Jazzgeschichte 1) Grundbegriffe: a) Bluestonleiter, blue notes: Das europäische Tonsystem umfasst innerhalb einer Oktav (= zwei Töne, deren Schwingungsverhältnis 1:2 beträgt) 12 verschiedene Tonhöhen, von denen nach einem bestimmten Schema jeweils 7 Töne zu einer Tonleiter zusammen gestellt werden (Dur, Moll, Kirchentonarten). Zwischen benachbarten Tönen liegen Halbtonoder Ganztonschritte. Im Gegensatz dazu ist in Westafrika eine andere Teilung der Oktav üblich, nämlich in 7 annähernd gleiche Tonschritte. Zwischen zwei benachbarten Tönen liegen daher weder Halbton- noch Ganztonschritte, sondern ungefähr ein Sieben-bis Achtelton, der für europäische Ohren wie ein ziemlich verstimmter (zu kleiner) Ganzton klingt. Wenn man versucht, die „äquidistante Heptatonik“ mit dem europäischen Tonsystem in Einklang zu bringen, dann erhält man folgendes Ergebnis: Europäische Durtonleiter: Die Töne liegen bei folgenden cent-Werten: 0 200 400 500 700 900 1100 1200 Äquidistante Heptatonik: Die Töne liegen bei 0 171.4 342.8 514.3 685.7 857 1028.6 1200 cent. Europäisch geschulte Ohren hören daher westafrikanischen Töne folgendermaßen zurecht: Grundton = Grundton 171,4 cent = wie eine zu tiefe Sekund (200 cent) 342,8 cent = Ton, der fast genau zwischen einer kleinen und einer großen Terz liegt. 515,3 cent = etwas zu hohe Quart 685,7 cent = zu tiefe Quint 857 cent = Ton, der fast genau zwischen großer und kleiner Sext liegt 1028,6 cent = etwas zu hohe kleine Sept (Sept in Dur ist eine große Sept!) 1200 cent = Grundton der nächsten Oktav Im Blues und Jazz wird daher nicht nur die Durtonleiter verwendet, sondern zugleich auch ein kleine Terz (Moll), eine verminderte Quint, eine kleine Sext (Moll) und eine kleine Sept (Farbe des Dominantseptakkords). Außerdem werden oft Töne nicht klar und direkt angesungen oder angespielt, sondern angeschliffen, fallen gelassen oder stark umspielt/umsungen (denkt an heutigen R’n’B). Diese blue notes machen das charakteristische Klangbild dieser Musik aus. C-Dur-Tonleiter Die häufigsten Blue Notes von C-Dur b) off beat Off beat bedeutet wörtlich „weg vom Schlag“ und drückt einen eurozentristische Blickpunkt aus. Damit sind mehrere Phänomene gemeint, die alle ein gemeinsames unbewusstes Erbe haben: die afrikanische Polyrhythmik und das Konzept der time line pattern. In den meisten afrikanischen Kulturen wird nicht von unterteilbaren Grundschlägen ausgegangen wie in Europa (eine Viertel ist zwei Achtel ist vier Sechzehntel etc.: divisiver Rhythmus), sondern von einer der Musik zugrundeliegenden Folge von schnellen, nicht unterteilbaren Beats, die zu komplexen rhythmischen Formeln zusammengefasst werden (z.B.: x . x . x x . x . x x . ; additiver Rhythmus). Afrikaner denken immer auch die stummen Schläge mit, bzw. tippen sie unhörbar mit Fingern mit. Lateinamerkanische Musiker setzen diese Idee fort, indem die Perkussionisten (vor allem auf den Congas oder anderen Handtrommeln) nicht nur die deutlich hörbaren rhythmischen Formeln spielen, sondern auch die dazwischenliegenden Beats, die leiseren sogenannten ghost notes. (Gilt natürlich nur für afroamerikanische Musik und nicht für die lateinamerikanische Indiomusik.) - Off-beat Akzente: Einzelne Noten einer Melodie werden vorgezogen oder verspätet nach dem Schlag gespielt/gesungen. Off-beat Rhythmus: In der rhythmischen Begleitung werden auch die Nebennoten (= off beat-Noten) betont. (z.B. Klatschen auf 2 und 4, statt auf 1 und 3, wie in der europäischen Musik) Off-beat Phrasierung: Ganze Passagen eines Musikstücks werden sehr frei gesungen/gespielt und haben einen völlig anderen Takt oder eine andere Geschwindigkeit als der Rest des Ensembles. (Denkt an Aretha Franklins Phrasierung!) Diese überaus sophisticated-e Form des Musizierens lebt von der Spannung zwischen den scheinbar unabhängigen musikalischen Ebenen. Gaaanz wichtig in Jazz-Soli!! c) Improvisation Improvisation heißt: spontan Musik zu erfinden. Manche Musiker nannten es auch instant composing, um die