Auf der Suche nach einem neuen Wachstumsmodell

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Auf der Suche nach einem neuen Wachstumsmodell
Ein eher missglückter Versuch war die so genannte Lissabon-Strategie aus dem Jahr 2000, die
das Ziel hatte, die Europäische Union binnen zehn Jahren zum „wettbewerbsfähigsten und
dynamischsten wissensbasierten Wirtschaftsraum der Welt zu machen“.
Dass Europa die Ziele von Lissabon nicht erreichen konnte, führen viele auch auf den Beitritt
der zehn postkommunistischen Länder zurück. Denn in der EU-27 hat das Wohlstandsgefälle
extrem zugenommen, was Reform- und Erneuerungsprozesse zusätzlich verkompliziert.
Insbesondere die neuen Mitgliedsländer haben die ursprünglich nur für die EU-15 formulierten
Lissaboner Ziele nicht annähernd erreichen können. Aus Sicht vieler Osteuropäer war das
Scheitern allerdings programmiert, handelte es sich doch in erster Linie um eine Strategie von
Westeuropäern für Westeuropa.
Vor dem Hintergrund dieser Erfahrungen hat die Europäische Union – nun selbstverständlich
unter Beteiligung aller neuen Mitgliedsländer – die Lissabon-Strategie im Jahr 2010
weiterentwickelt und eine „Europäische Strategie für ein intelligentes, nachhaltiges und
integratives Wachstum“ (kurz: „Europa 2020“) verabschiedet. Im Rahmen der neuen Strategie
setzt die EU drei Prioritäten: die Entwicklung der Wissensgesellschaft, einen schonenden
Umgang mit natürlichen Ressourcen und den sozialen Zusammenhalt bei geringer
Arbeitslosigkeit. Diese übergeordneten Prioritäten hat die EU mit konkreten Zielen untersetzt:
Beispielsweise sollen die Nationalstaaten ihre Ausgaben für Forschung und Entwicklung bis
zum Jahr 2020 auf mindestens 3 Prozent des nationalen Bruttoinlandsprodukts erhöhen. Die
Beschäftigungsquote soll von derzeit rund 65 auf durchschnittlich 75 Prozent steigen. Und die
Treibhausgasemissionen sollen gegenüber 1990 um mindestens 20 Prozent gesenkt werden.
Wird diese Strategie erfolgreicher sein als ihre Vorgängerin? Und gelingt es diesmal besser, die
Belange und Interessenslagen der neuen Mitgliedsländer bei diesem wichtigen Reformprojekt
mit einzubeziehen? Viel spricht dafür, dass die Ziele von Europa 2020 nur schwer zu erreichen
sein werden. Denn zum einen findet die Implementierung der Strategie vor dem Hintergrund der
immer noch andauernden Wirtschafts- und Schuldenkrise und einer damit einhergehenden
politischen Krise Europas statt. Zum anderen fehlen der Europäischen Kommission – wie schon
im Fall der Lissabon-Strategie – sowohl eigene Kompetenzen, um die ambitionierten Ziele zu
erreichen, als auch die entsprechenden Druckmittel, um von den Mitgliedsstaaten die
notwendigen Reformen einzufordern. Ob die gemeinsamen Ziele erreicht werden können, hängt
von der freiwilligen Kooperationsbereitschaft der Mitgliedsländer ab.
Dementsprechend spiegelt sich EU 2020 auch nicht im EU Haushalt wieder, dessen Mittel noch
immer zu 70 Prozent in die Kohäsions- und Agrarpolitik fließen – Geld, das für den
konsequenten Aufbau einer wissensintensiven Wirtschaft und Gesellschaft fehlt. Diese Situation
ist vor allem für die neuen Mitgliedsländer ein Dilemma: Von den strukturkonservativen
Fördermitteln der EU profitieren sie am meisten; im Wettbewerb um die europäischen
Förderprogramme zur Stärkung der Innovationsfähigkeit hingegen unterliegen sie regelmäßig
den westlichen Mitgliedsländern. Daher werden sie sich bei den im zweiten Halbjahr 2011
anstehenden Verhandlungen über den finanziellen Rahmen für die Jahre 2014 bis 2020 unter
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der polnischen EU-Ratspräsidentschaft voraussichtlich gegen eine Neuordnung des EUBudgets wehren und für eine Aufrechterhaltung des Status quo stark machen. Dies mag aus
der Perspektive der mittel- und osteuropäischen Staaten auf kurze Sicht rational erscheinen,
wirkt aber langfristig selbstschädigend. Denn auf diese Weise verhindern die betroffenen
Staaten, dass wichtige Modernisierungsdiskurse und -prozesse vorangetrieben werden – und
zwar sowohl auf Ebene der EU, als auch in den einzelnen Ländern selbst.
