Heft 170 Jazz-Improvisation und Management

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Heft 170
Prof. Dr. Dr. h.c. mult. August-Wilhelm Scheer
Jazz-Improvisation und Management
März 2002
ISSN 1438 5678
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I.
Die Jazz-Band als Vorbild für ein modernes Managementteam
Das Wesen der Jazz-Musik ist die Improvisation. Ein Jazz-Solist erfindet aus dem Stegreif
neue Melodien, die zu der vorgegebenen Struktur eines Themas passen. Er trifft damit in extrem kurzer Zeit irreversible Entscheidungen über die Höhe der Note, die er spielt, den Ausdruck, den er ihr verleiht, und über ihre rhythmische Einordnung. Gleichzeitig beeinflusst die
gespielte Note sofort den weiteren Ablauf. Sein Spiel wird wiederum beeinflusst durch seine
Mitspieler.
In einer guten Jazz-Band spielen Experten miteinander, die zeit- und ortsgleich in hohem Maße kommunizieren. Jeder hört auf den anderen, insbesondere auf den Solisten, und geht auf
dessen harmonische und melodische Weiterentwicklung seines Solos ein. Gleichzeitig erhält
der Solist Anregungen durch die harmonischen und rhythmischen Figuren der RhythmusGruppe (im allgemeinen Piano, Bass und Schlagzeug). So entsteht bei der Jazz-Improvisation
eine hohe Intensität an Kommunikation zwischen den Beteiligten, die zu hoher Kreativität
anregt.
Im Management ist der Begriff Improvisation dagegen eher negativ belegt. Die Formulierung
„wir müssen improvisieren“ bringt zum Ausdruck, dass nicht wie gewünscht planmäßig gehandelt wird, sondern eben aus dem Stegreif. Nun setzt Planung aber voraus, dass das Umfeld
des Plans stabil ist oder zumindest richtig eingeschätzt werden kann. In einem turbulenten
Umfeld, in dem sich die Rahmenbedingungen schnell verändern, ist dagegen Planung problematisch. Generell wird in der neueren betriebswirtschaftlichen Managementliteratur deshalb
auch die Bedeutung der Planung eher reduziert. Es gibt zu viele Beispiele, wo gerade das Gegenteil einer geplanten Aktion eingetreten ist und erfolgreich wurde. So plante das japanische
Motorradunternehmen Honda den Markteintritt mit schweren Motorrädern in die USA (vgl.
Mintzberg 1999). Ein vorbereitendes Team wurde in die USA geschickt, aber mit geringem
Budget ausgestattet, so dass es für die eigene Fortbewegung lediglich Leichtmotorräder mitnahm. Da in den USA durch Marken wie Harley Davidson bereits ein erfolgreicher einheimischer Markt bestand, war es für Honda schwer, in das gleiche Marktsegment einzudringen.
Das Team merkte aber, dass Leichtmotorräder ein Erfolg sein könnten und hat die ursprüngliche Strategie spontan verändert und Honda auf diesem Marktsegment zu einem Eintrittserfolg
verholfen.
Die Entwicklung des ERP-Systems R/3 der Softwarefirma SAP AG war zunächst als eine
Lösung für mittelständische Unternehmen auf der Plattform der IBM-Rechner vom Typ AS
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400 geplant (vgl. Plattner/Scheer/Wendt/Morrow 2000). Aufgrund von PerformanceSchwierigkeiten wurde dann die Systemarchitektur geändert und zum Schluss ein weltweit
erfolgreiches System entwickelt, das vornehmlich von Großunternehmen eingesetzt wird und
auf technischen Plattformen der Client-Server-Architektur mit neutralen Schnittstellen wie
UNIX und SQL basiert.
Diese Beispiele zeigen, dass erfolgreiche Unternehmensführung nicht durch das sture Festhalten an einmal getroffenen Planungsentscheidungen begründet ist, sondern durch das wache
Aufnehmen neuer Entwicklungen und das darauf gekonnte und schnelle Reagieren.
Es wird berichtet (vgl. Lewin 1998), dass der CEO des Lego-Unternehmens seinen Vorstand
als Jazz-Band präsentieren ließ, um zu zeigen, dass diese das Bild eines modernen Führungsteams repräsentiert: Die Art und Weise, wie in einer Jazz-Band Kreativität entsteht, ist somit
ein Vorbild für modernes Managementverhalten.
Sowohl im Jazz als auch im modernen Management dominiert der Teamgedanke. Die Zusammensetzung des Teams durch möglichst weit gefächerte Kernkompetenzen und das Nutzen von Synergien zwischen den Kompetenzen durch hohe Kommunikation sind der Schlüssel zum Erfolg.
Die Beziehungen zwischen Jazz-Improvisation und Management werden zunehmend auch
wissenschaftlich bearbeitet. In der Sonderausgabe der Zeitschrift Organization Science (Vol.
9, No. 5, Sept./Oct. 1998) sind viele interessante Beispiele und Erkenntnisse erarbeitet worden. An ihnen haben Jazz-Musiker und Organisationswissenschaftler mitgewirkt. Einige Beispiele in diesem Artikel sind ihr entnommen.
II.
Am Rande des Chaos
In der modernen Organisationstheorie werden Ansätze verfolgt, die der Dynamik innerhalb
von Unternehmen und auf den Märkten Rechnung tragen und starre Organisationsprinzipien
überwinden. Mit dem Konzept sogenannter emergenter Prozesse wird dieser Ansatz konkretisiert. Emergente Prozesse, die als sich selbst entwickelnde Prozesse bezeichnet werden können, werden durch Ideen von Mitarbeitern, ohne dass diese unbedingt mit diesen Aufgaben
betraut sind, angetrieben. Sie entspringen nicht einer festgelegten Strategie, sondern ergeben
sich situativ spontan. Strategische Entwicklungen werden deshalb eher rückwärts als folgerichtig interpretierbar angesehen, als dass man sie im voraus planen kann.
