Widerspruch - Münchner Zeitschrift für Philosophie

Werbung
MÜNCHNER ZEITSCHRIFT FÜR PHILOSOPHIE
Anstoß Adorno
Stellungnahmen zu Theodor W. Adorno
Hauke Brunkhorst, Gerhard Schweppenhäuser,
Alfons Söllner, Christoph Türcke
Roger Behrens
Antisystem. Drei Stichpunkte zur kritischen Theorie der Gesellschaft
Michaela Homolka
Nach Adorno. Zum Aspekt des Räumlichen
Alexander von Pechmann
Zwischen kritischer Moderne und Kritik der Moderne
Wolfgang Langer
Im Inneren des Empire: Staat und Gesellschaft bei Hegel und Hardt/Negri
EUR
Eberhard Simons
Die „Neue Oikonomia“. Ein Gespräch
6.--
Widerspruch 41
Anstoß Adorno
WIDER SPRUCH
Heft 41
Widerspruch
Anstoß Adorno
Nur am
Widerspruch
des Seienden zu dem,
was zu sein es behauptet,
läßt Wesen sich erkennen.
Negative Dialektik, S. 169
Zum Thema
Anstoß Adorno
Umfrage
Vier Fragen zu Theodor W. Adorno
11
Hauke Brunkhorst
Ästhetik als Gesellschaftskritik
12
Gerhard Schweppenhäuser
Vom Zwang, den wir uns selbst antun
17
Alfons Söllner
„Mut zur Urteilskraft“
21
Christoph Türcke
„... gründlicher als von Adorno selbst befürchtet“
23
Roger Behrens
Antisystem. Drei Stichpunkte zur
kritischen Theorie der Gesellschaft
27
Michaela Homolka
Nach Adorno.
Zum Aspekt des Räumlichen
39
Artikel
9
Alexander von Pechmann
Zwischen kritischer Moderne und Kritik der Moderne.
Zur Internationalen Adorno-Konferenz 2003
in Frankfurt/Main
49
Bücher
zum Thema
Percy Turtur
Notizen zur Internationalen Adorno-Konferenz
57
Theodor W. Adorno: Dialektik und Ontologie
Vorlesungen über Negative Dialektik
Roger Behrens
61
Theodor W. Adorno / Thomas Mann
Briefwechsel 1943-1955
Ignaz Knips
63
Bücher
zum Thema
Dirk Auer, Lars Rensmann
und Julia Schulze Wessel (Hg.)
Arendt und Adorno
Marianne Rosenfelder
66
Roger Behrens: Kritische Theorie
Maria Markantonatou
68
Judith Butler: Kritik der ethischen Gewalt
Jadwiga Adamiak
70
Alex Demirovic (Hg):
Modelle kritischer Gesellschaftstheorie
Percy Turtur
71
Lars Rensmann
Kritische Theorie über den Antisemitismus
Georg Koch
73
Heinz Steinert:
Die Entdeckung der Kulturindustrie;
Adorno in Wien; Kulturindustrie
Olaf Sanders
76
Udo Tietz: Ontologie und Dialektik
Alexander von Pechmann
78
Wolfgang Langer
Im Inneren des Empire: Staat und Gesellschaft
bei Hegel und Hardt/Negri
81
Münchner
Philosophie
Eberhard Simons
Die „Neue Oikonomia“. Ein Gespräch
97
Neuerscheinungen
Armin Adam, Franz Kohut, Peter K. Merk,
Hans-Martin Schönherr-Mann (Hrsg.)
Perspektiven der Politischen Ökologie
Wolfgang Melchior
111
Norbert Bolz: Das konsumistische Manifest
Franco Zotta
113
Sonderthema
Neuerscheinungen
Anhang
Erhard Eppler:
Vom Gewaltmonopol zum Gewaltmarkt?
Bernd M. Malunat
115
Angelika Krebs: Arbeit und Liebe
Manuel Knoll
118
Albert Kümmel / Petra Löffler (Hg)
Medientheorie 1888-1933
Thomas Wimmer
120
Ludger Lütkehaus: Schwarze Ontologie
Konrad Paul Liessmann: Günther Anders
Lothar Butzke
123
Manfred Niehaus: In und nach Cages 4’ 33’’
Konrad Lotter
126
Werner Rügemer: arm und reich
Reinhard Jellen
127
Kersten Schüßler: Helmuth Plessner
Karsten Bammel
130
Ulrich Sieg: Jüdische Intellektuelle im 1. Weltkrieg
Marianne Rosenfelder
133
Bernhard Waldenfels: Spiegel, Spur und Blick
Konrad Lotter
135
Immanuel Wallerstein: Utopistik
Bernd M. Malunat
137
Jutta Weber: Umkämpfte Bedeutungen
Volker Schürmann
138
Kurt Wuchterl
Handbuch der analytischen Philosophie
Wolfgang Melchior
143
AutorInnen
Impressum
146
147
Anzeige
WIDERSPRUCH
Münchner Zeitschrift für Philosophie
Nr.38
Ökologische Ästhetik
Konrad Lotter:
Traditionelle und ökologische
Naturästhetik
Jost Hermand:
Ökologiebewußte Ästhetik
Norbert Walz:
Die Erlösung der Natur
Wolfgang Thorwart:
Der moderne Künstler
Manuel Knoll:
Zu Michel Foucaults Genealogie
des modernen Subjekts
Wolfgang Habermeyer:
Für einen Lehrer
... und viele Rezensionen philosophischer Neuerscheinungen
erhältlich in allen uni-nahen Buchhandlungen
Preis: 6.- EUR
Thema
Anstoß Adorno
Wie gehen wir heute mit Theodor W. Adorno um? Die Kongresse, Konferenzen und Tagungen, die zum Anlass seines 100. Geburtstags stattgefunden haben, ließen augenscheinlich die berühmten zwei Fraktionen im „Revisionismusstreit“ wieder auferstehen:
Die Fraktion derer, für die Adorno sich erledigt hat. Sie finden sich heute
in einem Diskurs wieder, der – sprachphilosophisch und dekonstruktivistisch aufgeklärt – nicht mehr von einem „Ganzen“ sprechen möchte,
sondern weiß, dass er sich je schon in ihm bewegt. Freilich schließe diese
Kluft nicht aus, sich des Theoriepotentials, das Adorno hinterlassen hat, zu
vergewissern, es auf seine „anschlussfähigen“ Elemente und nutzbringenden Einsichten abzuklopfen und auch fündig zu werden.
Für die anderen – und nicht nur seine treuesten Schüler – ist die Kritische
Theorie als „unerledigte Aufgabe“ offen geblieben. Sie artikulieren mit
Adorno das Unbehagen an jenem Diskurs und erkennen, verschieden gewichtet, in der Begrifflichkeit, die Adornos Werk zur Verfügung stellt, die
Ansätze zu einer tragfähigen Kritik und Analyse der Gegenwart als Ganzer.
– Beide „Adorno-Fraktionen“ tragen, so scheint es, in neuen Gewändern
das alte Problem zwischen Realos und Fundis über das aus, „was not tut“:
kritische Moderne contra Kritik der Moderne.
10
Zum Thema
Einen erhellenden Überblick und konkrete Einblicke in die geistige Situation im „Adorno-Jahr“ gibt die interdisziplinäre Umfrage des Widerspruch
zur „Aktualität Adornos“, zu der der Soziologe Hauke Brunkhorst, der politische Theoretiker Alfons Söllner sowie die beiden Philosophen Gerhard
Schweppenhäuser und Christoph Türcke beigetragen haben.
In seinem Artikel „Antisystem. Drei Stichpunkte zur kritischen Theorie
der Gesellschaft“ hebt Roger Behrens auf die Einheit im kritischen Denken
Adornos ab. Er will zeigen, was an theoretischer Kraft verloren ginge, würde das Ganze des Werks aufgelöst, und würden Philosophie und Ästhetik,
Ökonomie und Soziologie als getrennte Teile behandelt.
Michaela Homolka konstatiert einen ästhetischen Wandel vom Zeit- und
Raumdenken. Sie geht in ihrem Beitrag „Nach Adorno“ dem bislang weitgehend unbeachtet gebliebenen Räumlichen im Denken Adornos nach, das
für eine zeitgemäße Rezeption erst noch fruchtbar zu machen wäre.
Über die „Internationale Theodor W. Adorno-Konferenz“, die vom Institut für Sozialforschung vom 25. bis 27.9.2003 in Frankfurt ausgerichtet
wurde, berichten aus unterschiedlicher Perspektive und Fragestellung Alexander von Pechmann und Percy Turtur. Ihnen schließt sich der Rezensionsteil
von Büchern zum Thema an.
Das Sonderthema dieses Heftes knüpft an die Thematik „Globalisierung“
der vorangegangenen Nummern an. In seinem Artikel „Im Inneren des
Empire“ stellt Wolfgang Langer die Evidenz der These vom „Verlust des
Politischen“ in Frage. Er will anhand der Rechts- und Staatsphilosophie
Hegels zeigen, dass deren Kategorien weiterhin ihre Relevanz besitzen.
In unserer Reihe „Münchner Philosophie“ stellt Eberhard Simons im Gespräch seinen intellektuellen Werdegang sowie die Kernelemente seines
philosophischen Konzepts einer „Neuen Ökonomia“ vor und nennt verschiedene theoretische wie praktische Perspektiven, die sich mit diesem
Gesamtkonzept eröffnen.
Rezensionen aktueller Neuerscheinungen beschließen das Heft.
Die Redaktion
Umfrage
zu Theodor W. Adorno
1. Zu seinem 100. Geburtstag ist Adorno wiederentdeckt worden. Es fanden weltweit Adorno-Kongresse statt, Buch- und Zeitschriftenveröffentlichungen zu Adorno hatten Hochkonjunktur. Die Stadt Frankfurt erinnerte
sich ihres einst „verlorenen Sohnes“. Dient dieses Interesse an Adorno
Ihrer Meinung nach in erster Linie der Erinnerung an einen der großen Intellektuellen des 20. Jahrhunderts, oder enthält sein Werk ein begriffliches
Instrumentarium und theoretische Potentiale, die auch unter den veränderten Diskurs-Bedingungen dieses Jahrhunderts fruchtbar gemacht werden
können oder müssen? Und wenn ja, worin bestehen sie?
2. In ihrem geschichtsphilosophischen Hauptwerk konstatieren Adorno
und Horkheimer eine Dialektik der Aufklärung, wonach der Fortschritt der
Vernunft in Mythos, die Emanzipation des Menschen von der Natur in
totalitäre Herrschaft über die Natur umschlage. Sehen Sie in der Beschreibung solcher Dialektik den zeitbedingten Versuch, die faschistische Barbarei in ihren Wurzeln, Ursachen und Gründen zu begreifen, oder ist sie auch
heute noch ein Modell, das gegenwärtige Prozesse adäquat beschreiben
kann?
3. Es scheint, als lasse sich der Philosoph Adorno nur als Denker der radikalen Negation begreifen. Diese geht so weit, dass in der von ihm diagnostizierten „Krise der Praxis“ jede politische Praxis nur regressiv sein
kann. Lassen sich demgegenüber in Adornos Werk auch Ansätze zu einer
positiven Praxis finden?
4. Mit der Globalisierung haben neoliberale Modelle an Einfluss gewonnen,
die weltweit zum Abbau sozialstaatlicher Garantien und demokratischsolidarischer Strukturen geführt haben. Kann der Sozialphilosoph Adorno
in dem Streit um den Charakter der Globalisierung als Verfechter und
‚Ahnherr’ der Zivilgesellschaft in Anspruch genommen werden, oder verfällt
solche Inanspruchnahme seinem Verdikt, dass es im Falschen kein wahres
Leben gebe?
12
Umfrage
Hauke Brunkhorst
Ästhetik als Gesellschaftskritik
ad 1: Ja, ich denke, es gibt schon einiges an innovativer Begrifflichkeit und
Theoriepotential in Adornos Werk, was über seine Lebzeiten und die nachgeschobenen Feierlichkeiten hinausweist und standhält. Zunächst, und das
werden Sie überall hören, ist es die Theorie des Ästhetischen, die noch nie
zuvor in so dichter Nähe zur fortgeschrittensten Kunstproduktion entwickelt worden ist und sich ganz auf der Höhe der ästhetischen Reflexion seit
Kants „Kritik der Urteilskraft“ und den Geniestreichen der Frühromantiker
befindet. Adornos ästhetisches Werk kann man, wie Rüdiger Bubner einmal
treffend bemerkte, als die philosophische Ästhetik des 20. Jahrhunderts
bezeichnen. Sie erschöpft sich aber weder in Philosophie noch in reiner
Ästhetik, sondern enthält überdies, da sie die Kunst nicht nur immanent als
autonome, sondern mit Durkheim als fait sociale versteht, einen wesentlichen
Beitrag zur Theorie der modernen Gesellschaft. Das sieht man schon an
der – inzwischen (etwa von den Wellmer-Schülern Menke und Seel) auch
wahrgenommenen – verblüffenden Nähe von Adornos „Ästhetischer Theorie“ zur „Kunst der Gesellschaft“ Luhmanns, die dieser selbst noch geahnt, dann aber, in falschem Abgrenzungsbedürfnis, verdrängt hat. Schon
als Ästhetik ist Adornos Werk Gesellschaftstheorie und als solche von der
Gegenwartssoziologie nach wie vor viel zu wenig beachtet. Der Versuch
mancher Feuilletonredakteure, Adorno als gesellschaftsfernen, soziologisch
irrelevanten und zutiefst konservativen Ästhetiker des Bürgertums darzustellen und für die Nostalgieecke der neoliberalen Betriebswirtschaft zu
vereinnahmen, ist ebenso reaktionär wie absurd. Auch wenn man Adornos
negativistischen Utopismus nicht mehr teilt, erschließt sich die Bedeutung
seiner Ästhetik überhaupt erst als Gesellschaftstheorie. Das gerade zeigt der
Vergleich mit Luhmann, auf den ich bei Ihrer letzten Frage zurückkommen
möchte.
Wie sehr Adorno über den engeren Horizont der Frankfurter Schule hinausgreift, erkennt man auch an der gleichzeitigen Nähe und Ferne zum
postmodernen Dekonstruktionismus, besonders zu Derrida. Wie dieser
zu Theodor W. Adorno
13
treibt Adorno mit der Begrifflichkeit und den Metaphern der klassischen
Philosophie, die für ihn immer wieder in Hegel kulminiert, ein hintersinniges Spiel. Die negative Dialektik, die auf eindrucksvolle Weise das ganze
Spektrum philosophischen Denkens zwischen Theorie, Geschichte und
Praxis über den Gegenbegriff des Nichtidentischen aufrollt, ist zugleich (in
ihrer Gesellschaftstheorie) kritisch, (in ihrer Geschichtsphilosophie) negativistisch und (in ihrer Methode) dekonstruktiv. Bei dieser Trias ist die Geschichtsphilosophie, worauf Herbert Schnädelbach jüngst noch einmal
hingewiesen hat, sicher das schwächste Glied. Aber da Adorno methodisch
schon ganz so wie Derrida verfährt, gelingt es ihm, die Metaphysik nicht
nur ideologiekritisch zu entlarven, sondern von innen her zu demolieren.
Anders als Derrida und die Postmodernisten hält er jedoch am „Projekt der
Moderne“ (Habermas) fest; und dabei kann er sich auf den ungeheuren
Reichtum und das argumentative Potential seiner ästhetischen Theorie
stützen. Adornos Theorie des Nichtidentischen müsste heute als Versuch
neu gelesen werden, die disjecta membra von Dekonstruktion und kommunikativer Vernunft wieder zusammenzufügen.1
ad 2: Nur bedingt ist die Dialektik der Aufklärung ein heute adäquates Modell. Natürlich ist sie nicht nur, wie Richard Rorty sofort gesehen hat, in
ihrem ersten Kapitel eine grandiose Beschreibung des selbstkritischen Geistes der Aufklärung, die sich zu sich selbst rückhaltlos revolutionär verhält
und „alle festen, eingerosteten Verhältnisse mit ihrem Gefolge von altehrwürdigen Vorstellungen und Anschauungen ... auflöst, alle neugebildeten
veralten (läßt), ehe sie verknöchern können.“2 Es wird oft übersehen, dass
Adorno an der marxistischen These vom emanzipatorischen Potential der
Produktivkräfte und der Technik immer festgehalten hat: „Wider den Willen ihrer Lenker hat die Technik die Menschen aus Kindern zu Personen
gemacht.“3 Aber selbst wenn Adorno immer wieder betont, dass es ihm um
die Fortsetzung, gar Radikalisierung des Selbstüberbietungsprojekts der
Aufklärung geht, so kann man doch nicht übersehen, dass die ebenso radikale wie einseitige Kritik an der instrumentellen Vernunft Züge einer „totalisierenden Vernunftkritik“ (K.O. Apel) annimmt, die sich ihrer eigenen
1 Vgl. dazu vor allem: A. Wellmer, Endspiele: Die unversöhnliche Moderne (Frankfurt/Main 1993) und Chr. Menke, Die Souveränität der Kunst (Frankfurt/Main 2000).
2 K. Marx/F. Engels, Kommunistisches Manifest, Abschnitt I.
3 M. Horkheimer/Th.W. Adorno, Dialektik der Aufklärung, Frankfurt 1997, 178.
14
Umfrage
Prämissen nicht mehr vergewissern kann. Deshalb kommt sie auch kaum
über die schon von Max Weber höchst aporetisch, aber doch viel differenzierter analysierte Dialektik der Rationalisierung hinaus.
Trotzdem war ich – wenn mir eine persönliche Bemerkung erlaubt ist erstaunt, als ich dieses Jahr aus Anlass eines Aufsatzes das Kapitel über die
Kulturindustrie, das mir als das schwächste in Erinnerung war, noch einmal
lesen musste, um festzustellen, wie neu der Text plötzlich wieder war, wie
wenig abgestanden selbst in den immer wieder überraschenden Details, wie
komplex und vielfältig in seiner begrifflichen und argumentativen Gestalt.
Adorno gelingt es, eine ganze Theorie des Faschismus in einen Satz zu
packen: Im Faschismus „wird das Radio zum universalen Maul des Führers.“4 So einseitig und unhaltbar viele Urteile (wie die über den Jazz) heute
erscheinen mögen, dadurch, dass man Adornos Kulturkritik noch wie neu
lesen kann, zeigt sich seine Differenz zur Dutzendware eines Jahrhunderts
konservativen Verfallslamentos. Aber warum? Weil auch die Theorie der
Kulturindustrie nicht nur zwei klare und immer noch gültige Kriterien der
Kritik entwickelt, das Kriterium der Manipulation und das der Entdifferenzierung, die sie nur manchmal falsch und oft viel zu pauschal anwendet,
sondern vor allem, weil Adorno die Kulturindustrie als Kunst der Gesellschaft so ernst nimmt, dass er an einer Stelle fast verblüfft und mit kaum
verhohlener Bewunderung feststellen muss, dass manche Revuefilme das
technisch ausdifferenzierte Niveau von Werken der Avantgarde erreicht
hätten. Diesen Blick für die Sache lässt Adorno sich auch von der eigenen
Geschichtsphilosophie nie verstellen, und das macht seine Größe aus.
ad 3: Ja, es lassen sich Ansätze zu einer positiven Praxis finden; aber das ist
immer ein mühsames Geschäft interpretativer Nachhilfe. Positive Praxis –
die er so natürlich nie genannt hätte – gibt es bei Adorno eigentlich nur in
der Kunst. Das ist ersichtlich zuwenig, und es unterbietet das Niveau der
geschichtlichen Möglichkeiten, die zumindest demokratische Verfassungsregime dem marxistischen Projekt weltverändernder Praxis heute bieten. In der
„Dialektik der Aufklärung“ werden alle Unterschiede zwischen der westlichen Demokratie und dem Faschismus verwischt. Deshalb fehlt bei Adorno leider jeder Ansatz zu dem, was der junge Habermas in den späten 60er
Jahren radikalen Reformismus genannt hat. Das schwächt die kritische, unter4
ebd., 182.
zu Theodor W. Adorno
15
scheidende Kraft der Theorie. Denn es macht, um – da hier ja von Praxis
die Rede ist – gleich ein ganz aktuelles Beispiel zu nehmen, einen Unterschied fast schon ums Adorno’sche Ganze, ob – wie es jetzt bei der Suche
nach einem Steuerkompromiss zwischen Bund und Ländern im geheimen
Vermittlungsausschuss geschieht – Gesetze, die nicht der Zustimmung der
Länderkammer bedürfen und die das Parlament bereits verabschiedet hat,
von der großen Koalition aus Regierung und Opposition der Verhandlungsmasse im Vermittlungsausschuss zum Verhökern zugeschlagen werden, oder ob das nicht geschieht und die Weisung, die das Volk dem Parlament gegeben hat, ausgeführt und beschlossene Parlamentsgesetze umgesetzt und nicht nachverhandelt werden.5 Wenn die Degradierung des Parlaments zur Schülermitverwaltung die Regel wird, und wir sind auf dem
besten Weg dazu, dann ist mit der Demokratie Schluss, und das Ganze, das
dann übrig bliebe, wäre wirklich das Unwahre. Das eigentlich Beklemmende und im Adorno’schen Sinn fast schon vollendet Negative dieses Vorgangs ist, dass ein so massiver Verfassungsbruch, wie ihn Schröder und die
anderen Parteichefs gerade begangen haben, völlig unbemerkt an der Sabine-Christiansen-Welt unserer vermachteten Öffentlichkeit (und jenseits
jeder Organklage, die sonst nicht schnell genug aus der Tasche gezogen
werden kann) vorbeirauscht. Aufklärung als Massenbetrug. Aber nicht im
Allgemeinen, sondern an den konkreten, institutionell präzise bestimmbaren Fällen muss das demonstriert werden. Hier ließen sich die Adorno’schen Kategorien der Kulturindustrie scharf machen, ohne die Unterscheidung von Verfassungsbruch und Verfassungstreue, von Demokratie
und Totalitarismus im Grau in Grau eines immer schon unwahren Ganzen
zerfließen zu lassen. Konkret, als gegen Hegel gerichtete, ideologiekritische
Polemik oder als sachbezogener, wohlbestimmter Grenzfall, aber nicht als
totalisierende Behauptung über den Zustand der modernen Welt oder des
Spätkapitalismus macht der berühmte Aphorismus der „Minima Moralia“
Sinn.
ad 4: Nein, Adorno war kein Theoretiker der Zivilgesellschaft. Für deren
wichtige, demokratische Funktion hatte er kein wirkliches Gespür. Ihm
fehlte, anders als Hannah Arendt, der eigentliche Sinn fürs Politische. Die
5
siehe: Christoph Möllers, „Der lange Schatten der Fürstenkammer“, Frankfurter
Rundschau, 19.11.03.
16
Umfrage
öffentlichen Angelegenheiten waren ihm so fremd wie den Christen des
Kirchenvaters Tertullian im alten Rom. Aber anders als Arendt fehlte ihm
nicht der Sinn fürs Gesellschaftliche, und das ist eine der großen Stärken
seines Denkens, die bei der Ausdünnung der kritischen Theorie zu einer
Theorie der civil society verlorengegangen ist. Adorno hat noch die Systemfrage gestellt und die Gesellschaft als ein sich selbst reproduzierendes, soziales System verstanden. Das war bei ihm das Erbe des orthodoxen Marxismus. Darin war aber die richtige Einsicht enthalten, dass die soziale Realität
immer auch etwas Objektives, den praktischen Intentionen sozialer Akteure
Unverfügbares ist, das sich dann zu übermächtigen Herrschaftsverhältnissen verdinglicht. Diese Einsicht verbindet Adorno mit der Systemtheorie,
deren affirmative Züge er aber dadurch überwindet, dass er die Frage nach
der „Herrschaft des Systems“ nicht ausblendet. Freilich hatte Adorno den
Systembegriff noch monistisch und nicht, wie Parsons und Luhmann, pluralistisch verstanden. Außer in der Kunst kennt Adorno eigentlich keine
funktionale Differenzierung von Wertsphären oder Subsystemen. Dadurch hat
er sich selbst die Möglichkeit verstellt, eine immanente Kritik der Gesellschaft, die er immer wieder postuliert, auch durchzuführen. Die – wie immer einseitig negative – Prominenz des Systembegriffs in Adornos Denken
war jedoch richtig, und ich denke, sie wird heute auch von denen etwas
voreilig zu den Akten gelegt, die Adornos kritische Motive nicht nur in der
Ästhetik, sondern gerade auch in der Gesellschaftstheorie wiederaufnehmen
wollen.
Habermas hatte das Problem spätestens seit den 70er Jahren übrigens klar
erkannt und gesehen, dass man den Marxismus nicht nur normativ (mit
Kant und praktischen Diskursen) stark machen, sondern auch funktionalistisch als (explanative) Systemtheorie des Spätkapitalismus erneuern muss.
Das geht aber nicht, wenn man, wie Adorno, die Fortschritte der Soziologie
sozialer Systeme seit Parsons einfach ignoriert. Den Marxismus als gleichzeitig normative und erklärende Theorie der Gesellschaft an die aktuelle
Theoriebildung in der praktischen Philosophie und in der Soziologie anzuschließen, das war dann die Grundidee hinter der Vernetzung von System
und Lebenswelt in der „Theorie des kommunikativen Handelns“. Habermas selbst hat dieses Programm mit großer Konsequenz in seiner Rechtstheorie weiterverfolgt. Aber bei den Schülern ist der Zusammenhang, den
Adorno in der Verbindung von kritischer Subjektivität und Systemzwang
zu Theodor W. Adorno
17
und Habermas in der Verschränkung von System und Lebenswelt im Auge
hatten, seit den 80er Jahren weitgehend verlorengegangen und in zwei Lager zerfallen: In eine handlungstheoretische Praxisphilosophie einerseits, die
– und das ist ihre Stärke – immerhin noch Herrschaftsfragen thematisiert
und vom Kapitalismus spricht, aber in Gefahr ist, institutionelle und systemische Probleme auf Entfremdungs- und Anerkennungsfragen zu reduzieren; und in einen diskursethischen Spätkantianismus, der immer wieder
neue, immer gerechtere Gesellschaftsverträge und Diskurswelten konstruiert und jeden Kontakt zu Marx, Luhmann und der systemischen Realität der Gesellschaft verloren hat. Systemkritik im Sinne Adornos aber ist
nur möglich, wenn man einen Begriff sozialer Systeme hat.
Gerhard
Schweppenhäuser
Vom Zwang, den wir uns
selbst antun
ad 1: Die Kanonisierung Adornos, die im vergangenen Jahr von den Überbleibseln bürgerlicher Repräsentations- und Erinnerungskultur betrieben
wurde, halte ich zunächst einmal für begrüßenswert. Offizielle Würdigungen, Tag für Tag Zeitungsartikel über Adorno – das kann zwar manchmal
auf die Nerven gehen, weil Vieles schief zu Sach- und Wahrheitsgehalten
steht, aber es war nützlich. Denn so entsteht doch die Möglichkeit, Distinktionsgewinne zu erzielen, wenn man vor interessierten Auditorien die
eigene Adorno-Interpretation von dem Rummel abgrenzen kann! In der
18
Umfrage
Struktur erinnert mich das ein bisschen an die „ostzonale“ Kanonisierung
von Marx: Als kritischer Theoretiker konnte ich meine Marx-Lektüre immer gut von ihren autoritären Lesarten abheben. Nachdem der Kasernensozialismus zusammengebrochen war, interessierte sich erst einmal niemand mehr für Marx, hinter dem offenbar keine gesellschaftliche Macht
mehr stand... Also dann doch lieber die Flut der Zeitungsartikel. Und da
zeigt sich dann auch, dass es mit der Kanonisierung doch noch hapert. Im
Spiegel vom 18. August 2003 z. B. wurde Adorno als ein geltungssüchtiger,
opportunistischer Schwindler dargestellt, der klug daher redete, in Saus und
Braus lebte (Omelett und Weinschorle zum Frühstück!), der sich an den
Früchten anderer Leute Arbeit bereicherte, sexuell ausschweifend war und
junge Frankfurterinnen auf offener Straße mit Blicken belästigte. Hinter
solchen krankhaften Projektionen dürfte antisemitisches Ressentiment
stecken. Kokainkonsum konnte in diesem Fall offenbar nicht nachgewiesen
werden – aber: „Bordellbesuche sind belegt“, schreibt der Spiegel im Polizeijargon.
ad 2: Die dialektische Theorie der inneren und äußeren Naturbeherrschung
in der Dialektik der Aufklärung halte ich für ein überzeugendes Modell zur
Beschreibung des gesellschaftlichen Naturverhältnisses und der Konstitution von Subjektivität in der Moderne. Nicht zuletzt die Selbstdestruktion
des Subjektbegriffs durch die postmoderne Philosophie ist ja ein Beleg für
die innere Widersprüchlichkeit des modernen Subjekt-Konzepts, die Adorno und Horkheimer mit Nietzsche und Freud diagnostiziert haben. Ihre
Darstellung der Aporien des Prinzips der Selbsterhaltung, der das Selbst
verloren geht, kann man sozialphilosophisch mit gegenwärtigen Erfahrungen verbinden. Und die Globalisierungsdebatte zeigt, wie eine selbstgemachte Gestalt weltmarktförmiger Vergesellschaftung den Schein eines
Naturverhältnisses erhält – dabei kann man in jeder Zeitung nachlesen, dass
nicht ökonomische Naturgesetze zum globalen Kapitalismus führen, sondern eine Reihe von politischen Entscheidungen. Natürlich sind die wiederum auch Ausdruck von Zwang, aber von einem Zwang, den wir uns
selbst antun.
Für meine eigene Arbeit waren die Überlegungen zur Moralphilosophie
fruchtbar, wie sie Horkheimer in der Dialektik der Aufklärung angestellt hat
und Adorno in seinen Schriften und Vorlesungen nach dem Ende des
Zweiten Weltkriegs. Für Kant war moralisches Handeln freie Selbstbe-
zu Theodor W. Adorno
19
stimmung, und Nietzsche hat gezeigt, dass jede Moral im Wesentlichen ein
langer Zwang ist. Beide hatten Recht, aber in unterschiedlicher Hinsicht!
Gerade weil sich die Aussagen widersprechen, beschreiben sie jeweils die
gegensätzlichen Bestimmungen, die in der Sache selbst liegen. Die normativ-kritische Kraft des Diskurses der Moralphilosophie kann sich nur dann
entfalten, wenn seine Widersprüche nicht mehr ausgeblendet werden: der
Antagonismus zwischen individuellem Freiheits- und Glücksanspruch und
gesellschaftlichem Zwang, zwischen Autonomie und Fremdbestimmung,
zwischen befreiender Kraft der Moral und ihrer sozialen Stabilisierungsfunktion. Ich versuche vor diesem Hintergrund, eine kritische Theorie des
moralphilosophischen Universalismus zu entwickeln, die uns helfen könnte,
mit seiner Antinomie besser umzugehen. Wenn z.B. in universalistisch
begründeten Interventionen gegen Menschenrechtsverletzungen auch partikulare Interessen stecken, dürfen wir das nicht ausblenden; aber die Reflexion auf ihre Genesis entbindet uns nicht von den Geltungsansprüchen, die
sie mit guten Gründen erheben können. Allenfalls eine Moralbegründung
kann da weiterhelfen, die normativ und universalistisch ist, aber auch den
Einsprüchen der Kritik am Universalismus gerecht wird, die also Moral als
wechselseitige Anerkennung fasst, die wir uns als je besondere Subjekte
schulden, und sie von Moral als Zwangs- und Herrschaftsideologie unterscheidet.
ad 3: In seinen posthum veröffentlichten Vorlesungen zur Moralphilosophie hat Adorno über Möglichkeiten nachgedacht, ein „stellvertretendes
Leben“ zu führen, das heißt, so zu leben, wie wir es tun sollten und könnten, wenn wir schon wären, was wir doch noch nicht sind: mündige, selbstbestimmte Subjekte. In Verbindung mit der Reflexion moralischer Antinomien und gesellschaftlicher Selbst-Blockaden sollte dies die unverzichtbare
Voraussetzung für das Nachdenken über politisches Handeln sein. Adornos
Rede vom „Verblendungszusammenhang“ und von der Totalität des falschen Lebens muss man nicht als lähmend verstehen. Ich finde, solche
Makro-Überlegungen machen uns als Handelnde, die ja nie ganz an die
Ziele unseres Handelns heranreichen, nur frustrationsresistenter. Die Systemtheorie hat das handelnde Subjekt aus ihrem deskriptiven Instrumentarium verabschiedet. Adorno sprach zwar schon in den 40er Jahren davon,
dass sich „das Subjekt“ im Prozess der Zersetzung, des Zerfalls befände,
aber er versuchte, dagegen anzugehen. Heute sollten wir die Optik der
20
Umfrage
Systemtheorie sehr ernst nehmen, weil sie selbstregulierende soziale und
ökonomische Abläufe klarer erkennen lässt als heroische oder tragische
Theorien sozialen Handelns. Aber ihre Hermetik ist falsch, weil sie auf der
einen Seite die Akteure ausblendet, die die autopoietischen Abläufe anschieben und mitbestimmen, und auf der anderen Seite Differenzbestimmungen nur noch als rein immanente erfassen kann. Das ist real und Schein
zugleich. Luhmann hat Gesellschaft als System analog zu biologischen Systemen konstruiert; Adorno hat ein negatives handlungstheoretisches Erklärungsmodell zugrunde gelegt. Subjektivität, die gesellschaftlich autonom
werden kann, ist demzufolge vorerst verschwunden, und statt dessen dominiert die tauschwertförmige Vergesellschaftung der Individuen als sozialer
Gesamt-Akteur. Diese Analyse trifft es vielleicht besser.
ad 4: Als „Verfechter und ‚Ahnherr‘ der Zivilgesellschaft“ würde ich Adorno aus methodischen Gründen nicht bezeichnen, denn die Zivilgesellschaft
ist ja einerseits ein soziales Phänomen und andererseits eine begriffliche
Konstruktion, die Antonio Gramsci zur Beschreibung dieses Phänomens
eingeführt hat. Aber eine Verbindung lässt sich hier durchaus herstellen.
