„Ich habe keine Angst vor Bach“ Jazzpianist Stefano Bollani über seine Aversion gegenüber der klassischen Musikwelt nis mitsamt Fehlerobsession ist mir zuwider. INTERVIEW: POL SCHOCK Er gilt als einer der kreativsten italienischen Jazzmusiker, hat zahlreiche Preise gewonnen und wirkt dennoch absolut gelassen: Der Pianist Stefano Bollani spielt heute Abend mit seinem Soloprogramm in der Philharmonie. Im Gespräch erklärt er, warum ihm das Musikverständnis der klassischen Welt zuwider ist, wieso Miles Davis immer recht hat und gesteht, dass er eigentlich lieber Popsänger werden wollte. Das erinnert auch an das geflügelte Wort des berühmten Trompeters Miles Davis: „It's not the notes you play, it's the notes you don't play.“ Absolut. Miles Davis meinte damit, dass die eigene Interpretation wichtiger sei als die Vorgabe. Individualität vor Perfektion. Und so spielte Davis auch: Ob Pop oder Jazz – seine Musik hatte immer seinen eigenen Charakter. Aber generell würde ich Miles Davis immer – bei allem – recht gegeben. Herr Bollani, Sie gelten als Jazzmusiker, der bei Solokonzerten gerne improvisiert und im Vorfeld nie eine Songlist erstellt. Wird das auch heute Abend in Luxemburg der Fall sein? Natürlich: Ich entscheide stets spontan, was ich spiele – auch heute in Luxemburg. Ich genieße diese Freiheit und habe mich vom Gedanken eines perfekt gespielten Konzerts gelöst. Wichtig ist das Feeling zwischen Instrument, Musiker und Publikum. Ein Trompeter, der Sie auch sehr stark beeinflusst hat, ist Enrico Rava – Sie sprechen gar von der „wichtigsten Zusammenarbeit“ Ihres Lebens. Ich habe Enrico vor 20 Jahren getroffen. Damals spielte ich noch Keyboard mit dem italienischen Popsänger Jovanotti. Enrico gab mir sehr viel Selbstvertrauen – denn er hörte genau zu, was ich spielte. Leider eine Fähigkeit, die nur wenig Musiker besitzen. Sie treten auch gerne direkt in Interaktion mit dem Publikum und fordern es etwa auf, Musikwünsche zu äußern ... Ja genau – das mache ich meistens am Ende eines Konzerts. Ich frage die Zuhörer, welche Songs der Weltgeschichte Sie gerne hören wollen und versuche aus den Vorschlägen ein Medley – ein Potpourri nach eigener Art zu gestalten. Wie meinen Sie das? Viele Musiker konzentrieren sich auf ihr Spiel – aber verlieren den Blick bzw. das Ohr für das Ganze. Nehmen Sie Popmusik. Popsänger sind oft auf ihren Part, den Look oder das Publikum fokussiert – aber vergessen, der eigenen Musik zuzuhören. Ich nenne es die Kunst zuzuhören. Apropos Popsänger: Stimmt es eigentlich, dass Sie als Kind lieber Sänger als Pianist werden wollten? Ja, und ich hege diesen Traum noch immer. Ich will immer noch Sänger werden. Das klingt unterhaltsam. Ist es auch. Es ist der witzige Höhepunkt meiner Soloshows, bei dem spätestens das Eis bricht. Alle rufen unterschiedliche Songs hinein – von Bach bis „Stairway to Heaven“. Das klingt aber auch nach einer großen Herausforderung für Sie. Trauen Sie sich zu, sämtliche Songs spielen zu können? Selbstverständlich nicht – das wäre ja vermessen. Aber wissen Sie was – die Menschen wünschen sich fast immer die gleichen Songs: „Summertime“, „My Funny Valentine“ oder irgendeinen BeatlesSong. Und was passiert, wenn das Luxemburger Publikum heute Abend besonders anspruchsvolle oder unbekannte Songs fordert? (lacht) Das kann in der Tat passieren. Manchmal trifft man auf Experten, die etwa nach einem speziellen „Leonard Cohen“-Song aus dem Jahr 1972 fragen ... Aber dann habe ich immer noch zwei Optionen: Entweder ich ignoriere es einfach und tue so, als hätte ich den Vorschlag gar nicht gehört oder ich erfinde meine eigene Version des mir unbekannten Liedes. „Ich bin nicht für die klassische Welt geschaffen.“ (FOTO: VALENTINA CENNI) Das ist viel lustiger – und die Leute lieben solche Experimente. für ist die Spielweise nicht fehlerhaft. Haben Sie dabei keine Angst, Fehler zu spielen? Nein. Bei meinem improvisierten Soloprogramm habe ich keine Vorstellung von Perfektion, also kann ich grundsätzlich auch keine Fehler spielen. Und falsche Noten sollten generell nicht überbewertet werden. Ist diese offene musikalische Einstellung auch der Grund, weshalb Sie den Weg eines Jazzmusikers und nicht eines klassischen Pianisten eingeschlagen haben? Ich bin nicht für die klassische Welt geschaffen. Dort ist die Angst Fehler zu begehen größer, als die Lust originelle Musik zu erschaffen. Klassische Musiker verschwenden Unmengen an Energie darauf, um exakt die Noten zu reproduzieren, die sie auf ihrem Blatt vorfinden. Die geschriebene Note ist geradezu heilig – fast so, als hätten sie Angst davor, dass Johann Sebastian Bach sich aus seinem Grab erheben und sie bei einer falschen Note peinigen würde. Ich habe keine Angst vor Bach. Und dieses furchtbare Musikverständ- Also frei nach der berühmten Jazzformel: „Spielst du mal 'ne falsche Note, dann spiel sie einfach noch mal und spiel sie laut.“ Ja, das bringt es treffend auf den Punkt. Doch es kann natürlich sein, dass meine Art zu spielen bzw. meine Deutung eines Songs dem Publikum nicht gefällt. Dann hegen wir eine unterschiedliche Vorstellung von Ästhetik, aber da- Und warum hat es bis jetzt nicht geklappt? Die Liebe zum Klavier kam dazwischen. Im Alter von sechs Jahren habe ich begonnen Klavier zu spielen, nur um mich beim Singen begleiten zu können. Doch irgendwann war ich vernarrt in das Instrument und merkte, dass ich mich auf sehr vielfältige Weise darüber ausdrücken kann. Noch eine klassische Musikerfrage zum Schluss: Bevorzugen Sie Livemusik oder die Aufnahmen im Studio? Das ist eine schwierige Frage – fast so, als würde man mich fragen, ob ich lieber Mama oder Papa mag. Ich wüsste darauf eine Antwort ... Ich auch – aber die Antwort kann ich meinen Eltern unmöglich antun. Stefano Bollani spielt heute Abend um 19 Uhr in der Philharmonie. Nur noch Restkarten an der Abendkasse.