Eine Jazz-Band ist Quelle ständiger emergenter Prozesse. In Abbildung 1 (vgl. Tomenendal
2002 und Scholz 2000) ist in einfacher Form dargestellt, wie Konnektivität (auch als Kommunikation und Interaktion zu interpretieren) sowie die Regelungsintensität einer Organisati-
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on die Möglichkeiten für flexibles, kreatives Verhalten bestimmen. Bestehen in einer Organisation sehr viele Regeln, so sind alle Arbeitsabläufe festgelegt. Wird gleichzeitig wenig zwischen den Organisationsteilnehmern kommuniziert, so dass keine informelle Organisation an
den Regeln vorbei entstehen kann, so erstarrt die Organisation. Sie ist nicht fähig, auf unerwartete Situationen schnell zu reagieren (unteres linkes Feld in der Abbildung 1). Bestehen
dagegen keinerlei Regeln, so dass bei einer hohen Interaktion quasi „alle durcheinander reden“ ohne zu einem Ergebnis zu kommen, herrscht das Chaos (oberes rechtes Feld in der Abbildung). Der eingezeichnete Balken repräsentiert einen Korridor des Gleichgewichts zwischen geringer Regelung und hoher Kommunikation, bei der eine Organisation besonders in
der Lage ist, flexibel und kreativ zu reagieren. Der Bereich II kennzeichnet eine stabilere Organisation, die noch nicht erstarrt ist, aber doch nicht die Spontanität und Flexibilität aufweist,
wie der eingezeichnete Balken.
hoch
III.
IV.
Rand
des
Chao
Chaos
Konnektivität
II.
niedrig
Balance zwischen
Flexibilität
und Stabilität
I.
hoch
Regelungsintensität
niedrig
Quelle: Nach Tomenendal
Der Rand des Chaos wird systemindividuell bei tendenziell hoher
Konnektivität und niedriger Regelungsintensität erreicht
Abb. 1: Ausgleich von Flexibilität und Stabilität
Eine hohe Konnektivität der Gruppenmitglieder wirkt deshalb tendenziell positiv, weil die
einzelnen Mitglieder relativ auseinandergezogene Kernkompetenzen aufweisen.
Bei einer Jazz-Band sind die einzelnen Musiker Spezialisten auf ihren unterschiedlichen Instrumenten. Ein plötzliches Vertauschen der Instrumente unter den Musikern würde nicht
funktionieren. Obwohl jeder Musiker nur wenig von den Instrumenten der anderen versteht,
können sie gemeinsam interessante Ergebnisse erzeugen. Hierzu ist aber die enge Kommunikation erforderlich, um jedes Instrument in das Gesamtwerk einzubringen. In gleicher Weise
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funktioniert auch eine Managementgruppe. In einem Vorstand sind Spezialisten für rechtliche
Fragen, technische Fragestellungen, Personalführung, Produktion und kaufmännische Tätigkeiten vorhanden. Ein zu lösendes Problem erfordert in der Regel mehrere dieser Kompetenzen, die dann von der Gruppe in den Lösungsprozess eingebracht werden müssen. Dies geht
wiederum nur durch eine enge kooperative Zusammenarbeit. Tendenziell wird der Korridor
deshalb durch geringe Regelung und hohe Konnektivität erreicht.
Die Synergien der unterschiedlichen Kernkompetenzen der Musiker können sich nur dann
entfalten, wenn sie zur gleichen Zeit und am gleichen Ort aufeinander treffen. Würde jeder
Musiker für sich in seinem Musizierstübchen üben, ohne Kontakt zu den anderen, wäre eine
Gemeinschaftsleistung nicht gegeben. Der gleiche Effekt gilt auch bei dem Zusammenbringen
verschiedener Kernkompetenzen eines Managementteams. Eine Unternehmensstrategie zu
entwickeln, indem jeder Vorstand für seinen Bereich ein Konzept entwickelt und es den anderen zur Verfügung stellt, ist noch lange keine gemeinsame Unternehmensstrategie. Nur dann,
wenn das Strategieteam zu einer Strategiesitzung zusammenkommt, die Argumente aufeinandertreffen, auch emotionale und erhitzte Diskussionen bis hin zu Streitgesprächen entstehen,
ist die Atmosphäre am Rande des Chaos gegeben, um zu wirklich neuen Ideen vorzudringen.
Eine Strategiesitzung sollte deshalb auch nicht durch zu detaillierte Tagesordnungen mit festgeschriebenen Redezeiten bestimmt sein, sondern Freiräume enthalten, die durch ausweitende
Diskussionen genutzt werden können. Natürlich müssen anschließend die Ergebnisse in greifbarer Form zusammengefasst werden.
Die in dem Korridor gestellten Forderungen werden in idealer Weise von einer Jazz-Band
erfüllt. Die Koordination bzw. der Regelbedarf innerhalb einer Jazz-Band ist relativ gering.
Die wichtigsten Regeln werden durch das Thema des zu spielenden Stücks festgelegt. Es enthält den taktmäßigen Aufbau, der z. B. bei einem Blues 12 Takte oder bei einem typischen
Song 32 Takte umfasst. In Abbildung 2 ist das Thema des bekannten Stückes „A Night In
Tunisia“ von Dizzy Gillespie angegeben, das nach dem 32-taktigen Aufbau AABA komponiert worden ist. Die A-Teile umfassen 8 Takte mit einem bestimmten Harmonieaufbau und
der B-Teil, der sogenannte Mittelteil, ebenso. Die Harmonien des Stückes sind ebenfalls in
Abbildung 2 angegeben. Ein guter Jazz-Improvisator kennt die Harmoniefolgen der
sogenannten Standardthemen, also Themen, die von Jazz-Musikern häufig gespielt werden,
auswendig. Bei der Improvisation folgt der Solist nun dem Schema des Stückaufbaus und
kann innerhalb der Harmoniefolgen neue Melodien im Stegreif erfinden.
Man kann deshalb sagen, dass eine Jazz-Band mit geringen Regelungen höchste kreative
Leistungen erzeugt.
