezeichnet: Der Bezug führt nicht zwangläufig zur Anerkennung.
Ausserdem gibt es keine Liste mit "guten" Bezügen, die ein für alle Mal und überall gelten,
sowohl in der Familie wie in den verschiedenen Einrichtungen. Die Bezüge sind eng mit den
Menschen verbunden, die an einem Ort leben, und ihrer Kultur. Viele Bezüge werden für die
Gemeinschaft gelten, andere nur individuel bestehen. Die Zeit des Erwachsenwerdens
verläuft im Bereich der geistigen Behinderung nicht linear: Die Anzeichen verdichten sich,
bilden ein Gewebe, in dem sich nach und nach die Persönlichkeit abzeichnet: schöpferisch
oder verkniffen, fügsam oder streng, selbständig oder abhängig. Diese Entwicklungen sind
jeder Persönlichkeit eigen, da sie vom persönlichen und durch die Behinderung geprägten
Erleben bedingt sind.
INDIVIDUELLE UND INTIME BEZÜGE, KOLLEKTIVE UND ÖFFENTLICHE BEZÜGE
Im individuellen, privaten, intimen Bereich bewirken die Bezüge Bewusstwerdung,
Anerkennung und Akzeptanz in den zwischenmenschlichen Beziehungen. Das Eintreten der
Regel und der erste Samenerguss bilden Brüche in der Entwicklung, aber sie sind auch
Bezugspunkte der Ver-änderung: Man kann sie durch Worte oder manchmal auch durch
eine symbolische Handlung unterstreichen, z.B. Informationen geben, die Veränderung
wertschätzen, eine Blume oder etwas anderes schenken.
Der Kauf der ersten Binden könnte wie ein Ereignis verstanden werden, auf das eine junge
Frau stolz sein kann.
Bezüge deutlich herauszustellen liefert auch Antworten auf den zaghaften oder
provozierenden Drang, zu gefallen und nachzuahmen.
All dies dient dazu, den Unterschied zwischen dem Status der Kindheit, den man verlässt,
und dem Status des Erwachsenen, den man nach und nach zu leben beginnt, zu markieren,
Anerkennung auszudrücken und Sicherheit zu vermitteln.
Im kollektiven Bereich sind die Bezüge öffentlich und können in institutionalisierter Form
vorkommen. Es handelt sich zum Beispiel darum, Anlässe zu organsieren (Essen,
Theaterauffüh-run-gen, Feste), die die verschiedenen PartnerInnen in einer Institution
ansprechen, aber auch externe Partner wie die Eltern und die Familie.
Einige Bezüge könnten sich im engeren Alltag der Wohnruppe abspielen, andere im weiteren
institutionellen und gesellschaftlichen Umfeld. Oft sind dies dann anerkannte Festlichkeiten,
die einen Bruch markieren: z.B. die Akzeptanz verschiedener Entwicklungen, neuer Gefühle
und zwischenmenschlicher Beziehungen, die Gestalt anzunehmen beginnen.
Diese Funktion haben auch Bezüge in Form von Ritualen:
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Z.B. Crêpes machen, wenn bei einem Mädchen die Regel beginnt! Einen Tanzabend
organisieren, um das Erreichen der sexuellen Reife deutlich zu machen. Ein "Zertifikat der
sexuellen Mündigkeit" mit einem Foto verleihen (16 Jahre), später ein "Zertifikat der Reife"
(18 Jahre), das die neuen Rechte und Pflichten festhält. Z.B. Verlobungen feiern, um das
Leben als Paar zu kennzeichnen.
Und schliesslich ist es im Hinblick auf die gesellschaftliche Anerkennung wichtig, einige
Bezüge ausserhalb der Institution zu entfalten:
Der Besuch einer Familienplanungsstelle oder ein Gespräch mit einer Gynäkologin über den
Körper oder Empfängnisverhütung markieren z.B. das Frauwerden ganz anders, als wenn
der Arzt der Institution konsultiert wird.
VERSCHIEDENE EBENEN VON BEZÜGEN
Bezüge zeigen sich manchmal als einfache Hinweise auf Brüche, die eine sorgfältige
Entzifferung verlangen: Zum Beispiel zeigt man Francine am ersten Tag der Regel, wie man
die Binden benutzt. Aurélien und Carole lieben sich und man akzpetiert, dass sie ihre Liebe
zeigen.
Für alle drei gilt: Man zeigt Toleranz, aber man spricht wenig darüber.