Dabei ist die Notwendigkeit einer Transformation in Richtung einer Wissensgesellschaft auch in
Ländern wie Polen, Ungarn oder Tschechien mittlerweile weitgehend unstrittig. Diese
Erkenntnis hat weniger mit den Postulaten der Europäischen Union zu tun, als mit globalen
Trends: Weltweit entwickelt sich zunehmend eine wissensbasierte Wirtschaft, in der nicht mehr
Material, Arbeitskraft, Land und Kapital die wichtigsten Produktionsfaktoren darstellen, sondern
Wissen und Expertise. Jene Unternehmen werden in Zukunft die Nase vorn haben, die über
mehr Wissen verfügen als ihre Konkurrenten: Unternehmen, die gute Ideen produzieren,
innovative Dienstleistungen entwickeln oder ihre Produkte pfiffig vermarkten.
Jedoch ist das mittel- und osteuropäische Wachstumsmodell der vergangenen zwanzig Jahre
kaum auf die Stärkung der wissensbasierten Wirtschaft ausgerichtet gewesen. In erster Linie
ging es den Ländern darum, mit Hilfe niedriger Steuern und Löhne internationale
Direktinvestitionen (FDI) anzulocken – und so für mehr Beschäftigung zu sorgen. Jahrelang
waren viele mittel- und osteuropäische Länder als verlängerte Werkbänke westlicher
Unternehmen erfolgreich. Als dramatischer Einschnitt für diesen Entwicklungspfad erwies sich
dann allerdings die weltweite Finanz- und Wirtschaftskrise: Seit dem Jahr 2009 verschlechterte
sich die Auftragslage der osteuropäischen Unternehmen zunehmend; die ausländischen
Direktinvestitionen gingen zwischenzeitlich auf Null zurück; westliche Banken zogen ihr Kapital
ab, so dass die nationalen Währungen gegenüber dem Euro an Wert verloren. Damit hat Mittelund Osteuropa unter der Krise sehr viel stärker gelitten als alle übrigen emerging markets
weltweit*. Zwar ist seit Ende des Jahres 2010 eine wirtschaftliche Erholung zu beobachten,
maßgeblich vorangetrieben von der hohen Nachfrage aus Deutschland. Diese fällt allerdings
langsamer aus als erwartet. Viele Ökonomen befürchten, dass der enorme Kapitalfluss der
vergangenen Jahre in die Region auf Dauer versiegen wird – und damit der bisherige
Wachstumsmotor schlechthin wegfällt.
Wollen die Länder Mittel- und Osteuropas verhindern, dass sie mittelfristig in die ökonomische
Peripherie abdriften, müssen sie grundsätzlich über ein neues Wachstumsmodell nachdenken:
Der Weg in Richtung einer wissensintensiven Ökonomie erfordert vor allem, die
Innovationsfähigkeit ihrer Volkswirtschaften zu stärken.
Zum einen geht es um mehr Investitionen in Humankapital. Dringend notwendig sind zum
Beispiel eine bessere finanzielle Ausstattung der Universitäten sowie die Verbesserung der
Lehrqualität. Noch immer tauchen mittel- und osteuropäische Universitäten in internationalen
Universitätsrankings kaum auf. Obwohl die Zahl der Studierenden seit dem Systemumbruch
exorbitant zugenommen hat, werden Fachbereiche wie Ingenieurs- und Naturwissenschaften zu
wenig nachgefragt. Gut ausgebildete Absolventen, die für innovative Unternehmen interessant
wären, sind in dieser Region daher Mangelware.