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Abb. 2: A Night In Tunisia, Dizzy Gillespie
Es bestehen Gefahren aus dem Korridor auszubrechen und deswegen an Kreativität zu verlieren. Bei der Entwicklung des Freejazz wurde die Koordination durch eine vorgegebene Songstruktur als zu stark reglementierend empfunden, so dass die Gruppe quasi ohne vorgegebene
Struktur improvisierte. Da dies auch von allen Musikern gleichzeitig getan wurde, ergab sich
zum Teil eine überhöhte Interaktion. Für viele Hörer war man deshalb im Chaos gelandet. Die
Musik war schwer zu verstehen. Verstehen bedeutet, dass man die Struktur erkennt, nach der
sich das musikalische Geschehen abspielt. Da eine feste Struktur aber gerade nicht gewollt
war, ist auch ihr Verstehen nur schwer möglich. Die hohe Kommunikation zwischen den
Teilnehmern und das „aufeinander eingespielt sein“ des Teams erzeugten aber dann doch wiederum Ähnlichkeiten durch sich wiederholende Klangfarben und Collagen. Trotzdem war
diese Musikrichtung nicht dauerhaft und hat wieder in eine strukturiertere Form zurückgefunden. Bildlich gesprochen hat man den oberen rechten Bereich der Abbildung 1 verlassen und
sich wieder in den Korridor am Rand des Chaos begeben.
Das Verlassen des Korridors nach unten bedeutet, dass sich immer mehr und mehr Regeln
einschleichen oder bei gleicher Regelung die Kommunikation nachlässt. Diese Gefahr ist z. B.
gegeben, wenn eine Jazz-Gruppe sehr lange zusammen ist und man sich quasi in- und auswendig kennt. Es finden dann kaum noch unerwartete Ausbrüche aus dem bereits Bekannten
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statt. Selbst eine so fantastische Gruppe wie das Oskar Peterson Trio hatte nach einiger Zeit
ihren erfolgreichen Stil gefunden und sich dann quasi nur noch selbst kopiert. Eine Aufnahme
aus dem Jahr 1985 unterscheidet sich nicht grundlegend von einer Aufnahme aus dem Jahr
1975. Dagegen hat der Jazz-Musiker Miles Davis mehrfach stilbildend gewirkt. Mitte der
vierziger Jahre entwickelte er mit Charlie Parker und anderen den Bebop, Ende der vierziger
Jahre durch die berühmte Aufnahme „Birth of the cool“ den Cooljazz, dann 1959 mit der Aufnahme „Kind of Blue“ den modalen Jazz und später mit Musikern wie Herby Hancock und
Chick Corea den Rockjazz.
Um zu verhindern, dass eine Gruppe in der Wiederholung von Klischees erstarrt, muss man
sie mit neuen Situationen konfrontieren, bei denen das „Eingeübte“ nicht angewendet werden
kann. Von Miles Davis wird berichtet, dass er seinen Musikern quasi verboten hat, außerhalb
der Konzerte zu üben; er würde sie schließlich dafür bezahlen, dass sie auf der Bühne „üben“.
Sie sollten eben nicht eingeübte Figuren während des Konzertes abspulen, sondern kreativ
sein und auch Mut zu Neuem zeigen. John Coltrane hat seine Musiker mit völlig neuen Harmoniefolgen überrascht, bei denen sie auch ihre bereits in Fleisch und Blut übergegangenen
Phrasen nicht verwenden konnten. Bekannt ist die Anekdote, dass der Pianist Tommy Flannigan von John Coltrane mit den Harmonien des Kultstückes „Giant Steps“ konfrontiert wurde
und während der Plattenaufnahme große Schwierigkeiten hatte, sie zu verarbeiten. Trotzdem
ist die Aufnahme veröffentlicht worden und gilt als einer der Meilensteine im Jazz. Auch die
Miles Davis-Aufnahme „Kind of Blue“ ist ein solches Beispiel (vgl. Kahn 2001).
Miles Davis hatte zur Aufnahme lediglich geringe Skizzen der zu spielenden Stücke mitgebracht. Die Musiker wurden somit mit neuartigen harmonischen Strukturen und Themen konfrontiert und mussten sich im Höchstmaß konzentrieren. Diese Intensität war eine Quelle
höchster Inspiration.
Auch bei einem Managementteam, das in dem Korridor am Rande des Chaos operiert, bestehen Gefahren zum Verlassen des gewünschten Gleichgewichts. Völlig regelloses Verhalten,
bei dem niemand einen gemeinsamen Koordinationsbedarf akzeptiert, führt zu widersprechenden Entscheidungen und Aktionen, also zum Chaos. Die Anwendung von Stereotypen
(man weiß ja schon, was der Andere sagen wird, also hört man ihm kaum noch zu) birgt die
Gefahr zur Erstarrung. Hier können in dem Team durch die Konfrontation mit ungewöhnlichen Situationen ebenfalls neue Impulse erzeugt werden. Von British Airways wird berichtet
(vgl. Lewin 1998), dass bei einem Managementseminar die Hotelbetten ausgeräumt wurden
und alle Teilnehmer in Flugzeugsitzen übernachten mussten. Diese Situation hat sicher zu
intensivsten Überlegungen zur Verbesserung des Sitzkomforts angeregt. Auch ist vorstellbar,
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dass das Management von Softwareunternehmen gezwungen wird, in einem Strategieseminar
seine eigene Software anzuwenden.
Das Gleichgewicht zwischen Flexibilität und Starrheit zu erhalten, ist somit ein ständiger
Kampf.
III.
Gefühl für Zeit
Jazz-Musik lebt vom Swinggefühl. Duke Ellington hat dies mit dem Musiktitel „It don’t mean
a thing when it ain’t got that Swing“ auf den Punkt gebracht. Swing ist schwer zu beschreiben. Es ist ein rhythmisches Spannungsgefühl, das während des Spielens nicht aufgelöst wird.
Es gibt inzwischen wissenschaftliche Abhandlungen, die es durch einen Konflikt zwischen
einer Dreier- und Vierermetrik zu erklären versuchen. Alle Erklärungsversuche sind aber bisher unbefriedigend. Es bleibt dabei: Man spürt es oder man spürt es nicht. Während andere
Spannungen in der Musik, z. B. Dissonanzen, sofort aufgelöst werden durch Konsonanzen,
wird das Swinggefühl während des gesamten Musikstücks aufrechterhalten. Es ist damit auch
eine Quelle für die Inspiration des Jazz-Solisten. Bei einem hohen Maß an Übereinstimmung,
wenn sozusagen die Zeitgefühle der Musiker miteinander verschmelzen, kann dies zu unerwarteten eruptiven Höchstleistungen führen. Ein Beispiel dafür ist der Auftritt der Ellington
Bigband 1956 auf dem Newport Jazz-Festival bei New York. In dem Stück „Diminuendo and
Crescendo in Blue“ ergab sich eine solche unwiederholbare Situation an Spannung und Dichte, die den Tenor-Saxofonisten Paul Consalves zu einem 28 Chorusse langen Solo inspirierte.