Bezüge können Instrumente der gesellschaftlichen Anerkennung sein: Z. B. "Francine, von
heute an anerkennen wir dich als Frau in deinem Körper." Aurélien und Carole werden als
Liebespaar anerkannt. Man bietet ihnen die Möglichkeit, darüber zu sprechen, wenn sie es
möchten, oder gemeinsam am gleichen Tisch zu essen usw. Für alle drei gilt: Man anerkennt
sie, und man spricht darüber.
Bezüge können Instrumente der gesellschaftlichen Akzeptanz in Form von Ritualen sein. Z.
B. "Francine, wenn du möchtest, machen wir Crêpes für dich und organisieren ein kleine
Fest, um diesen wichtigen Tag zu begehen." Um ihre in der Institution anerkannte
Paarbeziehung zu feiern, kaufen sich Aurélien und Carole Ringe.
Für alle drei gilt: Man akzeptiert ausdrücklich, und man markiert dies durch ein Ritual.
BEZUGSPUNKTE FÜR DREI GROSSE BRÜCHE
"Die Kindheit verlassen"
Das ist ein wichtiger Bruch in diesen Unbruch-Jahren: Das Mädchen, der Junge mit einer
geistigen Behinderung erfährt, wie sein runder und zarter Kinderköper mit seinen spontanen
Regungen und unbekümmerten Entdeckungen dicker wird, sein Gesicht markantere Züge
annimmt (besonders bei den Behinderungen, deren Merkmale deutlicher werden) und seine
Gesten nicht mehr gleich toleriert werden.
Bezugspunkte:
•
Fortlaufende Information in Form spezialisierter Sexualerziehung über die
Veränderungen des Körpers, seine unerwarteten Ausdruckformen und über
Gefühlsregungen.
•
Erziehung zur Intimität im Alltag durch Betreuungspersonen, die für die Thematik
sensiblisiert sind (s. «Vom Herzen zum Körper, Bilden wir uns ... und dann bilden wir
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sie!" Ausbildungsprogramm für Erziehungsfachleute, SonderpädagogInnen,
Pflegefachleute und Therapeutinnen. Catherine Agthe Diserens und Françoise
Vatré). : Die neu vorzunehmende Pflege des Körpers soll den Jugendlichen zugleich
ein Schamgefühl bewusst machen. Man muss sie zum Beispiel ermutigen, immer in
den Bademantel zu schlüpfen, die Türe des Badezimmers und der Toilette zu
schiessen usw.
•
Sensibilisierung für die Freude an der Veränderung des Äusssern durch Kleidung,
indem man z.B. in der Institution eine Modeschau oder eine Anprobe organisiert oder
auch indem man Kleider, die Jugendlichen gefallen, auswählt.
•
Eintragung in die Familiengenealogie, um sich der Zugehörigkeit, Verpflichtungen
und der Vergänglichkeit bewusst zu werden.
•
Die Freundschaften wertschätzen, wie auch immer sie sind, und die stärkere sexuelle
Anziehungskraft anerkennen, auch wenn manchmal der Eindruck einer gewissen
Homosexualität entsteht.
•
Erfahrungen sexueller Neugierde, die in diesem Lebensalter normal sind, in Worte
fassen, wobei sie dafür sensibilisiert werden, den Körper des anderen und seinen
Willen zu respektieren.
•
Für die behinderungsbedingten Grenzen sensibilisieren, ohne alle Träume zu
zerstören!
Eine Orientierung in Form eines Rituals könnte der Kauf eines Buches über Sexualerziehung
sein, selbst wenn die Texte und die anatomischen Zeichnung nur teilweise verstanden
werden.
«DIE PUBERTÄT ERLEBEN!»
Ein entscheidender Bruch findet statt, wenn die erste Regel und der erste Samenerguss
auftreten: Die Pubertät gibt dem Menschen ein Geschlecht! Bei Menschen mit einer
geistigen Behinderung konkretisieren sich dann die legitimen Befürchtungen des Umfeldes in
Bezug auf die reproduktive Zweckbe-stim-mung der Sexualität.
Wegen der Ängste und Unsicherheiten stellen wir einen doppelten Bruch fest:
der erste vom Kind zur heranwachsenden Person
der zweite, von der heranwachsenden Person .... wieder zum Kind!
Trotz der "undenkbaren Fortpflanzung", trotz des unvollständigen Erwachsenenseins
müssen wir echte Bezüge erfinden, um die Gefühlsenwicklung und die Beziehungswünsche
der Personen mit Behinderungen anzuerkennen und zu akzeptieren, auch die unbeholfenen.
Die Bezugspunkte werden dazu beitragen, den erwachsen werdenden Körper trotz der
intellektuellen Grenzen und der infantilisierenden gesellschaftlichen Vorstellungen
anzuerkennen.
