Plädoyer für Religionskritik Neues von eine unserem neue nonkonformistischen Denker Andreas Müller steht an. Es geht um nicht weniger als um eine Revision der hergebrachten Religionskritik. Doch lesen Sie selbst auf Aufklärung 2.0: Eine Reihe von Intellektuellen, die in den Medien als „Die Neuen Atheisten“ bekannt geworden sind, dürften den überhaupt größten Einfluss auf mein Denken gehabt haben. In letzter Zeit habe ich scheinbar weniger radikale Positionen bezogen und teilweise sogar konservativen Denkern zugestimmt. Ein Leser widersprach insbesondere meiner Einschätzung, dass der konservative Intellektuelle Theodore Dalrymple eine überzeugendere Kritik an den Neuen Atheisten aufbieten konnte, als es die Replik von Sam Harris gewesen ist. Sollte ich mich am Ende gar von meinen Mentoren distanzieren? Oder geht hier etwas anderes vor sich? Richard Dawkins hat einmal gesagt: „Ich sorge mich leidenschaftlich um die Wahrheit, weil sie eine schöne Sache ist und weil sie uns in die Lage versetzt, ein besseres Leben zu leben.“ Ein kompromissloses Eintreten für die (logisch und empirisch zu erfassende) Wahrheit ist der Kern der „neoatheistischen“ Philosophie. Die Wahrheit ist für die Neuen Atheisten der intellektuelle Kardinalwert. Jedenfalls in der Theorie. In der Praxis halten sie sich nicht immer an ihre eigenen Richtlinien. Aber lassen wir das einmal beiseite. Ich habe die Wahrheit unlängst zu meiner Religion erklärt. Wenn ich zu der Schlussfolgerung gelangte, dass eine relevante Behauptung den Tatsachen entspricht, dann habe ich dies stets klar zur Sprache gebracht. Hat sich daran etwas geändert? Nein. Als Jesus sagte „Ich bin die Wahrheit“, da hat er mich noch nicht gekannt. (Auch Narziss hat in mir seinen Meister gefunden.) Allerdings halte ich inzwischen den religionskritischen Ansatz, für den die Neuen Atheisten bekannt geworden sind, für verfehlt. Für eine neue Religionskritik „Religion“ ist eine Erfindung von bestimmten Institutionen, die eine Reihe von menschlichen Ideen und Handlungen in einen Topf geworfen und patentiert haben. Rituale, die jede Gesellschaft kennt, wurden von diesen Institutionen unter der eigenen Marke zusammengefasst, beispielsweise Übergangsrituale zum Erwachsenendasein (Kommunion, Firmung), Ehe und Bestattung. Wunschdenken in Form der Hoffnung auf ein Leben nach dem Tod und nach ausgleichender Gerechtigkeit kennen Menschen überall. Den Kindern Namen wie „Himmel“ und „Hölle“ zu geben und sie in die eigene Meta-Narration einzufügen, ist eine Strategie religiöser Institutionen, Elemente der menschlichen Kultur für die eigene Gruppe zu vereinnahmen. Einst „gehörte“ beinahe die gesamte Kultur diesen religiösen Institutionen. Es ist sehr ergiebig, als Urheber der Kultur dazustehen. Macht, Geld und Ansehen errangen jene religiösen Funktionäre, die den Menschen vorgaukelten, es gäbe ohne sie keine Bedeutung im Leben. Heute noch assoziieren viele Christen die Gesamtheit unserer Kultur und unserer Werte mit – Entschuldigung – parasitären Institutionen. Als Gegenleistung für ihre lügnerische Anmaßung, ihren Diebstahl der Ideen und Leistungen anderer (meist Philosophen aus Antike, Renaissance und Aufklärung), bekommen die Kirchen Privilegien vom Staat, sitzen ihre Vertreter in Ethikräten, Talkshows, in den höchsten Ebenen der Politik, überall. Das war es schon immer, was meine Wut ausgerechnet auf die Kirchen fixiert hat: Ihr unverdient privilegierter Status. Wären die Kirchen nur Unternehmen wie alle anderen, so ähnlich wie in den USA, dann wären ihre billigen Zaubertricks viel leichter zu ertragen. Der Fehler der Neuen Atheisten besteht darin, dass sie das Spielchen der religiösen Institutionen einfach mitspielen. Sie gehen davon aus, dass es wirklich so etwas gäbe wie „Religion“ – obwohl es eigentlich nur Kultur gibt und eine menschliche Neigung zum Wunschdenken und Irrationalismus, die auch Atheisten teilen. Würde man von heute auf morgen die religiösen Institutionen abschaffen, wer glaubt denn ernsthaft, dass mit ihnen auch Übergangsrituale, Hochzeiten, Bestattungen, Werte, Kunst verschwinden würden? Der Dieb würde verschwinden, seine Beute würde offen daliegen und die Menschen könnten sehen, was man ihnen gestohlen hat, dass die Beute auch ohne den Dieb existiert, dass sie ihr Eigentum, ihre Kultur, Traditionen und Werte, wieder zu sich nehmen können. Ich bin insofern radikaler als die Neuen Atheisten. Ihre Entzauberung ist in der bezauberten Welt der religiösen Institutionen bereits vorgesehen. Ihre Entzauberung ist selbst Teil der Magie. Vielmehr muss es darum gehen, die Magie als solche zu entblößen. Es muss darum gehen, die Wahrheit aufzudecken, weil sie eine schöne Sache ist und weil sie uns in die Lage versetzt, ein besseres Leben zu leben. Atheisten gegen Gläubige auszuspielen ist etwas, was den Interessen von religiösen Institutionen dient. Es gibt keine Atheisten und es gibt keine Gläubigen. Es gibt nur Menschen, die bestimmten Kulturen angehören und die mit manchen Inhalten ihrer (und anderer) Kulturen mehr und mit anderen weniger übereinstimmen. Es gibt keinen „Homo religiosus“, sondern nur einen „Homo sapiens“. Eine wahre Religionskritik muss aufzeigen, dass sich die Religionen in derselben Lage befinden wie Gott: Sie existieren nicht. Es gibt sie nur als artifizielle Konstruktionen, die manchen Menschen nützen und den meisten schaden (was nicht heißt, dass ihre Inhalte schädlich sein müssen; die Konstruktionen sind es). Religionskritiker sollten die wahren Interessen hinter den „Religionen“ aufdecken und sie sollten bestimmte Praktiken und Ideen kritisieren, die mit diesen „Religionen“ verbunden sind. Wer aber „Religionskritik“ in dem Sinne betreibt, dass er die kulturellen Pakete namens „Religionen“ einfach so von ihren Urhebern abkauft, der tut eigennützigen Institutionen einen Gefallen, aber nicht der Aufklärung. Er macht dasselbe wie die Kunden dieser Institutionen – nur, dass der naive Religionskritiker ein Produkt kauft, das er nicht einmal haben möchte. Literatur Pascal Boyer: Religion existiert nicht Die Meinung des Gastautors muss nicht der Redaktionsmeinung entsprechen. Weitere Arbeiten desselben Autors siehe hier.