Dies war völlig ungeplant. Wie mir der damalige Bassist der Ellington Band Jimmy Woodie
einmal erzählte, war die Band per Bus am Tag zuvor aus Florida angereist und hatte dort das
Stück nach mehreren Jahren zum ersten Mal wieder gespielt. Der berühmte Schlagzeuger Joe
Jones von der Count Basie Bigband war bei dem Newport-Konzert anwesend und stand neben
der Band. Er hatte eine Zeitung in der Hand und schlug den Takt mit der Zeitung in seiner
Hand mit. Insgesamt ergab sich eine so dichte und ekstatische Atmosphäre, die den Solisten
zu immer neuen Ideen anregte.
Eine Gruppe in Spannung zu halten und sie ständig zu neuen Ideen zu inspirieren, sie quasi
zum Swingen zu bringen, ist die Kunst eines Topmanagers. Die emotionale Übereinstimmung
der Gruppenmitglieder kann wichtiger sein als intellektuelle Einzelleistungen. Dazu müssen
auch Gelegenheiten geschaffen werden. Das Ausbrechen aus der Tageshektik zu einem gemeinsamen Wochenendseminar in ungewohnter Umgebung und lockerer Atmosphäre kann
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hier hilfreich sein. Moderatoren und Antreiber (wie Joe Jones beim Newport-Festival) können
kreative Prozesse verstärken.
Das Zeitgefühl spielt im Jazz in mehrfacher Hinsicht eine große Rolle. Jeder, der ein Musikinstrument erlernt hat, weiß, dass es lange Zeit braucht, um es richtig zu beherrschen. Die
Anekdote (vgl. Lewin 1998) von der Mutter, die als Fan der eleganten Klarinettenmusik von
Benny Goodman ihrem Sohn eine Klarinette kaufte und dann erwartete, dass ab dem nächsten
Tag das Haus von melodiöser Klarinettenmusik erfüllt sei, ist ein gutes Beispiel. Der Sohn
fand sich nämlich nach wenigen Tagen in der Garage wieder, wo er im Auto üben musste und
das bei geschlossenen Fensterscheiben. Virtuosität benötigt Zeit. Diesen Satz müssen sich
auch Manager hinter die Ohren schreiben. Häufig erwarten sie bei einer Umorganisation, dass
die Erfolge bereits am nächsten Tag zu spüren sind. Die zeitdauernden Lernprozesse einer
neuen Organisation werden ignoriert.
Auch Innovation fällt nicht vom Himmel. Bei der Entwicklung unseres Softwareproduktes
ARIS haben wir mehrere Jahre Vorlaufforschung an meinem Forschungsinstitut betrieben, auf
der wir aufbauen konnten. Dagegen sind in den letzten Jahren viele Dotcom-Unternehmen,
die glaubten, eine schon vorhandene Idee aus den USA schnell nach Deutschland übertragen
und darauf ein erfolgreiches Unternehmen gründen zu können, kläglich gescheitert.
Alle großen Jazz-Musiker haben fanatisch geübt. Von dem Saxofonisten John Coltrane wird
berichtet, dass er bei langen Soli seines Schlagzeugers von der Bühne verschwand, um in seiner Garderobe weiterzuüben. Auch Charlie Parker hat bis zur Besessenheit Themen in allen
Tonarten geübt und darüber improvisiert. Selbst die höchste Begabung nützt nichts, wenn
nicht dieser Fleiß zur Beherrschung der handwerklichen Fähigkeiten vorhanden ist.
Man kann nicht immer nur von sich geben, man muss auch für neuen Input sorgen. Musiker
wie Miles Davis und Sonny Rollins haben lange Pausen in ihren Karrieren gehabt, in denen
sie nicht gespielt haben. Miles Davis hatte sich für mehrere Jahre ins Haus zurückgezogen
(vgl. Davis 2000), um dort völlig in sich gekehrt zu leben (es war allerdings auch eine dunkle
Seite dabei, die durch Drogen und sexuelle Eskapaden bestimmt war). Sonny Rollins ist ausgestiegen, um intensiv für sich neue Musikwelten zu entdecken. Hierbei hat er für sich allein
auf der Williamsburgbrücke in New York gegen den Wind gespielt, um seine Tonbildung
weiter zu perfektionieren (vgl. Wilson 1991).
Dem Pianisten Thelonious Monk wurde Anfang der 50er-Jahre die Auftrittslizenz für New
York auf Grund eines Missverständnisses entzogen. Diesen ungewollten Auftrittsentzug nutzte er für Kompositionstätigkeiten.
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Auch für Manager gilt, dass ihr Vorrat an Kreativität und Dynamik nicht unendlich ist. Auch
sie müssen in Form eines „Sabbatical“ ihre Kenntnisse auffrischen und erweitern, um daraus
zu neuer Motivation und Schaffenskraft zu gelangen.
Das durch den Swing ausgelöste Spannungsgefühl des Solisten wird durch weitere Faktoren
verstärkt. Beispielsweise besitzen viele Musikstücke einen sogenannten Einstiegsbreak, d. h.
die letzten Takte eines Themas sind von der Melodie freigelassen und der Solist kann frei den
Einstieg in sein Solo gestalten. Am bekanntesten ist hierfür das bereits oben angeführte Stück
„A Night In Tunisia“ (siehe Abb. 2). Hier wird nach dem Melodieteil und vor der Improvisation ein Interlude (Zwischenspiel) eingeschaltet, das eine gleiche rhythmische Figur melodisch etwas variierend siebenmal wiederholt und dann mit zwei Achteln den Solisten in einen
viertaktigen Einstiegsbreak entlässt. Der Solist ist dann vier Takte ohne Begleitung und muss
im fünften Takt auf der „Eins“ mit der dann wieder einsetzenden Rhythmusgruppe zusammentreffen. Diese vier Takte können zu einer Ewigkeit werden. Durch die rhythmischen
Phrasen angefeuert, hebt er mit den zwei letzten Achteln sozusagen vom Schanzentisch ab
und muss nun einen Skiflug absolvieren, um genau im fünften Takt sicher zu landen. Während dieser vier Takte kann aber sein individuelles Zeitgefühl anders schlagen als der weiterlaufende Rhythmus. Hier eine Übereinstimmung zu finden, also den Rhythmus, wie er vorher
bestand und vom Schlagzeuger bei seinem Einsatz fortgesetzt wird, in Übereinstimmung mit
seinem eigenen Rhythmusgefühl zu bringen, ist nicht einfach. Der Solist muss die vier Takte
ausfüllen und ist damit beschäftigt, Ideen zu entwickeln und sich auf die zielgenaue Landung
vorzubereiten, d. h. es spielen sich in ihm viele Prozesse gleichzeitig ab, die ihn von dem weiterlaufenden Rhythmus entfernen können.