Alex Demirovic hat in seiner Studie Der nonkonformistische Intellektuelle gezeigt, dass sich die wissenschaftspolitische Praxis des Frankfurter Instituts
sehr gut mithilfe von Gramscis Begriff der „Zivilgesellschaft“ beschreiben
lässt. Wenn man, wie Gramsci es tat, unter Zivilgesellschaft all jene öffentlichen Diskursräume der Publizistik und der wissenschaftlichen und kulturellen Institutionen versteht, in denen eine soziale Gruppe ihre gesellschaftliche Vorherrschaft etabliert, dann kann man durchaus sagen, dass sich Adorno als Akteur in diesem Bereich verstanden hat, der in den beständigen
Kampf um kulturelle und soziale Hegemonie die Reflexionsebene der Kritischen Theorie einziehen wollte. Vorherrschaft also nicht um ihrer selbst
und ihrer Privilegien willen, sondern um der nicht eingehaltenen sozialen
Versprechen willen, sozusagen auf Grund der uneingelösten Schecks, die
die bürgerliche Kultur immerfort ausgestellt hat. Kritische, autonome Intellektuelle, die den Diskurs der bürgerlichen Gesellschaft mitbestimmen, ihn
zu einem Begriff der eigenen Widersprüche führen, und damit zumindest
die Chance zur Selbstaufklärung und verändernden Praxis bewahren – das
war das leitende Konzept intellektueller Praxis, dem sich Adorno verpflichtet fühlte.
zu Theodor W. Adorno
Alfons Söllner
21
„Mut zur Urteilskraft“
Gerne beantworte ich die Fragen des Widerspruch, muss aber darauf hinweisen, dass in einer so knappen Stellungnahme natürlich eine Menge von
Fußangeln (auch für den Autor) versteckt ist:
ad 1: Adorno musste kaum wiederentdeckt werden, denn es gibt seit seinem
Tod eine breite und kontinuierliche Rezeption. Für mich besteht die offensichtlichste Herausforderung, die heute in seinem Werk steckt, in der geradezu unglaublichen Souveränität, mit der er sich über die konventionellen
Grenzen der Fächer und kulturellen Diskurse hinweggesetzt hat und in
seiner Person vorlebte, was heute etwas hilflos „Interdisziplinarität“ heißt.
Sie macht Mut zur Urteilskraft über den akademischen Gartenzaun hinaus,
ohne sich in einer trügerischen „Ganzheitlichkeit“ zu verlieren. Zum Zweck
der differenzierenden Multiplikation erfand Adorno so etwas wie eine eigene Schreib- und Sprechweise: die „kleine Form“ (Notizen, Fragmente, Essays), die noch seinen „großen“ Werken wie der Negativen Dialektik und der
Ästhetische Theorie zugrunde liegt.
ad 2: Die Dialektik der Aufklärung ist für mich nicht so sehr ein historischer
Erklärungsversuch des Faschismus, sondern das wuchtigste philosophische
Dokument, das von der Ahnung des (zeitgleichen) Holocaust diktiert ist
und das Entsetzen darüber auf die Universalgeschichte projiziert. Daher die
atemberaubende Dynamik der Argumentation, daher auch die verzweifelte
Abstraktionslage. Daraus ein „Modell“ abzuleiten, das auf gegenwärtige
Entwicklungen – und seien es die schlimmsten – „anzuwenden“ wäre, käme einer Verharmlosung sowohl der damaligen Erfahrungen als auch der
gegenwärtigen Bedrohungen gleich; denn die letzteren sind ja gerade deswegen so „unheimlich“, weil sie geschichtsphilosophisch nicht deduzierbar
22
Umfrage
sind. Die grundbegrifflichen Gleichungen der „Dialektik der Aufklärung“
sind keine Erklärungen, sondern Warnungen – vor der Geschichtsphilosophie
selber, aber auch vor einem globalen Kapitalismus!
ad 3: Das Erfolgsgeheimnis Adornos bestand darin, dass noch seine radikalste Negation, die immer eine theoretische war, einen positiven Impuls
sowohl voraussetzte als auch freisetzen wollte. So diente die „Philosophie
der neuen Musik“ deren Wiedereinführung in Deutschland, die „Aufarbeitung der Vergangenheit“ dem Andenken an die Ermordeten und die Kritik
der idealistischen Tradition der Freilegung des „Nichtidentischen“. Eine
andere Frage ist, wie gut sich seine esoterischen Präferenzen in der Kunst
bzw. die hegelianisierende Sprache in der Philosophie dafür eigneten. Dennoch ist weder die Aufbruchstimmung der Studentenbewegung ohne die
muntere Allpräsenz des „negativen Dialektikers“ im Feuilleton der 50er
Jahre denkbar, noch lässt sich der Anteil der Universitäten an der Veränderung der politischen Kultur in der späteren Bundesrepublik ohne „fröhliche
Wissenschaft“ vorstellen.
ad 4: Die „Zivilgesellschaft“ ist heute eine ebenso wohlfeile Universalwaffe
der Kritik wie die „Globalisierung“ einen nur scheinbar probaten Erklärungsschlüssel für Tendenzen abgibt, die einigermaßen widersprüchlich und
vieldeutig sind. Man dürfte Adornos methodologischem Credo, der Hingabe an das „Material“, am ehesten folgen, wenn man zugibt, dass er sich
selber oft, und zwar nicht zuletzt in soziologischen Texten, eine ziemliche
„Materialferne“ geleistet hat. Die wirkliche „Aktualität“ Adornos heute liegt
für mich nicht auf dem Gebiet der Ökonomie, Soziologie und Politik, auch
nicht auf deren gesellschaftstheoretischer Synthese, sondern in der Ästhetik,
zumal der Musikphilosophie und der Kulturtheorie ganz allgemein. Hier
war er zu den feinsten Unterscheidungen in der Lage, die in Kunst und
Kultur oft einen Unterschied ums Ganze und nicht zuletzt ihre politische
Wirkung ausmachen.
zu Theodor W. Adorno
Christoph Türcke
23
„... gründlicher als von Adorno
selbst befürchtet“
ad 1: Der Hauptzug der Feierlichkeiten zu Adornos 100. Geburtstag geht
gewiss dahin, ein Genie zu musealisieren. Aber es gibt auch Gegentendenzen, sowohl bei den Gedenkfeiern selbst als auch in den jubiläumsgerecht
erschienenen Biografien. Überall, wo kritische Theorie als unerledigte Aufgabe begriffen und gefragt wird, wie sie weitergehen könnte, wird mit der
Aktualität Adornos Ernst gemacht. Und sie liegt ja auf der Hand. Man
nehme zum Beispiel die Theorie der Kulturindustrie. Wie töricht ist die
Behauptung, sie hätte sich erledigt. Die Kulturindustrie hat auf der ganzen
Linie gesiegt, in mancher Hinsicht gründlicher als von Horkheimer und
Adorno selbst befürchtet. So gibt es nicht mehr – vielleicht gab es sie nie
wirklich – jene kritischen Inseln, von denen Horkheimer und Adorno eine
innezuhaben hofften, und wo, in strikter Verweigerung aller kulturindustrieller Klischees, sich wenigstens die Fähigkeit zur kompromisslosen geistigen Durchdringung des kulturindustriellen Vormarschs erhalten sollte,
wenn er schon nicht praktisch aufzuhalten war. Im Bündnis fühlten sie sich
dabei weniger mit kommunistischen Parteien oder Gewerkschaften als mit
jener avancierten Kunst, die radikal mit den herkömmlichen tonalen, figürlichen oder dramaturgischen Schemata gebrochen hatte, unversöhnlich mit
der Kulturindustrie schien und ebenfalls wie eine kritische Inselgruppe
anmutete. Solche Inseln sind längst weggespült, auch die kritischsten geistigen und ästhetischen Intentionen sind durchdrungen von kulturindustriellen Standards. In dem Maße, wie sie gesiegt haben, werden sie zum allgemeinen Ausdrucks- und Verständigungsmedium der ganzen Gesellschaft.
Sie machen eine ähnliche Karriere wie einst menschliche Sprache und
24
Umfrage
Schrift. Schon Begriffe sind ja gestanzte Bedeutung, mentale Schablonen,
und wenn sie mehr leisten als Schablonisierung der Wirklichkeit, so danken
sie das ihrer produktiven Verknüpfung und Kontextualisierung. Nur durch
Schablonen hindurch kommt Geist übers Schablonenhafte hinaus. Das hat
Adorno in der Negativen Dialektik in einer großen Selbstkritik des Begriffs
entwickelt. Er hat es bloß nicht auf die Schablonen der Kulturindustrie
angewandt. Sinnlos jedoch wäre es, sich gegen sie rein erhalten zu wollen.
Man muss durch sie hindurch. Sie bieten die Chance, gegen sich selbst
gewendet zu werden, so dass durch sie hindurch Nervenpunkte des aktuellen Zustands bloßgelegt werden können. So war der Film zwar von Anfang
an ein kulturindustrielles Medium, aber auch – und das geht bei Adorno
manchmal fast unter – immer schon mehr als Hollywood. Nicht so der
Comic. Aber selbst der hat teil an der Verallgemeinerung der kulturindustriellen Standards. Man mag Art Spiegelmans Geschichte der „Maus“ mehr
oder weniger geglückt finden. Aber dass sogar der Comic zu einem distanzierenden, verfremdenden Mittel werden kann, das ermöglicht, eine Sprache
für Ungeheuerlichkeiten wie die von Auschwitz zu finden, das zumindest ist
damit dargetan – und wäre für Adorno noch undenkbar gewesen, ebenso
wie eine Filmkomödie über ein Konzentrationslager, die auch noch mit
dem provokativen Titel „Das Leben ist schön“ daherkommt und der Sache
gleichwohl nichts von ihrem Ernst nimmt.
Es gilt heute, die Chancen zu erkennen und nutzen, die in den kulturindustriellen Standards selbst stecken, was aber nicht dazu führen darf, sie zu
überschätzen. Aufs Ganze gesehen, angesichts des audiovisuellen Mülls, mit
dem wir täglich überschüttet werden und dessen verblödender Gewalt sich
niemand vollständig entziehen kann, sind sie verschwindend gering. Und
nur wenn man weiterhin auch aufs Ganze sieht, nicht nur aufs Detail, lässt
sich ein kritischer Begriff von Kulturindustrie halten. Sie stellt sich heute
anders dar als vor 60 Jahren, gibt aber keineswegs Anlass zu mehr Optimismus als damals. Ihre Modifikationen herauszuarbeiten ist dringlich, aber
nur möglich in Bezug auf ihren Grundbegriff, der nun einmal von Horkheimer und Adorno stammt und wie eine Hypothek auf aller weiteren kulturellen Entwicklung liegt.
ad 2: Dass der Mythos selbst schon Aufklärung sei, Aufklärung aber in
Mythologie zurückschlage, ist ein Gedanke, der sich zwar vornehmlich am
Nationalsozialismus gebildet hat, aber damit nicht erschöpft ist. Er misst
zu Theodor W. Adorno
25
vielmehr die Spanne aus, in der Gegenwartsphänomene zu begreifen sind –
und verlangt nach weiteren Modifikationen. Seit Herrschafts-, Arbeits- und
Verkaufsimperative sich zunehmend über Bildschirme, als kleine audiovisuelle Schocks mitteilen, die, auf Dauer gestellt, eine zermürbende Wirkung
auf Nervensysteme haben und seit der Steinzeit sedimentierte Perzeptionsstrukturen wieder aufrühren, in Unruhe und Gärung versetzen, bahnt
sich eine fundamentale Krise des gesamten menschlichen Sensoriums an,
deren Tragweite sich erst im Rekurs auf dessen steinzeitliche Konstitution
erschließt. Damit wird es dringlich, die Rolle des archaischen Schocks und
seiner Verarbeitung für die Strukturierung der Wahrnehmungs- und Denkformen zu begreifen – und noch weiter zurückzugehen als bis zum Mythos:
bis zu den sakral-rituellen Formierungsprozessen kollektiver Handlungsund Perzeptionsstrukturen, von denen der Mythos schon der späte Nachhall ist. Wie der Kapitalismus nicht ohne Warenfetisch sein kann, so sein
audiovisuelles Trommelfeuer nicht ohne die Gewalt archaischer Epiphanie.
In seiner Hochtechnologie kehrt zugleich Ältestes wieder. – Was übrigens
könnte das Zurückschlagen von Aufklärung in Mythologie übrigens besser
verdeutlichen als der weltweit blühende Fundamentalismus? Er wird noch
viel zu sehr als Gegner der „Moderne“ gesehen, wäre aber selbst als hochmodernes Phänomen zu begreifen. – Der Grundgedanke der Dialektik der
Aufklärung, die Verschlingung von Aufklärung und Mythos, ist durch das
gleichnamige Buch nicht abgegolten. Es ist vielmehr ein Exposé zu einem
nach wie vor unerledigten Forschungsprogramm, und dass die detaillierte
Ausarbeitung eines Exposés immer auch dessen Modifikation mit sich
bringt, weiß jeder, der sich einmal an einer Magister- oder Doktorarbeit
versucht hat.
ad 3. und 4: Wer immer nur die beiden allgemeinsten Sätze Adornos, dass es
kein richtiges Leben im falschen gebe und das Ganze das Unwahre sei, auf
den Lippen führt, macht Gemeinplätze daraus und verkennt, dass sie nur
die eine Seite einer intellektuellen Spannung repräsentieren. Die andere darf
man getrost „Praxis“ nennen. Wer hat sich denn in die relevanten Diskurse
des westlichen Nachkriegsdeutschland mehr eingemischt als Adorno? Wer
hat in den 50er und 60er Jahren dort durchschlagender gewirkt als er: als
Lehrer, Schriftsteller, öffentlicher Diskutant? Und diese Wirkung hat viel
damit zu tun, dass er in hohem Maße unbekümmert um sie handelte. Wohl
war ihm an massenmedialer Präsenz gelegen: etwa der neuen Musik im
26
Umfrage
Radio das Forum zu verschaffen, das ihr in den Konzertsälen vorenthalten
wurde, und auch selbst keine wichtige Diskussionsgelegenheit in Radio und
Fernsehen zu versäumen. Aber auf die studentische Unruhe der 60er Jahre
hatte er es nicht eigens, etwa aus politischen Erwägungen, abgesehen. Er
schürte sie einfach durch seine Art, ungegängelt zu denken. Seine Praxis
war Bewusstseinsbildung, Bildung überhaupt, „Erziehung zur Mündigkeit“,
und hier war er sich nicht zu schade, konkrete Vorschläge zu machen, etwa
wie man Schüler erfahrungsfähig machen könnte. Das war durchaus „positiv“ und alles andere als unpolitisch. Was Adorno nicht getan hat, ist „die
Organisationsfrage“ zu stellen. Partei-, Gruppen-, Interessenpolitik, sei es
auch für die berechtigten Interessen von Ausgebeuteten und Gedemütigten
– das lag ihm nicht, sicher auch unter dem Eindruck des Bewusstseinsverlusts, den er bei sozialistischen Organisationen regelmäßig erlebt hatte.
Aber die legitimen Impulse solcher Politik hat er nie verkannt. Ebenso
würde er mit jenen Bürgerinitiativen, Netzwerken, NGO’s, die man unter
dem Begriff „Zivilgesellschaft“ zusammenfasst, sympathisiert haben – sofern sie nicht nur Lobbies sind, sondern erkennbar an der Linderung von
Leiden und Ausbeutung arbeiten. Zum Phänomen „Zivilgesellschaft“ selbst
hätte er sich allerdings gewiss ähnlich verhalten wie zur Studentenbewegung: dialektisch. Wie er an der Studentenbewegung den antiautoritären,
zumal antifaschistischen Impuls begrüßte, aber die Selbstüberschätzung als
einer revolutionären Kraft zur Aushebelung der kapitalistischen Gesellschaft kritisierte, so dürfte er an der Zivilgesellschaft bei allem Respekt für
ihre humanitären Initiativen den Hang zu vorschneller Selbstgenügsamkeit
moniert haben. Zivilgesellschaft an sich ist noch nicht das Gute, zumal
nicht unter globalen kapitalistischen Bedingungen. Ihre Einübung wäre
immer zugleich als Vorübung zu etwas Grundsätzlicherem zu begreifen: der
Überwindung der kapitalistischen Vergesellschaftungsform selbst.
Roger Behrens
Antisystem. Drei Stichpunkte zur
kritischen Theorie der Gesellschaft*
I. So oder so
Die Kritische Theorie diagnostiziert, dass diese Welt alles andere als die
beste aller möglichen Welten ist. Sie beschreibt die gegenwärtige gesellschaftliche Ordnung als total verwaltete Welt, als universellen Verblendungszusammenhang. Die Kritik fällt radikal aus, weil es ihr nicht um Reformen oder Korrekturen der herrschenden Verhältnisse geht, sondern
letztlich um eine fundamentale Kritik, die auf die Abschaffung, also Aufhebung und Umwälzung dieser Verhältnisse zielt. Es scheint, gelinde gesagt,
das Paradox zu sein, das der Kritischen Theorie, insbesondere Adorno,
angehängt wird: Je grundsätzlicher und beunruhigender sie in ihrer Diagnose wird, desto lauter gebärdet sich der Einwand, dass mitnichten die Welt so
schlimm sei. Im Gegenteil, von einem anderen Standpunkt aus betrachtet,
scheint unsere Welt gerade heute weitgehend mit humanen Errungenschaften und kulturellen Verbesserungen gesegnet zu sein. Dieser andere Standpunkt will übrigens weniger überheblich, verbissen oder pessimistisch die
Sache sehen. Freilich ist ohne Weiteres zuzugeben, dass es gerade denjenigen, die sich heute noch den Luxus erlauben können, in theoretischer Distanz zur Welt zu treten, nicht schlecht geht. Und wer es doch nicht so gut
hat, wird zum Kollateralschaden der Zivilisation erklärt: ‚tendenziell‘ gehe
es auch den Hungernden heute besser als früher.
Dass es gegenwärtig gerade im Bereich der Unterhaltung die vielfältigsten
Möglichkeiten gibt, sich genussvoll, lustig und eigentlich auf allen erdenklichen Niveaus die Zeit zu vertreiben, die man nicht hat, ist auch nicht von
*
Bei diesem Text handelt es sich um die Ausarbeitung eines Vortrags, der auf der Tagung ‚Theodor Adorno: Theoria Aesthetica, 1903/2003 Congresso Internacional‘ in
Belo Horizonte (Brasilien), 9.-12.9.2003 gehalten wurde. Eine erweiterte Fassung erscheint in: Roger Behrens, Verstummen. Über Adorno, Laatzen 2004 (Wehrhahn).
28
Roger Behrens
der Hand zu weisen: Tanzen, Fernsehen, für Freunde Kochen, in die Kneipe gehen etc. macht Spaß und hat natürlich den Nebeneffekt, sich ein wenig über die alltägliche Trostlosigkeit zu erheben. Was ist also der Punkt?
Liegt Adorno, der die Produkte der Kulturindustrie für Schund hielt, deshalb falsch, weil man auf Konsumenten vertraut, die sich ihr Leben mit
eben diesen Produkten zufrieden eingerichtet haben? Hat Adorno Unrecht
mit seinem Befund eines zwar demokratisch organisierten, in der Freiheit
der Einzelnen allerdings höchst kontrollierten Systems alles durchdringender Herrschaftsverhältnisse, weil gewisse Leute die für sie vorgesehenen
Lücken finden, in denen sie den Anschein von Freiheit und Selbstbestimmung praktizieren dürfen? Und dann – so der neueste, fast empörte Einwurf anlässlich der aktuellen Biografisierungen des „Meisterdenkers“ (Titelseite: ‚Die Zeit‘ vom 3.9.2003) – habe der streitbare Philosoph selbst noch
nicht einmal nach den vermeintlichen Maßstäben seiner Kritik gelebt, sei
statt dessen fremdgegangen, habe statt Schund den Luxus bevorzugt und
versuchte gar, es sich gut gehen lassen, machte schöne Reisen und dergleichen!
Solche Beanstandung, die sich in der Regel pedantisch und gelehrt gibt,
will Adorno Fehler in seiner kritischen Theorie nachweisen, will schließlich
die kritische Theorie der Gesellschaft als Makel Adornos deklarieren und
sie ihm wie ein philosophisches Versehen austreiben. Es gehe gar nicht
gegen Adorno, sondern mit ihm! Erst der in der Konsequenz vollständig
von der Gesellschaftskritik gesäuberte Adorno kann dann zu den Akten
gelegt werden, darf – vor allem heute, wenn Adorno in der Berliner Republik der Neuen Mitte einhundert geworden wäre – im akademischen Diskurs weiterhin den Kulturkritiker geben und fungiert in den Feuilletons von
‚TAZ' und ‚FAZ' als das auf Konsens getrimmte Gewissen der Nation. Die
Aussöhnung mit der Kritischen Theorie, die mittlerweile auch Neokonservative und Neue Rechte betreiben, funktioniert zu eben genau den Konditionen, von denen sie sich vehement distanzierte: Adornos Beitrag wird zur
Kulturkritik degradiert, um ihm dann zu attestieren, dass er keine Ahnung
hatte, zum Beispiel vom Jazz und vom Fernsehen. Die hatte er auch nicht;
nur ist es für das, worum es Adorno ging, etwa in seiner Jazzkritik, irrelevant und egal. Zudem spricht in den Kritteleien an Adorno immer auch der
beleidigte Bildungsbürger, der sich im Feuilleton zum Anwalt der Angestellten machen will: wenn es ihm „um die Sache“ geht, geht es immer um Mo-
Antisystem. Drei Stichpunkte zur kritischen Theorie der Gesellschaft
29
ral, eigentlich nie um die Sache. Adornos Befund vom universellen Verblendungszusammenhang ist jedenfalls kein moralischer und ist auch nicht
als ein solcher umzudeuten. Das ist nur möglich, wenn systematisch ausgeblendet wird, was das Kritische an der Kritischen Theorie ist und damit das
Fundament der Philosophie Adornos:
dass es ihr eben explizit nicht um Kultur-, sondern Gesellschaftskritik
geht, in die eine Beschäftigung mit der Kultur allerdings als Ideologiekritik
eingebettet ist;
dass es ihr um die Bedingungen von Kritik selbst geht, und damit auch um
die Frage nach Theorie und Praxis gleichermaßen;
dass es ihr um eine Gesellschaft geht, deren immanenter Strukturzusammenhang - die kapitalistische Verwertungslogik - verborgen, d. h. verblendet und fetischistisch verzerrt ist, und Theorie daher keinen unmittelbaren
Zugang zur Wirklichkeit hat;
dass es ihr vor allem aber um die zentrale philosophische Frage der Neuzeit geht, was nämlich der Mensch sei, und zwar angesichts von Verhältnissen, die das Menschsein einerseits in ihrer Entwicklung behindern und
sogar existenziell bedrohen, andererseits seine Möglichkeiten erweitern,
ohne dass darüber hinaus der Mensch an sich ontologisch bestimmbar
wäre, außer eben in seiner nicht-festgelegten Potenzialität und perfektiblen
Universalität.
Kritische Theorie operiert so am Grundwiderspruch der Ideologie: sie ist
dialektisch als falsches Bewusstsein möglicher richtiger Zustände und richtiges Bewusstsein der falschen Zustände zugleich bestimmt. In solchen
Figurationen ist indes die Architektur der Kritischen Theorie zu entschlüsseln. Entscheidend ist einmal mehr die dialektische Grundfigur rettender
Kritik: sie kristallisiert sich in der Idee, dass Kritik nur im Bewusstsein der
Widersprüche denkbar ist, dass die Konzepte nicht einseitig oder positivistisch von ihren Widersprüchen bereinigt werden können, sondern dass sie
durch die Widersprüche überhaupt erst geformt werden. In dieser Weise ist
im Übrigen der Entwurf einer negativen Dialektik als Dialektik der bestimmten Negation zu verstehen; und dies ist zugleich ihr materialistisches
Motiv. Wenn Marx sagte, die Philosophie könne nur aufgehoben werden,
wenn sie verwirklicht wird, und Adorno für das 20. Jahrhundert konstatierte, dass diese Verwirklichung misslang, dann sind zwei Deutungen möglich.
30
Roger Behrens
Entweder meint das Misslingen der Verwirklichung, dass die Verwirklichung gar nicht stattfand, und die Einlösung des Marxschen Diktums noch
aussteht. Das aber hieße konsequent, dass die Geschichte der bürgerlichen
Gesellschaft im 19. Jahrhundert, zu Marx‘ Zeiten, steckengeblieben ist,
ohne dialektische Bewegung. Dazu gehören Vorstellungen wie die von den
starren Formationen der Klassengesellschaft oder der aktionistische Schematismus sozialistischer Gruppen, aber auch die spätbürgerliche, popdiskursive Kapitulation vorm Kapitalverhältnis.
Oder das Misslingen der Verwirklichung meint, die Verwirklichung habe
stattgefunden, aber eben falsch, fehlgeschlagen. Dies formuliert eine Position der Aufhebung der Philosophie, die sich aber nur negativ und retrospektiv auf das Misslingen gründet, - sie ist der Ort der Kritischen Theorie Adornos, und in ihrem Rückblick aufs 19. Jahrhundert übrigens mit wichtigen Parallelen zum Konzept einer Dialektik im Stillstand wie sie Walter
Benjamin diagnostizierte.
Sie ist auch die Position, von der aus sich das systematische Antisystem
entfaltet, das dann in die ‚Negative Dialektik‘ mündet. Hier wird deutlich,
inwiefern die einzelnen Momente der kritischen Theorie Adornos selbst
dialektisch ineinander greifen, und zwar vom Punkt der misslungenen Aufhebung der Philosophie aus, mit der ja immer Hegels philosophisches System gemeint ist. Von hier aus greifen die philosophischen Probleme von
Totalität und Identität, Subjekt und Objekt mit den ästhetischen Fragen
von Mimesis, Authentizität, Wahrheitsgehalt ebenso ineinander wie mit den
soziologischen und psychologischen Analysen des Verhältnisses von Gesellschaft und Individuum, von Bewusstsein und Unbewusstem.
II. Verbindlichkeit ohne System
Als Antisystem ist die Komplexion der Begriffe in der Kritischen Theorie
auch insofern zu verstehen, als alle positiven Kategorien systematischen Philosophierens nur noch negativ bestimmbar sind; und das betrifft schließlich
die Konstruktion des systematischen Philosophierens selbst. Antisystem ist
die letzte Philosophie dort, wo sie als System versagt, verstummt: der Entwurf einer negativen Dialektik korrespondiert nicht nur methodisch, sondern auch strukturell mit der negativen Totalität der Gesellschaft, mit der
Begriffslogik des Nichtidentischen und vor allem mit der negativen - d. h.
bilderlosen - Utopie sowie der negativen Ästhetik. Die negative Dialektik
Antisystem. Drei Stichpunkte zur kritischen Theorie der Gesellschaft
31
der Kunst überspannt und durchzieht das gesamte Antisystem, weil in der
Kunst die negative Dialektik des Antisystems selbst zum Ausdruck kommt.
Denn einerseits ist Kunst die adäquate Sprache der Negation, ist die durch
Kunst vermittelte Erfahrung negativ-negierend und Kunst also sozusagen
die Waffe der Kritik als Erkenntnis; andererseits kristallisiert sich in ihr die
negative Totalität, die negative Erkenntnis von der Negation der Kunst.
Genau diese Figur bezeichnet die Dialektik des Verstummens. Sie ist exemplarisch im Antisystem selbst zu fassen, im deutlichen Kontrast zu den
großen Systemen der Philosophie Kants und Hegels: Wo Kant nach den
Bedingungen der Möglichkeit von Erkenntnis fragt, geht es Adorno um die
Bedingungen, die Erkenntnis verhindern; und wo Hegel den Stufenweg des
Selbstbewusstseins beschreibt, versucht Adorno herauszufinden, warum dieser
Weg am Selbst vorbei in die Unmündigkeit führt.
Antisystem impliziert darüber hinaus die materialistische Wendung des idealistischen Systems: „Die vom Hegelschen System begriffene Welt hat sich
buchstäblich als System, nämlich das einer radikal vergesellschafteten Gesellschaft, erst heute, nach hundertfünfundzwanzig Jahren, satanisch bewiesen.“ (GS Bd. 5, 273) Zugleich aber bleibt der Gegenentwurf des Antisystems geschichtlich vermittelt, und nicht zuletzt deshalb konzentriert Adorno sich in der ‚Negativen Dialektik‘ auf das letzte philosophische System,
die Fundamentalontologie Heideggers. Zu dessen Daseinsanalyse bildet
Adornos Antisystem den diametralen Gegenpol: während Heidegger nach
dem Sinn des Seins fragt, richtet sich Adornos Augenmerk darauf, überhaupt erst Sinn in die Welt zu bringen. Und insofern umkreist Adorno
Heideggers Ontologie mit den beiden Tabus dessen Seinslehre, nämlich der
Dialektik und der Utopie: „Angesichts der konkreten Möglichkeit von Utopie“, heißt es in der ‚Negativen Dialektik‘, „ist Dialektik die Ontologie des
falschen Zustands. Von ihr wäre ein richtiger befreit, System so wenig wie
Widerspruch“ (GS Bd. 6, 22).
Zudem ist das Antisystem systematisch, indem es durch das Fragment
hindurch der Totalität habhaft zu werden versucht; es ist nicht beliebig,
sondern verbindlich. Seine Struktur ist eine der bestimmten Vermittlung:
Modellanalysen als ein Denken in Konstellationen. Deswegen kann Adorno
bisweilen etwas apodiktisch formulieren, ohne Dogmatik und Programmatik: „Theorie ist unabdingbar kritisch“ (GS Bd. 8, 197). Also ist Theorie
immer schon kritische Theorie; das Verhältnis von kritischer Theorie und
32
Roger Behrens
Kunst ist eines der Wahlverwandtschaft; und kritische Theorie ist ästhetische Theorie. Ästhetische Theorie ist daher sowohl eine Theorie der Ästhetik als auch eine nach ästhetischen Aspekten strukturierte Theorie. Da
Kunst ästhetische Praxis ist, ist kritische Theorie als kritische auch Praxis.
Und so weiter. In der ‚Vorlesung über Negative Dialektik‘ heißt es „thetisch
ganz allgemein“, „dass die negative Dialektik ... mit einer kritischen Theorie
im Wesentlichen dasselbe ist. Ich würde denken, die beiden Termini Kritische Theorie und Negative Dialektik bezeichnen das Gleiche.“ (VND, 36f.)
Und Adorno setzt hinzu: „Vielleicht, um exakt zu sein, mit dem einen Unterschied, dass Kritische Theorie ja eben wirklich nur die subjektive Seite
des Denkens, also eben die Theorie bezeichnet, während Negative Dialektik
nicht nur dies Moment angibt, sondern ebenso auch die Realität, die davon
getroffen wird.“ (VND, 37)
Wenn Adorno hier von „Realität“ spricht, so verweist dies auf den Doppelcharakter des Systems, das eben nicht nur das philosophische Denken bezeichnet, sondern auch den Strukturzusammenhang der sozialen Wirklichkeit selbst. Gleichwohl sind diese beiden Systembegriffe oder eben Systemrealitäten miteinander vermittelt: das Antisystem der Negativen Dialektik
ergibt sich sozusagen aus der negativen Dialektik der Gesellschaft. Was bei
Adorno sich philosophisch-kritisch um den Komplex einer Logik der Identität gruppiert, zielt gesellschaftskritisch auf die Analyse der Logik des Tausches. Sie ist die instrumentelle, verdinglichte Praxis des identifizierenden,
verdinglichten Denkens: „Das Tauschprinzip, die Reduktion menschlicher
Arbeit auf den abstrakten Allgemeinbegriff der durchschnittlichen Arbeitszeit, ist urverwandt mit dem Identifikationsprinzip. Am Tausch hat es sein
gesellschaftliches Modell, und er wäre nicht ohne es; durch ihn werden
nichtidentische Einzelwesen und Leistungen kommensurabel, identisch.