Bezugspunkte:
•
Fortsetzung der Informationen über den Körper, das Blut der Menstruation (das nicht
das gleiche ist wie bei einer Wunde), das Sperma (das sauber ist und Zeichen guter
Gesundheit!) usw. ... über die Ängste vor dem eigenen Körper und dem der anderen,
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über Verhütung, Gefühle der Freundschaft und der Verliebtheit, Heiratsträume
(manchmal sogar über den Kinderwunsch), die Lust und die Angst davor, die Eltern
zu verlassen usw.
•
Kurse zur Sexualerziehung einführen, individuell oder in Gruppen (gemischt oder
nicht), durchgeführt von gefühlsmässig neutralen Personen.
•
Arbeiten am Selbstbild, an der Vorstellung vom Körper, indem Hinweise auf die
Körperhaltung (sitzen mit gespreizten Beinen) und die Hygiene gemacht werden.
•
Die seltenen Wünsche akzeptieren, modisch in zu sein, z. B. mit Piercings, Tatoos,
Schminke und Frisuren, die wegen Missbildungen durch die Behinderung selten
gestattet werden .
•
Den Wert neuer Seelenzustände oder neuer identitätsstiftender Verhalten
anerkennen.
•
Die Person bei Wahl der zuständigen Betreuungsperson beiziehen, damit sie ihre
Meinung sagen kann.
•
Die sexuelle Mündigkeit unterstreichen, indem über die neuen Rechte, aber auch
über die neuen Pflichten informiert und die Regeln der Institution in Erinnerung
gerufen werden.
Auch hier können Rituale eingeführt werden, z.B. den Valentinstag feiern, eine Blume
schenken beim ersten Tag der Regel, ein "Zertifikat der sexuellen Mündigkeit mit einem
Photo übergeben.
«ERWACHSEN WERDEN?»
Der hoffnungsvolle Wunsch, sich zu emanzipieren und persönliche Bestätigung zu finden
lebt vielleicht im Innern einer Person, aber oft wird er gebremst, manchmal sogar ganz
unterdrückt:
- durch behinderungsbedingte Einschränkungen, z.B. wenn die Ausdrucksmittel begrenzt
sind,
- durch die Vorstellungen, die Personen des Umfelds von Behinderung und Sexualität haben,
- durch das institutionelle Leben.
Das Wissen um die Grenzen erhöht unsere Ängste und zementiert unsere Abwehr: statt
loszulassen verdoppeln wir unsere Wachsamkeit und organisieren mehr Schutz. Als ob
Jugendliche mit einer geistigen Behinderung gross werden, Fortschritte machen und sich in
die Gesellschaft integrieren sollten, ohne Wellen zu werfen und sich bemerkbar zu machen.
Neue Brüche treten auf: Obwohl die Erziehungsfachleute bestrebt sind, die Integration junger
Erwachsener mit einer Behinderung zu fördern, können deren gewöhnlichen Bekundungen
sexueller oder emotionaler Bedürfnisse oft nicht Rechnung getragen werden, weil ihre
Sexualität zu wenig sozialisiert ist.
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Bereits beschriebene und neue Bezugspunkte:
•
Fortsetzung der Informationen zum Körper, zur Verhütung, zu Freundschaft und
Liebe, zur Gefahr des sexuellen Missbrauchs unter Gleichen, zu Aids,
Paarbeziehung, Treue, zum Zölibat, zum Kinderwunsch, zu den
behinderungsbedingten Unmöglichkeiten usw.
•
Lernen, zu unterscheiden zwischen erträumten oder erwiderten Liebeswünschen
zwischen Personen mit einer Behinderung und solchen, die sich auf
Betreuungspersonen beziehen.
•
Den Wunsch nach einer Partnerschaft begleiten, ohne ihn zu leugnen oder ihn um
jeden Preis zu wecken.
•
Anerkennen, dass die Suche nach körperlicher Zärtlichkeit gerechtfertigt ist, dabei
sowohl den Respekt vor dem Partner betonen wie darauf achten, dass übertriebene
Verbote des Umfelds gelockert werden.
•
Die Gefühlsbekundungen und sexuellen Äusserungen, die dem Wohlbefinden aller
Beteiligten entsprechen, aufwerten, sei es nun im privaten oder im öffentlichen Raum
oder zwischen Personen des gleichen Geschlechts.
•
Änderungen in der Verwaltung des Geldes und im Freizeitbereich unterstreichen
•
Die Beziehungen zur Familie und zu den Betreuungspersonen bereichern, indem
Verantwortung oder Rollen übertragen werden wie z.B Pate oder Patin werden, sich
in der Institution um die Jüngeren kümmern.