Auch Manager kennen dieses Gefühl. Wenn ein Unternehmen in eine Krise gerät, läuft die
Uhr anders. Die Manager möchten schnell wirksame Entscheidungen treffen, befinden sich in
einer extremen Ausnahmesituation und meinen häufig, dass ihre Umwelt in dem gleichen
Takt schwingen würde. Dies ist aber nicht der Fall. Die Umwelt läuft im alten Rhythmus weiter und interessiert sich nicht für die Ausnahmesituation des Unternehmens. Ein Krisenmanager möchte schnell Antwort auf eine Anfrage erhalten, um darauf neue Entscheidungen aufbauen zu können. Ihm läuft die Zeit davon, wenn die Liquidität in Gefahr ist. Alles das lässt
das Umfeld unberührt. Auch hier kommt es also darauf an, dass Manager in Stresssituationen
die Ruhe bewahren und sich mit dem zeitlichen Ablauf ihrer Umwelt synchronisieren, um
nicht weiteren Schaden anzurichten. Das ständige Bedrängen eines Partners für eine schnelle
Antwort oder Entscheidung kann Gegenwehr hervorrufen. Zu hastiges Reagieren kann Ent-
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wicklungen überinterpretieren. Die Synchronisation der inneren Uhr mit der Uhr der Umwelt
ist also ein wichtiger Faktor.
IV.
Kreativität in der Improvisation
Improvisieren heißt nicht wahlloses Herumfaseln, sondern spontan sinnvolle Melodien erfinden; der Solist muss eine musikalische Story erzählen. Diese beruht natürlich auf einer
Sammlung von gelernten und geübten Bausteinen. Wie ein Redner, der eine spontane Rede
hält, über ein Vokabular verfügen und rhetorische Techniken beherrschen muss, gilt dies auch
für einen Jazz-Musiker. Er muss ein umfangreiches theoretisches Wissen über Jazz-Harmonik
besitzen, die Melodien vieler Standardstücke auswendig spielen können (häufig in mehreren
Tonarten) und auch ihre Harmoniefolgen kennen. Darüber hinaus kann er auch Melodiephrasen, sogenannte Pattern üben, die für bestimmte Akkordverbindungen passen. Dies alles sind
aber nur die Vokabeln, die spontan zu neuen inhaltsreichen Sätzen zusammengefügt werden
müssen. Ein Chorus muss dabei so gestaltet werden, dass der Zuhörer den Sinn des Solos erfasst. Werden lediglich technische Finessen etüdenhaft hintereinander geschaltet, so führt das
zu einer Beliebigkeit. Es ist dann egal, ob der vierte Chorus nach dem dritten gespielt wird
oder auch vor dem dritten hätte gespielt werden können. Ein Hörer würde keinen unterschiedlichen Aufbau des Solos erkennen.
Bei perfekten Soli, wie sie z. B. von Chet Baker, Gerry Mulligan oder aber auch von Miles
Davis gespielt worden sind, ist dies dagegen nicht der Fall: Jeder Chorus baut aufeinander auf
und jede Note hat ihren Sinn.
Die hohe Anzahl von Noten pro Sekunde ist noch kein Maß für hohen künstlerischen Wert
eines Jazz-Solos. Gerade die aufgeführten Musiker, wie Chet Baker, Miles Davis und auch
Gerry Mulligan, beeindrucken durch sparsame melodische Führung.
Solche Regeln sollten auch von Managern bei Vorträgen oder Präsentationen befolgt werden.
Häufig ist weniger mehr. Nicht eine Folienschlacht, bei der in kurzer Zeit zig Folien über den
Overheadprojektor gezogen werden oder im Beamer durchrauschen, beeindruckt, sondern
klare Aussagen, die folgerichtig aufeinander aufbauen. Je höher jemand einen Managerrang
besitzt, desto weniger Folien sollte er benutzen und mehr auf das Charisma seiner Persönlichkeit vertrauen.
Obwohl bei einer Improvisation intellektuelle Anstrengungen erforderlich sind, z. B. bei der
Verfolgung der harmonischen Entwicklung eines Stückes, ist die Emotionalität sehr stark beteiligt. Als dritte Komponente kommt die Motorik hinzu, die bei Pianisten oder Saxofonspie-
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lern durch eine besonders ausgebildete Fingerfertigkeit vorhanden sein muss. Diese drei
Komponenten: Intellekt, Emotion und Motorik zu koordinieren, erfordert eine hohe Anstrengung. Die emotionale Seite ist sicher besonders herauszustellen. Die Anregungen und das
Spannungsgefühl, die durch den Rhythmus und den Swing erzeugt werden, verhelfen dem
Solisten dazu, aus dem vorhandenen Baukasten an Wörtern in Blitzesschnelle sinnvolle Sätze
zusammenzustellen. Vieles davon geschieht unbewusst, d. h. der Solist versenkt sich in das
rhythmische und melodische Gefühl des Stückes und lässt sich von seinem Inneren treiben.
Häufig ist er sogar erstaunt, wenn er eine aufgezeichnete Aufnahme seines Solos hört. Es ist
ungefähr so wie bei einem Tausendfüßler: Ihm ist nicht bewusst, welches schwierige Koordinationsproblem er beim Gehen zu bewältigen hat, trotzdem funktioniert es. Wäre ihm das
Koordinationsproblem bewusst, könnte er straucheln.
Zu viel intellektuelle Kontrolle während des Solos kann schaden. Der Solist klebt zu stark an
eingeübten Pattern und die eigentliche Freisetzung spontaner und unerwarteter Ideen fehlt.