Die Ausbreitung des Prinzips verhält die ganze Welt zum Identischen, zur
Totalität.“ (GS Bd. 6, 149)
Die vermittelte Einheit von Totalität und Fragment bestimmt auch die
durch den Tausch definierte Gesellschaft. Die Totalität ist nicht durch unmittelbares Miteinander, sondern durch das abstrakte Tauschverhältnis
wesentlich gebannt, das als abstraktes Verhältnis den menschlichen Beziehungen allerdings äußerlich bleibt: sie halten sich an die falsche Unmittelbarkeit, an das Pseudokonkrete der alltäglichen Beziehungen. Insofern ist ihre
Vergesellschaftung die von Produzenten und Konsumenten, nicht aber die
Antisystem. Drei Stichpunkte zur kritischen Theorie der Gesellschaft
33
von Menschen. Nur kraft dieses entfremdeten Selbstbezugs können wir
überhaupt die Einheit herstellen, die wir als sinnvolle soziale Totalität
wahrnehmen, und die sich zudem durch Trennungsmechanismen wie Klassenwidersprüche, Herrschaft oder Selbstkontrolle erst konstituiert. Sie konstituiert sich so in der Dialektik von Integration und Desintegration, die
sich bis zum faschistischen Terror verschärfen kann, die aber auch durch
demokratische Selbstregulationen der Subjekte aufgefangen werden kann.
Sie strukturiert so die „Systematik der bürgerlichen Gesellschaft“ und
drückt sich zugleich in der radikalen Dialektik aus, die Adorno mit Marx
erläutert, „dass sich in dieser Gesellschaft immer größere Missverhältnisse,
nämlich rein vom Ökonomischen her Disproportionen zwischen den einzelnen Sektoren herausbilden und durch sie schließlich das ganze System
gesprengt werden muss. Nach dieser Theorie ... beinhaltet das Gesetz des
Systems den Untergang des Systems und nicht dessen Bestätigung oder
Selbsterhaltung. Man kann dementsprechend das Marxische System ein
negatives oder ein kritisches System nennen, eine durchaus kritische Theorie.“ (PT Bd. 2, 262)
Im Antisystem kristallisiert sich indes die Grundfigur der Philosophie Adornos, nach der das Ganze das Unwahre ist: „Die Welt ist zwar ein System, aber sie ist das System, das den Menschen heteronom auferlegt ist als
ein ihnen fremdes; sie ist ein System als Schein und hat nichts mit ihrer
Freiheit zu tun. Das ist ein System als Ideologie, und das Ganze, das bei
Hegel die Wahrheit sein soll, das wäre innerhalb der Marxischen Theorie
ein Unwahres.“ (PT Bd. 2, 262 f.)
III. Antisystem und Gesellschaft
Eingebettet ist die Philosophie als Antisystem in die kritische Theorie der
Gesellschaft. Marx hat sie bekanntlich als ‚Kritik der politischen Ökonomie‘
begründet, die darstellt, inwieweit die Produktionsverhältnisse, Produktivkräfte und überhaupt die allgemeine Struktur der Produktion den gesellschaftlichen Gesamtzusammenhang bestimmen. Was sich auf abstrakter
Ebene als Wertvergesellschaftung ubiquitärer Tauschbeziehungen darstellt,
geriert sich im konkreten Leben der Menschen als ihr verdinglichtes und
entfremdetes Verhältnis zueinander und definiert zugleich ihre Stellung im
Produktionsprozess. Ihre menschlichen Interessen konvergieren mit den
ökonomischen, den beruflichen und finanziellen; und insofern die wirt-
34
Roger Behrens
schaftlichen Bindungen zum subjektiven Schicksal werden, treten die Menschen sich objektiv als Klassen gegenüber, d.h. in unterschiedlicher Abstufung, was die Verfügung über und den Besitz an Produktionsmitteln angeht. Dass im Kapitalismus der gesellschaftliche Zusammenhang insgesamt
als Äquivalententausch wie ein menschliches Naturverhältnis funktioniert,
ist die erste und letzte Ideologie, mit der die kulminierenden, sich in der
Krise des Systems zuspitzenden Widersprüche kaschiert werden sollen.
Solche Ideologie als falsches Bewusstsein oder richtiges Bewusstsein der
falschen Zustände, dem Marx und Engels einmal das Bild der ‚camera obscura‘ gaben, formiert sich nach materialistischer Lehre in der Dynamik
eines Überbaus, der von der ökonomischen Basis abhängig bleibt. Gerade
weil aber das gesellschaftliche Sein auch das individuelle Bewusstsein bestimmt, tangieren die Widersprüche nicht nur die Auseinandersetzungen
und Spannungen der sozialen Klassen, sondern auch die Individuen selbst.
In der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft entfalten sich Individualitäten
zunehmend isoliert; Individuation wird zum Prozess der Desintegration.
Zugleich gelingt die gesellschaftliche Integration vermittels der scheinbar
vom ‚realen Leben‘ entkoppelten Sphäre der Kultur. Sowohl die Dialektik
des Individuums wie auch die Dialektik der Kultur erscheinen als der Kitt,
der das kapitalistische Gewaltverhältnis zeitweise und scheinbar befriedet
oder ausblendet. Und dennoch verlängert sich in der Struktur des Individuums wie in der Dynamik der Kultur die Verwertungslogik der kapitalistischen Ökonomie, und zum Idealbild des Individuums wird der mündige
Bürger als Unternehmer. Deshalb nennen Adorno und Horkheimer in der
‚Dialektik der Aufklärung‘ das Individuum einen „psychologischen Kleinbetrieb“, die „unermüdliche Verwirklichung des Idealtyps homo oeconomicus“ (GS Bd. 3, 229). Die Widersprüche indes entfalten sich in den Subjekten in nachgerade derselben Gewalt, mit der sie sich gesamtgesellschaftlich
und heute global als Geschichte durchsetzen. In ‚Zum Verhältnis von Soziologie und Psychologie‘ benennt Adorno diese dialektische Verkettung
der Antagonismen: „Die Ungleichzeitigkeit von Unbewusstem und Bewusstem ist selbst ein Stigma der widerspruchsvollen gesellschaftlichen Entwicklung. Im Unbewussten sedimentiert sich, was immer im Subjekt nicht mitkommt, was die Zeche von Fortschritt und Aufklärung zu zahlen hat.“ (GS
Bd. 8, 61) Und wie sich im Individuum die Dynamik von Bewusstem und
Unbewussten psychisch manifestiert, geriert sich dieselbe Dynamik sozial
Antisystem. Drei Stichpunkte zur kritischen Theorie der Gesellschaft
35
als Kultur. Freud hat das mit dem Unbehagen beschrieben; und Adorno
korrigiert in diesem Sinne Marx: „Bei zunehmender Integration verliert die
Basis-Überbau-Relation ihre alte Schärfe. Je mehr die Subjekte von der
Gesellschaft erfasst, je mehr sie vom System bestimmt und je vollständiger
sie determiniert werden, um so mehr erhält sich das System nicht einfach
durch Zwangsanwendung den Subjekten gegenüber, sondern auch durch
die Subjekte hindurch.“ (EIS, 253 f.)
Der durch den Tausch vermittelte Zusammenhalt der Gesellschaft kulminiert in dem universellen Verblendungszusammenhang, der nicht von außen die Menschen unterwirft, sondern der zu einem Mechanismus der subjektiven Selbsterhaltung vollends zu werden droht. „Immer enger werden
die Maschen des Ganzen nach dem Modell des Tauschakts geknüpft. Es
lässt dem einzelnen Bewusstsein immer weniger Ausweichraum, präformiert es immer gründlicher, schneidet ihm a priori gleichsam die Möglichkeit der Differenz ab, die zur Nuance im Einerlei des Angebots verkommt.
Zugleich macht der Schein der Freiheit die Besinnung auf die eigene Unfreiheit unvergleichlich viel schwerer, als sie im Widerspruch zur offenen
Unfreiheit war, und verstärkt so die Abhängigkeit.“ (GS Bd. 10/1, 13) Die
Wirklichkeit selbst kippt ideologisch in den Idealismus zurück, indem die
Menschen glauben, dass die Welt, so wie sie ist, von ihnen gemacht wurde,
und dass die Welt, so wie sie ist, prinzipiell ihr Glück befördert. Der Fetischcharakter der Ware ist zur Charaktermaske des Individuums geworden;
Kritik des Verblendungszusammenhangs heißt daher nicht Kulturkritik,
sondern Kritik der kapitalistischen Verwertungslogik. „Kritik am Tauschprinzip als dem identifizierenden des Denkens will, dass das Ideal freien
und gerechten Tauschs, bis heute bloß Vorwand, verwirklicht werde. Das
allein transzendierte den Tausch. Hat ihn die kritische Theorie als den von
Gleichem und doch Ungleichem enthüllt, so zielt die Kritik der Ungleichheit in der Gleichheit auch auf Gleichheit, bei aller Skepsis gegen die Rancune im bürgerlichen Egalitätsideal, das nichts qualitativ Verschiedenes
toleriert. Würde keinem Menschen mehr ein Teil seiner lebendigen Arbeit
vorenthalten, so wäre rationale Identität erreicht, und die Gesellschaft wäre
über das identifizierende Denken hinaus.“ (GS Bd. 6, 150) Zwar konstituiert sich der Verblendungszusammenhang als universeller, doch bleibt jedes
seiner Momente, dialektisch, Bedingung seiner Aufhebung; darauf rekurriert
das Antisystem.
36
Roger Behrens
Die Abhängigkeit der Menschen von der Produktionsordnung kann nur
durch Aufhebung der Produktionsordnung aufgehoben werden. Dies setzt
voraus, „dass die gesamten Kategorien der bürgerlichen Gesellschaft, für
die hier die Produktivität im Sinn des Tauschprinzips einsteht, also mit
anderen Worten, das gesamte System, ... nicht etwa ein System des Absoluten oder der Wahrheit sein soll.“ (PT Bd. 2, 276) So zeigt sich, wie Adorno
weiter erläutert, „dass hinter dem Marxschen Begriff der Produktivität eine
Vorstellung steht, die nun doch über den Begriff der bloßen materiellen
Produktion weit hinausgeht.“ (PT Bd. 2, 276) Sie ist insofern für das Antisystem einer kritischen Theorie der Gesellschaft zentral, weil das, was das
Gefüge im Innersten zusammenhält, zugleich zum Hebel der Kritik wird,
mit dem dieses Gefüge in eine neue, emanzipierte Ordnung gebracht werden kann: Die Produktivität wird zum Schlüssel dessen, was sie unter gegebenen Bedingungen zugleich verstellt: die menschliche Praxis. In diesem Sinne
nennt Adorno wirkliche Produktivität „die Fähigkeit zum nicht schon Dagewesenen“ (GS Bd. 10/2, 651). Schon mit Marx ist der Aspekt am Begriff
der Produktivität hervorzuheben, der „nicht rein ins Subjekt, will sagen, in
menschliche Arbeit aufzulösen ist“ (PT Bd. 2, 268). Antisystemischsystematisch meint deshalb, den Begriff der Produktivität „nicht wieder in
das Identitätsdenken herein[zu]ziehen“ (PT Bd. 2, 268).
In solcher fast utopischen Perspektive ist wiederum die Kernproblematik
der kritischen Theorie Adornos berührt, die in der Dialektik gründet, dass
einerseits die Bedingungen eines befriedetes Daseins für alle Menschen hier
und heute gegeben sind, und die Einrichtung menschlicher Zustände nicht
einmal schwerwiegenden Verzicht bedeutete; dass andererseits jedoch die
Menschen einen Großteil ihrer Kraft und ihres Vermögens darauf konzentrieren, dass alles so bleibt, wie es ist, und sich nichts Wesentliches ändert. In
der Kritischen Theorie selbst sind diese beiden Pole im Antisystem nur
kraft ihrer reflektierten Vermittlung zu begreifen. Die ästhetische Theorie
ist ein Moment der kritischen Theorie der Gesellschaft, und die kritische
Theorie der Gesellschaft kristallisiert sich in der Analyse der Kulturindustrie. Kunst, auf die ästhetische Theorie sich richtet, und an der sie versucht,
den Erkenntnischarakter freizulegen, ist heute gleichsam ein Moment der
Kulturindustrie. Weder die Kunst noch die Kritische Theorie selbst verfügen über eine Position außerhalb des Systems; wohl aber bleibt kritischer
Praxis die Option, den Gewaltzusammenhang des Systems – sei's durch
Antisystem. Drei Stichpunkte zur kritischen Theorie der Gesellschaft
37
Kunst, sei's durch Theorie – zu durchbrechen: erst in der Rekonstruktion
des Antisystems ergibt sich die Möglichkeit verändernder Praxis, die sich
nach keinem Sachzwang, nach keiner realpolitischen Notwendigkeit und
Dringlichkeit sozialer Krisenintervention richten muss. Solange aber bleibt,
nach Adornos Wort, „Praxis auf unabsehbare Zeit vertagt“, ist „nicht mehr
die Einspruchsinstanz gegen selbstzufriedene Spekulation.“ (GS Bd. 6; 15)
Praxis bleibt vorerst der kritische Gedanke, nicht weniger. Denn: „Das Ziel
richtiger Praxis wäre ihre eigene Abschaffung ... Fällige Praxis wäre allein
die Anstrengung, aus der Barbarei sich herauszuarbeiten.“ (GS Bd. 10/2,
769) Hier ist die Nuancierung entscheidend: Ist Praxis, die kritischtheoretisch begründet ist, verstellt, so wäre es gleichsam zynisch und Hohn,
sich auf Theorie zurückzuziehen und Praxis da zu verweigern, wo die
Dringlichkeit der Lage sie erfordert. Daran vermag auch das Antisystem
nicht zu rütteln. Wohl aber ist es radikale Bedingung dafür, sich dem Sachzwang nicht blind und unreflektiert zu unterwerfen, weder theoretisch noch
praktisch zu kapitulieren. Das meint Kritische Theorie als Haltung.
Siglen:
EIS: Th.W. Adorno, Einleitung in die Soziologie. Nachgel. Schriften, Abt. IV, Bd.
16, hg. vom ThW. Adorno-Archiv und von Chr. Gödde, Frankfurt/Main 1993.
GS: Th.W. Adorno, Gesammelte Schriften in zwanzig Bänden, hg. von R. Tiedemann, unter Mitwirkung von Gretel Adorno, S. Buck-Morss und K. Schultz, Frankfurt/Main 1997.
PT Bd. 2: Th.W. Adorno, Philosophische Terminologie Bd. 2, Frankfurt/Main
1974.
VND: Th.W. Adorno, Vorlesung über Negative Dialektik. Nachgel. Schriften, Abt.
IV: Vorlesungen Bd. 16, hg. vom Th.W. Adorno-Archiv und von R. Tiedemann,
Frankfurt/Main 2003.
WIDERSPRUCH
Münchner Zeitschrift für Philosophie
Nr.40
Kampf der Kulturbegriffe
Kritik der Globalisierung
Manuel Knoll:
Die Grenzen des Westens
Alexander von Pechmann:
Zur neuen Dimension der
Globalisierungskritik
Wolfgang Melchior:
Die alte Weltordnung
Mohamed Turki:
Arabische Vernunft versus
westliche Vernunft?
Charme I. Sucharewicz:
Die israelische Entwicklung
Kim Lan Thai Thi:
Ein Koan zur Lehrbiographie
... und viele Rezensionen philosophischer Neuerscheinungen
erhältlich in allen uni-nahen Buchhandlungen
Preis: 6.- EUR
Michaela Homolka
Nach Adorno.
Zum Aspekt des Räumlichen
Die beiden kategorischen Imperative von Adornos Philosophie, das Rimbaud’sche: Il faut être absoluement moderne1 und, dass sich Auschwitz
nicht wiederholen darf, sind mit der radikalen Absage an Nietzsches Lehre
von der ewigen Wiederkunft aufeinander beziehbar und damit explizit historisch. Erst wenn uns dies geschichtsphilosophische Katapult: die explizite
Forderung nach einem Denken auf der Höhe der Zeit heute noch etwas
bedeutet, ist auch die Frage nach Adornos Aktualität berechtigt (und schon
bejaht).
Während Adorno ehemals der Wahrheit einen Zeitkern zuschrieb und
Chronos somit eine hervorragende Stellung einräumte, wird Zeit heute
vorwiegend im Problembereich von Be- und Entschleunigung diskutiert
und problematisiert also einem räumlichen Kontext beigeordnet (Geschwindigkeit = Weg/Zeit). Die Debatte über die Zeit ist als Synchronisierungsproblem, das die Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen beschreibt, in
die Thematik von Globalisierung eingegangen. Für Adorno bestand solche
Gleichzeitigkeit im nicht eingelösten Versprechen: „Philosophie, die einmal
überholt schien, erhält sich am Leben, weil der Augenblick ihrer Verwirklichung versäumt ward.“2 Heutige Beispiele für dies Problem sind vor allem
1 Th.W. Adorno, Wozu noch Philosophie? In: Gesammelte Schriften (GS), Bd. 10/2,
Frankfurt/Main 1997, S. 473.
2 Th.W. Adorno, Negative Dialektik. In: GS Bd. 6, S. 15
40
Michaela Homolka
die angebliche Rückständigkeit peripherer Gebiete gegenüber den Zentren,
so die Ränder der Städte im Verhältnis zu deren Mittelpunkten, die Ränder
Europas bezogen auf seine Metropolen, die Grenzen der zivilisierten Welt
verglichen mit deren Kernbereichen. Die Synchronisierungsdebatte bestimmt ebenso den Bereich der Medien: Die Beschleunigung der Informationsübertragung auf den Datenautobahnen des Internets lässt die Welt
zum so genannten globalen Dorf schrumpfen. Damit wäre der Zeitbegriff
in eine Kategorie des quasi selbst im Verschwinden begriffenen Raumes
übergegangen.
Offensichtlich führt die Relation unseres Empfindens von Raum und Zeit
einen geschichtlichen Index mit sich. Komplementär zur altmodischen Vorstellung von Zeiträumen ist hier die neue Raumzeit installiert. (Raum und
Zeit funktionieren anders als Apfelstrudel und Strudelapfel oder Erdöl und
Ölerd: Sie sind nach einem dialektischen terminus technicus wechselseitig
ineinander vermittelt.) Sie greift in unser Raum- und Zeitgefühl ein und
verändert es virtuell nicht nur im Cyberspace. Der Tendenz zum Primat des
Raumes entspricht auf wirtschaftlichem Gebiet der neuere Slogan „Raum
ist Geld“, dem der alte „Zeit ist Geld“ gewichen ist. Und bald wird auch der
Raum verschwunden sein und das Geld übrig bleiben. Heute wie zu Adornos Zeit führen die Abstraktionen ein beachtliches Quantum Leid mit sich,
so ist die Zeit der Arbeitslosen fortan wertlos; und durch jüngste USamerikanische Expansion wurde ein Raum erobert, der Geld ist, der mit
Menschenlebenszeit bezahlt ist.
Selbst Adornos Lieblingsbereich, die avantgardistische Musik neigt sich
der Seite des Raumes zu und beschäftigt sich mit Synchronisierungsproblemen: Karlheinz Stockhausens Helikopter-Streichquartett, seiner astronomischen Intention entsprechend allen Astronauten gewidmet, besteht aus
Aufstieg – Flug – Formation – Abstieg – Landung. Die vier Musiker fliegen
simultan in vier Hubschraubern so weit vom Auditorium entfernt, dass sie
gesehen, aber nicht gehört werden können. Der Lärm der Rotoren soll die
Darbietung nicht stören. Sie stehen über zwölf Mikrofone und Kopfhörer
mit der Rotation ihrer Helikopter, den Piloten, einer Bodenstation und
untereinander in Beziehung. Die polyphone und Takt für Takt gefügte
Komposition ist selbst vom Fluggeräusch inspiriert und sieht zusätzlich
durch Tremoli und Stakkati die Berücksichtigung der wechselnden Geschwindigkeit und Intensität der Rotoren vor. Am Mischpult werden Flug-
Nach Adorno
41
und Streichergeräusche ausbalanciert und mit Lautsprechern zum Publikum
übertragen. Fernsehkameras senden die Bilder der Spieler für das Publikum
direkt auf vier Monitore. Nach dem Kommentar des Komponisten könnten
nun auch Musiker auf unterschiedlichen Planeten miteinander spielen.
Ein anderes spektakuläres Beispiel für die Entfaltung des Raumes in der
zeitgenössischen Komposition ist das elektrische Singspiel: suchmaschinen im
lichtleeren meer von Berkan Karpat und Klaus Schedl. Bei einer futuristisch
anmutenden Klanginstallation, die das Zentrum der Aufführung bildet,
stehen während der Aufführung fünf mit Einzelkabinen ausgestattete Taxis
bereit, in die jeweils eine Sängerin und zwei Personen aus dem Publikum
einsteigen und durch die Stadt fahren. Alle Taxis sind mit der zentralen
Klanginstallation und den dortigen Sängerinnen über Funk gekoppelt. Die
taxifahrenden Zuhörer entsteigen gänzlich desorientiert ihren Kabinen an
einem anderen Ort dem Taxi wie einem Traum. Durch den wahrlich sirenenartigen Gesang und die Fahrt in der nur schemenhaft erkennbaren,
fremd gewordene Stadt wird dem vereinzelten Publikum die archetypische
Erfahrung eines Innenraumes gewährt.
Entfaltet Stockhausen seine Idee des Raumes als ein machtvolles und nahezu beliebig erweiterbares Konzept, dessen Innenräume ebenso zur Waffe
wie zum Musikinstrument und Transportmittel taugen, so wird der Außenraum von Schedl und Karpat futuristisch verfremdet und die Taxis als Vehikel der künstlichen Höhle zum Negativ.
Negative Dialektik des Raumes
War Adorno zu seiner Zeit geradezu verhängnisvoll aktuell, so steht die
Frage von Adornos heutiger Aktualität, nach dem vielfach proklamierten
Ende der Geschichte, eindeutig unter der Verschiebung von der Zeitthematik zum Raum. Und so lautet die Frage: Wie hält es Adorno, der doch vor
allem als geschichtsphilosophischer Denker gilt, mit dem Raum? Gemeinhin werden mit einem räumlichen Denken Okkupation und Expansion
assoziiert, Machtfaktoren, für die Adorno ein voll ausgebildetes, von Nietzsche ererbtes Sensorium besitzt.
Negativ, wie seine Dialektik sind auch Adornos Orte. Daran weist sein
ansonsten, asystematisches, dem Aphorismus und Essay zugeneigtes Denken eine große Stringenz auf: Allen diesen Orten voran steht die Utopie, der
ou-topos oder Nichtort oder Noch-Nicht-Ort, der für alles, was Adorno
42
Michaela Homolka
kritisiert, den – zu gut – verwahrten und von Nietzsche inspirierten Subtext
einer Logik des Überflusses und des Schenkens bereithält.
Gefolgt vom Abgrund, jenem unmöglichen und daher nach unten beschleunigten Standort, den Adorno paradox für sein Denken reklamiert,
und an dem er sich allem zuwendet, was vor Furcht verhärtet und versteinert ist; und jenem Motiv des trennenden Abgrunds, für das Lukacs die
Frankfurter Schule „Caffee Abgrund“ zu nennen liebte. Adorno negiert alle
aufwärts und an systematischer Geschlossenheit interessierten idealistischen
Bestrebungen; mit seiner Erkenntnis zielt er nach unten und folgt der
Schwerkraft der Dinge nach – und darin ist er bis heute provokativ und
materialistisch. Neben der Tradition des sokratischen Nichtwissens stehen:
Iconoclash, Kritizismus, Nihilismus und Umwertung.
Auschwitz, der Ort in Adornos Denken, mit dem er den Imperativ der
Einmaligkeit unverrückbar installiert: „Hitler hat den Menschen im Stande
ihrer Unfreiheit einen neuen kategorischen Imperativ aufgezwungen: ihr
Denken und Handeln so einzurichten, dass Auschwitz nicht sich wiederhole, nichts Ähnliches geschehe.“3
Negativ auch der mythische Raum, den Odysseus durchirrt: „Mühselig und
widerruflich löst sich im Bilde der Reise historische Zeit ab aus dem Raum,
dem unwiderruflichen Schema aller mythischen Zeit.“4
Höhlen als Zwischenräume für den Widerspruch: „Die Ideen leben in den
Höhlen zwischen dem, was die Sachen zu sein beanspruchen, und dem, was
sie sind.“5
Amorbach, negativ als Hohlform der Erinnerungen heiler Kindheit.
Die Eiswüste der Abstraktion, die es für den Philosophen wie für einen Polarforscher zu durchmessen gilt.
Und nicht zuletzt das Bilderverbot als offen gelassene Stelle.
An diesen spontan versammelten Beispielen zeigt sich eine für diesen großen Denker der Zeit eher unerwartete Vielfalt räumlicher Motive, die sich
tatsächlich stringent dem negativen Duktus der Adornoschen Dialektik
fügen und ihm Anschaulichkeit verleihen. Auch die zentralen Begriffe seiner Erkenntnismethode sind topologisch: Konstellation, Mittelpunkt und
3
4
5
ders., Negative Dialektik. In: GS, Bd. 6, S. 358.
ders., Dialektik der Aufklärung. In: GS, Bd. 3, S. 66.
ders., Negative Dialektik, a.a.O., S. 153.
Nach Adorno
43
Durchgang durch die Extreme bilden eine Art Bausatz für die Konstruktion
seiner kritischen Modelle.
Konstellation, Mittelpunkt, Extrem
Zur analytisch kritischen Methode, der Logik des Zerfalls, tritt in Adornos
Philosophie der synthetische Aspekt der Konstellation hinzu. Sie ist eine Erkenntnisform, bei der der zentrale problematische Begriff einer Sache von
außen, aus dessen geschichtlichem und gesellschaftlichem Kontext, erschlossen wird. Er bildet für Adorno eine Alternative zum identifizierenden, definierenden, hierarchischen Verfahren der traditionellen Philosophie.
Das Identitätsdenken, von der Unberührbarkeit von Kants ‚Ding an sich’
aus betrachtet, gilt Adorno als mythisches Tabu fürs Subjekt: nicht an das
zu rühren, was ihm nicht gleiche.6 Eine andere Analogie zum unkritisch
identifizierenden Denken besteht für ihn im Vorgang des Fressens:
„Durchweg verbindet es den Appetit des Einverleibens mit Abneigung
gegen das nicht Einzuverleibende, das gerade der Erkenntnis bedürfte.“7 So
demonstriert Adorno, dass das Denken noch kein eigentlich geistiges Stadium erreicht hat und, befangen in Urgeschichte, noch in Analogie zu den
natürlichen Reflexen funktioniert. Ihm zufolge vermag Denken im Akt des
Identifizierens nicht das Unauflösliche seiner Gegenstände zu Bewusstsein
zu bringen und verschärft darin jenen Widerspruch von Allgemeinem und
Besonderem, bei dem Adorno nicht stehen bleibt, und gegen den er seine
Dialektik des Besonderen in dessen jeweiligem Zusammenhang entfaltet.
„Nach dem dauerhaftesten Ergebnis der Hegelschen Logik ist es nicht schlechthin für
sich sondern in sich sein Anderes und Anderem verbunden. Was ist, ist mehr, als es
ist. Dies Mehr wird ihm nicht oktroyiert, sondern bleibt, als das aus ihm Verdrängte,
ihm immanent. Insofern wäre das Nichtidentische die eigene Identität der Sache gegen
ihre Identifikationen. Das Innerste des Gegenstandes erweist sich als zugleich diesem
auswendig, seine Verschlossenheit als Schein, Reflex des identifizierenden, fixierenden
Verfahrens. Dahin geleitet denkende Insistenz vorm Einzelnen, als auf dessen Wesen,
anstatt auf das Allgemeine, das es vertrete.“8
Adorno vollzieht Hegels Gedanken, nach dem alles im Himmel und auf der
Erde miteinander verbunden ist, mimetisch in einer erkenntnistheoreti6
7
8
ebd., S. 163.
ebd.
ebd., S. 164.
44
Michaela Homolka
schen Intention nach. Wenn der Gegenstand aus dem Zusammenhang, in
dem er steht, gedeutet wird, ist dieser Zusammenhang nicht ein rein äußerliches Nebeneinander, sondern bildet das Bedeutungsgeflecht, in dem der
Gegenstand sich entäußert, nach. Diese Methode der Entfaltung von Konstellationen ermöglicht dem Denken den Ausweg aus dessen Selbstbezug.
Bereits aus dieser knappen Betrachtung des Begriffs der Konstellation
wird schon erkennbar, dass der Raum, in dem sie sich entfaltet, nicht als
Totalität gesehen wird. Jedem Gegenstand wird sozusagen die Rekonstruktion seines eigensten geschichtlichen Raumes zugeschrieben, vergleichbar
einem Kosmos en miniature, in dessen Mitte er wie in einem speziell für
seine Erkenntnis angelegten zentralen Spannungsfeld steht. Adorno betreibt damit eine Wissenschaftskritik, die sich vor allem an den traditionellen Kategorien „Identität“ und „Totalität“ entzündet. Sein Denken benötigt
statt des traditionellen Einheitsprinzips der Identität nur ein einheitsstiftendes Moment:
„Das einigende Moment überlebt, ohne Negation der Negation, doch auch ohne der
Abstraktion als oberstem Prinzip sich zu überantworten, dadurch, dass nicht von den
Begriffen im Stufengang zum allgemeineren Oberbegriff fortgeschritten wird, sondern sie
in Konstellation treten. Diese belichtet das Spezifische des Gegenstandes, das dem
klassifikatorischen Verfahren gleichgültig ist oder zur Last. Modell dafür ist das Verhalten der Sprache. Sie bietet kein bloßes Zeichensystem für Erkenntnisfunktionen.
Wo sie wesentlich als Sprache auftritt, Darstellung wird, definiert sie nicht ihre Begriffe. Ihre Objektivität verschafft sie ihnen durch das Verhältnis, in das sie die Begriffe,
zentriert um eine Sache, setzt. Damit dient sie der Intention des Begriffs, das Gemeinte
ganz auszudrücken.“9
Nach Adornos Diktum soll in der gelungenen Konstellation alles gleich nah
zum Mittelpunkt zu stehen kommen. Allerdings hält er sich mit Auskünften
über diesen Mittelpunkt bedeckt. Hegel benennt ganz am Anfang seiner
Vorrede zu den Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie den Mittelpunkt
für das philosophiegeschichtliche Interesse als jenes Verhältnis, in dem die
„scheinbare“ Vergangenheit mit der Gegenwart über den Kausalzusammenhang hinaus „auf eine eigentümliche Weise produktiv“10 ist. Die Anschaulichkeit der produktiven Wirksamkeit der Vergangenheit als des aus9 ebd., S. 164.
10 G. W. F. Hegel,
Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie I, Werke, Bd. 18,
Frankfurt/Main 1986, S. 20.
Nach Adorno
45
dehnungslosen Raums entfaltet Adorno im Zentrum der Konstellation. Der
Mittelpunkt oder Schnittpunkt von Vergangenheit und Gegenwart zentriert
ein Spannungsfeld. Er findet seine zeitliche Entsprechung im Augenblick.
Der Mittelpunkt ist die äußerste Zuspitzung des raumzeitlichen Motivs.
Im Verhältnis von Begriff und Sprache wird die Isolation des Begriffs zugunsten seines Zusammenhangs aufgebrochen. Adorno nähert dadurch
wiederum den Begriff Dialektik der Vielschichtigkeit des Wortes im Sinne
der Dialektik der platonischen Dialoge an. Paradigmatisch scheinen für
Adorno die Hegelschen Anmerkungen in den Vorlesungen über die Geschichte
der Philosophie zur Bedeutung von Platos Dialogen zu sein:
„... die Platonischen Dialoge sind nicht so beschaffen wie die Unterredung mehrerer, die
aus vielen Monologen besteht, wovon der eine dies, der andere jenes meint und bei seiner
Meinung bleibt. Sondern die Verschiedenheit der Meinungen, die vorkommt, ist untersucht; es gibt ein Resultat als das Wahre; oder die ganze Bewegung des Erkennens,
wenn das Resultat negativ ist, ist es, die Platon angehört.“11
In der Bestimmung der ‚ganzen Bewegung des Erkennens, wenn das Resultat negativ
ist,’ als Wahrheit, ist auch Adornos Konzeption erkennbar, die auf die Unabgeschlossenheit des Prozesses ihre Hoffnung setzt. Weiter unten heißt es
bei Hegel:
„Ich habe schon bemerkt, dass Platos Dialoge nicht so anzusehen sind, dass es ihm
darum zu tun gewesen ist, verschiedene Philosophien geltend zu machen, noch dass Platos Philosophie eine eklektische Philosophie sey, die aus ihnen entstehe; sie bildet vielmehr den Knoten, indem diese abstrakten einseitigen Prinzipien jetzt auf konkrete
Weise wahrhaft vereinigt sind. In der allgemeinen Vorstellung der Geschichte der Philosophie sahen wir schon, dass solche Knotenpunkte in der Linie des Fortganges der
philosophischen Ausbildung eintreten müssen, in denen das Wahre konkret ist.“12
Da Adorno nicht vom Ding ausgeht, sondern von dessen Begriff, bevorzugt er die Sprache gegenüber der logischen Systematik als das ähnlichere,
mimetische Mittel, sich dem Nicht-Identischen in seinem jeweiligen Zusammenhang zu nähern. Hegels Dialektik bezeichnet er dagegen als „eine ohne
Sprache“:
„Im emphatischen Sinn bedurfte er der Sprache nicht, weil bei ihm alles, auch das
Sprachlose und Opake, Geist sein sollte und der Geist der Zusammenhang. Jene Supposition ist nicht zu retten. Wohl aber transzendiert das in keinen vorgedachten Zu11
12
ebd., 181. – Vgl. auch: L. Sichirollo, ∆ιαλεγσθαι Dialektik, Hildesheim 1966, S. 175.
ebd., S. 175 bzw. 181 f.