Gleichwertigkeit zu komponierter Musik zu unterstreichen. Allerdings ist eine Improvisation bei Weitem nicht völlig spontan, denn man muss dazu erstens sein Instrument wirklich beherrschen und zweitens im Idiom der Musik bleiben. Jazzmusiker üben daher richtige Formeln (licks), aus denen sie dann ihre Improvisationen zusammenstellen. Das Erstaunliche ist aber, dass einem beim Improvisieren viel mehr einfällt, wenn man licks beherrscht, und sich ein guter Solist darüber immer erheben wird. Der musikalische Aufbau eines Solos geht normalerweise über mehrere Chorusse (= Strophen) eines Themas (= Lied), wobei die Rhythmusgruppe weiterhin die changes (=Akkordfolge) des Themas spielt und der Solist darüber neue Melodien erfindet. Im Free Jazz, dessen Stücke nicht mehr auf changes aufbauen, werden die Improvisationen zu musikalischen Gesprächen, bei denen es sehr spannend ist, die Interaktion der MusikerInnen zu verfolgen. 2) Vorformen: a) Blues Blues ist ein solistischer Gesang, in dem überwiegend die schlechten Seiten des Lebens besungen werden (I’ve got the blues = mir geht es übel, ich bin mies drauf). Textlich unterscheidet er sich wesentlich von europäischen Lyrikformen, d.h. er basiert auf afrikanischen rhetorischen Formen. Eine Bluesstrophe hat drei Zeilen: 1. Zeile: Aussage 2. Zeile: Wiederholung der Aussage (auf einer anderen harmonischen Stufe) 3. Zeile: Antwort Mit der Erfindung der Schallplatte und der Kommerzialisierung des Blues hat sich eine 12-taktige Form durchgesetzt, obwohl es bis heute im Volk auch andere Formen gibt. Jede Blueszeile hat vier Takte. In den ersten beiden singt der/die SängerIn, in den anderen beiden gibt es ein instrumentales fill. Die ersten vier Takte stehen auf der Grundstufe (der Tonart des Blues), die Takte 5 und 6 auf der 4. Stufe, die Takte 7 und 8 wieder auf der Grundstufe. Takt 9 auf der 5., Takt 10 auf der 4. und die Takte 11 und 12 auf der 1. Stufe. I I I I IV IV I I V IV I I Dieses harmonische Schema fand und findet im Jazz und der darauf aufbauenden Popularmusik (Rhythm’n’Blues, Boogie Woogie, Rock’nRoll, usw.) weite Verbreitung. b) Spirituals, Gospels Spirituals oder Gospels sind die Kirchenlieder der Afroamerikaner. In diesen drücken sie die Hoffnung aus, dass ihnen irgendwann durch Jesus Gerechtigkeit wiederfahren wird, dass es im Himmel ein besseres Leben gibt etc. Sie identifizieren sich stark mit dem Volk Israel, das von seinen Nachbarn unterdrückt, in Gefangenschaft geführt und schließlich befreit wurde. Spirituals sind in ihrer ursprünglichen Form ein ziemlich spontaner Wechselgesang von Solist, Vorsänger oder Pfarrer mit der Gemeinde oder einem Chor. Allerdings gibt es seit den 1960er Jahren auch rein solistische Spiritual-Aufnahmen, z.B. von Mahalia Jackson oder Elvis Presley, und reine Chorarrangements, die heutezutage von jedem besseren Kirchen- oder Schulchor gesungen werden (sogar in Österreich). c) Second line Als second line wird ein Phänomen bezeichnet, von dem es nur Fotografien und Erzählungen gibt, aber keine Tonaufnahmen. Nichtsdestotrotz dürfte es der direkte Vorläufer des Jazz gewesen sein. In New Orleans gehörte es zum Leben, dass alle paar Tage eine Musikkapelle auf der Straße spielte: bei Begräbnissen, zu Paraden, im Fasching (mardi gras!) usw. Die Musik dieser (Militär)Kapellen klang aber zunächst europäisch, vor allem französisch. Neben den Kapellen liefen aber immer afroamerikanische Kinder und junge Leute mit, die auf selbst gebastelten oder abgelegten Instrumenten diese Marschmusik parodierten oder auf ihre spezifische Art nachspielten. Und das klang bei ihnen viel swingender als bei den weißen Musikern. 