Auch erfolgreiche Unternehmer handeln häufig „aus dem Bauch“. Wahrscheinlich sind Instinkt und Angstgefühle für ein erfolgreiches Unternehmertum unabdingbar. Natürlich ist ein
Bauchgefühl nicht nur angeboren, sondern auch Ergebnis vielfältiger Erfahrungen, die sich
dann zu Verhaltensmustern verdichtet haben und bei entsprechenden Ereignissen spontan
abgerufen werden können. Gerade bei Entscheidungen mit hohem Risiko, Personalgesprächen
und beim Eingehen von Partnerschaften mit anderen Unternehmen entscheidet häufig das
Bauchgefühl.
Schnell zu reagieren und blitzschnell interessante Aussagen zu finden hat häufig etwas mit
Humor und Witz zu tun. Es sollen eben keine langatmigen Geschichten erzählt werden, sondern kurze Storys mit Pointen. Viele Jazz-Musiker besitzen einen Sinn für Witz und Humor.
Die Anzahl von Musikerwitzen belegt dies. Der kürzeste lautet:
Drei Jazz-Musiker gehen an einer Kneipe vorbei ....
Ein weiterer bringt die schwierigen wirtschaftlichen Umstände von Jazz-Musikern auf den
Punkt:
Frage: Wie wird man als Jazz-Musiker Millionär?
Antwort: Indem man als Milliardär beginnt.
In den Vorstandsetagen ist normalerweise Humor und Witz nicht sonderlich verbreitet. Die
Business-Kleidung verbreitet eher eine steife Atmosphäre. Hier könnte ein Schuss Esprit und
Pointenorientierung häufig aufgesetztes Verhalten menschlicher und kommunikativer gestalten.
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V.
Jazz als Lernprozess
Jazz ist eine Musik, die von dem ständigen Lernen der Musiker lebt. Jeder hört aufeinander,
jeder ist mal Solist, mal Begleiter. Da ständig überraschende Situationen entstehen, sind
Missverständnisse und auch Fehler möglich. Jazz ist deshalb keine vollkommene Musik, sondern es überwiegt die Kreativität. Um neue Dinge auszuprobieren, darf man nicht ängstlich
vor Fehlern sein. Fehler gehören zum Lernprozess; nur wer nichts Neues versucht, macht keine Fehler.
Diese Erkenntnis gilt natürlich auch im Management. Nicht jede Idee für ein neues Produkt ist
erfolgreich. Die Einstellung einer Produktentwicklung ist kein Misserfolg, sondern zeigt lediglich, dass während der Produktentwicklung neue Erkenntnisse aufgetreten sind, welche die
ursprünglichen Annahmen korrigieren. Der Mut, neue Märkte oder neue Produktideen aufzunehmen, muss positiv betrachtet werden. Selbstverständlich gilt es, jede Idee kritisch zu hinterfragen, aber sie darf auch nicht von vornherein durch zu kritische Argumente getötet werden.
Im Jazz haben sich in den ersten hundert Jahren seines Bestehens die Stilrichtungen in kurzer
Zeit abgelöst. Bei dem Musiker Miles Davis wurde bereits darauf hingewiesen, dass er viermal im Leben stilbildend an neuen Musikrichtungen beteiligt war.
In einer Welle führend zu sein, ist nur dann ausreichend für eine längere Karriere, wenn dieser
Stil zeitlich stabil ist. Jeder neuen Welle lediglich nachzulaufen, genügt nicht, da sich dann
bereits andere Künstler, die die Welle kreiert haben, etabliert haben.
In der Hightech-Welt ist die Fähigkeit, sich neuen Technologiewellen zu öffnen und mitzugestalten, Voraussetzung für ein längerfristiges Überleben der Unternehmen. Unternehmen,
die lediglich in einer Technologiewelle führend waren und dann die nächste verschlafen haben, sind trotz hoher Erfolge wieder vom Markt verschwunden. Dem Softwarehaus SAP AG
ist es dagegen gelungen, durch ihre Produkte R/1, R/2, R/3 und mySAP.com in vier Technologiewellen mit führend zu sein. Ein Unternehmen wie Digital Equipment, einst zweitgrößter
Hardwarehersteller der Welt, hatte zwar die Welle von vernetzten Kleincomputern angeführt,
dann aber die Welle von standardisierten Betriebssystemen, Datenbanksystemen und Netzwerken übersehen und wurde später von dem Unternehmen Compaq aufgekauft.
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VI.
Wettbewerb und Kreativität
Der zwischen Jazz-Musikern bestehende sportliche Wettbewerb ist ein weiterer treibender
Faktor für Engagement und Inspiration in der Musik. Zum Teil wird der Wettbewerb regelrecht in einer Band installiert. Bei Count Basie waren z. B. jeweils Vertreter unterschiedlicher
Stilrichtungen bei den Tenor-Saxofonisten engagiert, die sich bei den Soli intensive „Schlachten“ (Tenor-Battles) lieferten, wer der beste, d. h. einfallsreichste und ausdrucksstärkste Musiker sei. Schüler des Tenor-Saxofonisten Colman Hawkins vertraten die sonore, vibratoreiche Spielweise, während Lester Young selbst und seine Schüler eher die zurückhaltende
Spielweise bevorzugten. Am Anfang waren so Hershel Evans und Lester Young die installierten Kombattanten, später Frank Foster und Frank Wess. Auch in dem berühmten Miles DavisSextett waren mit Cannonball Adderley, einer dem Blues verbundenen Saxofonspieler, und
John Coltrane mit seiner moderneren Spielweise zwei Gegenpole engagiert.
In Jam Sessions können sich die Musiker gegenseitig anheizen und so zu wahren Höhenflügen inspirieren. Auch in dem Spielen sogenannter „Vierer“, d. h. es werden abwechselnd jeweils vier Takte eines Chorus gespielt, versuchen die Musiker sich gegenseitig zu übertrumpfen. In den Konzerttourneen des Impresarius Norman Grantz „Jazz at the philharmonic“
(JATP) wurden die Musiker so zusammengestellt, dass gerade die Battles herausragende Höhepunkte dieser Konzerte waren. Dieser Wettbewerb ist nicht zerstörerisch, sondern dient
jeweils zur gegenseitigen Inspiration: Es werden dabei auch Ideen des anderen aufgenommen
und bei der eigenen Improvisation eingebunden, so dass eine hohe Kommunikation besteht.