46
Michaela Homolka
sammenhang Auflösliche als Nichtidentisches von sich aus seine Verschlossenheit. Es
kommuniziert mit dem, wovon der Begriff es trennte. Opak ist es nur für den Totalitätsanspruch der Identität; seinem Druck widersteht es. Als solches jedoch sucht es
nach dem Laut. Durch die Sprache löst es sich aus dem Bann seiner Selbstheit.“13
Ist bei Adorno von Sprache die Rede, so steht nicht die Mitteilung im Vordergrund, sondern die plastische Darstellung; letztendlich ist es die Performance einer Kommunikation, nicht mit dem Leser, sondern dem Gegenstand, für den er eigens diese ideale Kommunikationssituation der Konstellation herstellt, und dem er das Vermögen der Kommunikation aus dessen
Zusammenhang heraus zuspricht. Er kommuniziert also nicht über die Dinge, sondern mit den Dingen und für sie; von daher auch das Hermetische
seiner Texte. Habermas hat diesem kommunikativen Prinzip dann eine
völlig andere, intersubjektive Richtung gegeben. An diesen Begriffen: Verhältnis, Kommunikation, Sprache, Konstellation zeigt sich, wie anthropomorph der erkenntnistheoretische Aspekt von Adornos Denken geprägt ist.
Neben und auch mit der Entfaltung von räumlichen Konstellationen nähert
es sich beinahe unwillkürlich anthropomorphen und ästhetischen Kategorien. Allerdings ist die Kommunikationssituation, die er herstellt, trotz und
gerade wegen seiner Bemühungen asymmetrisch, das Subjekt dem Objekt
zunächst überlegen wie der Arzt dem Kranken oder wie die erfahrene Liebhaberin dem unerfahrenen Geliebten.
Adornos Konzeption der Konstellation bezeichnet gewissermaßen das
strukturelle Scharnier, an dem das Denken von der Systemkritik ab- und der
Sprache zugewandt wird. Und von der Sprache aus ist es für Adorno, dem
sich das Mehr der Dinge zuneigt, bloß ein winziger Sprung zur wortgewaltigen Rhetorik..
„Die Gewalttat des Gleichmachens reproduziert den Widerspruch, den sie ausmerzt.“14
Eines solchen Pathos des Gedankens sind wir Heutigen gänzlich entwöhnt;
unvorstellbar heute die Wortgewalt Nietzsches oder dies Ätzende Voltaires.
Nachdem man einen solchen Satz gelesen hat, bekommt man den Eindruck, man müsse die Begriffe aus deren Gefängnissen befreien, in denen
sie, in Sträflingskleidung und mit Nummern versehen, in Reih’ und Glied
13
14
Th.W. Adorno, Negative Dialektik, a.a.O., S. 165.
ebd., S. 146.
Nach Adorno
47
zur Bewegung im Anstaltshof im Kreise gehen und auf Untaten sinnen. Die
Vorliebe fürs Extreme hat bei Adorno Methode. War sie authentischer
Ausdruck der zeitgenössischen Gefühlslage, so wurde sie als „Durchgang
durchs Extrem“ Mittel negativer Dialektik und trug reziprok zur Steigerung
der damals wohl zunehmend explosiven Gefühlslage bei. Und die Wahrheit
der Übertreibung wurde ästhetisch moralisches Programm.
„Während die hellen (Schriftsteller) das unlösliche Bündnis von Vernunft und Untat,
von bürgerlicher Gesellschaft und Herrschaft durch Leugnung schützten, sprachen jene
(die dunklen) rücksichtslos die schockierende Wahrheit aus. ‚...In die von Gattinnenund Kindermord, von Sodomie, Mordtaten, Prostitution und Infamien besudelten
Hände legt der Himmel diese Reichtümer; um mich für diese Schandtaten zu belohnen,
stellt er sie mir zur Verfügung’15, sagt Clairwil im Resümé der Lebensgeschichte ihres
Bruders. Sie übertreibt. Die Gerechtigkeit ist nicht ganz so konsequent, nur die
Scheußlichkeiten zu belohnen. Aber nur die Übertreibung ist wahr.“16
Die Affinität Adornos zum Extrem hängt sicherlich mit seiner Erfahrung
des Dritten Reichs zusammen. Philosophisch vermittelt ist sie an den klassischen Kategorien der Totalität und Identität der subjektiven Philosophie,
genauer gesagt: an deren, in Adornos Augen, totalen Identitätsanspruch.
„... auch nur eingeschränkt, ist das Subjekt bereits entmächtigt. Es weiß, warum es im
kleinsten Überschuß des Nichtidentischen sich absolut bedroht fühlt, nach dem Maß
seiner eigenen Absolutheit. An einem Minimalen wird es als Ganzes zuschanden, weil
seine Prätention das Ganze ist.“17
Meisterhaft führt hier Adorno den dialektischen Umschlag von der Totalität
zur Nichtigkeit vor. Der Absolutheitsanspruch löst sich in Nichts auf. Soweit ist die These mitvollziehbar. Aber, dass dabei nicht auch das Subjekt
„zuschanden“ wird, wie seine Rhetorik suggeriert, sollte festgehalten werden.
Auf den ersten Blick ist die Radikalität seiner über das Ziel hinausschießenden Formulierungen verwunderlich. Doch über die Frage nach der Identität
des Menschen, die im Roman, im Film wie auch in der Psychologie seit der
Jahrhundertwende längst als Problem eingedrungen und thematisiert war,
musste auf erkenntnistheoretischem Gebiet erst noch nachgedacht werden.
Nietzsche wirft die Problematik der Identität erst auf. Bei ihm stellt sie sich
mit einem geradezu theatralischen Ensemble von Charakteren im Zara15
16
17
M. de Sade, Histoire de Juliette, Hollande 1797, Bd, V, S. 319 f.
Th.W. Adorno, Dialektik der Aufklärung, a.a.O., S. 139.
ders., Negative Dialektik, a.a.O., S. 184.
48
Michaela Homolka
thustra dar. Kierkegaard schreibt in Pseudonymen. Adorno zeigt in seiner
Philosophie das Bestreben, erkenntnistheoretisch die Höhe des modernen
kulturellen Bewusstseins zu erreichen. Auch von daher ist sein Kampf gegen den subjektiven Identitätsanspruch und seine Demontage des Subjektbegriffs zu verstehen. Den von ihm proklamierten Vorrang des Objekts
führt er nur darauf zurück, dass die Macht des Subjekts nicht absolut sei.
Demnach ist er kein gewöhnlicher Kritiker der Macht und kein Anarchist –
er ist ausschließlich der Kritiker absoluter Macht. Und nur von dieser äußersten Position aus, räumlich gesprochen, deren Entsprechung er im geschlossenen System sieht, ist er richtig zu verstehen. Und erst von hier aus
stellt sich die Frage: Hat sich nicht der Systemgedanke vor ihm, Adorno, in
den Plural geflüchtet?!
Alexander von
Pechmann
Zwischen kritischer Moderne und
Kritik der Moderne
Zur Internationalen Adorno-Konferenz
2003 in Frankfurt/Main
I.
Zu seinem 100. ist Theodor Wiesengrund-Adorno in der Mitte der Gesellschaft angekommen, die zeit seines Lebens Abstand von ihm wahrte, wie
auch er sich von ihr zu distanzieren trachtete. War es doch ihm, dem Judenkind Wiesengrund, Adorno, dem verworfenen Schreibtischtäter und
auch Teddy, dem politischen Versager, weder in die Wiege noch ins Grab
gelegt, dass seine Heimatstadt eine „Stabsstelle“ (sic!) einrichten wird, um
mit Platz- und Denkmalseinweihung, mit Kongressen, Matineen und Abendveranstaltungen ihres nunmehr großen Sohnes zu gedenken; dass ihm
die Feuilleton- und Kulturredaktionen nahezu aller deutschsprachigen Zeitungen und Magazine, Rundfunk- und Fernsehanstalten ausführliche Leitartikel widmen werden, die ihn zeitgemäß in der intellektuellen Landschaft
von heute verorten; und dass von der Lektorenschaft der Großverlage bis
zu den Pressen der Großdruckereien alles rotieren wird, um zur rechten
Zeit ihre Adorno-Bücher auf dem aufnahmebereiten Markt zu platzieren.
So sehr dem Menschen Adorno in den vergangenen Monaten auch gebührlich Achtung geschenkt wurde, und er als Intellektueller gar zu einem
der geistigen Gründungsväter der Bundesrepublik avancierte – wie aber
steht es um den Einfluss und die Wirkung seiner Theorie? Sind wir heute,
wie einige vermuten, „nicht alle ein bisschen adorno“ oder gilt, dass in den
Wissenschaften heute von Adorno nichts mehr zählt? Und in der Tat: sein
Aufstieg ins Zentrum der Öffentlichkeit scheint mit seinem Abstieg an die
Peripherie des Wissenschaftsdiskurses gekoppelt zu sein. Wo, so fragte Axel
Honneth, der heutige Direktor des Instituts für Sozialforschung, zu Beginn
der Frankfurter Adorno-Konferenz, wo sind die großen Entwürfe der Gegenwart, die sich auf Adorno beziehen?
Angekündigt hatte die Götterdämmerung der „Kritischen Theorie“ sich
bereits vor 20 Jahren, auf der mittlerweile legendären Konferenz zu Ador-
50
Alexander von Pechmann
nos 80. Geburtstag. Fochten doch schon damals die hohen Priester der
„Frankfurter Schule“ einen schier aussichtslosen Kampf gegen die Heraufkunft der neuen, der postmodernen Götter aus Frankreich. Und mit deren
Herrschaftsbeginn musste die Rede von der einen, der total verwalteten
Gesellschaft, deren einzig widerständiger Ort allein kritische Theorie sei,
verblassen. An die Stelle der Gesellschafts- und Geschichtskritik trat nun
die Arbeit der Dekonstruktion, die all die Ideen von einem irgendwie Ganzen in eine Pluralität von Macht- und Herrschaftsdiskursen zersetzte. Schon
bald hielt die Post-Moderne selbst in Frankfurt Einzug, und die Rede vom
Totalen und Universalen wurde als eine Mär aus alter Zeit belächelt. Musste
doch selbst der frömmste Adornit einsehen, dass die große These des Meisters vom „universellen Verblendungszusammenhang“ weder den empirischen noch den logischen Kriterien genügen könne, weil doch dem je
schon Überzeugten jeder Einwand gegen sie nichts anderes beweist als eben
diese Verblendung, und weil ihr Sprecher den performativen Widerspruch
begeht, sich selbst von der Verblendung ausnehmen zu müssen, die er
gleichwohl als universell behauptet. So wurde denn auch Adornos Ganzes
in seine Vielfalt zerstückelt, und seine Sätze zierten als ausdrucksstarke
Ornamente die Arbeiten der Jüngeren.
II.
Wiederum 20 Jahre später ist nun auch die Postmoderne in die Jahre gekommen und scheint ihr Aufklärungswerk beendet zu haben. Seither
herrscht ein ernsterer Zug zu begrifflicher Klarheit und analytischer Strenge, und eine pragmatische Ausrichtung aufs Gegebene hat im Wissenschaftsdiskurs Einzug gehalten. Und so konzentriert sich denn die Bezugnahme auf Adorno heute nicht mehr darauf, ihm all seine Irrtümer, Monstrositäten und heroischen Gesten vorzuhalten, sondern auf die Suche nach
Ansätzen und Theoriestücken, die dem Gegenwartsdiskurs standhalten
können und auf die heutige Lage als anwendbar erscheinen. Dementsprechend regierte denn die diesjährige Adorno-Konferenz zum 100. Geburtstag das große „Auch“ bzw. „Zwar – Aber“: einerseits bestehe zwar, so
situierte sich der Soziologe Sighard Neckel in seinem Vortrag, der kapitalistische Fetisch- und Verdinglichungscharakter weiterhin; aber es gebe doch
auch Individuen und Kollektive, die solchen Zwang durchbrechen, Autonomes kreieren und selbst mit den Mechanismen des Marktes spielen. An-
Zur Internationalen Adorno-Konferenz 2003 in Frankfurt/Main
51
dererseits sei zwar festzustellen, dass sowohl die individuellen Chancen als
auch die Vielfalt kultureller Ausdruckformen gewachsen seien, dass aber
doch auch der Zwang zur Konkurrenz und der Druck zur Uniformität
gestiegen sei. Lässt sich, so schlug Neckel vor, diese Gemengelage nicht im
Begriff des „reflexiven Mitspielers“ erfassen, der unter dem „Regime der
Selbstformung“ stehe?
Da ist denn der Schritt nicht weit, Adorno selbst zum Urheber solch soziologischer Theoriebildung zu erheben. War es nicht Adorno, der, wie Josef
Früchtl bemerkte, vom „Doppelcharakter“ der Moderne gesprochen habe,
der zwar Misslingen, aber doch auch Gelingen beinhalte? Müssen wir daher
die „Dialektik der Aufklärung“ nicht heute so lesen, dass sie die Moderne
nicht eigentlich als einen Verfallsprozess beschreibt, sondern als Becksche
„Risikogesellschaft“, die das entschiedene „Auch“ zum Thema hat, die
Ambivalenz zwischen Handlungsfreiräumen und -zwängen, die dem einzelnen neue und höhere Anforderungen stellt? Und so bestand denn ein
Großteil des Kongresses in dem Gesellschaftsspiel: eher gegen Adorno mit
Adorno oder besser doch mit Adorno gegen Adorno.
III.
Neben diesen Anschlussbemühungen an den Stand der heutigen Sozialund Kulturwissenschaften zeigte der Kongress jedoch ein neu erwachtes
Interesse, den Kern des Denkens Adornos aufzudecken; d.h. dessen
Grundthesen nicht der Gegenwart vergleichend anzupassen, sondern ihren
inneren Gehalt verstehen zu wollen und sie so in ihrem eigenen Kontext zu
rekonstruieren. Dies wachsende Interesse muss allein deswegen als sinnvoll
erscheinen, weil doch die Aktualität Adornos von heute morgen schon
wieder ganz unaktuell sein mag, die Grundstruktur seines Denkens aber
von bleibendem Interesse sein könnte. Freilich muss diese Zuwendung
mehr als die Banalität zutage befördern, dass Adornos Philosophieren darin
bestanden habe, dasjenige Leiden abschaffen zu wollen, das abgeschafft
werden könnte. Oder dass für ihn, wie Raymond Geuss hervorhob, der Geist
das Versprechen des Glücks sei und Philosophie daher nur vom Standpunkt solch gelungenen Lebens her möglich sei. Denn Zugänge dieser Art
betten in ihrer Abstraktheit Adorno nur in den allgemeinen Strom der Philosophie ein; sie unterschlagen aber das Spezifische seines Denkens.
52
Alexander von Pechmann
In dieser Hinsicht gehaltvoller war der Rekonstruktionsversuch von Martin
Seel, der den Gebrauch untersuchte, den Adorno von zentralen philosophischen Begriffen machte. Sein Vortrag unternahm es, die allzu bekannten
Schlagworte vom Denken des Nicht-Identischen, von Begriffen, die nicht
aus-, sondern aufschließen, oder vom Vorrang des Objekts, anhand der
erkenntnistheoretischen Grundbegriffe des Benennens und des Urteilens mit
Inhalt zu füllen.
Anders als die traditionelle formale Logik, der der Name als semiotisches
Werkzeug dient, um den gemeinten Gegenstand zu identifizieren, zielt
Adorno, so Seel, mit dem Benennen auf die Heraushebung der Individualität des Benannten. Der Akt der Namensgebung fixiere das Objekt nicht in
der Gestalt eines Dings, sondern hebe es aus der Anonymität des Namenlosen heraus und mache es in seiner Einzigartigkeit und unvergleichlichen
Besonderheit zum Gegenstand des Erkennens. Das Wort „Eigenname“
gebrauche Adorno nicht, um damit am Objekt ein bloß äußerliche Kennzeichnung und Etikettierung vorzunehmen, sondern um es darin in seinem
Eigensein anzuerkennen. Was Adornos Rede vom „Vorrang des Objekts“
mithin meint, sei, dass schon im ersten Erkenntnisakt, der Namensgebung,
das Objekt nicht einem festen Zeichen unterworfen wird, das den Gegenstand bedeutet (unum nomen, unum nominatum), sondern es in seiner unverwechselbaren Eigenheit zum Gegenstand gemacht wird. Dafür kann nun
aber der Grund nicht darin liegen, dass das Einzelne, wie Aristoteles dies
gesagt hat, als προτη ουσια sich dem Begrifflichen entzieht – und Adorno
daher nicht den Universalienstreit neu aufzurollen gedenkt –, sondern dass
das denkende Subjekt schon im Ursprung der Erkenntnis den Vorrang des
Objekts, das uneinholbare Selbstsein des ihm Anderen, anerkennt.
Die Folge solch ursprünglicher „Anerkenntnis“ ist freilich, dass der Gebrauch, den Adorno von den Begriffen im Urteil über den Gegenstand
macht, kein „Zu-Griff“ ist, das ihn klassifizierend bestimmt oder als Einzelnes unter ein Allgemeines subsumiert, sondern dass er ihn als einen eröffnenden „Zu-Gang“ versteht, der im Verfahren der Prädikation die Sache in
ihrer Eigentümlichkeit erst aufschließt und nicht, wie im Akt der Subsumtion, schon abschließt. Dass die Sache sich so verhält, wie das Urteil sagt,
dass sie sich verhält, muss Adorno als ein unerträglicher Akt der Barbarei
erscheinen, weil darin das Objekt mit dem Urteil gleichmacht wird. Solches
Verfahren will das Objekt als Sache beherrschen, nicht aber in seinem Ei-
Zur Internationalen Adorno-Konferenz 2003 in Frankfurt/Main
53
gensein vernehmen. Es denkt in festgestellten Lehrsätzen und fertigen
Sachverhalten, nicht aber in Konstellationen der Begriffe, die das Objekt erund aufschließen.
Ein solch offener und konstellativer Gebrauch der Begriffe nimmt sein
Vorbild nicht an der Technik, sondern hat seine Affinität zur Musik. Das
Unabschließbare, die Bewegung, so die New Yorker Philosophin Lydia Goehr
in ihrem Vortrag, sei die Leitidee, die nach Adorno dem Denken wie der
Musik innewohne. Diese Verbindung sei nichts bloß Biographisches, sondern prägend für Adornos Denkungsart. Sie setzt damit der kruden Vorstellung von der Logik als einem Werkzeug, das der Zurichtung der Objekte
dient, die Unabschließbarkeit denkender Erkenntnis entgegen. So wie die
Musik weder eine wirre Reihe von Tönen sei, sie ihre Wahrheit aber auch
nicht in der Wiederholung eines gegebenen Schemas entfalte, sondern in
der freien und doch gestalteten Exposition der Töne und Klänge, so sei
auch das Denken weder beliebig noch gehorche es einem starren Schema,
sondern folge der inneren Dialektik des Gedankens, der wird und nicht ist,
und der über sich aufs Objekt hinausweist. So wie die Musik nie fertig ist,
so ist auch die Philosophie, trotz Hegel, nie fertig.
Freilich ist dieser unabschließbar dialektische Charakter des Denkens und
damit die Relativität jeder gegebenen Erkenntnis, wie die anschließende
Diskussion verdeutlichte, für Adorno weder in der geläufigen These gegründet, dass der Mensch eben nicht Gott, sondern ein endliches Wesen
und Bescheidenheit daher eine ihm allemal hilfreiche Tugend sei, noch in
der ebenso geläufigen These, dass die Welt – und erst recht die heutige Welt
– so komplex und so undurchschaubar sei, dass ihre Erkenntnis allemal
bruchstückhaft und vorläufig sein müsse, wie Andrea Kern dies zu verorten
meinte. Man müsse es wohl vielmehr in dem grundlegend Moralischen in
Adornos Denken sehen, das die Unverfügbarkeit des Objekts zum Grund
aller denkenden Erkenntnis erhebt. Die Achtung vor dem Objekt verbietet,
den Erkenntnisvorgang als abgeschlossen zu denken.
IV.
Was in erkenntnistheoretischer Sicht als Konstitution eines solch gewaltfreien Verhältnisses von Subjekt und Objekt gedacht wird, erscheint in
soziologischer Hinsicht als Konstitution der Idee einer herrschaftsfreien
Kommunikation. Tilman Allert, dem man nicht zuzustimmen braucht, wenn
54
Alexander von Pechmann
er den Soziologen Adorno für heute als wertlos erachtet, versuchte dessen
ungeachtet, hinter dem Gebäude kritischer Theoriebildungen gleichsam die
Urform des Sozialen bei Adorno freizulegen, die, insbesondere in den „Minima Moralia“, als Idee einer gelungenen Kommunikation hervorscheint. In
diesen Textstellen werde das Soziale nicht als eine Zumutung ans Individuum gedacht, die nur unter der Herrschaft der Vernunft gebändigt und
erträglich wird; das Soziale werde hier aber auch nicht als eine zweckrationale Veranstaltung gedacht, die die sozialen Verhältnisse auf Macht und
Herrschaft gründet, sondern als eine Beziehung freier Menschen, deren
Band – in der Tat – die Liebe sei. „Liebe“, „Kuss“, „Duft“, „Aroma“ – dies
seien die Metaphern, mit denen Adorno ausdeutet, was gelungene Kommunikation sein könnte. Diese Idee bildet, wofür Axel Honneth in seinem
Referat den treffenden Ausdruck geprägt hat, Adornos „Urszene der Vernunft“. Ohne liebende Hingabe und Teilnahme wäre das Moralische bloß
äußerlich auferlegte Pflicht, und das Epistemische nur unilaterales Verfügungsdenken. Adorno selbst hat diese gemeinte „Urszene der Vernunft“
nur an- und bisweilen in der Erinnerung gelungener Kindheit ausgedeutet.
Dies muss freilich umso bedauerlicher erscheinen, als er angesichts dieser
Einsichten nun nichts mehr zum Paulus-Wort sagen kann: „... und hätte ich
der Liebe nicht, so wäre ich ein tönend Erz oder eine klingende Schelle.“
Nach all diesen Rekonstruktionsbemühungen des „Eigentlichen“ mag es
selbst dem eingefleischtesten Adorniten schwindeln, der in solchem Taumel
der Begriffe und Relationen doch das Feste und Kritische vermisst. Sie
machen jedoch zumindest die inneren Antriebe verständlich, die sowohl
Adornos kategorische Aussagen über das intrinsisch Verkehrte der Gesellschaft wie auch seine diesbezügliche Unnachgiebigkeit motivieren. Sie
erhellen, dass und warum Adornos kritische Gesellschaftstheorie, wie Axel
Honneth ausführte, eigentlich nichts anderes gewesen ist sei eine „Pathologie
der Vernunft“. Er habe zur Analyse des Verdinglichungscharakter, dem in
der Tauschgesellschaft alles, was doch für sich einzeln ist, nivellierend unterworfen ist, die gleichsam idealtypischen Begriffe entwickelt, wie den der
„Organisation“, der „Kulturindustrie“, des „kollektiven Narzissmus“ oder
der „Halbbildung“. Diese waren ihm die diagnostischen wie therapeutischen Mittel, um hinter der scheinbaren Rationalität und Vernünftigkeit der
Gesellschaft deren pathologische Tiefenstruktur sichtbar und um in der
Alltäglichkeit der modernen Welt das Leiden erfahrbar zu machen. Dazu sei
Zur Internationalen Adorno-Konferenz 2003 in Frankfurt/Main
55
er den historischen Ursprüngen nachgegangen, um den Mechanismus zu
durchschauen, der das immer wiederkehrende Verhängnis der pathologischen Verkehrung des an sich Vernünftigen ins Gegenteil bewirkt. Und er
habe sich kritisch mit den großen philosophischen Systemen auseinandergesetzt, um in ihnen dieses Umschlagen der Vernunft in Gewalt, der Autonomie in Herrschaft und Unterdrückung aufzudecken.
Der Blick auf jene „Urszene der Vernunft“ kann aber auch – was auf der
Konferenz zu kurz kam – darüber aufklären, dass die für Adorno unerträgliche Antinomie zwischen der realen Ohnmacht jener „wahren Vernunft“
und der faktischen Herrschaft einer allemal „pathologischen Vernunft“
offenbar durch die Vernunft selbst nicht aufgelöst werden kann. Denn da
die pathologisch verkehrte Form, die der herrschenden Rationalität eignet,
ihre Ursache nicht in der Vernunft selbst haben kann, vermag Vernunft es
nicht, das Leiden, das Philosophie doch abschaffen soll, abzuschaffen.
Adorno fehlt – worauf Axel Honneth kurz anlässlich der Adorno-LukácsDebatte hinwies – solch daseinsfrömmiger Optimismus. Sein Philosophieren bedarf daher der Idee des Noch-nie-dagewesenen, das gleichwohl als
ein Anders-Mögliches notwendig zu denken ist, um jenes Unerträgliche aufzulösen.
V.
Solch hermeneutische Entschlüsselungsversuche der Fundamente adornitischer Theoriebildung scheinen endgültig das Urteil zu bestätigen, dass mit
solcher Philosophie heute nichts mehr anzufangen ist. Dass dem nicht so
ist, zeigte der nachdenkliche Vortrag von Jürgen Habermas, der, wenn ich ihn
recht verstehe, bisher eingenommene Positionen vorsichtig einer Revision
unterzieht. War es Habermas doch, der die „kritische Theorie“ dadurch
anschlussfähig an die Moderne machte, dass er die Idee des einen und universellen Leidens- und Verblendungszusammenhangs verabschiedete, indem er klar und auch deutlich zwischen zwei „Vernunftsphären“ unterschied: zwischen der Sphäre strategisch-technischer Naturbeherrschung
und der Sphäre vernunftgeleiteter Kommunikation. Wenn nun aber, so
seine geäußerte Befürchtung, der Bereich technischer Naturbeherrschung
heute so weit gediehen ist, dass ihm auch die natürlichen Fundamente des
Kommunikativen verfügbar werden, wenn also das, was traditionell unter
der Personalität autonomer Vernunftsubjekte verstanden wurde, zum tech-
56
Alexander von Pechmann
nisch manipulierbaren Gegenstand verwandelt wird, dann fällt die Basis
weg, auf der jene Trennung der Sphären ihren Sinn hatte. Verhält es sich so,
dass in absehbarer Zeit das, was in der Sphäre der Kommunikation den
Teilnehmer als ein innerer Vorgang, als ein mentales Ereignis, erscheint, wie
dies etwa die Suche nach guten Gründen ist, in die Sphäre der Naturbeherrschung als Beobachtung eines kausalen Mechanismus hinreichend genau
transformiert werden kann, dass also das bislang Unverfügbare verfügbar
wird, dann gibt es für Habermas’ Theorie der Moderne ein Problem. Denn
es könnte sich dann doch Adornos Konzept der Moderne als gerechtfertigt
erweisen, das keinen Dualismus jener Sphären, sondern zwischen der Beherrschung der Natur einerseits und der Unterdrückung der Freiheit andererseits einen inneren Zusammenhang angenommen hatte.
Habermas hat in seinem Vortrag „Ich selber bin ja ein Stück Natur“ diese
Konzeption Adornos selbst zum Thema gemacht, ohne daraus allerdings
die Konsequenzen zu ziehen. Wenn er an anderen Stellen jedoch eher soziologisierende Hinweise auf das Potential der Religionen gegeben hat, die
das Bewusstsein des Unverfügbaren in der Moderne noch wachhalten können, dann deuten sie darauf hin, dass Adornos Konzeption einer „pathologischen Vernunft“, die in sich einen Mechanismus enthält, was Freiheit ist,
in Beherrschung zu transformieren, vielleicht mehr Problembewusstsein
und ‚Wahrheit‘ enthält, als die Apologeten einer noch so reflexiven Moderne es sich gedacht haben. Angesichts des Problems, dass es die Moderne
selbst ist, die das Unverfügbare verfügbar macht, müssen Habermas’ Rückgriffe auf die Traditionsbestände der Religionen jedenfalls als theoretisch
unausgereift und vorläufig erscheinen. Es könnte sein, dass sich statt solch
halbherziger Rückgriffe aufs Divinatorische die Idee Adornos doch als
zukunftsträchtiger erweist, die die Anerkennung des unverfügbar Anderen
an den Anfang aller Moral und aller Naturerkenntnis stellt. Diese Idee erscheint heute freilich nicht als „anschlussfähig“; denn sie würde das reflexiv
moderne „Auch“, das die Konferenz weitgehend regierte, beenden. Die
Folge wäre – wieder – eine Fundamentalkritik moderner Praxis.
Percy Turtur
Notizen
zur Internationalen Adorno-Konferenz
Heute braucht eine Konferenz zu Theodor W. Adorno schon einen Anlass
– der 100. Geburstag erzwang nach 20 Jahren eine derartige intellektuelle
Pflichtübung an einer der Wirkungsstätten das Jubilars, der Johann-Wolfgang-von Goethe-Universität in Frankfurt am Main. Es sollten sich in erster
Linie nicht die Anhänger (soweit noch vorhanden), sondern „theoretisch
avancierte Vertreter der jeweiligen Spezialdisziplinen“1 dieser geistigen
Gymnastik unterziehen. Die Atmosphäre auf der Adorno-Konferenz war
angenehm, entspannt, mit Studenten, die rege dabei waren und nicht versäumten, ihren Unmut über die allgegenwärtigen Kürzungen, speziell bei
den Geisteswissenschaften, lautstark zum Ausdruck zu bringen. Es war
möglich, mit jedem zu reden, an den man Fragen hatte – so es denn noch
Fragen gab:
***
Steht Jürgen Habermas noch auf dem Boden der Kritischen Theorie Theodor
W. Adornos, der schließlich sein Lehrer war? – Einiges spricht dafür: Auch
wenn sich die „Theorie des kommunikativen Handelns“ (TkH) weitgehend
von der Art der Theoriebildung der früheren Kritischen Theorie gelöst hat,
so geht sie, scheint mir, immer noch auf ein Ganzes. Auch wenn sie zergliedert, in Lebenswelt und Sphären des (zweckrationalen) Handelns, so
versucht sie doch auch wieder, die verschiedenen Bereiche zusammenzufügen. Traditionelle Theorie, nicht erst seit Adorno, aber von ihm und Horkheimer trefflich analysiert, zergliedert ihren Gegenstand und ist es zufrieden, Ergebnisse zu erhalten, die sich in die jeweiligen Bereiche einpassen.
Die Kommunikationstheorie in der Version von Habermas geht anders vor:
sie macht sich diese Art der Zergliederung auch selber zum Thema.
1 So zu lesen in dem Veranspaltungsplan, der vorab im Internet einzusehen war:
http://www.ifs.uni-frankfurt.de/veranstaltungen/2003/adorno.htm
58
Percy Turtur
Noch Fragen? – Gibt es in der TkH einen Ort für das „ganz Andere“ Adornos? – Wenn nein, kann man Habermas getrost aus dem Umfeld Kritischer Theorie entlassen – sie ist, um im Jargon zu sprechen, „ins Affirmative gekippt“ (wie aus mittelprächtigem Wein Essig wird bei der Lagerung). –
Wenn ja, dann wird man wohl im Umfeld des „herrschaftsfreien Diskurses“, der idealen, nicht verzerrten Sprechsituation suchen müssen. Die Frage, die sich dann stellt, ist, ob der „herrschaftsfreie Diskurs“ bereits das
ganz Andere der herrschenden Misere ist – oder ob er lediglich die Voraussetzung dafür ist, aus einem ganz Anderen ein Etwas zu machen, das zur
gesellschaftlichen Realität gehört. Dieses Utopie-Konstrukt würde dann
dem ähneln, was Marx einmal über die menschliche Geschichte bemerkt
hat: sie würde dann beginnen, wenn die Menschheit die gegenwärtige (und
sie ist immer noch so gegenwärtig wie vor anderthalb Jahrhunderten) Malaise endlich überwunden hätte und sich alle Individuen in ihrer Gesellschaft
so frei bewegen könnten, wie es ihnen zusteht. Dann wird man über das
ganz Andere reden (können) ...