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Zum anderen müssen auch die Unternehmen der Region mehr in Forschung und Entwicklung
investieren. Zwar produzieren sie als Zulieferer zunehmend auch für mittel- und
hochtechnologische Industriezweige. Die Entwicklungs- und Forschungsabteilungen dieser
Unternehmen sind aber überwiegend in Westeuropa angesiedelt. Ein positives Gegenbeispiel
ist der tschechische Automobilhersteller Skoda, ein 100- prozentiges Tochterunternehmen der
Volkswagen AG, das enorm viel in die eigene Entwicklung investiert hat.
Insgesamt fehlt den meisten neuen Mitgliedsländern eine eigene wirtschaftspolitische Strategie
zur Stärkung ihrer Innovationsfähigkeit. Sie verfahren auf diesem Gebiet noch zu sehr nach
dem Prinzip copy and paste: Statt sich bei der Entwicklung innovativer Wirtschaftszweige an
den jeweiligen nationalen Rahmenbedingungen und Stärken zu orientieren, übertragen sie
europäische Innovationsstrategien eins zu eins auf ihre nationalen Innovationsprogramme.
In den Ländern Mittel- und Osteuropas mangelt es aber nicht nur an strategischen Kenntnissen,
sondern auch an strukturellen Voraussetzungen: Erstens erweisen sich die öffentlichen
Institutionen in den neuen Mitgliedsländern häufig als dysfunktional und damit unfähig, ein
innovationsfreundliches Klima zu schaffen. Zweitens fehlt aufgrund millionenfacher
Abwanderung der eigenen Talente qualifiziertes Personal. Und drittens wird das vorhandene
ausländische Kapital zu selten dazu eingesetzt, um Innovationen nachhaltig zu fördern.
Zumindest hat sich die simple Vorstellung in der Praxis nicht bewahrheitet, möglichst hohe
Foreign Direct Investments würden automatisch mehr Know-how, mehr Wissenstransfer sowie
Innovationen generieren.
Diese Herausforderungen sind gewaltig. Ein neues Wachstumsmodell, das auf eine
wissensintensive Wirtschaft zielt, ist vor allem auch auf einen handlungsfähigen und effektiven
Staat zwingend angewiesen. Nur der Staat kann Kooperationen und Netzwerke aus
Forschungsinstitutionen, Universitäten, Think Tanks und innovativen Unternehmen intensiv
ausbauen. Nur er kann Anreize schaffen für Arbeitsmigranten, in ihre Heimat zurückzukehren,
etwa indem er die Neugründung von kleineren und mittleren Unternehmen fördert (auf diese
Weise ließe sich der brain drain der vergangenen Jahre sogar nutzen). Nur der Staat kann
strategisch darauf hinwirken, besonders zukunftsträchtige FDIs ins Land zu holen. Doch ein
solcher aktiver, funktionsfähiger, strategisch vorausschauender und – in diesem Sinne –
„planender“ Staat existiert in keinem der neuen Mitgliedsländer. Die Vorstellung davon löst in
den postkommunistischen Gesellschaften eher Unbehagen aus.
An dieser Stelle zeigt sich, dass die Ausgangsbedingungen zur Verwirklichung einer
wissensintensiven Wirtschaft von alten und neuen Mitgliedsländern sehr unterschiedlich sind.
Nicht nur was die jeweiligen Entwicklungsstufen, sondern auch was das Bildungssystem, die
industrielle Basis, die wirtschaftspolitische Strategiefähigkeit oder eben die Qualität von
Staatlichkeit betrifft. Es ist zu befürchten, dass die mittel- und osteuropäischen Länder an den
konkreten Zielvorgaben von Europa 2020 erneut scheitern werden. Denn ähnlich wie ihre
Vorgängerin, die Lissabon-Strategie, orientiert sich auch diese Strategie zu starr an dem Prinzip
one size fi ts all.
Andererseits stehen neue und alte Mitgliedsländer vor vielen durchaus vergleichbaren
ökonomischen und sozialen Herausforderungen, wie das Progressive Zentrum in seiner Studie
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„Die Zukunft des Europäischen Wirtschafts- und Sozialmodells“aus dem Jahr 2008
herausgearbeitet hat. So gesehen kann die Europa-2020-Strategie eine wichtige Funktion als
Leitbild ausfüllen, als Orientierungspunkt in einer gesamteuropäischen Debatte über mögliche
Lösungsstrategien und Reformkonzepte – solange die Unterschiede zwischen den westlichen
und östlichen Wachstumsmodellen hinreichend mit bedacht werden.
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