Auch in einem Managementteam muss nicht immer wohlgefällige Harmonie herrschen, sondern auch hier kann Wettbewerb die Leistung des Teams steigern. Er darf aber nicht zerstörerisch sein, indem ein Einzelner sich auf Kosten der anderen Teammitglieder übermäßig profilieren will. Konzeptionelle Meinungsverschiedenheiten und unterschiedliche Temperamente
können dagegen die Kreativität für neue Strategien fördern. Treiber und Bewahrer in einem
Team können zu riskante Manöver abmildern und gleichzeitig die Gefahr zum Erstarren verhindern.
VII.
Das Richtige liegt neben dem Falschen
In einer Improvisation kann es vorkommen, dass ein falschklingender Ton gespielt wird. Ein
falscher Ton heißt, dass der Ton in dem augenblicklichen harmonischen Zusammenhang nicht
wohlgefällig klingt. Nun gilt die Regel, dass die nächstliegenden Töne, also die jeweils um
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einen Halbton erhöhten oder erniedrigten Töne, bei dem harmonischen Zusammenhang als
„richtig“ klingend empfunden werden. Wenn es dem Spieler also gelingt, sobald er den „falschen“ Ton hört, sofort den daneben liegenden Ton zu spielen, dann fällt das einem Zuhörer
kaum auf, da der falsche Ton zu einem Durchgangston reduziert wird und die Betonung auf
den wohlklingenden Ton gelegt wird.
Auch bei den oben angeführten Beispielen der USA-Markteinführung des Unternehmens
Honda und der R/3-Entwicklung des Softwarehauses SAP AG lag die richtige Strategie direkt
neben der „falschen“.
Wenn das Hondateam sich aus den USA zurückgezogen hätte, nachdem der ursprüngliche
Plan, schwere Motorräder auf dem Markt einzuführen, misslungen war, wäre der anschließende Markterfolg mit Leichtmotorrädern ausgeblieben. Es war richtig, dass das Unternehmen die USA als Auslandsmarkt erkannt hatte, nur das Produkt lag einen „Halbton“ neben
dem zunächst geplanten.
Auch das R/3-Entwicklungsteam hätte sich zurückziehen können, nachdem die ursprünglich
geplante Lösung technisch nicht umsetzbar war. Aber auch hier lag die richtige Lösung direkt
neben der falschen. Es war richtig, eine neue Software für dezentrale Rechnersysteme zu entwickeln, nur war die proprietäre AS 400-Plattform falsch und die danebenliegende Lösung
mit UNIX-Betriebssystem und weiteren neutralen Standards war die richtige Wahl.
Diese Erkenntnisse besagen, dass ein vermeintlicher Misserfolg noch lange nicht endgültig
sein muss, sondern sehr genau auf seine Ursachen analysiert werden sollte und danebenliegende Varianten sorgfältig geprüft werden müssen, um unter ihnen die Perle in der Muschel
zu finden.
Übrigens gibt es noch eine andere Möglichkeit, beim Spielen eines falschen Tones zu reagieren, indem man ihn extra betont und absichtlich lange aushält oder sogar mehrfach wiederholt. Da es ja eigentlich keine falschen Töne gibt, sondern nur in einem harmonischen Zusammenhang ein ungewöhnlicher Höreffekt auftritt, kann man ihn als beabsichtigt interpretieren. Harmonische Reibung ist in der Musik durchaus üblich, da sie anschließend durch eine
gefälliger klingende Harmonie aufgelöst werden kann. Also einen reibungsvollen Ton extra
zu betonen, um ihn dann anschließend aufzulösen, ist ein zulässiges Stilmittel. Dieses Vorgehen erinnert etwas an den zynischen und damit möglichst nicht zu befolgenden Satz: Frech
gelogen und fest darauf bestanden, ist so gut wie die Wahrheit gesagt.
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VIII. Relaunch alter Produkte
Ein Song, der als Vorlage zur Improvisation dient, besteht aus einer Taktstruktur, dem harmonischen Aufbau und der Melodie. Die Variationen von Taktstrukturen sind im Jazz relativ
begrenzt. Meist dominiert der 32-taktige Aufbau mit den jeweils acht Taktpaketen in der
Form AABA. Bei den Harmoniefolgen eignen sich einige besonders gut zum Improvisieren.
Damit sich die zugehörenden Melodien nicht verschleißen, werden häufig neue Melodien zu
den Harmonien komponiert. Am bekanntesten ist die Bluesform, über die unzählige Melodien
komponiert worden sind, dann folgen aber die sogenannten Rhythm Changes, die dem Stück
„I got Rhythm“ von George Gershwin entnommen worden sind. Auch hier sind die Akkordfolgen einfach und eröffnen dem Improvisator viele Entfaltungsmöglichkeiten. Viele Melodien haben sich dabei von dem ursprünglichen Thema „I got Rhythm“ soweit entfernt, dass
man die Verwandtschaft kaum bemerkt, beispielsweise bei „Oleo“ von Sonny Rollins oder
„Thriving on a riff“ von Charlie Parker.
Die Entwicklung von neuen Produkten auf Basis bestehender erfolgreicher Produkte wird im
Marketing von Unternehmen als Relaunch bezeichnet. Ein bewährtes Produktkonzept wird
dadurch modernisiert, indem es ein neues Marketingprofil bekommt oder aber auch produkttechnisch abgewandelt wird. Auch hier wird das vom Konsumenten Gewohnte und Akzeptierte übernommen, um aber durch neue Eigenschaften oder Imagefaktoren eine neue Attraktivität zu bekommen.
IX.
Jazz-Solo als dynamischer Prozess
Wenn ein Jazz-Musiker ein Solo beginnt, hat er noch nicht den gesamten Aufbau, geschweige
denn die zu spielenden Melodiebögen im Kopf. Vielmehr fängt er mit einer Anfangsphrase
an, die vielleicht auf den zuletzt gespielten Tönen seines Vorgängers aufbaut. Die nächste
Phrase wird dann von der vorhergehenden beeinflusst und ist entweder die Antwort auf die
zuerst gespielten Takte oder deren Erweiterung. Im weiteren Ablauf setzt sich dieser Prozess
fort. Dabei werden die Impulse der anderen Mitspieler aufgenommen und einbezogen. Im
Grunde ist damit ein Solo ein sich selbst nährender Entwicklungsprozess, in dem ein gespielter musikalischer Gedankengang auf einem vorhergehenden aufbaut und selbst wiederum die
Basis für die nächsten darstellt.