***
Wie war das noch mit der Literaturtheorie? – Dazu hatte Jan Philipp Reemtsma Substanzielles beizutragen: Auch wenn nur 10% der Schriften Adornos
sich damit befassen, so ist das doch noch eine ganze Menge und ein Steinbruch für den Germanisten: Eine gescheiterte Theorie des Romans (weil
allzuviel an nicht nur modernen Romanen damit kaum vereinbar ist, meint
Reemtsma), „agonale Aufsätze“ wie der „Versuch, das Endspiel zu verstehen“, die ihren Gegenstand noch übertreffen an Schwerverdaulichkeit –
und letzlich immer das Primat der Philosophie, der Ästhetik über die Literaturwissenschaft. Glücklich kann damit kein gestandener Germanist sein.
Zum Glück bietet Adorno ausreichend Ansatzpunkte, ihn mit seiner eigenen Rhetorik zu schlagen, wie Reemtsma es vormacht. Also doch das Primat der Theorie über ihre Anwendung?
***
Was ist mit der „Dialektik der Aufklärung“? – Naja, sie ist halt eine Vorstudie, eine Materialsammlung, wie sich im Workshop von Gunzelin Schmid
Noerr herausstellt. Die Aufklärung habe einen prozessualen Charakter, den
man nicht stillstellen dürfe. Man dürfe eben die negativen Momente der
Notizen zur Internationalen Adorno-Konferenz
59
Vernunftkritik nicht absolut setzen. Dass das Plus und Minus der Aufklärung sich nicht aufrechnen lassen, diese „unaufhebbare Ambivalenz“ sei die
große Stärke der DdA. In der Diskussion stellte jemand sich (und uns)
ernsthaft die Frage, ob das Ding nicht besser „Ambivalenz der Aufklärung“
geheißen hätte – oder doch lieber nicht. Sogar zum „Ökosophen“ wird
Adorno – frei nach Sloterdijk.. Oder vielleicht doch besser „Paradox der
Aufklärung“? Lieber nicht.
***
Hat die Kritische Theorie, hat speziell Adorno noch Auswirkungen auf die
moderne Pädagogik? – Ja, aber... Natürlich verdankt die Erziehungswissenschaft Kritischer Theorie viel – besonders, würde ein konservativer Pädagoge wohl sagen, dass heutzutage die Schrazen2 ihren armen Erziehungsberechtigten auf dem Kopf herumtanzen und vor nix Respekt erweisen. Natürlich hat anti- und unautoritäre Erziehung ihre Wurzeln auch in der Kritischen Theorie; alle Versuche, einen funktionalen Ansatz in die Erziehungstheorie zu bringen, scheinen nicht so recht zu funktion(alis)ieren. In gewisser Hinsicht sei die moderne Pädagogik, meint Frank-Olaf Radtke, tatsächlich weiter: der Begriff vom zu pädagogisierenden Subjekt sei bei Adorno
noch recht traditionell. Auf der anderen Seite sei aktuelle Pädagogik heute
oft mehr „Schadensbegrenzung“ gesellschaftlicher Mißstände als wirkliche
„Erziehung zur Mündigkeit“ in dem Sinne, den der Begriff noch bei Adorno hatte. Inzwischen haben die Produkte der antiautoritären Erziehung (die
heutigen Mitdreissiger) einen regelrechten Hass auf ihre Erzieher aus den
68ern entwickelt, den sie in Elternbeiratssitzungen und Feuilletons auslebten. Die gute Nachricht: Zu den repressiven Erziehungsmodellen unserer
Jugend führt jedenfalls so recht kein Weg mehr zurück – und das ist doch
schon was, oder nicht?
***
Was ist denn nun mit der Soziologie? – Sieghart Neckel stellte eine Rekonventionalisierung soziologischer Forschung in den letzten Jahren fest. Der
heutige „reflexive Mitspieler“ sei sich seiner Stellung in der Gesellschaft
durchaus bewußt und dürfe nicht als „leeres Subjekt“ missverstanden wer2 bayerisch für: der mehr oder weniger erwünschte Nachwuchs in nicht volljährigem
Zustand
60
Percy Turtur
den. Er passe sich grade eben durch seine Individuierung an. Tilman Allert
erklärte die Minima Moralia zum „begrifflichen Potential für eine Soziologie
der elementaren Formen“: Adorno sei im Haus der Soziologie, die nur Soziologie sein will, angekommen, endlich.
Naja, meint Axel Honneth im Schlussplenum, die Kapitalismuskritik der
Kritischen Theorie sei weder eine deskriptive noch eine normative Theorie
in dem Sinne, in dem Theorien heutzutage normiert werden – sie sei halt
eine „Hermeneutik verfehlter Lebensform“. Peter Wagner forderte von einer
„kritischen Gesellschaftstheorie“, sie müsse für die diversen Ausformungen
kapitalistischer Gesellschaften verschiedene Deskriptionen bereithalten.
Wie auch immer.
***
Noch Fragen? Natürlich, die Entscheidende: Wie hältst Du’s mit der Theorie? – In Frankfurt fanden sich neben den üblichen Verehrern, vor denen
Adorno zu schützen schon der intellektuelle Anstand gebietet, unter den
Vortragenden und Diskutierenden Etliche, die den 100-Jährigen nebst seiner Theorie pietätvoll zu Grabe tragen wünschten. Still, mit etwas Melancholie, leise, auf dass der „tote Hund“ nicht etwa erwache und sie beiße.
Diese Fraktion hatte vor allem unter den Soziologen und Philosophen aus
Frankfurt ihre Anhänger. Andererseits gibt es in der in ihrem Gesamtzusammenhang so sperrigen Theorie doch etliches, was man gerne ausgeschlachtet und einem intellektuellen Recycling zugeführt hätte. Die Wissenschaftler aus Bereichen, die nicht ganz so „dem Ganzen“ verpflichtet sind,
haben mit derlei Theorie-Aufarbeitung (und Ausbeutung) ohnehin weniger
Probleme: Seit Jahrhunderten ist es in den Einzelwissenschaften üblich und
legitim, nicht nur die empirischen Überlieferungen, sondern auch Fragmente von Theorien so lang weiter zu verwenden wie sich nichts Bess'res findet.
Genau dieser Umgang mit „Wirklichkeit“ beschreibt einen Teil dessen, was
der verblichene Jubilar als „Verdinglichung“ bezeichnete und kritisierte –
vor allem dann, wenn er auch von Intellektuellen gepflegt wird, die doch
dem Ganzen verpflichtet zu sein die Verpflichtung hätten.
***
Noch Fragen?
Besprechungen
Bücher zum Thema
Theodor W. Adorno
Ontologie und Dialektik
(1960/61). Nachgel. Schriften
Abt. IV, Vorlesungen Bd. 7,
hg. von R. Tiedemann und
Th.W. Adorno-Archiv, Frankfurt/Main 2002 (Suhrkamp), Ln.,
440 S., 32.80 EUR.
Vorlesung über Negative Dialektik (1965/66). Nachgel.
Schriften, Abt. IV, Vorlesungen
Bd. 16, hg. von R. Tiedemann
und Th.W. Adorno-Archiv, Frankfurt/Main 2003 (Suhrkamp), Ln.,
358 S., 32.80 EUR.
Die beiden, jetzt in den Schriften aus
dem Nachlass zugänglichen Vorlesungen „Ontologie und Dialektik“
vom Wintersemester 1960/61 und
„Über Negative Dialektik“ vom Wintersemester 1965/66 dokumentieren,
zusammen mit den Vorlesungen zur
„Metaphysik. Begriff und Probleme“
(SoSe 1965, Suhrkamp 1998) sowie
„Zur Lehre von der Geschichte und
von der Freiheit“ (WiSe 1964/66,
Suhrkamp 2001), Adornos Arbeit am
Hauptwerk „Negative Dialektik“
(1966). Sie sind insofern Propädeutik
und Kommentar, Einführung und
Exkurs in das kritisch-theoretische
Projekt einer Logik des Nichtidenti-
schen. Die beiden jetzt vorliegenden
Vorlesungen umkreisen mit dem
Themenkomplex Ontologie und
negative Dialektik das Grundgerüst
von
Adornos
philosophischem
Hauptwerk (während die beiden
anderen Vorlesungen die drei abschließenden „Modelle“ der ‚Negativen Dialektik’ explizieren und ergänzen). Namentlich steht dabei, wie
auch in der ‚Negativen Dialektik’
selbst, die Auseinandersetzung mit
der Fundamentalontologie Martin
Heideggers im Vordergrund.
Der rote Faden, der sich durch die
beiden Vorlesungen zieht, wird aus
dem antinomischen Begriffspaar
„Ontologie und Dialektik“ gebildet;
in der ‚Negativen Dialektik‘ kulminiert dies bekanntlich in der Formulierung einer Dialektik als Ontologie
des falschen Zustands. Das heißt nun
nichts anderes, als die Prozesslogik
mit der Seinslehre in Konstellation zu
bringen, das Dasein selbst nicht statisch zu nehmen, sondern geschichtlich zu entfalten. In diesem Sinne
formuliert Adorno in einer ersten
Notiz zum Arbeitsvorhaben: „Hauptmotiv: dass Ontologie nicht geschichtsfrei gefunden werden kann
und nicht geschichtsfrei ist.“ (OD,
425) Aus diesem nur prozessual zu
62
Bücher zum Thema
denkenden Begriff der Ontologie
resultiert bereits die Verbindung zur
Dialektik. Das Verhältnis von Ontologie und Dialektik ist bereits ein
dialektisches, ein vermitteltes Verhältnis von Gegensätzen. (In diesem
Zusammenhang wäre es für eine
materialistische Theorie durchaus von
Interesse, Adornos Ansatz mit Blochs
utopischer Figur einer prozessuallogisch verstandenen Ontologie des
Noch-Nicht zu diskutieren.)
Unkritisch ist Heideggers Philosophie freilich dort, wo die Ontologie
verdinglicht wird durch den Schematismus des Ausschlusses, der Dialektik annulliert (Heidegger vollzieht
diesen Schritt in den Schriften nach
‚Sein und Zeit’). Adorno dagegen
insistiert auf der immanenten Kritik
bzw. der Kritik der Immanenz. Immanente Kritik ist dabei mehr als nur
Methode: „Der Weg“, so Adorno,
„der Sie zu dialektischem Denken
und zu einigen dialektischen Modellen geleiten soll, ist – wie wir das in
der Dialektik zu nennen pflegen – der
Weg der immanenten Kritik.“ (OD,
12) Er erlaubt es, die Momente der
kritischen Theorie mit ihren Extremen, etwa der Existenzphilosophie
Heideggers, in Berührung zu bringen;
denn in gewisser Hinsicht bezeichnet
die Dialektik selbst schon das radikale
Denken der Extreme. Sie sprengt,
was Ontologie immer schon supponiert, nämlich die falsche Unmittelbarkeit, die unvermittelte Immanenz.
Wo Heidegger im Rückgriff, ja in der
philosophischen Regression, die
Frage nach dem Sinn des Seins als das
eigentliche ontologische Problem, als
erste Philosophie, zu reformulieren
versucht, transzendiert Adorno die
Frage wie das Problem: durch die
Forderung, wie sie im ‚Jargon der
Eigentlichkeit’ (ebenfalls eine Studie
im Kontext der ‚Negativen Dialektik’)
sich herauskristallisiert, einer letzten
Philosophie. Als eine solche letzte
Philosophie konfiguriert sich das
Konzept der „negativen Dialektik“;
sie ist, wie es in der ‚Vorlesung über
Negative Dialektik’ heißt, „mit einer
kritischen Theorie im Wesentlichen
dasselbe“ (VND, 36).
Hier berührt allerdings die Philosophie die Bereiche der kritischen Gesellschaftstheorie: Die Forderung
nach einer letzten Philosophie ergibt
sich nicht aus einem formal-logischen
Argument, sondern aus der sachlichen Notwendigkeit der bestehenden
Verhältnisse. „Sie können sagen: warum muss philosophiert werden, –
und darauf kann ich Ihnen eine Antwort nicht geben. Aber immerhin:
wenn man eine solche Nötigung
überhaupt verspürt, dann ist sie ohne
ein Moment des Vertrauens auf die
Möglichkeit des Ausbruchs nicht zu
vollziehen. Und dieses Vertrauen
selbst ist ja wohl nicht zu trennen von
dem utopischen Vertrauen darauf, dass
es – also: das nicht schon Zugerichtete, nicht Veranstaltete, nicht Verdinglichte – nicht eben doch soll möglich
sein können.“ (VND, 111) Dialektik
indes vermag Ontologie nur einzuschließen, wenn sie auf das Exzentrische der Seinsanalyse rekurriert, auf
Utopie. Insofern bündelt Adorno in
der ‚Negativen Dialektik’ die Ontologie des falschen Zustands auch im
utopischen Licht eines besseren:
„angesichts der konkreten Möglich-
Anstoß Adorno
keit von Utopie“, wie es in der ‚Negativen Dialektik’ heißt.
Wie bereits die anderen, bereits veröffentlichten Bände der Schriften aus
dem Nachlass sind auch diese sorgfältig editiert und mit umfangreichen
Kommentaren und Registern versehen. Insbesondere für diese beiden
Vorlesungen gilt – wie im Übrigen
schon für die zur ‚Einleitung in die
Soziologie’ (Suhrkamp 1993) –, dass
sie zur Einführung in die kritische
Theorie Adornos zu empfehlen sind.
Sie machen äußerst lebendig exemplarisch, inwiefern Adornos negative
Dialektik mit seiner kritischen Theorie der gegenwärtigen Gesellschaft
verschränkt und nur mit ihr zusammen zu denken ist; bzw.: dieses Zusammen-Denken der Momente ist
nichts anderes als kritische Theorie.
Roger Behrens
Theodor W. Adorno / Thomas
Mann: Briefwechsel 1943-1955.
Hg. von Chr. Gödde und Th.
Sprecher (Briefe und Briefwechsel. Hg. vom Theodor W. Adorno
Archiv, Bd. 3), Frankfurt/Main
2002 (Suhrkamp), 180 S.,
24.90 EUR.
Der Briefwechsel ist zunächst zentriert um die Anfänge der Beraterschaft Adornos, zur Zeichnung von
Komponistenfigur und Werk des
„Adrian Leverkühn'' (Doktor Faustus. Das Leben des deutschen Tonsetzers Adrian Leverkühn, erzählt
von einem Freunde). Nach Erscheinen des Romans 1947 und weiter
nach Erscheinen der „Entstehung des
63
Doktor Faustus. Roman eines Romans“ (1949) stand eine Beschäftigung mit ablehnenden Stellungnahmen im Vordergrund, insbesondere
mit den Plagiats- und Inkompetenzvorwürfen Arnold Schönbergs zu den
Schönberganleihen und zu der Motivund Figurenmontage (Faust; Nietzsche; Schönberg) überhaupt.
Diese Linien des sorgfältig edierten
und ausführlich kommentierten Briefwechsels sind extrapoliert zu Erörterungen musik- und literaturtheoretischer Fragen und zu philosophisch
ästhetischen Positionen zur Moderne
und deren Avantgarde. Durchgehend
beschäftigen sich Th. Mann und
Adorno mit politischen Themen, mit
der Nachkriegslage und mit Entscheidungen zu einer Rückkehr aus
dem amerikanischen Exil nach Europa, der Th. Mann weitaus pessimistischer gegenübersteht als Adorno.
Eine Rückkehr „nach Deutschland“
ist für ihn ausgeschlossen. Aus Zürich
schreibt er am 1. Juli 1950: „Nach
Deutschland bringen mich keine zehn
Pferde. Der Geist des Landes ist mir
widerwärtig, die Mischung aus Miserabilität und Frechheit aufgrund vorzüglicher Aussichten abstossend. Man
ist im Grunde das Vorzugskind der
Welt. Amerika steht dahinter ...“
Zu den thematischen Akzenten des
Briefwechsels schreiben die Herausgeber in ihrer „Nachbemerkung“ von
einem Spannungsfeld zwischen Tradition und Avantgarde, zwischen Vergangenheit und Moderne, in welchem
sich „die Vertreter zweier Generationen und unterschiedlicher ästhetischer Prägung“ auf eine überraschende Weise verbunden sahen.
64
Bücher zum Thema
Nach einer Lektüre von Adornos
„Spätstil Beethovens“ (veröffentlicht
1937) bittet Th. Mann im Brief vom
5. Okt. 1943 um eine kleine Skizzierung des Arietta-Themas aus Beethovens Sonate op. 111 (vgl. Anhang des
Bandes). Durch Adornos Text sieht
sich Th. Mann inspiriert zur Gestaltung der Vorträge „Wendell Kretzschmar“ und zu Beethovens letzter
Klaviersonate,
denen
„Adrian
Leverkühn“ zuhören soll. Die Vorträge sollen Überlegungen eröffnen,
„dass, wenn Tod und Grösse zusammentreffen, ein Objektivismus
(mit Neigung zur Konvention) entsteht, in dem das Herrisch-Subjektive
ins Mythische übergeht“: „Ich brauche musikalische Intimität und charakterliches Détail und kann sie nur
durch einen so erstaunlichen Kenner
wie Sie gewinnen.“
Des weiteren hatte Adorno im Juli
1943 Th. Mann ein Typoskript des
ersten Teils (Schönberg und der Fortschritt) seiner „Philosophie der neuen
Musik“ (Erstveröffentlichung 1949)
zukommen lassen. Th. Mann notierte
in sein Tagebuch: „Augenblicke der
Vermutung, wie Adrian zu stellen
sei“. Adorno, ehemaliger Kompositionsschüler von Alban Berg und vor
seiner Habilitation mit einer Arbeit
über Kierkegaard tätig als Musikkritiker und -theoretiker, unter anderem
als Redakteur der Wiener Zeitschrift
„Musikblätter des Anbruch“ (19281931), war mit der Schönberg-Schule
und den Entwicklungen der Musik
seiner Zeit bestens vertraut. Er sah
Schönbergs atonales Komponieren,
dessen Zwölftontechnik, einerseits als
rationalisierende Befreiung von dis-
funktionalen romantischen Konventionen. Andererseits sah er eine Gefahr des Umschlagens in Unfreiheit,
in eine entsubjektivierende, bloß technische Perfektion der Materialbeherrschung und in „Barbarei“.
Analog zur zusammen mit Max
Horkheimer verfassten „Dialektik der
Aufklärung“ (1947), zur erkenntnisund gesellschaftstheoretischen Konstruktion eines Umschlagens von
Aufklärung ins Mythische, misst
Adorno der musikalischen Avantgarde eine aporetische Stellung bei. Zu
Authentizitätsfragen heißt es: „Vielleicht wäre authentisch erst die
Kunst, die der Idee von Authentizität
selber, des so und nicht anders Seins,
sich erledigt hätte.“ (Philosophie der
neuen Musik, Frankfurt/Main 1975,
196) Sich eines erzwungenen Dilemmas entledigen zu wollen, führe
schließlich zur Reaktion und zu scheiternden Restaurationsbestrebungen.
Am 30./31. Dez. 1945 bittet Th.
Mann Adorno um Vorschläge, „wie
das Werk – ich meine Leverkühns
Werk – ungefähr ins Werk zu setzen
wäre; wie Sie es machen würden,
wenn Sie im Pakt mit dem Teufel wären ...“ Ihm schwebe „etwas SatanischReligiöses, Dämonisch-Frommes, zugleich Streng-Gebundenes und verbrecherisch Wirkendes vor.“ Adorno
arbeitete seine Vorschläge aus (vgl.
Anhang des Bandes), und beide blieben über die Ausgestaltung im Roman im Austausch. Adorno sah sich
als Komponist gefordert, wie „vor die
Aufgabe gestellt ..., diese Werke selbst
zu schreiben“. So in einem Brief vom
19. April 1962 an Erika Mann.
Gewiss ist – nach dem durchgängi-
Anstoß Adorno
gen „Prinzip der Montage“ (Th.
Mann) gearbeitet – die Figur Leverkühns das Werk des Romanciers.
Rätselhaft bleibt jedoch, wie unbedarft die Konstruktion der diabolischen und avantgardistischen wie
archaischen Figur materialiter mit
Schönbergs Kompositionsweise ausstaffiert wurde; – und dies erst in den
Romanausgaben seit 1948 mit einem
Vermerk ausgewiesen.
Im Blick auf Th. Manns Arbeit an
der „Entstehung des Doktor Faustus“ bittet Adorno in einem Brief
vom 5. Juli 1948 darum, seinen „gedanklich-phantasiemäßigen Anteil an
Leverkühns oeuvre und seiner Ästhetik mehr hervorzuheben als den stofflich informatorischen“. Was genauer
wäre unter diesem „Anteil“ zu verstehen? Es liegen einige Fragen nach
den Adornoschen Werkhintergründen nahe.
Mutete Adorno einer Adaption der
Grundfigur der „Dialektik der Aufklärung“ (Rationalität/Mythos) an
eine Kunstphilosophie zu Produktionen seiner Zeit zu viel zu? Mündete
daher ein dialektisches Bestreben des
Ästhetikers in eine polarisierende
„Philosophie der neuen Musik“, von
der sich letztlich über eine nachschönbergsche Avantgarde der seriellen
Musik nur wenig ausmachen ließ? Zumindest ein Umstand, auf den Adorno später, 1961, mit seinem einflussreichen Vortrag „Vers une musique
informelle“ antwortete, bemüht, eine
strenge Reihentechnik mit einer freien Atonalität zu „versöhnen“? Aber
was hieß „versöhnen“? Hatte nicht
der (früh-)neukantianisch geprägte
Theoretiker Adorno Schwierigkeiten,
65
Äquivokationen einer rezeptionsästhetischen und einer produktionsästhetischen Ausrichtung zu vermeiden?
Mit dem Beitrag zum „Doktor
Faustus“ werden deutlich Reflexionsergebnisse mit einer (Mit-)produktion
des Reflektierten verbunden. Dass
historiographisch wie ästhetisch die
eingreifende Zeichnung der Schönbergschen Avantgarde zu starr geraten ist, fällt Adorno später auf. Am
25. Aug. 1951 und anlässlich des
Todes von Schönberg im Juli 1951
schreibt er an Th. Mann von einer
„seltsamen Lockerung“ im Spätwerk,
die auch Früheres anders erscheinen
lässt, ganz wie Schönberg dies in
seinem letzten Buch (Style and Idea,
New York 1950) ausgedrückt habe:
„... daß es die Aufgabe der Musik sei,
die Spannungen, die sie enthält, durch
ihre Totalität auszugleichen“. „Im
Grunde ein harmonistisches Ideal“,
wie Adorno nun interpretierte. Kannte er Schönbergs letztes Werk, die
„Fantasie für Violine und Klavier op.
47“ (1949), jene völlig unorthodoxe
Inszenierung einer Fremdbeziehung
zweier Instrumentallinien?
Was situiert zudem den Briefwechsel zwischen Tradition und Moderne?
Zu Th. Manns „Die Betrogene“
(1953) schreibt Adorno am 18. Januar
1954 von einer Auflösung des Gegensatzes von „subjektiver Durchdringung“ und einer durchgängigen
Realismusforderung des Mannschen
Oeuvres. Auf diese „abseitige Reflexion“ sei er durch seine Proust-Lektüre gekommen. Th. Mann antwortet
am 8. März 1954: „Es war mir ganz
seltsam, Ihren unglaublich hochgezüchteten kritischen Stil, der wie ein
66
Bücher zum Thema
Dolch ins Fleisch der Dinge geht, so
brieflich-privat angewandt zu finden
auf das Eigene“.
In den disparaten Formgebungen
von Franz Kafka, Marcel Proust, James Joyce und Samuel Beckett zeichnen sich die Signaturen einer disparat
gewordenen Autorenschaft ab. Das
Spätwerk des auktorialen Erzählers
Th. Mann deutet auf eine Schwellensituation des Misstrauens gegenüber
Fremdgewordenem am Eigenen. Der
fast Achtzigjährige äußert sich zum
„wunderlich Allerneuesten aus der
Joyce- und Nach-Joyce-Sphäre“
(ebd.). Zur Rezeption von Becketts
„En attendant Godot“ (1952; Uraufführung 1953) schreibt er: „Die ‚Gegenseite’ hat wohl recht, von EndProdukten zu reden, wenn nur, was
sie selbst macht, nicht so hoffnungslos ununterhaltend und komiklos
wäre.“ (ebd.). Im letzten Brief an Th.
Mann vom 28. Juli 1955 schreibt
Adorno zur Lektüre von dessen
„Versuch über Schiller“ (1955), ihn
habe die Infragestellung „des Begriffs
der Einheit der Künste“ überaus
beeindruckt.
Dass eine Lektüre der Briefe neue
Anregungen bieten dürfte für eine
Beschäftigung mit den besagten Antagonismen einer künstlerischen
Moderne und ihrer philosophischen
Rezeption, beruht letztlich auf der
ebenso präzisen wie respektvoll responsiven Unmittelbarkeit dieser
Korrespondenz. Für die brillante
Herausgabe ist sehr zu danken.
Ignaz Knips
Dirk Auer, Lars Rensmann und
Julia Schulze Wessel (Hg.)
Arendt und Adorno, Frankfurt/Main 2003 (Suhrkamp),
312 S., 13.00 EUR.
Einer komparativen Analyse zu Hannah Arendt und Theodor W. Adorno
mag man zunächst mit Skepsis begegnen, denn trotz gewisser lebensgeschichtlicher Affinitäten wie Zeitgenossenschaft, Exilerfahrung und Kritik an Nachkriegsdeutschland, steht
diesem Vorhaben entgegen, dass sich
zu Lebzeiten das Verhältnis der beiden durch persönliche Antipathie und
„dauerhafte wissenschaftliche Nichtbeachtung“ (7) auszeichnete, was sich
posthum in der Anhängerschaft bis in
die Gegenwart fortgesetzt hat. Die
Herausgeber haben sich dennoch das
Ziel gesetzt, als Beitrag zur „intellectual history“ erstmals beide Denker
trotz theorieimmanenter Widersprüche und Brüche „nachholend“ ins
Gespräch zu bringen (11) und sie
systematisch nach Gemeinsamkeiten
und Unterschieden der theoretischen
und zeitdiagnostischen Reflexionen
zu befragen.
Ausgangspunkt der vergleichenden
Analyse ist der „Holocaust“ und seine
gesellschaftliche Verarbeitung. Dieses
Thema wird zunächst von der beiden
Intellektuellen gemeinsamen biographischen Erfahrung des Exils ausgehend theoretisch verarbeitet. Arendt
hat gleich nach dem Krieg Theorien
zur Flüchtlings- und Menschenrechtsproblematik aufgestellt, und Adorno
hat aus seiner Flucht aus Deutschland
die Konsequenz der „Selbstverortung
als ortloser Intellektueller“ gezogen.
Anstoß Adorno
Der erste Beitrag zum Themenkreis
„Intellektuelle im Exil“ ist von Dirk
Auer verfasst. Er bezeichnet beide
Denker als „Parias wider Willen“, die
ausgehend von der „Standortgebundenheit“ (52) des Wissens ihre Exilerfahrungen zu einem politisch-epistemologischen Standpunkt der Kritik
verarbeitet haben und die klassische
Rolle des Intellektuellen als Sprecher
des Allgemeinen für überholt halten.
Joanna Vecchiarelli Scott untersucht das
Amerikabild der beiden Denker und
erklärt die unterschiedlichen Emigrantenkarrieren u.a. aus den verschiedenen Bezugssystemen New York
(Arendt) und Los Angeles (Adorno).
Micha Brumlik ergründet die biographischen und denkmotivischen Beziehungen beider zum Judentum.
Arendts politisch-existenzielle Erfahrung des Judentums sei „schicksalhaft“ und von Begriffen wie Pariaexistenz und Geburtlichkeit sowie
vom Zionismus geprägt. In Adorno
sieht er den Denker des jüdischen,
messianischen Gottesverständnisses.
Im Abschnitt „Totalitäre Herrschaft
und Nachkriegsgesellschaft“ geht es
darum, die Bedingungen der Möglichkeit des Holocaust zu begreifen
und Konsequenzen für die Nachkriegszeit zu ziehen. Hat Adorno den
Antisemitismus lange unterschätzt, so
rückt dieses Thema bereits in der
Emigration ins Zentrum seiner sozialwissenschaftlichen Anstrengungen.
Ausgehend von Arendts und Adornos
These vom Verschwinden des Antisemitismus vergleichen Julia Schulze
Wessel und Lars Rensmann beider Antisemitismustheorien. Alexander Garcia
Düttmann untersucht das Verhältnis
67
von Faktizität und Schuldzusammenhang und die epistemologischen
Grenzen und Brüche, die durch die
Tatsachenwahrheiten von Auschwitz
gesetzt wurden.
Adorno und Arendt kritisierten beide die „Schlussstrichmentalität“ und
Erinnerungs- und Verantwortungsverweigerung der deutschen Nachkriegsgesellschaft. Dem entsprechend konstatiert Lars Rensmann trotz des divergierenden theoretischen Zugangs
zur totalitären Herrschaft eine Annäherung in der Erfassung der posttotalitären Entwicklung, die auf die ungelöste, unlösbare Spannung zwischen
theoretischer Verallgemeinerung und
konkreter historischer Erfahrung
zurückzuführen sei.
Trotz Differenzen in Axiomatik,
Begrifflichkeit und Marxexegese
kommen Arendt und Adorno zu
analogen Resultaten bezüglich ihrer
Kritik an der selbstvergessenen modernen Hypostasierung und Unterwerfung unter die Ideologie der Arbeit als
Selbstzweck und an der gesellschaftlichen Reproduktion. Jörn Ahrens geht
dem Unbehagen beider gegenüber der
modernen Massen- und Arbeitsgesellschaft nach. Ihre Thematisierung der
Gesellschaft sei primär getragen von
der Furcht vor deren Präponderanz.
Dabei gerate die Gesellschaft als Ermöglichungsbedingung des Individuums mitunter aus dem Blick.
Der Frage des politischen Denkens
und der politischen Kategorienbildung nach Auschwitz ist der dritte
Themenkomplex gewidmet. Das Spätwerk beider Theoretiker ist geprägt
von einer Auseinandersetzung mit
Kant mit dem Ziel einer Problemati-
68
Bücher zum Thema
sierung von Urteilskraft und Kontingenz und der Formulierung eines
neuen kategorischen Imperativs bei
Adorno. Thorsten Bonacker untersucht
die normative Kraft der Kontingenz
für politisches Handeln und die Legitimationsprobleme in der politischen
Gesellschaft bei Arendt und Adorno.
Axel Demirovics Beitrag über die postrevolutionären Emanzipationskonzepte hebt die „kaum überbrückbaren
Gegensätze“ (283) bezüglich Befreiung, Freiheit und Gleichheit hervor.
Samir Gandesha untersucht Arendts
und Adornos Kritiken der Durchdringung von Natur und Geschichte in
Auseinandersetzung mit Heideggers
Fundamentalontologie.
Die Autoren des Bandes haben sich
ihrem Thema jeweils mit Bedacht genähert und die Legitimität einer komparativen Annäherung von Arendt
und Adorno immer mitreflektiert. So
gelingt die profilierende Absetzung
der beiden voneinander, und die
Gefahr einer Harmonisierung von
Gegensätzen ist gebannt. Und schließlich steht der Bannspruch für dieses
Unternehmen einer komparativen
Analyse ja auch auf dem Buchdeckel.
Hannah Arendts bissiges Bonmot
über Adorno: „Der kommt uns nicht
ins Haus.“
Marianne Rosenfelder
Roger Behrens
Kritische Theorie, Hamburg
2002 (EVA / Sabine Groenenwold), 95 S., 8.60 EUR.
Die „kritische Theorie“ und ihrer
Entwicklung zur „Frankfurter Schu-
le“ hat einen nachhaltigen Einfluss
auf die verschiedenen Theorieströmungen der kritischen Soziologie genommen, und gilt auch als Basis der
neomarxistischen politischen Theorie.
Dabei handelt es sich um keinen einfachen Ansatz oder um ein positivistisches Modell der Gesellschaft. Theodor W. Adorno, Max Horkheimer
und Herbert Marcuse übten eine
radikale Kritik an den Institutionen
der früh modernen Massenkultur, der
Gesellschaft und der politischen Macht
im Sinne dessen, was Roger Behrens
als „Umgestaltung des Gegebenen“
(6) bezeichnet und versuchten aus
marxistischer Sicht, „die Notwendigkeit und Möglichkeit einer Veränderung der Gesellschaft wissenschaftlich zu begründen“ (6).