3) New Orleans Jazz entwickelte sich am Beginn des 20. Jahrhunderts aus den afroamerikanischen Musizierformen in Konfronation mit der Musik der weißen Amerikaner, die man zu dieser Zeit als europäisch bezeichnen kann. Zentrum dieser Entwicklung war New Orleans, das 1) einen hohen Anteil an afroamerikanischer Bevölkerung, 2) ein starkes französisches Erbe und 3) als Garnisonsstadt eine lebendige Militärmusikszene hatte, sowie 4) viele Arbeitsplätze im Amüsierbereich bot (Music Halls, Spielhallen, Bordelle etc.). Kennzeichen des frühen Jazz: swingende Phrasierung (also nicht „gerade“ phrasiert wie in europäischer Musik), Blues-Intonation (also mit Tönen außerhalb des europäischen Tonsystems, angeschliffenen Tönen, Falls etc.), Kollektivimprovisation (mehrere Musiker improvisieren zugleich über ein Lied) Diese erste Phase nennt man den New Orleans Stil, der 1917 zu Ende war, da die Musiker mit der Schließung von Storyville (= des Rotlichtviertels von New Orleans) bei Eintritt der USA in den 1. Weltkrieg ihre Arbeit verloren. Vom New Orleans Jazz gibt es nur sehr wenige Schallaufzeichnungen! Wichtige Musiker: Jelly Roll Morton, Louis Armstrong 4) Chicago (1920er Jahre) Viele Musiker aus New Orleans ziehen auf Arbeitssuche in den Norden. Zentrum der Entwicklung wird die Nachtklubszene in Chicago (Zeit der Prohibition und der Mafia), wo eine gezähmte Version des New Orleans Jazz gespielt wird. Vor allem das Rauhe und Wilde am New Orleans Jazz ist für die Ohren des weißen Publikums zu schockierend, sodass auch die Kollektivimprovisation der übersichtlicheren Form der Soli weicht. Wichtigster Musiker: Louis Armstrong 5) Swing (1930er Jahre) Zur Zeit der Weltwirtschaftskrise entwickelte sich der Broadway in New York als neues Zentrum der Vergnügungsindustrie, vor allem mit teuren Shows, in denen viele Musiker Arbeit fanden. Die Jazzformationen werden größer, bis zur Big Band (ca. 15 Menschen), die Musik eleganter und stärker arrangiert, die Improvisation stark zurpckgedrängt. Das große Geld machen weiße Bands, z.B. von Jimmy und Tommy Dorsey, später Glenn Miller. Wirkliche Verdienste kann man Benny Goodman zuschreiben, der als erster Bandleader sowohl weiße als auch schwarze Musiker beschäftigte. Generell ist der Swing die Epoche, in dem der Jazz größte Beliebtheit erlangte und bedeutungsgleich war mit Unterhaltungsmusik. Wichtigste Musiker: Duke Ellington, Count Basie Duke Ellington Count Basie Benny Goodman Die Standard-Big-Bang-Besetzung blieb bis heute gleich: - Rhythmusgruppe mit Klavier und/oder Gitarre, Kontrabass und Schlagzeug - Brass-Section (Blech) mit 4-5 Trompeten und 4 Posaunen - Reed-Section (Holzbläser) mit 5 Saxophonisten, die auch Klarinette oder Flöte spielen. - Dazu könne weitere Instrumente kommen wie Horn, Tuba, Streicher, Keyboards, Sythesizer, Perkussion..... 6) Bebop (1940er Jahre) Entwickelte sich als Gegenbewegung zum Swing, der für eine bedeutende Anzahl der Afroamerikaner zu angepasst war. In einigen Klubs in New York (zB. Minton’s Playhouse) trafen sich Musiker zu Jam Sessions (=Sessions in kleineren Besetzungen als Big Band), bei denen sie sich einen Spaß daraus machten,für ihre Zeit derart ruppig und spröde zu spielen, sodass nur von ihnen akzeptierte Musiker in die Sessions einsteigen konnten. Die Soli waren länger als gewohnt (über mehrere Chorusse), die time wurde nicht mehr von der gesamten Rhythmusgruppe, sondern nurmehr vom Bass gehalten. Auch SängerInnen begannen zu improvisieren, und zwar mithilfe von sinnlosen Silben, was dem Bebop auch seinen Namen gab. Viele Bebop-Themen basieren auf den Changes von Standards aus der Swing-Zeit, zu denen neue Melodien komponiert wurden. Natürlich wurde auch das Tempo angehoben. Ab der Bebop-Zeit wurde Jazz für die breiten Massen zu anspruchsvoll und zu einer Minderheitenmusik, die er bis heute geblieben ist. Wichtigste Musiker: Charlie Parker, Thelonious Monk, Dizzy Gillespie, der junge Miles Davis. Charlie Parker und Miles Davis Thelonious Monk Dizzy Gillespie 7) Cool Jazz (1940er und 50er Jahre) Wie der Name sagt: eine Strömung mit kühlem Jazz, der als Gegenbewegung zum durchaus hitzigen Bebop gesehen werden kann. Zwei Zentren bilden sich heraus: a) New York (East Coast Jazz), wo hauptsächlich schwarze Musiker tonangebend waren, und zwar Miles Davis, das Modern Jazz Quartett und der (weiße) Pianist und Arrangeur Gil Evans. b) Los Angeles (West Coast Jazz), wo weiße Musiker dominierten, die ihr Geld hauptsächlich in den Hollywood Studios verdienten. Wichtigster Musiker: Chet Baker Chet Baker Gil Evans mit Miles Davis Der Cool Jazz ist einerseits eine Blütezeit für langsame Balladen in unterkühltem Sound, andrerseits die erste Epoche, in der der Jazz auch einen intellektuellen Touch erhielt. 