Ganz ähnlich entwickelt sich auch die Geschichte eines Unternehmens aus aufeinander aufbauenden Entscheidungen und Strategien. Nicht jede Entscheidung und Strategierichtung
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muss dabei für sich genommen als Ideal gelten, sondern es muss ihr Beitrag für den gesamten
Ablauf gesehen werden. Dann können auch falsche Entscheidungen, wenn sie hinterher korrigiert werden, durchaus ihren Sinn gehabt haben, weil sie zum Erkenntnisgewinn beigetragen
haben. Auch in einem Solo kann eine Musikphrase, die für sich genommen vielleicht wenig
Intuition beinhaltet, doch den Musiker anregen, seinem nächsten musikalischen Gedanken
mehr Inhalt zu geben.
X.
Kann man Improvisieren lernen?
Genau wie an einer Musikhochschule das Fach klassische Komposition angeboten wird und
also auch Komponieren gelernt werden kann, gilt dieses auch für die Jazz-Improvisation. Allerdings besteht der Widerspruch, dass die schöpferische Kraft eines Komponisten oder eines
Jazz-Improvisators gerade die Erweiterung des Erlernten durch neue Klangvorstellungen ausmacht. Gelernt werden können bei der Improvisation wie bei einem Redner die Wörter, die
Grammatik und Wortverbindungen, die er aber dann bei einer freigesprochenen Rede gemäß
seiner emotionalen Stimmung und seinen gewollten Aussagen zusammenstellt. Eine abgelesene Rede ist meistens langweilig, während eine engagiert vorgetragene freie Rede interessant
sein kann.
Die Grammatik ist für einen Jazz-Musiker die Jazz-Harmonielehre. Während ein Orchestermusiker eines klassischen Orchesters im Wesentlichen die Fähigkeit besitzen muss, vom Blatt
zu spielen und deswegen tiefe Kenntnisse in der Harmonielehre nicht unbedingt erforderlich
sind, ist dies bei einem Jazz-Musiker ausgesprochen wichtig und bringt ihn damit auch näher
zu den Anforderungen, die man in der klassischen Musik an einen Komponisten stellt. Neben
der Harmoniestruktur, also der Grammatik, ist aber auch der Wortvorrat wichtig. Hier gibt es
unzählige Melodiefolgen, meistens auf ein bis vier Takte beschränkt, die für einzelne Akkorde und Akkordfolgen geübt werden können. Diese Melodiephrasen stur auswendig zu lernen
und hinterher in einem Solo mechanisch aneinander zu reihen, ist allerdings noch lange keine
gelungene Improvisation. Hier fehlt dann musikalische Tiefe, überraschende Ideen und auch
emotionale Beteiligung.
Bei einem Manager ist die Beeinflussung seines Teams, eines Entscheidungsgremiums seines
Kunden durch rhetorischen Beiträge ein wichtiges Instrument. Auf einer Rednerschule gelernte Phrasen sind häufig sofort als solche zu erkennen und wirken wenig überzeugend, sondern
eher entlarvend. Charismatische Ausstrahlung ist auch das Ergebnis der Lebenserfahrung einer Persönlichkeit. Und so bestimmt sich auch die musikalische Tiefe eines Jazz-Solisten aus
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seinem gesamten Persönlichkeitsbild. Sicher hat Louis Armstrong in den 20er-Jahren des 20.
Jahrhunderts technisch und musikalisch brillante Soli gespielt, die auch heute noch hörenswert sind. Der Sound seines Trompetenspiels in seinem fortgeschrittenen Alter enthält aber
auch die Höhen und Tiefen seines Lebens und ist an musikalischer Ausdruckstärke um Welten von seiner früheren Spielweise entfernt. Das Gleiche gilt auch für Musiker wie Miles Davis oder Sonny Rollins. Gerade da im Jazz die Individualität des musikalischen Ausdrucks im
Vordergrund steht, ergeben sich hier auch besondere Möglichkeiten des Einbringens der individuellen Persönlichkeit des Musikers.
Auch im Management sind Dynamik, Aggressivität und technische Brillanz noch nicht alles.
Große Unternehmerpersönlichkeiten strahlen Sozialkompetenz, Lebenserfahrung und Souveränität aus. Lernen und Leben gehören dann zusammen.
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Literatur:
Barrett, F. J. (1998): Creativity and Improvisation in Jazz and Organizations: Implications for
Organizational Learning, in: Organization Science, Vol. 9, No. 5, Sept./Oct., (1998),
S. 605 – 622.
Davis, M. (2000): Die Autobiographie; Heyne Verlag, München 2000.
Kahn, A. (2001): Kind of Blue: The Making Of The Miles Davis Masterpiece; Granta Books,
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Lewin, A. Y. (1998): Jazz Improvisation as a Metaphor for Organization Theory, in: Organization Science, Vol. 9, No. 5 (1998), S. 539.
Mintzberg, H. (1999): Strategiesafari. Eine Reise durch die Wildnis des strategischen Managements; Ueberreuter Verlag, Wien 1999.
Organization Science, Vol. 9, No. 5, 1998.
Plattner, H.; Scheer, A.-W.; Wendt, S.; Morrow, D. S. (2000): Hasso Plattner im Gespräch:
Dem Wandel voraus; Galileo Press, Bonn 2000.
Scheer, A.-W. (2000): Unternehmen gründen ist nicht schwer ...; Springer Verlag, Berlin et al.
2000.
Scholz, C. (2000): Strategische Organisation: Multiperspektivität und Virtualität, 2. überarbeitete Auflage; Verlag Moderne Industrie, Landsberg/Lech 2000.
Tomenendal, M. (2002): Virtuelle Organisation am Rande des Chaos – Eine complexdynamische Modellierung organisatorischer Virtualität, Diss., Saarbrücken 2002.
Wilson, P. N. (1991): Sonny Rollins. Sein Leben, seine Musik, seine Schallplatten; Oreos
Verlag, Schaftlach 1991.
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