Trotz der Komplexität der kritischen Theorie und der Vielfältigkeit
der wissenschaftlichen und ideologischen Orientierungen ihrer Begründer, gelingt es Behrens in seiner sehr
kurzen Einführung in die kritische
Theorie, die fundamentalsten Prämissen, Ansätze, Begriffe und Fragestellungen der kritischen Denkschule
treffend darzustellen. Nach Behrens
„begreift kritische Theorie die strukturelle Dynamik der Gesellschaft als
historischen Prozess. Sie geht vom
Menschen aus, der prinzipiell seine
Geschichte selbst gestalten kann –
und sich damit überhaupt als Mensch
erst entfaltet“ (10). Die im 19. Jahrhundert herrschende Betrachtung der
Geschichte als linearer und fortschrittlicher Verlauf war einer der
wichtigsten Kritikpunkte der kritischen Theorie, die „demgegenüber
Geschichte als in sich widersprüchli-
Anstoß Adorno
chen, sprunghaften und diskontinuierlichen Prozess deutet“ (13).
Behrens skizziert kurz die Geschichte des Instituts für Sozialforschung in
Frankfurt am Main von 1924 bis
1933, wie sie in Abgrenzung zur
traditionellen Sozialtheorie von der
Ökonomie- und Kulturkritik von
Max Horkheimer, Herbert Marcuse,
Erich Fromm, Theodor W. Adorno,
Leo Löwenthal und Friedrich Pollock
gestaltet wurde. Ziel der Forschung
am Institut für Sozialforschung war,
wie Behrens es formuliert, „eine
unabhängige und zugleich engagierte
kritische Theorie, die die gesellschaftlichen Widersprüche in all ihren Aspekten untersucht“ (21). In diesem
Rahmen waren Ausgangspunkte der
kritischen Theorie, so Behrens, die
„Erkenntniskritik Kants“ (22), die
„dialektische Logik der Geschichte“
in Hegels Philosophie (23), die „analytische Sozialpsychologie Freuds“
(26) und vor allem „Marx’ Kritik der
politischen Ökonomie“ (24). Außerdem setzte sich die kritische Theorie,
insbesondere Adorno und Horkheimer, auch mit Philosophen wie Schopenhauer, Kierkegaard und Nietzsche
auseinander.
Behrens präsentiert knapp die wichtigsten Beiträge der kritischen Schule:
die Kritik der Ökonomisierung der
Kunst Walter Benjamins sowie sein
Verständnis der Kunst als „Traumschlaf“ (29) und seinen späteren Einfluss auf die Situationisten; die marxistische Philosophie der Praxis Antonio Gramscis; den linguistischen
Strukturalismus Ferdinard de Saussures; den Beitrag Georg Simmels zur
Kritik der Massenkultur und zur
69
Stadtsoziologie; die Verdinglichungstheorie von Lukács; die „Philosophie
der Hoffnung“ Ernst Blochs (61); die
marxistische Sozialanthropologie von
Claude Lévi-Strauss; die literatursoziologischen Arbeiten Löwenthals und
vor allem die Kunst-, Kultur-, Machtund Gesellschaftskritik Adornos. Seine „Entkunstung der Kunst“ (66), die
„Kulturindustriethese“ (66) in der
Dialektik der Aufklärung und seine
vielschichtige Kritik an den ökonomischen Verhältnissen des Elitenkapitalismus bezeichnen gemäß Behrens
„eine Verschmelzung von ökonomischen und politisch-sozialen Bedingungen mit technisch-ästhetischen und
sozialpsychologischen Faktoren“ (67).
Die kritische Theorie ist natürlich
mit dem Werk von Adorno und Horkheimer nicht zu einem Ende gekommen, sondern sie entwickelte sich in
den neomarxistischen Theorieströmungen und in der radikalen politischen Soziologie. Erwähnungen macht
Behrens an verschiedenen Ansätzen,
die von der kritischen Theorie geprägt wurden: die Ideologiekritik Luis
Althussers; die Theorie des kommunikativen Handelns Jürgen Habermas’; die Theorie der Postmoderne
Jean-François Lyotards und die poststrukturalistische Untersuchung der
Disziplinierungs- und Normierungsmächte Michel Foucaults.
Obwohl es sich bei Behrens Arbeit
nur um einen Seiteneinstieg in die kritische Theorie handelt und damit unvermeidlich bestimmte Vereinfachungen anzutreffen sind, werden ihre wesentlichen Kennzeichen trotzdem
dargestellt. Behrens weist auf die
Entwicklung einer dynamischen, stän-
70
Bücher zum Thema
dig veränderten und dialektischen
Theorie hin. Die Aktualität der kritischen Theorie, die die bestehenden
ökonomischen und politischen Verhältnisse problematisiert und die
Gesellschaft als widersprüchlich auffasst, ist nach Behrens „eine reflexive,
selbstkritische und negative Theorie,
die sich um eine systematische Erfassung des gesellschaftlichen Gesamtzusammenhangs bemüht“ (9). Nicht
nur eine (selbst)kritische Theorie der
Gesellschaft und der Institutionen
haben Adorno, Horkheimer und
Marcuse konstruiert, sondern auch
eine Kritik ihrer herrschenden Theorie und damit eine Großtheorie der
Sozialwissenschaft.
Maria Markantonatou
Judith Butler
Kritik der ethischen Gewalt. Adorno-Vorlesungen 2002, Frankfurt/Main 2002 (Suhrkamp),
kart., 144 S., 14.90 EUR.
„Wenn ich frage, wer ich für mich
sein könnte, muss ich auch fragen,
welchen Platz es in dem diskursiven
Regime, in dem ich lebe, für ein ‚Ich’
gibt“ (123). Dieser Satz steckt die
Fragen ab, mit denen sich die Autorin
in den drei am Frankfurter Institut
für Sozialforschung gehaltenen Vorlesungen auseinandersetzt. Ihr Ausgangspunkt ist der Abschied von
Vorstellungen vom Menschen als von
seiner Umwelt klar abgegrenztem, seiner selbst gewissem Lebewesen. Der
Mensch erscheint als Subjekt, das
auch immer aus etwas besteht, das es
nicht selbst ist, aus einer Geschichte,
einem Unbewussten, aus bestimmten
Strukturen, aus der Geschichte der
Vernunft, zitiert Butler aus einem
Interview Michel Foucaults (124).
Das veränderte Menschenbild blendet
Verwundbarkeit und Fehlbarkeit nicht
aus. Die Aussetzung der Forderung
nach Selbstidentität oder, genauer,
nach vollständiger Kohärenz stellt
sich einer gewissen ethischen Gewalt
entgegen, die verlangt, dass wir jederzeit unsere Selbstidentität vorführen
und aufrecht erhalten und von anderen dasselbe verlangen. Für in der
Zeit lebende Subjekte ist diese Norm
nicht zu erfüllen, zeigt Butler auf (55).
Vor diesem Hintergrund untersucht
sie, ob das Postulieren eines Subjekts,
das nur zu begrenzter Selbsterkenntnis fähig ist, die Möglichkeit, Rechenschaft von sich selbst zu geben, und
die Möglichkeit der Verantwortung
unterläuft (28). Die Konsequenz sei,
sich die Grenzen des Selbstverständnisses einzugestehen, und diese Grenzen nicht nur zur Bedingung des Subjekts zu machen, sondern als die Situation der menschlichen Gemeinschaft überhaupt anzunehmen (94).
Muss ich mich selbst kennen, um in
sozialen Beziehungen verantwortlich
zu handeln, fragt die Autorin und
führt aus, dass wir dem Anderen auf
eine Weise ausgeliefert sind, die wir
nicht vollständig kontrollieren können. Die Frage der Verantwortung sei
nicht losgelöst vom Anderen zu denken (95). Eine Ethik aus der Sphäre
des Ungewollten zu entwickeln könnte bedeuten, dass man sich diesem
Ausgesetztsein vor dem Anderen
nicht verschließt, dass man nicht
versucht, das Ungewollte in Gewoll-
Anstoß Adorno
tes zu überführen, sondern die Unerträglichkeit des Ausgesetztseins als
Zeichen einer geteilten Verletzlichkeit
begreift (100).
Butler stellt auch die Frage, welcher
Bezug zwischen einer kritischen Politik und einer Ethik bzw. Moral besteht, „die immer wieder eine Erklärung unserer selbst in der ersten
Person verlangt“ (30). Mit Verweis
auf Theodor W. Adorno und Michel
Foucault sieht sie die Lösung darin,
das Subjekt als Grundlage der Ethik
zu entfernen, um es dann als Problem
für die Ethik neu zu fassen (114).
Ethisch handeln, bedeute einzugestehen, dass der Irrtum konstitutiv für
die Frage ist, wer wir sind (116).
Butlers Vorlesungen sind nicht zuletzt deswegen interessant, weil sie die
philosophische Diskussion um die
Kohärenzmöglichkeiten des Subjekts
im allgemeinen in Bezug zu psychoanalytischen Verfahren setzt, die die
konkrete Selbsterkenntnis eines Individuums ermöglichen sollen. Die
Auseinandersetzung mit zwei Zugangsweisen zum Problem ‚Selbstidentität’ erhellt so die Aussagen
beider Disziplinen.
Jadwiga Adamiak
Alex Demirovic (Hg)
Modelle kritischer
Gesellschaftstheorie. Traditionen
und Perspektiven der Kritischen
Theorie, Stuttgart 2003 (J. B.
Metzler), 394 S., 39.95 EUR.
Nach einem Abriss der Geschichte
und Philosophie Kritischer Theorie
(KT) durch den Herausgeber stellt
71
sich Alexander Garcia Düttmann die
Frage, ob sich Aufklärung überhaupt
verneinen ließe. Sein Artikel „TRUST
ME” befasst sich mit Vertrauen als
Basis des aufklärerischen Denkens. In
„Dialektische Konstellationen. Zu
einer kritischen Theorie gesellschaftlicher Naturverhältnisse” fordert
Christoph Görg in Anlehnung an Herbert Marcuse, die ökologische Kritik
an der heutigen Gesellschaftsformation so weit zu treiben, bis sich zeige,
dass kapitalistische Produktion mit
ökologischem Denken nicht vereinbar sei. Auch der Aufsatz „Zur sozialphilosophischen Kritik der Technik
heute” von Gunzelin Schmid Noerr beschäftigt sich mit Naturverhältnis und
KT, diesmal aus der Perspektive des
Kommunikationsverhältnisses. Einerseits seien bestimmte theoretische
Aspekte der KT in den Wissenschaftsbetrieb heute integriert; andererseits sei das utopische Potenzial
eliminiert. Dies geschehe durch Individuierung der Ethik einerseits und
Verdrängung der Ethik aus Soziologie
und Politik andererseits. Ethik und
Gesellschaft wieder zu vereinen betrachtet Schmid Noerr als eine der
zentralen Aufgaben der KT heute.
In „Entwicklungstendenzen und
Krisen des Kapitalismus” untersucht
Thomas Sablowski die Krisentheorie bei
Marx und der KT. Nach dem Zusammenbruch des Systems, das je
nach Sichtweise als „Sozialismus”
oder „Staatskapitalismus” bezeichnet
wurde, und mit der derzeitigen Entwicklung einer kapitalistischen Weltwirtschaft sind auch kritische Positionen umstritten. Angesichts völlig offener Fragen der „Akkumulations-
72
Bücher zum Thema
schwäche im industriellen Sektor”
und der Krisen im Wertpapierhandel
hält Sablowski „Kritische Theorie als
Krisen- und Entwicklungstheorie
(für) ... aktueller denn je” (127).
Andrea D. Bührmann nimmt in „‚Wir
sind weit weniger Griechen als wir
glauben‘. Überlegungen zum Projekt
einer kritischen Geschlechterforschung” vor. Ihr geht es dabei um die
Auslotung von Widerstandspotentialen und um die „Reformulierung
geschlechtlicher Identitäten”.
Christine Resch und Heinz Steinert befassen sich in ihrem Aufsatz zur
Kulturindustrie mit der Wendung
dieses Begriffs von der Kritik zum
Affirmativen. Marcuses „eindimensionaler” Kritik der Kulturindustrie
wird Kracauer entgegengesetzt, der
gezeigt habe, wie mittels Ironie kulturindustrielle Mechanismen unterlaufen werden können. An Baudrillard
wird gezeigt, wie ein einschneidendes
Ereignis (11. September) kulturindustriell entpolitisiert und damit als unhintergehbar dargestellt wird. Die
Frage nach dem „Warum?” lässt sich
so nicht mehr adäquat stellen. An
Habermas geht der Vorwurf, die
„reflexive Kritik” der KT durch „moralische Wahrheit” zu ersetzen (dann
hätte sich Habermas allerdings kaum
bemühen müssen, eine kunstvolle
Kommunikationstheorie zu entwerfen – er hätte einfach Platon abkupfern können, Anm. d. Rez.). Weiter
behandeln die AutorInnen die Frage,
wie es auf das „Produkt” zurückschlägt, wenn sich „Kunst” in Ware
verwandelt, und wie staatliche Bürokratie etwa die Festivalkultur prägt. In
der aktuelle Kulturindustrie wird die
Reflexion auf ihren Entstehungsprozess selber mitgeliefert – allerdings
ins Affirmative gewendet. Der Rückschluss auf die herrschende und bestimmende Struktur ist auf diese
Weise nicht mehr möglich. Politik
selber trennt sich in „Infotainment”
einerseits und die davon völlig abgekoppelte reale Politik auf der anderen
Seite. Beide AutorInnen halten dagegen an der Notwendigkeit echter
Ideologiekritik im Sinne der KT fest,
die sich um Analyse der Herrschaftsbedingungen bemüht, unter denen
Kulturindustrie sich entwickelt.
Gerhard Schweppenhäuser resümiert in
seinem Aufsatz „Ästhetische Theorie,
Kunst und Massenkultur” die Entwicklung von KT der Kulturindustrie
bis hin zu den „Cultural Studies”. Er
plädiert dafür, „dass ... die produktiven Aspekte der Massenkultur ...
nicht vernachlässigt werden”. Dort
seien Erfahrungen möglich, die in der
„Hochkunst” kompromittiert seien,
wie „körperliche Präsenz,... das Glück
der Wiederholung,... Begehren...” und
so weiter.
Wolfgang Bonß beschäftigt sich im
letzten Aufsatz mit dem Begriff der
Kritik und seinen Bedeutungen in
verschiedenen Theorien. Der Maßstab der Kritik für die KT sei das
mögliche Andere, das in der Gesellschaft
aufzufinden sei. Im weiteren Verlauf
der Moderne entwickelt sich die
(praktische) Kritik immer mehr zu
einer „Pathologie der kapitalistischen
Gesellschaft”, die immer weniger an
irgendwelchen Zielvorstellungen orientiert ist. Sie wandelt sich vielmehr zur
Beschreibung einer „Katastrophengesellschaft”.
Anstoß Adorno
Der Sammelband enthält eine Vielzahl von Aufsätzen verschiedener
Richtungen, die Kritische Theorie
weiter zu denken versuchen, manche
mehr, manche weniger nachvollziehbar. Nicht zuletzt die ausführliche
Sammlung von Literatur macht ihn
zur Materialsammlung einer Denkrichtung, innerhalb derer zwar mit
Eifer gestritten wird, die sich jedoch
nicht zum Schweigen bringen lässt.
Percy Turtur
Lars Rensmann
Kritische Theorie über den Antisemitismus. Studien zu Struktur,
Erklärungspotential und Aktualität, Hamburg 2001 (Argument),
kart., 365 S., 25.50 EUR.
Wenn anlässlich des 100. Geburtstags
Theodor W. Adornos heute manchmal angestrengt und oder sogar überheblich nach der Aktualität von dessen Theorie gefragt wird, sollte man
sich den kategorischen Imperativ des
Philosophen in Erinnerung rufen,
„Denken und Handeln so einzurichten, dass sich Auschwitz nicht wiederhole, nichts ähnliches geschehe“
und dass die Vergangenheit erst dann
aufgearbeitet wäre, „wenn die Ursachen des Vergangenen beseitigt wären. Nur weil die Ursachen fortbestehen, ward sein Bann bis heute nicht
gebrochen“. Bestimmt doch die Kritische Theorie den modernen Antisemitismus und dessen Kulminierung
in der deutschen Massenvernichtung
der europäischen Juden, für die
Auschwitz als Synonym steht, als
wesentliches Element der gesell-
73
schaftlichen Totalität und der immanenten Dialektik der Vergesellschaftung des modernen Subjekts, weshalb
sich eine simple dualistische Aufteilung der heutigen deutschen Gesellschaft in eine Mehrheit der Anständigen und eine rechtsradikale Peripherie, der der Antisemitismus zugeordnet wird, verbietet.
So versteht der Berliner Politikwissenschaftler Lars Rensmann seine vorliegende Arbeit auch nicht als historisierende Einordnung, sondern als Versuch, die „theoretischen Überlegungen der Frankfurter Schule systematisch zu analysieren und unter der
Perspektive ihres Potentials für eine
politische Theorie und Psychologie
über den Antisemitismus im gegenwärtigen Deutschland zu bewerten“.
Seine Studien bieten erstmals eine
umfassende Gesamtdarstellung einer
Kritischen Theorie über den Antisemitismus dar, die auf der Sammlung
und Auswertung sämtlicher, auch
bisher kaum beachteter Texte aus
dem Kreis der Frankfurter Schule,
namentlich Max Horkheimers, Theodor W. Adornos, Leo Löwenthals
und auch des frühen Erich Fromm zu
dieser Thematik beruhen. Rensmann
gelingt es dadurch nicht nur den zentralen Stellenwert, den die Kritische
Theorie dem Phänomen des Antisemitismus einräumt, aufzuweisen, sondern auch die Überlegungen darüber
als ein vielschichtiges zusammenhängendes theoretisches Konzept zu
vermitteln.
Stehen frühe Ansätze, wie Max
Horkheimers bekannter Aufsatz „Die
Juden in Europa“, noch ganz in der
Tradition einer aus der herkömmli-
74
Bücher zum Thema
chen marxistischen Theorie deduzierten Auffassung des Antisemitismus,
erblickt die spätere Kritische Theorie
entsprechend dem von Horkheimer
und Adorno in der „Dialektik der
Aufklärung“ geprägten Begriff totaler
Herrschaft, die in der Herrschaft über
die Natur gründet, im Begriff des
autoritären Charakters die Form der
Repression der inneren Natur des
modernen Subjekts. In der Bestimmung des autoritären Charakters
reflektieren sie die Voraussetzungen
des antisemitischen Wahns als „eine
politisch-psychologische Form des
sozialen Kitts“ der modernen Gesellschaft.
Gemäß ihrer Relevanz steht die Analyse der psychologischen und gesellschaftlichen Bedingungen zur
Entstehung des autoritären Charakters im Zentrum des ersten Teils von
Rensmanns Untersuchungen. Mit
Kategorien psychoanalytischer und
kritisch-dialektischer Theorie nach
Freud und Marx reflektierte die Kritische Theorie den Typus des autoritären Charakters als jene Form moderner Subjektivität, die gekennzeichnet
ist durch Ich-Schwäche, da das „Ich“
ebenso beherrscht ist von seinen
unbewußten, sich widersprechenden
als fremd erfahrenen und nicht integrierbaren Trieben und Wünschen, wie
von den Instanzen des Über-Ich, die
als äußerlich bleibende repressive
gesellschaftliche Normen und Werte
vom „Ich“ ebenfalls nicht integriert
werden können. Als Folge kann das
Ich seiner Rolle als Vermittlungsinstanz zwischen dem Subjekt und der
Außenwelt nicht gerecht werden. Das
Ich-schwache, von äußeren Autoritä-
ten abhängige Individuum sucht Halt
in Konformität und Überhöhung
dieser äußeren Autoritäten.
Dieses Ich-schwache Subjekt steht
unter dem Zwang, die erfahrene
Gewalt als Quelle der eigenen Identität zu wiederholen. Die durch die
Triebunterdrückung und -entstellung
erfahrene Gewalt wird, nur schwach
rationalisiert, sadistisch gegen scheinbar Schwächere und sich dem Konformitätsdruck Entziehende gewendet. Dieser „Sadismus im Kampf mit
seinen eigenen Regungen, ... der sich
in der Form von Lebensneid nach
außen gegen die wirklich oder
scheinbar Genussfähigen“ (Löwenthal) richtet, findet in Juden die Objekte seiner Projektionen. Da sich
autoritär strukturierte Persönlichkeiten andrerseits in masochistischer
Weise überhöhten Autoritäten unterwerfen, werden, Ausdruck „pathischer Projektionen“ und einer „paranoiden Beziehung zur Außenwelt“
(Löwenthal), auf die Juden all diejenigen widersprüchlichen Elemente der
Moderne projiziert, die von den autoritär zugerichteten Subjekten mit
Aggression besetzt werden. Das antisemitische Zerrbild zeichnet Juden so
verantwortlich als „Exponenten der
Zivilisation als auch dessen, was in der
Zivilisationsgeschichte ausgegrenzt
und unterworfen wurde.“ Auf der
Ebene des Bewußtseins korreliert der
psychischen Struktur des autoritären
Charakters eine Regression des Denkens, die – bedingt durch die Dominanz von Es und Über-Ich über das
Ich – die Ausbildung eines kritisches
Gewissen verhindert, ein Weltbild,
das auf vereinfachenden und persona-
Anstoß Adorno
lisierenden Erklärungen beruht. Adorno kennzeichnet dies als Stereopathie.
Resümierend lassen sich so „nationalistische Selbstkonstruktionen und
antisemitische Fremdprojektionen ...
als autoritäre Rebellion der unterdrückten, von gesellschaftlicher Herrschaft entstellten Natur im Dienste
noch autoritärer Herrschaft und der
(selbst)zerstörerischen
Verfolgung
von all denjenigen ‚Anderen’, die sich
vermeintlich oder real dem sozialen
Konformitätsdruck entziehen“, begreifen.
So plausibel und aktuell die Einsichten der Kritischen Theoretiker prima
facie erscheinen, so bedürfen sie nach
Rensmann, gerade um ihre Aktualität
zu akzentuieren, im Licht neuerer
Forschungen in einigen Punkten kritischer Revision und Ergänzung. Der
Autor erblickt dies zunächst in den
psychologischen Grundlagen des Ansatzes der Frankfurter Schule, in die
er aus der feministischen FreudKritik Jessica Benjamins gewonnene
Erkenntnisse einarbeitet.
Problematisch erscheint Rensmann
auch der, nach seinem Dafürhalten,
zu allgemein bestimmte Begriff des
Antisemitismus als „Ticket“. Rensmann moniert, dass hier die zuvor
herausgearbeitete Spezifik von Nationalsozialismus und Antisemitismus
im Begriff der spätkapitalistischen
Totalität zu verschwinden drohe.
„Die Kritische Theorie über den
Antisemitismus wirkt hier, trotz der
Aufrechterhaltung des Bewußtseins
vom Umschlag der Dialektik der
Aufklärung in Wahnsinn, zum Teil
deterministisch und verallgemeinernd
75
gegenüber der historischen Differenz,
die die konkrete Totalität des NS als
'neue Qualität' markierte.“
So berechtigt die Insistenz der Kritischen Theorie auf den universalen
Anspruch ihres gesellschaftstheoretischen Ansatzes ist, ist dem Einwand
Rensmanns zuzustimmen, dass gerade angesichts der Singularität des in
den Holocaust mündenden eliminatorischen Antisemitismus in Deutschland und einer besonders aggressiven
Form des Autoritarismus, die spezifischen historischen, mentalitätsgeschichtlichen und kulturellen Konkretionen, wie sie Rensmann etwa in der
Entwicklung der deutschen Nation
erblickt, in die von den Frankfurter
Theoretikern erarbeiteten allgemeinen
Grundlagen integriert werden müssten. Generell postuliert der Autor vor
dem Hintergrund dieser Einsichten,
den Ansatz kritisch-dialektischer
Gesellschaftstheorie und politischer
Psychologie um die Dimension einer
„vergleichenden politischen Kulturforschung“ zu erweitern.
Dass die Kritische Theorie andrerseits den Blick für das Besondere
keineswegs verlor, zeigt gerade der
Begriff des „sekundären Antisemitismus“, der sich als deutsches Spezifikum gerade in der „Verarbeitung“ des
Holocaust entfaltete. Dieser, in der
Rezeption einer „Kritischen Theorie
des Antisemitismus“ bisher kaum
beachtete Aspekt nimmt in den Untersuchungen Rensmanns im zweiten
Teil seiner Studien breiten Raum ein.
Besonders Adorno hob immer wieder den strukturellen Zusammenhang
von Revisionismus, Nationalismus
und Antisemitismus, deren Kern eine
76
Bücher zum Thema
aggressive Erinnerungsabwehr bildet,
hervor. „Die politische Kultur der
Abwehr, die sich der Stereotypie
bedient und in die judenfeindliche
überführt, zielt gegen die Opfer so
sehr wie auf die Restauration eines
deutschen Nationalismus, der von
jeher dem Antisemitismus eng verwandt ist; diese Erkenntnis ist nicht
zuletzt der Kritischen Theorie Adornos geschuldet.“ Angesichts von
nationalistischen Tendenzen in der
aktuellen politischen Entwicklung in
Deutschland, einhergehend mit einer
aggressiven Nivellierung oder gar
Verkehrung von Opfern und Tätern
und einem sich in diversen Projektionsflächen artikulierenden Antisemitismus, dem ein – symptomatisch für
die Kontinuität des Autoritarismus –
pseudo-rebellisches
„tabubrechendes“ Aufbegehren gegen eine zunehmend ohnmächtiger agierende offizielle Erinnerungskultur korreliert,
verdeutlichlicht sich die ungebrochene Aktualität der Potentiale des Kritisch-Theoretischen Denkens.
Georg Koch
Heinz Steinert
Die Entdeckung der Kulturindustrie oder: Warum Professor
Adorno Jazz-Musik nicht ausstehen konnte. Münster 2003 (Westfälisches Dampfboot), 285 S.,
24.80 EUR.
Adorno in Wien.
Über die (Un-)Möglichkeit von
Kunst, Kultur und Befreiung,
Münster 2003 (Westfälisches
Dampfboot) 231 S., 24.80 EUR.
Kulturindustrie, 2. Auflage,
Münster 2002 (Westfälisches
Dampfboot) 218 S., 15.30 EUR.
Hört man Exile (2003), das mit dem
BBC Musics Award ausgezeichnete
Album des im Londoner Exil lebenden Saxophonisten Gilad Atzmon,
dann erübrigen sich lange Diskussionen darüber, ob Adorno etwas vom
Jazz verstand. Atzmon & The Orient
House Ensemble machen politischen
Jazz nach dem „Ende der Jazzmusik
selber“, das Adorno 70 Jahre zuvor
ausgerufen hatte. Heinz Steinert hält
derartige Diskussionen allerdings ohnehin für unnötig und will sich an ihnen
auch gar nicht beteiligen. Mit seinem
Buch Die Entdeckung der Kulturindustrie
oder: Warum Professor Adorno JazzMusik nicht ausstehen konnte bekennt
sich zum Jazz und zu Adorno und
zieht daraus die Konsequenz, auch
dessen Jazz-Theorie ernst zu nehmen.
Vermutungen darüber, ob eine JazzCD aus dem „Adorno-Jahr“ sein Urteil hätte beeinflussen können, bleiben
zwangsläufig spekulativ; müßig sind sie
deshalb noch nicht. Bedenkt man, dass
es schon zu dessen Lebzeiten Aufnahmen gab, von denen sich stilistische Bögen in die Zukunft hätten
schlagen lassen, z.B. Ornette Colemans The Shape of Jazz to Come (1959),
dann hilft auch der Hinweis nicht
weit genug, dass Adorno sich vorwiegend auf den Swing der Zwischenkriegszeit bezogen habe. Steinert zeigt
u.a. anhand der 1953 im Merkur ausgetragenen Debatte zwischen Adorno
und dem ihm unterliegenden JazzExperten Joachim Ernst Berendt, dass
Adorno seine Position nie wirklich
Anstoß Adorno
revidiert hat. Er nimmt andere Gründe an als Ignoranz oder Unverständnis und stützt sie biografisch.
Bei Die Entdeckung der Kulturindustrie
(A) handelt es sich – wie auch bei
Adorno in Wien (B) – um eine überarbeitete Neuauflage (zuerst 1992) und
trotz der biografischen Annäherung
um keine (Teil-)Biografie. Adorno
interessiert Steinert „als Exponent
einer Form von kritischer Intellektualität“ (A 8). Er arbeitet an einer
„Theorie des Intellektuellen“ (A 7),
die er bei Adorno am Werk sieht, und
zwar „in der Haltung der ‚öffentlichen Einsamkeit‘„, die er von Schönberg übernommen habe (vgl. B 58 ff).
Heute, diagnostiziert Steinert, stehe
diese Haltung den Intellektuellen nicht
mehr zur Verfügung, und er schlägt
vor, sie in Konfrontation mit der des
Jazz-Musikers auf die Höhe der Zeit
zu bringen. Dessen Praxis soll als
Vorbild einer zeitgemäßen kritischen
Intellektualität dienen.
Wien steht für die große musikalische Revolution, die nach Steinert für
Adorno das Modell der Revolution
war (B 168 f). Als er 1925 nach Wien
kam, um bei Alban Berg Komposition zu studieren, war die Revolution bereits Geschichte und gescheitert. Schönberg hatte Harmoniebindung und Sonatenform aufgelöst und
die Dissonanz emanzipiert. Diese
künstlerische Arbeit mochte zum
„Selbstbewusstsein des Produzenten“
beigetragen haben, „sprengende Wirkung“ entfaltete sie kaum; und die gewonnene Freiheit hatte sich längst
wieder in Regeln niedergeschlagen.
Für Steinert (B 7) entstammen die bis
heute aktuellen Thesen aus der Dialek-
77
tik der Aufklärung (1944/47) nicht der
Enttäuschung über die Arbeiterbewegung, sondern Adornos Enttäuschung
über Schönberg. Kunst bewahre
bestenfalls Nicht-Identisches, das
jedoch ständig in der gleichmacherischen Kulturindustrie zu verschwinden drohe.
Auf diesem Hintergrund wird von
Adorno der Jazz als Gegenmodell zur
Arbeit von Schönberg und als paradigmatisch für die Kulturindustrie eingeführt. Es handele sich um „Gebrauchsmusik“, an der sich nichts lernen lasse, was sich nicht längst hätte
lernen lassen, schreibt er in Abschied
vom Jazz (1933) anlässlich des Rundfunksendeverbots. Im selben Jahr
wird ihm von den Nazis die
Lehrbefugnis entzogen.
Über Jazz (1936) entsteht schon im
Oxforder Exil. Weil Adornos JazzTheorie den Grund legt für seine späteren Ausführungen zur Kulturindustrie, hält Steinert sie für bedeutsam
und nicht etwa für peinlich. Er entwickelt parallel zu seiner Auseinandersetzung mit Adornos Theorie des
Jazz seine eigene. In ihrem Licht erscheint Jazz als „kollektiv hervorgebrachtes Ereignis“ (A 139), das den
Widerstreit zelebriert und zeigt, wie
Anerkennung funktionieren kann.
Jazz gehört zur Kulturindustrie; und
Steinert sagt (A 63), er lebe in ihr. Als
„ironische Musik“ (A 145) sei es
möglich, in ihr lebendig zu bleiben.
Indem Steinert gegen Adorno das
Befreiungspotenzial des Jazz behauptet, eröffnet er die Kontroverse erneut, die schon Adorno und Benjamin (und Brecht) geführt worden ist.
Mit Adornos intellektueller Haltung
78
Bücher zum Thema
sei auch der Gegensatz zwischen
Kunst und Kulturware verschwunden, und innerhalb der Kulturindustrie – zu der Steinert eine ausführliche,
aktualisierende Interpretation anbietet
(C) – bleibe dann nur noch kritische
Improvisation
und
Weiterentwicklung. Gesucht seien daher
Kritiker vom Typ des sog. „Kulturindustrie-Intellektuellen“ (A 34).
Im Exil konfrontierte der Israeli
Atzmon traditionelle jüdische Musik
mit arabischen Klängen und integriert
beide in die Tradition des Jazz. Er
steht Adorno damit sicher näher als
dieser es einem Jazz-Musiker zugetraut hätte. Es lohnt sich reinzuhören,
bei Atzmon wie bei Steinert, der sich
wünscht, so gelesen zu werden wie
Jazz gehört wird: als Abfolge von
Variationen (A 8).
Olaf Sanders
Udo Tietz,
Ontologie und Dialektik
Heidegger und Adorno über das
Sein, das Nichtidentische, die
Synthesis und die Kopula, Wien
2003 (Passagen), br., 160 S.,
18.00 EUR.
Ontologie und Dialektik – schon der
Titel lässt Heidegger und Adorno
ahnen. Und in der Tat, Udo Tietz,
Privatdozent für Philosophie an der
Humboldt-Universität Berlin und
Mitherausgeber der Zeitschrift „Initial“, knöpft sich in vorliegender Arbeit
das Seinsdenken Heideggers und die
negative Dialektik Adornos vor. Er
konzentriert sich dabei allerdings auf
einen zentralen und elementaren
Punkt: die Theorie des Urteils. Wie
haben beide, Heidegger und Adorno,
diese grundlegende Erkenntnisfunktion verstanden?
