Selfish Brain - das eigensüchtige Gehirn - Gabriela Freitag

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Stichwort
Selfish Brain das eigensüchtige Gehirn
•
Welche Rolle spielt das Gehirn
bei der Entstehung von Übergewicht
und Diabetes mellitus Typ 2? Diese
Fragestellung hat vor drei Jahren zur
Einrichtung eines neuen Forschungsprojektes an der Universität Lübeck
geführt. Im Dezember 2007 bewilligte die Deutsche Forschungsgemeinschaft dem Projekt weitere Gelder.
Unter der Überschrift "Selfish Brain:
Gehirnglukose und Metabolisches
Syndrom" erforscht ein interdisziplinäres Team aus Psychiatern, Internisten, Neurologen, Pharmakologen
und Mathematikern unter der Leitung von Prof. Dr. Ach im Peters einen
völlig neuen Denkansatz. Dieser soll
Aufschlüsse über Entstehungsmechanismen und Probleme bei der Therapiedes metabolischen Syndroms liefern. Im Folgenden erläutert Dip!.
oec. troph. Gabriela Freitag-lieg/er,
Bonn, die Bedeutung und vorläufigen Erkenntnisse dieses Projektes.
•
Diabetes mellitus Typ 2 gehört
nach wie vor zu den dominierenden
und kostenintensivsten Erkrankungen unserer Zeit - Tendenz steigend.
Laut der Deutschen Gesellschaft für
Ernährung (DGE) befinden sich knapp
8% der Bevölkerung in Deutschland
wegen Diabetes mellitus in Behandlung . Davon haben mehr als 90%
einen Typ-2-Diabetes. Bei einer jährIichen Zunahme von 4-5% werden
im Jahr 2010 vermutlich mehr als
8 Millionen Deutsche an Diabetes
leiden . Damit eng im Zusammenhang steht die zunehmende Verbrei tung von Übergewicht und Adipositas. Nach Angaben des Robert
Koch-Institutes (RKI) sind derzeit
etwa 70% der deutschen Männer
und 50% der Frauen übergewichtig
(BMI zwischen 25 und 30) oder
adipös (BMI ;;, 30).
Ernährungsinformation der CMA 01 / 2008
Vor diesem Hintergrund stießen
erste Veröffentlichungen zum Thema
Selfish Brain auf reges Interesse.
Bisher sprechen die Medien jedoch
voreilig von" völlig neuen Abnehmkonzepten" oder gar Wunderpillen.
Das Selfish-Brain-Projekt ist reine
Grundlagenforschung, die dazu beitragen soll, das Verstä ndnis für tiefer
liegende Zusammenhänge zu erweitern. Dabei zeichnet sich ab, dass
Psyche, Ernährung und Lebensweise
viel enger miteinander verknüpft
sind, als bisher vermutet wurde.
•
Um seinen Energiebedarf zu
decken, stehen dem Gehirn zwei
Mechanismen zur Verfügung, die als
allokatives und ingestives Verhalten
bezeichnet werden . Unter Allokation
versteht man die Zuteilung der Energieressourcen zwischen Gehirn und
Peripherie: Auf Befehl des Gehirns
tragen Muskulatur, Pankreas, Fettgewebe und die Leber dazu bei, dass
das Gehirn ausreichend Energie bis
zur nächsten Nahrungsaufnahme
erhält. Im Zentrum dieser Regulation
stehen das "Limbisch-HypothalamusHypophysen-Nebennieren-System"
Im Zentrum des Forschungsmit den Hormonen Cortisol, Noradreprojektes steht eine neue Theorie,
nalin und Adrenalin. Wird eine nieddie dem Energiebedarf des Gehirns
rige ATP-Konzentration in den Neuoberste Priorität zuschreibt und
ronen der Großhirnrinde (Cortex)
Defekte der neuroendokrinen Funkgemessen, erfolgt das Signal" Enertionen in den Mittelpunkt des metagie auf Abfrage". Es erhöht die Bebolischen Syndroms stellt. Sie basiert
reitstellungvon Glukose aus der
auf dem Grundsatz, dass sich das
Leber, hemmt deren Aufnahme in
Gehirn "eigensüchtig" verhält. Sein
Muskulatur und Fettgewebe, verprimäres Ziel ist die eigene Energiestärkt den Blutfluss zum Gehirn und
bzw. Glukoseversorgung. Dabei konstimuliert die Glukoseaufnahme über
kurriert es mit allen anderen Orgadie Blut-Hirn-Schranke.
nen, wie Muskulatur und Fettgewebe, und hat die komplette Kontrolle Die zweite Komponente- die lngesüber die gesamte Energieverteilung tion - führt zu einer gesteigerten
im Körper. Erst wenn das Gehirn aus- Nahrungsaufnahme. Das geschieht
reichend versorgt ist, teilt es den an- über eine Aktivierung der Appetitderen Organen Energie zu. Betrach- zentren sowie der Appetit stimul ietet man die Sonderstellung des
renden Hormone. Dadurch wird das
Gehirns im Organismus, wird diese
Stress-System wieder entlastet und
Theorie verständlich. So ist sein
kehrt in seine Ruhelage zurück.