8) Hard Bop, Soul Jazz (1950er Jahre) Als Gegenbewegung zum Cool Jazz griffen schwarze Jazzmusiker in den 50er Jahren vermehrt auf den Klang der Gospels und des Blues zurück. Diese sehr erdige Musik hat starken Groove, v.a. bei Horace Silver. Innovativ werden vor allem der Bassist Charles Mingus und der Saxophonist John Coltrane, die beide auf ihre Art Wegbereiter des Free Jazz sind: Mingus durch das in seiner Band ganz starke Interagieren der Musiker (Interplay), Coltrane durch sein weitestgehend freies Improvisieren, das sich kaum mehr um die Changes und die Form des zugrundeliegenden Themas kümmert. (Beispiel: „My Favorite Things“, ein Song aus dem Musical „Sound of Music“, bei dem Coltrane über einen einzigen liegenden Akkord improvisiert) 9) Free Jazz (seit den 1960er Jahren) Erhält den Namen vom gleichnamigen Album des Ornette Coleman Double Quartet (Cover enthält ein Gemälde von Jackson Pollock = Hinweis auf intellektuellen Anspruch). Hier gilt die Maxime, dass jeder Musiker zu jeder Zeit das spielen kann, was ihm einfällt, solange es nicht zu konventionell klingt. In den frühen Free Jazz Einspielungen gibt es trotzdem eine durchgehende walking bass Linie, die aber nicht mehr aus Akkordtönen, sondern aus freien Tonfolgen besteht. Auch dies wird später zugunsten der völlig freien Interaktion aufgegeben. Man kann daher sagen, dass im Free Jazz die Kollektivimprovisation der New Orleans-Ära wieder aufersteht. Seit den 1970er Jahren entwickelte sich aus dem Free Jazz eine eigenständige europäische Spielart des frei improvisierten Jazz. Wichtigster Musiker: Ornette Coleman 10)Fusion (seit den 1970er Jahren) 1969 spielte Miles Davis das Album „Bitches Brew“ ein, das als Anfangspunkt der Fusion-Bewegung gilt. Hierbei werden Rockrhythmen („gerade“ Phrasierung) mit den Prinzipien der Jazzimprovisation gekreuzt. Damit erhält erstmals seit dem Swing wieder eine Jazzströmung weite Verbreitung. Interessanterweise waren die weiteren wichtigen Bandleader allesamt sidemen bei Miles Davis gewesen: Herbie Hancock, Chick Corea, Joe Zawinul. 11)Third Stream, Weltmusik, Cross over und aktuelle Tendenzen Der Third Stream war zunächst (1957) eine Erfindung des Kritikers und Komponisten Gunther Schuller, der eine Musik entwarf, die den Jazz mit der europäischen Kunstmusik verbinden sollte. Zunächst war dieser Versuch ein reines Kunstprodukt, aber mit der zunehmenden Ausbildung eines eigenständigen europäischen Jazz (spätestens seit den 1980er Jahren) gibt es tatsächlich eine Mischform aus Jazz und Avantgardemusik, deren wichtigster Vertreter der Wiener Franz Koglmann ist. Unter Weltmusik versteht man eine Musikrichtung, die verschiedene Musikkulturen mischt, z.B. österreichische Volxmusik mit serbischem Zigeunerjazz, Jazz mit afrikanischen Musiktraditionen etc. Am Jazzsektor ist der wichtigste Vertreter John McLaughlin. Franz Koglmann John Mclaughlin Aktuell gibt es am Jazzsektor eigentlich jede mögliche Richtung: Es gibt Amateurbands, die Dixieland spielen, Profis, die eine moderne Form des Hard Bop spielen, freie Improvisation, Free Jazz, Third Stream, jede Art von Cross Over, eine starke Strömung mit lateinamerikanischen Einflüssen. Der Hauptmarkt für Jazzmusiker sind Europa und Japan, nicht aber die USA. Das Jazzpublikum ist eher gebildet und mehrheitlich männlich. Dafür gibt es immer mehr weibliche Musikerinnen, die oft ihre Ausbildung an Muskhochschulen und Konservatorien erfahren. In Europa ist es manchen möglich, als Jazzmusiker genug Geld zum Leben zu verdienen. Der Rest spielt in Theatern und Studiobands oder unterrichtet.