Tietz selbst setzt recht umstandslos
voraus, dass man für eine adäquate
Theorie des Urteils von Frege auszugehen habe. Für diesen ist nicht das
Urteil, sondern der Satz das Fundamentale bzw. das prädikative Urteil
oder der Aussagesatz. Er ist „die
kleinste semantische Einheit, die sich
auf ihren Sinn befragen läßt“ (16).
Von hier ausgehend stellt Tietz fest,
dass sowohl Heidegger als auch Adorno – so unterschiedlich ihr Philosophieren auch war – den Sinn dieser
Urteilstheorie nie recht verstanden
haben. Zwar gehören alle drei, Frege,
Heidegger und Adorno in die gemeinsame Front der Antipsychologisten zu Anfang des letzten Jahrhunderts, die die Auffassung vertraten, dass Urteile keine empirisch-psychischen Operationen seien, wie die
Psychologieschule seit Herbart und
Fries bis zu Wundt, Brentano und
Lipps angenommen hatte, sondern
dass sie ‚logische Operationen’ seien.
Heidegger jedoch habe sie nicht wie
Frege als Prädikation, sondern, in der
Tradition des Neukantianismus und
mit Husserl, als einen intentionalen Akt
der Synthesis zweier Begriffe verstanden, worin die Kopula, das „ist“, die
Gegenständlichkeit, das Sein des
Seienden, ausdrückt. Das Satz „Der
Einband ist gelb“ drückt demnach
nicht aus, dass der Einband gelb ist,
sondern die Verknüpfung des Begriffs
„Einband“ mit dem des „Gelben“,
worin gilt, dass dem Einband das
Gelbsein zukomme. Zwar habe Hei-
Anstoß Adorno
degger, so Tietz, diese Urteilstheorie
dann „ontologisch fundiert“ (59),
indem er ihr als Wahrheitsbedingung
des Urteils die „Erschlossenheit von
Welt“ als dem Ursprungsort von
Wahrheit zum Grunde legte, aber dies
ändert nichts an der Tatsache, dass er
„die logische Struktur des prädikativen Satzes nie verstanden hat“ (15).
Ähnlich Adorno. Auch er stand in
der neukantianischen Tradition. „Die
Auseinandersetzung mit Heidegger“,
so Tietz, „ist eine Auseinandersetzung, die auf einer gemeinsamen
Basis geführt wird – und diese gemeinsame Basis ist die phänomenologische Urteilstheorie, so wie sie Husserl in den Logischen Untersuchungen
entwickelt hat.“ (114) Während Heidegger diese fundamentalontologisch
untermauerte, begriff Adorno die
Synthesisleistung jedoch mit Hegel als
Dialektik. Hegel, so Adorno, habe
den Nachweis geführt, dass jedem Ist
im Satze ein Nicht-Ist innewohne.
„Nach dem Maß des ‚Ist’ enthüllt
Sein sich als Werden, im Sinn der
Ausgangsbestimmungen der dialektischen Logik.“ (Adorno, GS, Bd. 8,
229) Von dieser Einsicht ins Dialektische des Urteils aus habe Adorno
einerseits an Heidegger kritisiert, dass
dessen ontologische Fundierung sich
aller Begrifflichkeit entziehe und sich
in tiefem seinsgeschichtlichen Raunen
verliere; an der Theorie der Prädikation hingegen, dass sie genau jene innere Dialektik im Urteil stillstelle.
Während Heideggers Seinsdenken begrifflos raune, schneide prädizierendes Urteilen ab, richte zu. Es sei ein
identifizierendes Denken, das, was
ungleich ist, gleichsetzt. Wenn Ador-
79
no nun aber die Kritik an solchem
Urteilen mit dem „Nachweis“ führen
will, dass selbst der Identitätssatz „a
ist a“ nicht wahr sei, weil, wie er in
der Metakritik der Erkenntnistheorie
schreibt: „wenn wir in diesem Satz
das zweitemal unter a nicht dasselbe
verstehen wie das erstemal, so ist das
erste a eben nicht das zweite a, das
heißt der Satz ‚a ist a’ gilt dann nicht
mehr“ (89), dann kann man wenig
einwenden, wenn Tietz meint, diese
These sei „eine der irrsinnigsten
Thesen, die im 20. Jahrhundert vertreten wurden“ (120).
Auch wenn Adornos dialektische
Logik negativ konzipiert ist, so bleibt
sie dennoch, wie Tietz zurecht bemerkt, in jener Theorie der Synthesis
befangen. Er nennt es deren „versöhnungsutopisches Motiv“ (112). Denn
Adorno will letztlich doch „auf eine
‚Identität von Begriff und Sache’
hinaus – wobei die entscheidende
Frage lautet: Wie ist diese Identität
urteilstheoretisch zu denken?“ (108)
Adorno intendiert eine Identität von
Begriff und Sache, von Subjekt und
Objekt, die er nicht mehr ausweist.
Und dort, wo er davon spricht, dass
im Künftigen „das Objekt (begänne)
unter dem verweilenden Blick des
Gedankens selbst zu reden“ (Negative Dialektik, Fft/M. 1982, 122), kann
man sich des Eindrucks nicht erwehren, Tietz habe nicht ganz Unrecht,
wenn er sich darüber Gedanken
macht, wie dies denn gehen solle, und
es zu einer Phantasie der Romantiker
erklärt, wo in einer Welt der Märchen
auch Tiere und Steine sprechen.
Der Ertrag dieser Studie über Heideggers und Adornos Urteilstheorie
80
Bücher zum Thema
ist, was Tietz schon voraussetzt. Sie
vollzieht sorgfältig nach und zeigt
überzeugend auf, dass da, wo nicht
der Aussagesatz, und damit die Sprache, und damit der öffentliche Diskurs
das Erste und Fundamentale ist, sondern das heroisch-elitäre, intentionale
und selbst weltsetzende Ich, dass da der
Satz zum Unwahren, die Sprache verstellend und der öffentliche Diskurs
zum bloßen Gerede wird. In der Distanz dazu und der Kritik daran stimmen beide überein; mit der Herrschaft des Volkes und ihren öffentlichen Strukturen konnten weder Heidegger noch Adorno etwas Rechtes
anfangen.
Tietz folgt hier entschieden R. Rortys Grundsatz, dass im Zweifel Demokratie vor Philosophie gehe. Auf
dieser Basis kann er dann allerdings
Adornos Philosophieren deutlich mehr
abgewinnen als dem Heideggers: der
Idee des „Nichtidentischen“, die dem
Individuellen und damit der Pluralität
Rechnung trägt, sowie Adornos Begriff einer „nicht-reglementierten Erfahrung“, der die Lücke zwischen
einer Konsenstheorie und Erfahrungsevidenzen schließen könnte
(125). Maßstab hierfür aber bleibt der
prädikative Satz, ohne den doch ein
wechselseitiges Verstehen gar nicht
möglich wäre. Tietz, so scheint es, hat
offenbar kein Gespür für die Frage,
wie denn ein Standort möglich sein
sollte, der nicht nur in, sondern an
dieser Öffentlichkeit Kritik übt. Er
scheint in ihr, anders als Heidegger
und Adorno, ganz zu hause zu sein.
Alexander von Pechmann
Wolfgang Langer
Im Inneren des Empire: „Staat“ und
„bürgerliche Gesellschaft“ bei Hegel
und Hardt/Negri
Anmerkungen zu einer
Philosophie der Globalisierung.
Der Inhalt eines fraglos Bekannten in der Philosophie verliert das Beruhigende, wenn sich dagegen Einspruch erhebende Perspektiven auf die Gegenwart ergeben und diese, auch rückwirkend, ihre Stichhaltigkeit erweisen.
In der Staatswissenschaft insistiert nach wie vor eine Problemstellung, die
auch in der Phase des „Empire“1 und seinen „zentralisierenden und vereinheitlichenden Tendenzen in der Regulierung des Weltmarkts und der globalen Machtverhältnisse“ (HN 25) nichts an Bedeutung eingebüßt hat. Sie
besteht in der Frage nach der Bedeutung des Staates in seiner Beziehung zur
ökonomischen Verfassung der bürgerlichen Gesellschaft. Zur Erforschung dieser Beziehung bietet sich die Konfrontation der Vorstellung einer „neuen
Weltordnung“, so der Untertitel des genannten Werkes, mit der Rechtsphilosophie Hegels nicht zuletzt deshalb an, weil Hegel „als der erste große
Philosoph der modernen Gesellschaft angesehen werden“2 kann.
Die Abhandlung geht von der Zentralität einer Aussage von M. Hardt und
A. Negri aus, die die Ermächtigung von globalen Prozessen und deren
Autonomie zum Inhalt hat: „Die Regierung im Empire“, schreiben sie, „lässt
sich nicht mehr mit der Begrifflichkeit verstehen, in der Hegel die Regierung definierte: gegründet auf den Vermittlungen der bürgerlichen Gesellschaft, die den Mittelpunkt des gesellschaftlichen Lebens konstituieren.“
(HN 348) Jetzt, so die Autoren, gebe es „eine neue und weitergehende
Vereinbarkeit von Souveränität und Kapital“ (HN 339), allerdings „ohne
1
2
M. Hardt, A. Negri,, Empire. Die neue Weltordnung, Frankfurt/New York 2003 (HN).
Sh. Avineri, Hegels Theorie des modernen Staates, Frankfurt/Main 1976, 10.
82
Wolfgang Langer
irgendwelche Vermittlungsinstanzen. Darin liegt das wirklich Neue der
imperialen Situation.“ (ebd., H.v.m.)
Im „Empire“ wird das Thema der Globalität von Hardt und Negri als eine
Beziehung zwischen der politischen und der ökonomischen Verfassung diskutiert. Sie trennen in ihrem geschichtlichen Rückblick deutlich beide Ebenen voneinander: „Die Transzendenz moderner Souveränität tritt ... mit der
Immanenz des Kapitals in Konflikt.“ (HN 336) Gleichzeitig habe jedoch
eine Hierarchie bestanden: „Historisch war das Kapital auf die Souveränität
und die Unterstützung durch deren Rechts- und Machtstrukturen angewiesen“ (ebd.). Sie heben in diesem Zusammenhang hervor, dass die bürgerliche Gesellschaft „für eine historische Epoche als Vermittlungsinstanz zwischen den immanenten Kräften des Kapitals und der transzendenten Macht
der modernen Souveränität (diente). Hegel ... verstand sie als Vermittlerin
zwischen den unternehmerischen Einzelinteressen einer Vielzahl ökonomisch Handelnder und dem vereinten Interesse des Staates“ (HN 337). Die
gegenwärtige Verfassung des Empire markiere nun den Übergang von einer
durch Hierarchien gekennzeichneten Form der Regulierung des sozialen
Lebens zu einer der verfeinerten Schritte, in denen diese Ausdrücklichkeit
verschwunden ist. Diesen Prozess beschreiben Hardt und Negri als den
Wandel von einer durch Disziplinierung zu einer durch Kontrolle gekennzeichneten Beherrschung der Gesellschaft.3
Ausgehend vom Gedanken einer ehemals gelungenen Vermittlung leiten
sie zu den Prinzipien über, die das Regime des Empire auszeichnet. Dieses
nehme Abstand von der „Allgemeingültigkeit“ der staatlichen Praxis und
werde durch die „Einmaligkeit ... von Handlungen“ (HN 349) bestimmt.
Des weiteren koaliere es mit gesellschaftspolitischen Interessengruppen
legaler und gesetzwidriger Gestalt und wirke daher nicht integrierend. Die
Durchsetzung politischer Ziele tendiere so zu „einer Streuung und Differenzierung“ (ebd.); und in ihrer Ordnung würden diese Formen der Verwirklichung mit „heterogenen und indirekten Mitteln“ (HN 350) erreicht.
Hardt und Negri ziehen daraus die Konsequenz, dass gegenwärtig keine
„Vermittlungsschemata“ oder „Vermittlungsinstanzen“ (HN 400) mehr
bestehen, die geeignet wären, gesellschaftliche Divergenzen zu beherrschen.
3 siehe: HN. 336 ff. – Vgl. zum Begriff der “Disziplinargesellschaft”: M. Foucault, Überwachen und Strafen, Frankfurt/Main 1994 und zum Begriff der “Kontrollgesellschaft”: G. Deleuze, Unterhandlungen 1972-1990, 243 ff.
Im Inneren des Empire
83
Diese fehlende Vermittlung gewinne ihre Brisanz durch die allgemein herrschende Tendenz zur Entmachtung der einzelstaatlichen Verfassungen
gegenüber dem weltumspannenden Prozess der Globalisierung, „die im
Verhältnis zu den Nationalstaaten überdeterminiert und relativ autonom
agiert“ (HN 30).
Zu untersuchen wird also sein, ob der Staat jemals in die beschriebene
Form der Vermittlung integriert war, und ob sich nunmehr eine in der Tat
neue Situation im Verhältnis der wirtschaftlichen zur politischen Verfassung
ergeben hat. Daran schließt sich das Problem an, ob der Staat sich wirklich
dem Primat einer sich autonom entwickelnden Weltwirtschaftsverfassung
gebeugt hat. Dabei wird sich der Fokus der Untersuchung darauf richten,
inwieweit die hegelschen Gestalten der Dialektik tatsächlich unvermittelt in
die Verfassung des „Empire“ übergegangen sind, oder ob sie nicht nach wie
vor eine Unvereinbarkeit zeigen.
Den Ausführungen liegt die Begrifflichkeit Hegels zugrunde. Sie gliedert
sich in die folgenden Schritte: Ausgegangen wird von der Autorität des
„Staates“ als Grundlage des menschlichen Zusammenlebens und damit der
Gebundenheit der „bürgerlichen Gesellschaft“ an die staatliche Ordnung.
Im Rahmen der Betrachtung der Verfassungen der „Familie“ und der „bürgerlichen Gesellschaft“, in denen sich der Staat ausdifferenziert, wird nach
der Instanz gesucht, die geeignet wäre, die nach wie vor bestehende Differenz zwischen diesen Institutionen auszufüllen. Damit soll der Punkt ihrer
Vermittlung geklärt werden. Die weiteren Überlegungen beleuchten, inwieweit und wo die ökonomische Ordnung der bürgerlichen Gesellschaft und
der Staat übereinstimmen bzw. divergieren. Im Anschluß daran erst lässt
sich die Position des Staates im Rahmen der Globalisierung klären.
Eine der Konsequenzen, weiterhin die hegelsche Begrifflichkeit des „Staates“, der „bürgerlichen Gesellschaft“ und der „Familie“ zu verwenden, liegt
darin, provokative, aber nicht entmutigende Züge aufrechtzuerhalten. Sie
findet ihre Berechtigung auch darin, dass wesentliche Elemente aus dem 19.
ins 21. Jahrhundert übernommen werden können, ohne grobe Sinnfälschungen vorzunehmen oder in Willkür abzugleiten. Dies zu klären, setzt
allerdings die Kenntnis hegelscher Begrifflichkeit voraus. In diesem Sinn
birgt, Hegel – auch gegen sich und das „Empire“ – in Anspruch zu nehmen,
eine Polemik, die ihre Ironie nicht verschweigen will.
84
Wolfgang Langer
Die Allgemeinheit der Autorität des Staates
Die Bezeichnung des Staates als „Machtstaat“4 beinhaltet den Verweis auf
eine ursprüngliche und allgemeingültige Totalität der Macht, deren Hoheitsgewalt und Legitimation sich aus sich selbst begründet. Betonte Hegel
seine „grundlose Selbstbestimmung“5 „das schlechthin aus sich Anfangende“6 und
seine „innere und äußere Unmittelbarkeit“7, ziehen Deleuze und Guattari
daraus die Konsequenzen: „Immer wieder wird man auf die Idee eines
Staates verwiesen, der voll entwickelt zur Welt kommt und auf einmal da
ist, der „Urstaat ohne Vorbedingung.“8
Mit dem Staat erreicht der Geist in Hegels dialektischer Rechts- und
Staatsphilosophie eine Gestalt „der Notwendigkeit des über alles bloß Besondere Macht habenden Allgemeinen“9, eine unnachgiebige, „unbiegsame
kalte Allgemeinheit“10, deren Wesen die Unantastbarkeit seiner Autorität
und Herrschaft ist. Das Wohl und das Recht aller sieht Hegel allerdings
nicht in der Bilanz des Wohlergehens der Einzelnen, sondern vielmehr in
dieser konzentrierten Form im Wohl des Staates und dem Interesse seiner
Regierung an ihrem eigenen Bestehen. Das „Allgemeinwohl“ ist damit
sowohl der unwiderrufliche Ursprung als auch das unanfechtbare gewordene Ergebnis, das keine Revision zulässt. – Diese substantielle Autorität „der
4 Th. Petersen, Die Freiheit des Einzelnen und die Notwendigkeit des Staates, in: Ch.
Fricke, Th. König, Th. Petersen (Hg), Das Recht der Vernunft: Kant und Hegel über
Denken, Erkennen und Handeln, Stuttgart 1995, 333-354, 346. Wir haben damit noch
nichts über das Wirken des Staates ausgesagt; vgl. z.B. die Aussage M. Webers: “Staat soll
ein politischer Anstaltsbetrieb heißen, wenn und insoweit sein Verwaltungsstab erfolgreich
das Monopol legitimen physischen Zwanges für die Durchführung der Ordnungen in
Anspruch nimmt.” (Wirtschaft und Gesellschaft: Grundriß der verstehenden Soziologie,
Tübingen 1980, 29)
5 G.W.F. Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, Frankfurt/Main 1972, 249.
6 ebd. 250.
7 ebd. 255. Damit wird, im Blick auf die Monarchie, eine Erweiterung der Hegelschen
Philosophie vorgenommen, die zwar den Kern einer gewissen Polemik beinhaltet, zunächst jedoch nur einer intensiven Wahrnehmung dienen soll.
8 G. Deleuze, F. Guattari, Tausend Plateaus, Berlin 1992, 592. Hegel betont auch die
zeitenüberdauernde “Idee des Staates”, durch die eine Vernachlässigung der geschichtlich-historischen Aspekte gerechtfertigt wird. Vgl. G.W.F. Hegel, a. a. O., 215 f.
9 R.-P. Horstmann, Über die Rolle der bürgerlichen Gesellschaft in Hegels politischer
Philosophie, in: Hegel-Studien Band 9 (1974), 209-240, 239.
10 G.W. F. Hegel, Phänomenologie des Geistes, Frankfurt/Main 1983, 330. Diese Bezeichnung ist – trotz ihrer Beziehung zur französischen Revolution – übertragbar, weil
sie die Behauptung der Macht des Allgemeinen am deutlichsten zum Ausdruck bringt.
Im Inneren des Empire
85
Dominanz der Allgemeinheit des Staates als der existierenden Vernünftigkeit“11 bildet nun auch die Gestalten des Lebens aus, die als „Wirklichkeit“
und „Wahrheit“ in ihrer Allgemeinheit bei den Menschen zu gelten hat. In
diesem Monopol des Staates wird bereits das Moment der Ausgrenzung
deutlich, das später noch zur Sprache kommen soll. Das Allgemeinwohl
verwirklicht Herrschaft: „Souveränität“, schreibt v. Bogdandy, „hat bei
Hegel den präzisen Sinn, dass das Grundprinzip des Staates in allen Momenten der Gesellschaft wirksam ist und gerade in den tatsächlichen Basisstrukturen und den sie reflektierenden Gesetzen lebt.“12 Aus seinem Einflussbereich differenzieren sich die verschiedenen Lebensbereiche der Menschen aus, die „Familie“ und die „bürgerliche Gesellschaft“13, zu denen in
der Konsequenz dann der „Staat“ in Widerspruch tritt.
So spiegelt sich in Hegels Charakterisierung der Familie der Prozess einer
selektiven Schätzung des Wertes der Menschen für den Staat. Aus ihr lässt
sich jedoch zunächst kein allgemeiner Einfluss ihrer maßgebenden Elemente ableiten, die Hegel im Gefühl konzentriert sieht, weil in der „Kälte“ der
Allgemeinheit Empfindungen, Neigungen und Liebe nichts zu suchen haben.14 Die Familie mit ihren Mitgliedern erfüllt jedoch insgesamt eine maßgebliche Funktion, die Gesetze der Ökonomie zu verwirklichen. Schonungslos eröffnet Hegel der Familie ihre Wahrheit, dem Allgemeinen als
„Material“ zur Verfügung zu stehen, aus dem wiederum eine bestimmte
„Menge“ für die Erfüllung weiterer Ansprüche der Arbeitsverfassung vermittelt wird.15 „Unter den Bedingungen des ökonomischen Reproduktionsprozesses“, so M. Riedels Darstellung, „der die Grenzen des ‚ganzen Hauses’
überschritten hat, wird das Individuum aus ihm ‚herausgerissen’ und zum
‚Sohn der bürgerlichen Gesellschaft’.“16 Übrigens dient die entsprechende
Verwendung bei Hardt und Negri ebenfalls der Unterdrückung und Ausbeutung (HN 400 ff.). Wird die Familie so aus der Perspektive der bürgerlichen Gesellschaft und der Finanzverfassung des Staates betrachtet, erhält
sie neben dieser „Material“-Funktion eine weitere grundlegende Bedeutung:
11
12
13
R.-P. Horstmann, a. a. O. 237.
A.v. Bogdandy, Hegels Theorie des Gesetzes, Freiburg; München 1989, 186 f.
Vgl. G.W.F. Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, Frankfurt/Main 1972,
214.
14 Vgl. G.W.F. Hegel, a. a. O. 153 f.
15 ebd. 223 f.
16 M. Riedel, Bürgerliche Gesellschaft und Staat bei Hegel, Neuwied; Berlin 1970, 22.
86
Wolfgang Langer
„Die Familie hat als Person ihre äußerliche Realität in einem Eigentum, in
dem sie das Dasein ihrer substantiellen Persönlichkeit nur als in einem Vermögen hat.“17 In diesem Zusammenhang verweist Hegel auf die „unmittelbare Grundlage (Kapital)“18, das den Maßstab für eine Partizipation am gesellschaftlichen Leben darstellt. Er setzt dabei schon die „Ungleichheit des Vermögens“19 voraus.
Diese Abschätzung des „Vermögens“ der Familien wird für Hegel nun zu
einer elementaren Komponente zur Bestandsicherung staatlicher Autorität.
Die Finanzverfassung ist nicht nur bedeutsam für die Interessen der Einzelnen; sie ist entscheidend auch für den Staat und seine Beurteilung, welche Fähigkeiten er für besonders wichtig erachtet. Hegel betont unmissverständlich, dass es weniger die Begabungen sind als das Geld, das das Wesentliche für den Staat entfaltet: „In der Tat ist das Geld aber nicht ein
besonderes Vermögen neben den übrigen, sondern es ist das Allgemeine derselben“20.
Damit wird eine erste Diskrepanz zwischen Hegel und Hardt/Negri deutlich: Zwar mag das Geld ein erhabener Ordnungsfaktor der staatlichen
Verfassung sein, es geht jedoch über seine Kontrollfunktion hinaus und hat
deshalb nicht das letzte Wort21; es bedarf noch seiner Legitimation durch
den Staat als das Allgemeinwohl. Hegel verdeutlicht bereits mit diesen
Punkten, welche Aspekte für ihn aus staatlicher Sicht als „Allgemeinheit“
relevant sind: So findet die „Familie“ als dem Besonderen nur in Ausschnitten, die sich im „Material“ oder „Vermögen“ konzentrieren, Eingang in die
Gesetze der Wirtschaftsverfassung. Das Geld hat deshalb nicht unvermittelt
die „Allgemeingültigkeit“ (HN 349) des staatlichen Handelns abgelöst oder
ist einer „Vermittlungsinstanz“ unterlegen, sondern es trifft auf dessen
Beharrlichkeit, ohne in eine Vermittlung oder Versöhnung zu münden.
Armut und Reichtum: Betrachtungen zur Verfassung der „bürgerlichen Gesellschaft“
Für Hegel ist die „bürgerliche Gesellschaft“ durch die gemeinschaftliche
Umsetzung von unterschiedlichen und auch gegensätzlichen Interessen als
17
18
19
20
21
G.W.F. Hegel, a.a.O. 159.
ebd. 179.
ebd.
ebd., 266f.
vgl. HN 354.
Im Inneren des Empire
87
dem je besonderen Wohl bestimmt, in das sowohl das „Kapital“ als das
Vermögen der „Familien“ als auch die Geltung der „Familie“ als „Material“
von Arbeitskräften einmündet. Er betrachtet zunächst die allgemeine Konkurrenzverfassung der „bürgerlichen Gesellschaft“ als Äußerung des Besonderen: „Der selbstsüchtige Zweck in seiner Verwirklichung, so durch die
Allgemeinheit bedingt, begründet ein System allseitiger Abhängigkeit, dass
die Subsistenz und das Wohl des Einzelnen und sein rechtliches Dasein in
die Subsistenz, das Wohl und Recht aller verflochten, darauf gegründet und
nur in diesem Zusammenhange wirklich und gesichert ist.“22 Dadurch partizipiert die bürgerliche Gesellschaft bereits an der Autorität des Staates und
der Allgemeinheit des Wohls.23 Die Wirklichkeit der bürgerlichen Gesellschaft als der Ordnung der gegenseitigen Abhängigkeit erfährt ihre Fundierung zudem durch eine bestimmte Gleichgültigkeit: „In der bürgerlichen
Gesellschaft ist jeder sich Zweck, alles andere ist ihm nichts. Aber ohne
Beziehung auf andere kann er den Umfang seiner Zwecke nicht erreichen;
diese anderen sind daher Mittel zum Zweck des Besonderen.“24
Insofern übt der Wettbewerb in seiner Neutralität gegenüber dem Einzelnen eine herrschaftliche wie diskriminierende Funktion aus, weil er das
Leben auf Zwecksetzungen reduziert und eine auf Gegenseitigkeit beruhende Legalität der Unterordnung schafft. Diese Funktion ist dem „Geld“
immanent. Das „Vermögen“ wird in Hegels Verfassung der bürgerlichen
Gesellschaft zum Vorbild der Gesellschaft, das in seiner Bilanzierung die
22
G.W.F. Hegel, a.a.O. 169. – Der folgenden Behauptung kann daher nicht zugestimmt
werden: “In der bürgerlichen Gesellschaft stehen sich Besonderheit und Allgemeinheit
unversöhnt gegenüber. ... Die Allgemeinheit hat Vorrang: sie ist Form und Macht über
die Besonderheit.” (R. Sonnenschmidt, Herrschaft und Knechtschaft: Hegel politische
Philosophie und ihre theoretischen Implikation für eine Soziologie der Herrschaft,
Bochum 1990, 67 f.) Denn die “Allgemeinheit” der Herrschaft verwirklicht sich in der
Verfassung der bürgerlichen Gesellschaft. Dies belegt, obwohl aus einer anderen Ausgangsposition, folgende Stelle: “Hegel zeigt ... zwei Vermittlungsebenen, von der jede
ihre Form der Allgemeinheit hat: die Ebene des Marktes, bestimmt durch die ökonomischen Gesetze, und die Ebene des Rechts, bestimmt durch die Rechtsgesetze.” (A.v.
Bogdandy, a. a. O. 66)
23 Wir bestreiten damit die Rolle der bürgerlichen Gesellschaft als es “eigenständigen
Bereich(s) zwischen Familie und Staat” (ebd. 63; vgl. auch 135; H.v.m.). Die bürgerliche
Gesellschaft und der Staat werden aufgrund des Ausübens von Herrschaft als Einheit
gesehen.
24 G.W.F. Hegel, a. a. O. 169.
88
Wolfgang Langer
„Vereinzelung und Beschränktheit“ sowie „Abhängigkeit und Not“25 zeigt, das
aber auch das Ergebnis der Mechanismen der ökonomischen Verfassung
darstellt, „unverhältnismäßige Reichtümer in wenige Hände zu konzentrieren“26. Im Geld konzentrieren sich die Bestimmungen der bürgerlichen
Gesellschaft, die auch für den Staat unmittelbar maßgebend sind. Während
sich zum einen durch die Armut der „Pöbel“ bildet, sorgt die ökonomische
Verfassung der bürgerlichen Gesellschaft zum anderen für den Reichtum.
Das Geld regelt die Teilhabe am gesellschaftlichen Leben und erfüllt zugleich die Bedürfnisse der Regierungen. Dennoch kann es, obwohl es auch
eine universal gültige Verfassung zur Stabilisierung von Herrschaft in sich
trägt, das Versprechen der Allgemeinheit nicht erfüllen; denn: „Der Staat ist
die alleinige Bedingung der Erreichung des besonderen Zwecks und des
Wohls.“27
Mit dem „Staat“ nun tritt die Untersuchung in das Universum einer Allgemeinheit ein, das dann „erfüllt und wirklich lebendig [ist], wenn es mit der
Besonderheit ... erfüllt ist“28. Zwar geht für Hegel die Handlungsfähigkeit
des Staates und der Regierenden von einer „grundlosen Unmittelbarkeit“
der Autorität aus; sie bedarf jedoch auch einer inneren Bestimmung zur
Überwindung der Differenz zur bürgerlichen Gesellschaft. Deshalb kann
hier H. Marcuse nicht zugestimmt werden, wenn er schreibt: „Nach Hegel
hat der Staat kein anderes Ziel als die ‚Vereinigung als solche’. Er hat mit
anderen Worten überhaupt kein Ziel, wenn die gesellschaftliche und ökonomische Ordnung eine ‚wahre Vereinigung’ darstellt.“29 Denn diese Fusion ist nicht das Ziel; sie ist die Voraussetzung zur dauernden Sicherung der
Macht und ihrer Ausbreitung.
Die Verfassung der „bürgerlichen Gesellschaft“, die die Wirklichkeit des
Staates insofern beeinflusst, als die wesentlichen Momente der „Besonderheit“, das Gewinnstreben und das Vermögen, erhalten bleiben, beeinträch25
26
27
28
29
ebd. 207.
ebd. 208
ebd. 223 (H. v. m.).
ebd. 274.
H. Marcuse, Vernunft und Revolution, Frankfurt/Main 1990, 191. Damit ist auch die
Grenze unterschritten, die Weber anführt: “Es ist nicht möglich, einen politischen
Verband – auch nicht: den “Staat” – durch Angeben eines Zweckes seines Verbandshandelns zu definieren. M. Weber, Wirtschaft und Gesellschaft: Grundriß der verstehenden Soziologie, Tübingen 1980, 30.
Im Inneren des Empire
89
tigt nicht sein Allgemeines, da er eben nicht als eine statische Einrichtung
verstanden werden darf: Der als „Staat“ verobjektivierte Geist muss sich als
flexibel und formbar zeigen, nicht nur um auf die Interessensituationen der
bürgerlichen Ökonomie einzugehen, sondern auch um seinen eigenen Erhalt zu garantieren. Daher schafft der Staat nicht erst eine Gesamtordnung,
da er an sich bereits die Einheit des Allgemeinen ist. Dieses Ganze bedarf
jedoch bestimmter Interessen, die wiederum an die verfassungsmäßige
Ordnung des Allgemeinen als der Bedingung, dass sie sich darin verwirklichen können, gebunden sind. „Die Entwicklung der Differenz zwischen
Staat und bürgerlicher Gesellschaft ist“, wie R.-P. Horstmann schreibt,
„eine notwendige Bedingung für die Begründung des Primats des Allgemeinen, also des Staates.“30 Damit wird bereits der Einfluss der bürgerlichen Wirtschaftsverfassung auf den Staat deutlich: sie ist verantwortlich für
die Notwendigkeit der Berücksichtigung des „Besonderen“, das für den
Erhalt des Staates erforderlich ist.
Daraus aber folgt nun, dass auch das „Empire“ sich nicht vom Staat lösen
kann, da jegliche „Verfolgung politischer Ziele“ (HN 350) vom Staat als deren
Bedingung abhängig sind. Dies erklärt sich daraus, dass dessen eigene dialektische Mechanismen der Produktion von Armut für eine „Menge“ von
Familien und von Reichtum als „Vermögen“ – wie bei Hegel zu sehen – in
jeweils unterschiedlicher Hinsicht der Stabilisierung staatlicher Macht nicht
entgegenstehen. Sie bestimmen die relevanten Mechanismen der Partizipation im Umfang des Vermögens und des ihm entsprechenden Einflusses.
Die Beziehung des Staates zu dieser Instanz kann daher nicht dahingehend
ausgelegt werden, wie Hardt und Negri es tun, dass in letzter Konsequenz
der Wirtschaftsverfassung, als Gestalt des „Empire“, die „Ausübung legitimer Gewalt“ (HN 351) übertragen wird.