Energieverbrauch im Vergleich zum
Kritisch wird es, wenn Defekte
geringen Anteil an der Gesamtkörpermasse um ein Vielfaches höher
der neuroendokrinen Funktionen
als der aller übrigen Organe. Ande- bzw. der Nervenzellverbände in der
rerseits ist seine Speicherkapazität
Gehirnrinde vorliegen. Dann kommt
sehr begrenzt. Eine konstante Veres zu Störungen in der InformationsVerarbeitung und zu Fehlregulatiosorgung des Gehirns mit Glukose
nen. Defekte an der Blut-Hirn-Schranbzw. Adenosintriphosphat (ATP)
ist für den Organismus daher von
ke führen zu einer Unterversorgung
lebensnotwendiger Bedeutung.
des Gehirns. Kann sich das Gehirn
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Stichwort
nicht genug Energie zuteilen, sorgt
es durch eine chronische Steigerung
von Appetit und Nahrungsaufnahme
für Nachschub. Hat es seinen Energiebedarf gedeckt, überlässt es den
Überschuss dem Körper: die peripheren Fettreserven nehmen zu . Dies
führt langfristig zu Übergewicht bzw.
Adipositas.
Dieses Übergewicht steht wiederum
in direktem Zusammenhang mit der
Entstehung von Typ-2-Diabetesmell itus, Fettstoffwechsel -Störungen
und Hypertonie. Außerdem wirken
die Fehlregulationen des Glukoseund Insulinstoffwechsels vermutlich
direkt auf die Pathogenese des Diabetes; zum Beispiel dadurch, dass
das Gehirn die Insulinproduktion
aus eigenem Interesse absenkt. Im
Gegensatz zu traditionellen Modellen stehen bei Erkrankungen des
metabolischen Syndroms nach der
Selfish Brain-Theorie also nicht einzelne Organe, wie die Bauchspeicheldrüse oder die Nebennieren, im
Vordergrund, sondern das Gehirn
mit seinen eigennützigen und steu ernden Funktionen .
Regulation der Nahrungsaufnahme über
glukostatische und lipostatische Mechanismen
Glukostatische Theorie
Absinken des Blutzuckerspiegels -+ Hungergefühl
Ansteigen des Blutzuckerspiegels -+ Sättigungsgefühl
lipostatische Theorie
Abweichungen vom individuellen Sollwert an Körperfett
Beide Theorien ergänzen sich. Während der glukostatische Mechanismus eher kurzfristig zu Beginn und am Ende der Mahlzeit wirkt,
ist der lipostatische Mechanismus für die Langzeitregulation verantwortlich.
depressiven Störungen sowie Essstörungen auch ohne Defekte in den
lipostatischen oder glukostatischen
Mechanismen zu erheblichen Veränderungen der Körperfettmasse kommen .
Schließlich stellt sich die Frage, wodurch derartige Fehlregulationen
des Gehirns verursacht werden. Die
Wissenschaftler gehen davon aus,
• Zudem bietet die Theorie Erklä - dass weniger genetische, sondern
rungen für Beobachtungen und Fra - vielmehr erworbene Faktoren eine
gestellungen, die durch etablierte
Rolle spielen. Externe Einflüsse und
Ansätze, wie die glukostatische und psychische Störungen, wie Umweltdie lipostatische Theorie, bisher
faktoren, Lebensstil, Stressbelastun nicht zu erklären waren (siehe Kas- gen und Depressionen, gelten als
ten) . So weisen zum Beispiel der bei wahrscheinliche Auslöser. So ist bei Diäten oft zu beobachtende "Jojospielsweise schon lange bekannt,
Effekt" und die Tatsache, dass es
dass chronischer oder akuter Stress
nur wenigen Übergewichtigen geCortisol freisetzen. Es scheint aber
lingt, dauerhaft ihr Gewicht zu sen - auch Zusammenhänge zwischen
ken, auf komplexere Zusammenhän- Depressionen und der Glukosege hin. Beispielsweise kann es bei
aufnahme des Gehirns zu geben .
Ern ährung sinfo rmation der CMA 01/2008
m
-+ kompensatorische Anpassung der Nahrungsaufnahme
• Noch können die Wissenschaftler aus diesen Erkenntnissen keine
neuen Therapieempfehlungen ablei ten . Es wird aber immer plausibler,
dass sich Übergewicht und andere
Stoffwechselerkrankungen nur erfolgreich vermeiden und behandeln
lassen, wenn die Bedeutung des
Gehirns berücksichtigt wird. ln der
Praxis könnte das auf den Versuch
hinauslaufen, die Fehlsteuerungen
des Gehirns nicht durch Medikamente, sondern durch Änderungen des
Lebensstils sowie verhaltenstherapeutische Maßnahmen zu korrig ieren . "Train the brain" nennen die
Wissenschaftler den Versuch, gegen
ein pathologisches Muster anzutrainieren.
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