•
Die Intimität bei Postsachen, Telefongesprächen, Treffen unter Freunden
respektieren. Wenn möglich einen Zimmerschlüssel übergeben.
•
In bestimmten Zusammenhängen oder Situationen das Siezen einführen, die Anrede
"Frau", "Herr", die Hände schütteln statt Küsschen geben, die Zeichen der Zärtlichkeit
an die köperlichen Veränderungen anpassen.
Auch hier können Bezugspunkte in Form von Ritualen eingeführt werden:
•
Ein Zertifikat der Mündigkeit oder Reife vergeben, das der Leiter der Institution
überreicht. Evtl. auch ein kleines symbolisches Erinnerungsgeschenk.
•
Ein Fest zur Verlobungsfeier einführen.
•
Tanzabende organisieren, an denen sich die Betreuungspersonen diskret
verabschieden.
•
Den Austausch und die Interaktionen zwischen den Bewohnerinnen und Bewohnern
anderer Einrichtungen fördern, um das Netz für Begegnungen zu erweiteren.
ELTERN UND FACHLEUTE: ANDERE BEZUGSPUNKTE
Wie für die Jugendlichen selbst sind bei jeder Etappe, die durch Brüche gekennzeichnet ist
auch für die Eltern und Fachleute Bezüge möglich:
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Für die Eltern:
•
Thematische Diskussionsabende oder Treffen nur mit Eltern von Mädchen oder von
Knaben zu Verhütung, Sterilisation, die Gefahr des sexuellen Missbrauchs,
Selbstbefriedigung, Liebesbeziehungen, Kinderwunsch usw.
•
Der familiäre und der persönliche Entwicklung des Jugendlichen machen eine
Verständigung über Werte und Gefühle nötig. Deshalb braucht es Zeit für die CoBildung von Eltern und Fach-leuten in Hinblick auf die neuen Bedürfnisse der
Heranwachsenden und der neuen Ängste, die diese Bedürfnisse wecken können.
•
Eine aktive Teilnahme an der Ausarbeitung von Leitbildern oder
Grundlagendokumenten, die das Machbare und das Wünschbare im Gefühlsleben,
im Intimbereich und im Sexualleben während des Erwachsenwerdens beschreiben.
Für die Fachleute:
•
Weiterbildungen besuchen, die die heilkle Auswirkungen thematisieren, die mit der
Rolle als Dritter in der Pflege, im Gefühlsbereich, im Intim- und Sexualleben von
Heranwaschenden verbunden sind.
•
Von den Orten und Zeiten zum Nachdenken und Reden profitieren, die am Arbeitsort
vorhanden sind, um die erwähnten Themen anzusprechen.
•
An der Erarbeitung einer Charta der Institution mitarbeiten, die die Regeln des
Zusammenlebens für die dort wohnenden Heranwachsenden und junge Erwachsene
festhält.
Einfache Verhaltensregeln für Fachleute in Bezug auf Liebesbeziehungen und Verliebtheiten
der jungen Menschen mit Behinderung einführen. Der Beizug einer Supervisorin/eines
Supervisors oder einer Mediatorin/eines Mediators können sich manchmal günstig
auswirken.
"Vie d’ado, Vue de face": Erwachsen werden ernst genommen
Wir können feststellen, das einige Regeln der sexuellen Sozialisation in Bezugspunkte und
Übergangsrituale übersetzt werden können. Es liegt an uns, Wege zu finden, wie wir sie trotz
der behinderungs-bedingten Hindernisse in die Phase des Erwachsenwerdens einführen
können. Wir müssen ferner die Rollen verteilen: Wer ergreift die Initiative, wer handelt.
Diese Erkenntnis führte zur Entwicklung eines Leitfadens, der eine Reihe von
Bezugspunkten und Ritualen für den Alltag in der Familie und in der Institution vorschlägt,
mit dem Ziel, die Brüche des Erwachsenwerdens und den Übergang in die Institution besser
erleben zu lassen.
Dieser Leitfaden heisst "Vie d’ado, Vue de face" (Erwachsen werden ernst genommen) und
liegt zur Zeit als Prototyp in französischer Sprache vor. In Zusammenarbeit mit Eltern,
Fachleuten und Menschen mit geistiger Behinderung wird er noch verändert und
vervollständigt.
Die Bezugspunkte sollen es uns ermöglichen, Jugendlichen mit einer geistigen Behinderung
ihren Platz als Subjekte einzuräumen.
Sind wir Erwachsen fähig, sie als Heranwachsende ernst zu nehmen?
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