Die Ordnung der differenzierten Interessen: Zur bürgerlichen Verfassung des Staates
In einem dritten Schritt ist nun noch der Verwirklichung der „bürgerlichen
Gesellschaft“ mit ihrer Besonderung des Strebens nach Reichtum im Allgemeinen des „Staates“ nachzugehen. Diese Verwirklichung vollzieht sich
bei Hegel nicht als Versöhnung, sondern in der beständigen Konfrontation
der ökonomischen und politischen Interessen, die in ihrer Unvereinbarkeit
30
R.-P. Horstmann, a.a. O. 238. Vgl. ebenfalls dazu Hegel, a.a. O. 169.
90
Wolfgang Langer
dennoch zu einer partiellen Übereinstimmung kommen können. Hegel
spricht vom „Konflikt ... gegen die gemeinschaftlichen besonderen Angelegenheiten und dieser zusammen mit jenem gegen die höheren Gesichtspunkte und Anordnungen des Staats“31. Die Beschreibung dieser Konfrontation der bürgerlichen Gesellschaft mit dem Staat betrifft jedoch, sehr
zusammengefasst formuliert, die Verfassung der Differenz zwischen dem
allgemeinen Interesse des Erhalts des Staates und den besonderen Interessen der bürgerlichen Gesellschaft in der Profitmaximierung. Genau diese Differenz bedingt, dass es auch einer Übereinstimmung der beiden Sphären
bedarf. Der spezifische Ausdruck der bürgerlichen Gesellschaft, konzentriert in den wesentlichen Ansprüchen und institutionalisiert in ihren Interessenvertretungen, „schlägt in sich selbst zugleich in den Geist des Staats
um, indem er an dem Staat das Mittel der Erhaltung der besondern Zwecke
hat.“32 Dabei handelt es sich jedoch um kein Umschlagen aus einer „herrschenden Stellung ... in eine dienende Funktion“33; hier wird vielmehr deutlich, dass bürgerliche Gesellschaft und Staat ineinander mit unterschiedlichen Schwerpunkten verschränkt sind, ohne dass es einer Vermittlung oder
Versöhnung der Differenz bedarf.
In der Dimension des Staates gewinnen die Repräsentanten der Ökonomie allerdings nur dann eine Bedeutung, wenn sie erheblich und bedeutsam
für den Staat selbst sind. Erst dann können sie fordern, durch das Allgemeine des Staates „vertreten“ zu werden. Der Staat enthält zwar in sich die
Mehrdeutigkeit von Interessen, die zu ihrer Verwirklichung drängen, sich
dabei aber im „Geld“ konzentrieren. Insofern repräsentiert der „Staat“
zunächst das „Geld“, da keine der staatlichen Gewalten allein über das
erforderliche Vermögen verfügt, um die wirtschaftliche Verfassung aufrechtzuerhalten. Den absoluten Maßstab aber, der auch die Ordnung der
31 G.W.F. Hegel, a.a. O. 260. Der “Interessenkampf der Gruppen und Verbände” (O.
Höffe, Politische Gerechtigkeit, Frankfurt/Main 1994) stellt die Herrschaft des Staates
nicht in Frage, sondern ist der gegenwärtige Ausdruck einer herrschaftlichen Beziehung,
der sie ermöglicht.
32 ebd. – Die folgende weitergehende Interpretation enthält ebenfalls den Schwerpunkt
der Sorge um das Interesse: “Die Korporation ist kein bloßer Interessenverband, sondern für die Einzelnen von substantieller Bedeutung, da deren rechtliche Existenz von
ihr abhängt.” (Th. Petersen, a.a.O., 345) Hier steht das Interesse steht im Vordergrund,
denn ansonsten könnte diese Einrichtung keine wesentliche Bedeutung erlangen.
33 O. Cöster, Hegel und Marx: Struktur und Modalität ihrer Begriffe politisch-sozialer
Vernunft, Bonn 1983, 372.
Im Inneren des Empire
91
bürgerlichen Arbeitsverfassung und der politisch-administrativen Regelungen des Staates absichert, bildet für Hegel die Vertretung derjenigen, die
den „besondern Interessen ... selbst angehören“34: „Es bietet sich von selbst
das Interesse dar, dass unter den Abgeordneten sich für jeden besonderen
großen Zweig der Gesellschaft z. B. für den Handel, für die Fabriken usf.
Individuen befinden, die ihn gründlich kennen und ihm selbst angehören“35. Daher wird das Allgemeinwohl durch die „wesentlichen Sphären der
Gesellschaft, Repräsentanten ihrer großen Interessen“36 ausgefüllt.
Die „bürgerliche Gesellschaft“ treibt über ihre angenommene Begrenzung
einzig und allein insofern hinaus, als das, was bisher ausschließlich durch
die Ökonomie geprägt war, nun im Einverständnis mit dem Allgemeinen
des Staates und seiner Autoritätsbildung besteht und die vermögenden
Bürger dadurch auch für die Erfüllung des allgemeinen Wohls im Sinne der
Stabilisierung staatlicher Autoritätsstrukturen auftreten können.37 Die eigensüchtigen Interessen können jetzt mit dem Staat als ihrem Mittel, und
insofern sie für ihn und seine Selbsterhaltung bedeutsam und maßgebend
sind, durchgesetzt werden.
Diese Priorität des Staates wird z.B. von K. Lichtblau bezweifelt, der hinsichtlich dieser „Differenzierung“ in der Konsequenz ausschließlich dem
Kapital die Position zuschreibt, die absolute Substanz zu bilden.38 Doch bei
allem Einfluss der Dimension des „Geldes“, die die bürgerliche Gesellschaft durchzieht, enthält sie für Hegel zugleich die Einverständniserklärung durch die Verfassung des Staates, weil diese deren Allgemeinheit bildet, und weil auch der Staat auf sie nicht verzichten kann, nicht jedoch auf
die Macht darüber selbst. Allerdings wird durchs Geld eine wechselseitige
Beeinflussung erreicht; denn der Staat ist auf das Besitztum wie das Kapital
angewiesen, und deren Konzentration ist wiederum geeignet, das Interesse
des Staates zu erwecken. „Es ist Hegels These“, so Th. Petersen, „dass
sowohl bürgerliche wie politische Freiheit abstrakt bleiben, solange sie kein
Fundament in der ökonomischen Selbständigkeit der Einzelnen finden, der
aus der Realisation seines Vermögens, insbesondere seines Arbeitsvermö34
35
36
37
38
G.W.F. Hegel, a.a.O. 276.
ebd. 277.
ebd.
Vgl. ebd. 209.
Vgl. K. Lichtblau, Das Zeitalter der Entzweiung, Berlin 1990, 91.
92
Wolfgang Langer
gens, leben kann. In ‚ungehinderter Wirksamkeit’ (§ 243) realisiert die bürgerliche Gesellschaft diese Selbständigkeit aber nur für wenige.“39
Die Übereinstimmung von politischen und ökonomischen Interessen, die
freilich den Widerspruch nicht dialektisch aufhebt, betont eine andere
Wirklichkeit des „Empire“, die nach wie vor in der Abhängigkeit vom Staate
herrscht. Dieser vertritt nicht unvermittelt die besonderen Interessen; sie
haben vielmehr, wenn sie mit seiner Allgemeinheit übereinstimmen, Einfluss auf ihn. Das „Geld“, ausgedrückt in der Verfassung des Besonderen
der bürgerlichen Gesellschaft, bestimmt bei Hegel die Partizipation der
„Wenigen“ an der staatlichen Gewalt. Diese enge Beziehung zwischen der
bürgerlichen Gesellschaft und dem Staat in der Form einer diskriminierenden Gewalt bestätigt Hegel noch in anderer Weise: durch diese Stabilität,
die Konzentration von Vermögen einerseits und von Armut andererseits,
erfährt die „Menge“ als Vielzahl der Menschen den Ausschluss von ihrer
Teilhabe an der Wirtschaftsordnung und damit auch vom Staat, was wiederum die herrschende Ordnung festigt. „Es ist, als ob der Souverän allein
auf der Welt wäre ... und nichts mehr mit seinen tatsächlichen oder potentiellen Untertanen zu tun hätte.“40
Zusammenfassung: Die zwei Modernen, die „Grundlinien der Philosophie
des Rechts“ und das „Empire“, und ihr Grund
Die dialektisch geprägte Figur der Diskrepanz beherrscht nach wie vor die
Beziehung des Staates und der Ökonomie. Sie verdrängt die Annahme einer
einseitigen und uniformen Herrschaft, wie sie die Autoren des „Empire“
vertreten. Nach wie vor ist richtig, dass das Kapital der Legitimation als
Allgemeinwohl durch die Souveränität des „Staates“ bedarf. Hegels Vorhaben, den Staat mit der bürgerlichen Gesellschaft zu vermitteln, war bereits
in der Durchführung seiner politischen Philosophie gescheitert.41 Dieses
Kernproblem seiner politischen Philosophie zeigt das Misslingen einer
dialektischen Rechtsverfassung, die maßgebende Machtverhältnisse verdecken würde. Weder hat Hegel eine „Vermittlung“ gegeben, noch gibt es erst
39
Th. Petersen, Wie modern ist Hegels Theorie der “bürgerlichen Gesellschaft?”, in:
Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie, Bd. 80, Nr.1, 1994, 109-116, 116.
40 G. Deleuze, F. Guattari, a. a.O. 516. – Vgl. auch Sh. Avineri: “Die Allgemeinheit des
Gesetzes, wie sie durch den Staat vertreten wird, verdrängt die bloß individuellen Intentionen.” (a.a.O., 167)
41 M. Riedel, a.a.O. 79.
Im Inneren des Empire
93
heute (als dem „Neuen“) eine Radikalität der Konflikte ohne Tendenzen
ihrer Annäherung. Die Perspektive einer ehemals erfolgreichen Vermittlung
suggeriert, die Prozesse wären früher kanalisiert gewesen42, während sie
heute nicht mehr abgemildert seien. Mit einer solch einseitigen Betonung
der Priorität einer grenzüberschreitenden Wirtschafts- und Handelsverfassung gerät der „Staat“ unzutreffenderweise aus dem Blick. Zwar mag seine
Souveränität, wie Hardt und Negri meinen, aus der „Transzendenz“ in die
„Immanenz“ des globalisierten Kapitals übergegangen sein, er übt jedoch
immer noch mit dem Kapital seine Hoheitsgewalt über die Menschen aus.
Er steht nicht etwa macht- und einflusslos der „Globalisierung“ oder dem
„Empire“ gegenüber, sondern hat auf der politischen Ebene diese
Entwicklungen bewusst gefördert.
Bereits bei Hegel ist die Differenz zwischen der Verfassung des Staates
und der Ökonomie vorherrschend, wenn diese auch der Sicherung der
staatlichen Herrschaft dient. Für Hardts und Negris These vom Übergang
einer transzendenten Disziplinarverfassung des gesellschaftlichen Lebens zu
einer immanent wirkenden Instanz einer Kontrolle lassen sich zwar gute
Gründe finden, doch bedeutet dies nicht, dass in solcher Verflachung der
Hierarchie auch zwischen „Staat“ und „bürgerlicher Gesellschaft“ ein Übergang stattgefunden hat. Die Transzendenz des „Staates“ wirkt unaufhörlich fort, mag sie auch ihre Gestalt geändert und er bestimmte Aspekte
einer wirtschaftlichen Verfassung in seine Regierung übernommen haben.43
Formulieren lässt sich daher in Abgrenzung zu Hardt und Negri (HN 339),
dass die transzendenten Momente der vormaligen Disziplinargesellschaft
sich auch in den immanenten Seiten der Kontrollgesellschaft des „Empire“
behaupten, und sie sich eher ergänzen.
42
43
siehe HN 337.
Die Verfassung des Staates und der bürgerlichen Gesellschaft werden durch die
Herrschaft ausgezeichnet. Vgl. dazu M. Weber: “I. Unter den Typus der ‚legalen’ Herrschaft fällt natürlich nicht etwa nur die moderne Struktur von Staat und Gemeinde,
sondern ebenso das Herrschaftsverhältnis im privaten kapitalistischen Betrieb, in einem
Zweckverband oder Verein gleichviel welcher Art, der über einen ausgiebigen hierarchisch gegliederten Verwaltungsstab verfügt. Die modernen politischen Verbände sind
nur die hervorragendsten Repräsentanten des Typus.” (Die drei reinen Typen der legitimen Herrschaft, in: Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre, Tübingen 1985, 475488, 476) Sie unterscheidet sich lediglich in der Konzeption des privatisierten Rechts:
“Die Geltung des ‚Vertrages’ als Basis stempelt den kapitalistischen Betrieb zu einem
hervorragenden Typus der ‚legalen’ Herrschaftsbeziehung.” (ebd. 477)
94
Wolfgang Langer
Zu keiner Zeit bestand zwischen den Interessen der „bürgerlichen Gesellschaft“ und denen des „Staates“ aufgrund ihrer unvereinbaren und andauernden Differenz die Möglichkeit einer Vermittlung, da die je besonderen
nie zu allgemeinen Interessen werden können. Trotz dieser Unvereinbarkeit
besteht eine Deckung, wo die besonderen Interessen der bürgerlichen
Machthaber das Allgemeine des Staates ausfüllen, weil dessen Zweck nur
durch die substantiellen und bedeutsamen „Selbstsüchte“ bestimmt wird.
Sie gewinnen für Hegel daraus ihre Weihe durch den „Gang Gottes“ als der
höchsten „Allgemeinheit“, womit sie unanfechtbar werden.44 Die bürgerliche Gesellschaft war daher auch nie geeignet, „die Vermittlungsfunktion
zwischen Kapital und Souveränität zu übernehmen“ (HN 337), sondern
war stets Ausdruck der für den Staat nützlichen und einflussreichen Konzentration des Geldes, die sich durch die Besonderungen der Gewinnsucht
und der eigennützigen Zwecke konstituierte. Durch sie sieht Hegel zwar die
Allgemeinheit des Staates im wesentlichen Umfang bestimmt; doch ist der
Umkehrschluss verfehlt, der Staat vertrete lediglich diese „besonderen“ Interessen. Der „Staat“ und die „bürgerliche Gesellschaft“ sind daher allein
durch ihre Differenz, die das „Geld“ ausfüllt, verbunden, die wiederum
auch ihre politische und wirtschaftliche Verfassung rücksichtslos aufrechterhält. Zwar mag die Vereinbarkeit von Souveränität und Kapital „weitergehend“ sein; „neu“ ist sie nicht.
Nach wie vor beruht die „Einmaligkeit ... von Handlungen“ (HN 349),
durch die Hardt und Negri das Regime des „Empire“ ausgezeichnet sehen,
auf der Autorität eines Allgemeinen, das den Grund für diese Modifikation
auf „spezifische Ziele“ (ebd.) bildet. Mag die Beziehung oder der Zugriff
auf die verschiedenen Institutionen und Interessengruppen heute einer
Pluralisierung unterliegen, gesichert wird sie jedoch, wie gesehen, nach wie
vor durch den Staat. Denn die Logiken der indirekten Machtausübung
verleihen keine Autorität, sondern ergänzen sie nur oder füllen sie mit entsprechenden Inhalten. Und daher besteht nach wie vor die Abhängigkeit
44
Vgl. G.W.F. Hegel, a.a.O. 218. – Die Mechanismen der bürgerliche Gesellschaft
können zwar in ihrer Willkür nicht vorhergesehen werden, doch ist nicht eine “Koinzidenz der besonderen Zwecke mit dem Ganzen der Gesellschaft ... eine Sache des Zufalls”. (M.A. Giusti, Hegels Kritik der modernen Welt: Über die Auseinandersetzung mit
den geschichtlichen und systematischen Grundlagen der praktischen Philosophie,
Würzburg 1987, 136)
Im Inneren des Empire
95
der ökonomischen Verfassung vom Staat. So beschreibt das „Empire“ zwar
durchaus angemessen eine neue Verfassung der ökonomisch-politischen
Herrschaft, aber diese setzt bereits eine andere Ordnung, die des „Staates“
zur „bürgerlichen Gesellschaft“, voraus und kann sich daher nicht in der
Autonomie, wie Hardt und Negri sie beschreiben, verwirklichen. Solche
Annahme bewertet die – allein durch die Differenz bestimmte – Mitwirkung und -gestaltung der staatlichen Gewalt durch die „bürgerliche Gesellschaft“ nicht intensiv genug, die den „Staat“ und damit auch jede ihm übergeordnete supranationale Verfassung bestimmt.
Aus der Einsicht in dieses Verhältnis von Staat und bürgerlicher Gesellschaft könnte sich auch eine Diskussion über die künftigen Machtpositionen der Hegelschen „Menge“45 ergeben, wenn etwa das von Hardt und
Negri anvisierte Ziel einer künftigen „Weltbürgerschaft“ (HN 403 ff) betrachtet wird. Sein Sinn könnte dann fraglich erscheinen, wenn sich darin
Elemente verbergen, die geeignet sind, die Verfassung der „bürgerlichen
Gesellschaft“ mit ihren Konsequenzen im globalen Maßstab zu verwirklichen.
Die Sorge, dass aufgrund des gewachsenen Einflusses der Finanzmärkte
eine Ausgrenzung der „Menge“ aus den wirtschaftlichen und politischen
Prozessen mit der Folge einer zunehmenden Ohnmacht weiter Teile der
Menschheit zu befürchten sei, bestätigt sich in der hegelschen Philosophie.
Deren Begriffsverfassung wirkt also fort. Denn auch der Globalisierung
liegt weiterhin die innige Beziehung des „Staates“ zur „bürgerlichen Gesellschaft“, sei sie durch Widersprüche und Konflikte zwischen den wirtschaftlichen und staatlichen Verfassungen oder den Interessen der bürgerlichen
Gesellschaft gekennzeichnet, zugrunde. Und die „lokale Wirksamkeit“ (HN
350) des „Empire“, die Hardt und Negri konstatieren, beruht auf dem ungebrochenen Ansehen des Staates mit seiner Autorität. Dieses Fortwirken nur
vermeintlich „alter“ Begrifflichkeiten gilt es, zu berücksichtigen, wenn die
modernen Herrschafts- und Unterdrückungsmechanismen des „Empire“ in
ihrer ganzen Tiefe erkannt werden sollen.
45
Vgl. HN 400 ff.
WIDERSPRUCH
Münchner Zeitschrift für Philosophie
Nr.39
Kritik der Globalisierung
außereuropäische Perspektiven
Afe Adogame:
eine afrikanische Perspektive
Oliver Kotzlarek:
Zur Kritik der Moderne in
Lateinamerika
Norbert Walz:
Die Erlösung der Natur
Raúl Claro Huneeus:
Das „Memorandum“ der Heinrich-Böll-Stiftung
Thies Boysen / Markus Breuer:
Ausverkauf der Ethik?
Ram Adhar Mall:
zwischen Asien und Europa
... und viele Rezensionen philosophischer Neuerscheinungen
erhältlich in allen uni-nahen Buchhandlungen
Preis: 6.- EUR
Eberhard Simons
Die „Neue Oikonomia“.
Ein Gespräch
Widerspruch: Herr Simons, wie sind Sie eigentlich zur Philosophie gekommen?
Simons: Als Gymnasiast habe ich gar nicht gewusst, was Philosophie ist.
Man studierte damals auch nicht Philosophie.
Widerspruch: Weil die Eltern sagten, Philosophie sei brotlose Kunst?
Simons: Nein, weil es abseitig war. Fast so abseitig wie Hethitologie. In der
Oberstufe bekam ich dann einen Deutschlehrer, der uns – und zwar fakultativ – einen Zugang zur Philosophie vermittelte. Nun hatte ich aber noch
immer nicht Philosophie studieren wollen, sondern Theologie. Ich begann
mein Studium in Innsbruck; und da war es obligatorisch, vor der Theologie
vier Semester Philosophie zu studieren. Wer mich dann aber eigentlich zur
Philosophie brachte, das war ein Theologe, nämlich Karl Rahner. Er hat so
gute Vorlesungen gehalten, in denen er versuchte, wirklich theologisch zu
denken – einer der wenigen denkenden Theologen. Ich habe ihn sehr bewundert. Durch ihn wurde ich darauf gebracht, dass man Theologie nicht
mehr in herkömmlicher Weise betreiben kann – zumal er zwar immer die
Folie „scholastische Theologie“ zugrundelegte, dann aber anhob, in Abgrenzung dazu eine neue denkende Theologie zu entwickeln, die er philosophisch „Transzendentalmetaphysik“ nannte. Ich merkte bald, dass man
Theologie eigentlich nicht ohne Philosophie studieren kann. Und so ging
ich 1963 dann nach München.
98
Eberhard Simons
Widerspruch: Rahner kam ein Jahr später nach München. Er ist ihnen sozusagen gefolgt.
Simons: Hahaha. Ja. Er kam auf den Guardini-Lehrstuhl. Und ich war bei
den Jesuiten als Externer. Mein Lizenziat oder meinen Magister ich habe
dann bei Johann Baptist Lotz gemacht, der am Berchmannskolleg in München-Pullach und an der Gregoriana war. Mein Magisterthema war damals
recht hochgegriffen: „Der Seinsbegriff bei Thomas von Aquin und bei
Heidegger“.
Danach wandte ich mich der Transzendentalphilosophie zu. Mein Terrain
wurde: Kant, Fichte, Fichte, Kant – und so kam ich zu Reinhard Lauth,
dem Herausgeber der ersten kritischen Fichte-Ausgabe. Lauth brachte mich
zu der Erkenntnis, dass die „Transzendentalmetaphysik“, die von Heidegger kam und in München von Lotz, Rahner und Max Müller vertreten wurde, zur Transzendentalphilosophie werden müsse. Und über die Mängel der
Transzendentalmetaphysik, dass sie keine Interpersonalitätstheorie und
keine zureichende Geschichtstheorie hatte, habe ich dann in Auseinandersetzung mit einer bestimmten religionsphilosophischen Schrift Karl Rahners meine Dissertation verfasst.
Widerspruch: Bei Reinhard Lauth? Transzendentalmetaphysik contra Wissenschaftslehre?
Simons: Ja. Das Buch hieß „Philosophie der Offenbarung“ und erschien bei
Kohlhammer. Es erregte denn auch bei den Jesuiten recht großes Aufsehen
und wurde in der Akademie der Wissenschaften diskutiert. Aber sie kamen
mit ihrer Kritik nicht durch. Rahner selbst war mit der Kritik sehr einverstanden und meinte, es sei eine der besten Kritiken, die er je in seinem Leben erfahren habe. Ja – und das alles machte ich eigentlich nur als Vorbereitung, um Theologie zu studieren.
Widerspruch: Wann war das?
Simons: Ende der 60er Jahre. Bald kamen mir aber doch große Bedenken
bezüglich des Berufes der Theologie. Denn damals waren Laien in der theologischen Fakultät nicht gefragt, und außerdem hatte ich eine Lebensgefährtin kennen gelernt. Jedenfalls, mit Priester-Werden war nichts mehr drin.
Die „Neue Oikonomia“
99
Widerspruch: Hatten Sie auch Probleme wegen der Kritik in Ihrer Dissertation?
Simons: Nein. Sie kam eigentlich recht gut an. Ich hatte also vor, weiter
Philosophie zu betreiben und mich zu habilitieren. Und da traf es sich, dass
gerade Hermann Krings von Saarbrücken nach München kam. Bei ihm
habe ich dann – damals musste man noch fragen, ob man auch genommen
wird – als Habilitand gearbeitet und schließlich über die philosophische
Gottesfrage habilitiert, dargestellt an Ernst Blochs „Geist der Utopie“.
Widerspruch: Wie sind Sie denn auf dieses Thema gekommen?
Simons: Über einige „Umsteiger“. Anfangs wollte ich über Nikolaus von
Kues’ Schrift „De visione dei“ habilitieren – eine wunderschöne Schrift, die
er 1451 seinem Freund am Tegernsee geschenkt hatte. Krings meinte, ob
sich das nicht etwas aktualisieren ließe, und so kam Feuerbach dazu. Bloch
war dann natürlich auch naheliegend. Und so hatte ich drei Autoren. Ich
sagte Krings: „Nee, also drei, das ist zuviel.“ Cusanus und Feuerbach habe
ich fallen lassen und mich ganz auf den Bloch gestürzt.
Widerspruch: Unter welcher Thematik?
Simons: Eben nicht mehr unter dem Gottesbegriff; denn bei Bloch gibt es
zwar ein Transzendieren, aber ohne Transzendenz. Das Buch hieß: „Freiheit und Methode“, worin ich neue Methoden entwickelt habe, die die Kategorien und die Logik künstlerischer Produktion und Imagination betrafen.
Widerspruch: Dies geschah in Auseinandersetzung mit Bloch?
Simons: Ja. In Darstellung und Auseinandersetzung mit Ernst Bloch. Ich
hatte damals das Glück, dass von den fünf Gutachtern jeder in meiner Habilitationsschrift sein Kapitel fand. Denn zunächst zweifelte ich, ob ich meine Bloch-Schrift in München überhaupt durchkriege. Wir hatten nämlich in
München eigentlich nur zwei Schulen: die eine war die „Metaphysik“ – von
Platon über Plotin bis kurz vor Descartes –; die andere ging von Descartes
bis zu Schelling, Fichte und dem früheren Hegel. Mehr gab’s nicht. Und
dementsprechend gab es auch zwei Fußballmannschaften: die Metaphysiker
und die Transzendentalen.
100
Eberhard Simons
Widerspruch: Und da lag Bloch nicht nur dazwischen, sondern ganz daneben.
Simons: Ja. Aber es war damals eben auch die Zeit der Studentenbewegung,
1971 und folgende. Und da kam ich nicht nur recht, sondern – gewissermaßen wie die Jungfrau zum Kinde – auch zum Einsatz. Denn die „Roten
Zellen“ und dann die „Marxistische Gruppe“ setzten den Herren sehr zu,
teils mit faulen Eiern und Tomaten, aber auch mit sehr gezielten Sit-ins.
Und die Professoren dachten, dass jetzt ein Junger an die Front müsse, und
so verfiel man auf mich und hat mich an die vorderste „MG-Front“ geschickt. Aber dazu musste ich Hegel studieren; denn mit Fichte allein ging
das nicht. Also: Kritische Theorie, Hegel und Marx, das waren die Schwerpunkte. Ich habe dann selbständig Hegel studiert, und in der Folgezeit 10
Semester Hegels „Logik“ und daraufhin noch mal 10 Semester die „Phänomenologie des Geistes“ gelehrt.
Widerspruch: Aber „Subjekt-Objekt“ von Bloch, das ist im Grunde doch
Hegel. Und Sie hatten sich damals noch nicht damit befasst?
Simons: Nein. Es war nicht das Thema meiner Arbeit gewesen, sondern das
Geschichts- und Religionsphilosophische bei Bloch, vor allem in seinem
Frühwerk „Geist der Utopie“.
Widerspruch: Es überrascht, dass die Auseinandersetzung damals so koordiniert geschah, und man vom Fachbereich an die „vorderste Front“ geschickt wurde. Gab es dafür wenigstens auch Meriten?
Simons: Ja, nämlich ein gutes Gehalt. Es gab auch Neid-Unmeriten. Denn
der Hörsaal, wo ich las, war bis auf den letzten Notsitz krachend voll. Einem älteren Kollegen, der auch teilnehmen wollte, erging es so, dass er
keinen Platz fand und schließlich wieder abziehen musste. So etwas sollte
man mit 32 Jahren nicht tun. Da gab es panischen Neid. Der hat mich dann
so erwischt, dass, wenn bei den Berufungsverhandlungen gefragt wurde,
man mich immer über alles gelobt hat. Ich dachte immer: „was wollen die
denn nun?“ – Man hat dann auch gesagt, es sei ja leicht, heute mit „Kritischer Theorie“, Hegel und Marx alles voll zu haben. Und so wurde ich
schließlich auf die Antike angesetzt: Platon, Aristoteles, Vorsokratiker usw.
Die „Neue Oikonomia“
101
Widerspruch: Aber Sie hatten doch eine freie Wahl Ihrer Themen.
Simons: Hatte ich schon. Aber wenn man damit Geld verdienen will, darf
man nicht. Da ich damals eine C3-Stelle vertrat, musste ich antike Philosophie machen. Ich hab’s auch gerne gemacht. Und da geschah dasselbe wieder: erst waren es wenige – und man meinte, ich müsse jetzt auch mal das
trockene Brot kennen lernen –, aber dann wurde es auch da immer voller.
Und so habe ich mir auch die antike Philosophie angeeignet.
Widerspruch: Sehen Sie im Rückblick auf ihre Arbeiten so etwas wie einen
„roten Faden“, der Ihr Philosophieren durchzieht?
Simons: Ja. Es gibt einen „roten Faden“, der immer stärker wurde, zumal ich
als Nebenfächer noch Kunst- und Kulturgeschichte und auch Ökonomie
studiert habe. Also, ich sage das mal etwas schematisch: Die Scholastik mit
Thomas von Aquin, die in der katholischen Kirche ja bis zum 2. Vatikanum
für alle Theologen und alle philosophischen Hochschulen verbindlich war,
hatte ich spätestens mit meiner Kritik an Rahners Transzendentalmetaphysik ad acta gelegt und mit der Hinwendung zur Transzendentalphilosophie
überwunden. Dann kam Hegel dazu, der vor allem durch die Kategorienlehre in seiner „Logik“ eine ganze weitere Dimension eröffnet hat. Ich
kam so zu einem dialektischen Denken. Schließlich kam noch ein Weiteres
hinzu. Das dialektische Denken war für mich – wie soll ich sagen – keine
reine Dialektik, sondern von Marx her gedacht auf die Ökonomie bezogen,
zumal der junge Hegel ja auch sehr viel ökonomisch gearbeitet hatte. Es
war zwar anders als bei Marx, aber doch auf Ökonomie bezogen. Was nun
die Ökonomie anlangt, so kam ich bald auf eine neue Erkenntnis, nämlich
einen neuen Begriff des Handelns. Aristoteles kennt als Handlungsbegriffe
ja nur die Techne, die Praxis und die Energeia. Im Timaios jedoch, in seiner
Kosmologie, spricht Platon vom „drãn“, vom göttlichen Handeln, woher
das Wort „Drama“ stammt. Und dies dramatische Handeln hat es mir angetan: das dialektisch-dramatische Handeln. Denn es eröffnet ganz besondere
Möglichkeiten in der Umsetzung des Dialektischen auf die Ökonomie, aber
auch auf die Um- und Lebenswelt. Und da lag es nahe, dramatisches Handeln von Nietzsche her neu zu durchdenken. Die „Tragodia“ und die
„Komodia“, das sind ja die beiden Eröffnungen des dramatischen Handelns. Ich stürzte mich also auf Nietzsche und bemerkte, dass er ungeheuer
102
Eberhard Simons
viel Antikes hatte und es umgeprägt hat, und dass er Fragen behandelt, die
sehr nahe an einer Lebensökonomie sind.
Widerspruch: War Ihr dramatischer Handlungsbegriff mehr ethisch oder
geschichtsphilosophisch gemeint, oder alles übergreifend, wenn man so
sagen will?
Simons: Na ja, also. Bei Nietzsche ist dieser Handlungsbegriff sehr durchgängig: eine gänzliche Umwandlung der Moral. Und bei mir wandelten sich
die Vernunftkonzepte: erst eine metaphysische Vernunft, dann eine transzendentale und eine dialektische Vernunft, schließlich die dialektischdramatische Vernunft. Und die letztere hat es mir angetan. Diesen Vernunftbegriff habe ich durchentwickelt; und da zeigte sich, dass, was als roter
Faden erst klein anfing, sich als das Tragfähigste erwies. Nämlich eine neue
Ökonomie, die eine Ökonomie des Lebens, des Kosmos und auch der Welt
umfasst. An der bin ich jetzt dran, und habe dazu eine Stiftung gegründet,
die Europäische Stiftung „Neue Oikonomia für Wirtschaft und Kultur“, die
ganz schöne Erfolge hat und sich für die heutige Wirtschaft als sehr ergiebig erweist. Mit ihr hat man die Chance, wirklich philosophisch zu arbeiten,
hat es aber zugleich auch mit sehr konkreten Projekten zu tun.
Widerspruch: Können Sie das erläutern?
Simons: Die Oikonomia?
Widerspruch: Ja. Und ihre Verbindung mit dem dramatischen Handlungsbegriff und mit Nietzsche.
Simons: Ich sage Ihnen erst mal etwas zur Hardware der Oikonomia. Sie
beinhaltet ein Beratungs- und Führungswissen. Und die Software der Oikonomia ist eine kyklische Risikokalkulierung. Denn wenn man kalkulierend
etwa auf Erwartungen erwartend eingeht und diese Erwartung ihrerseits
erwartet, dann kann man das nicht mehr linear darstellen. Während die
gängige Kalkulation linear ist, verwenden wir eine kyklische. Wir setzen sie
an einzelnen, teils ganz aktuellen Punkten und Themen an. Das Dramatische an ihr ist, dass man auf Konflikte nicht regulativ eingeht, sie wegreguliert, sondern dass man sie austrägt. Und aus dieser, auch ökonomischen,
Konfliktaustragung kommt etwas in Gang, was im anderen Fall unterdrückt
wird.
Die „Neue Oikonomia“
103
Widerspruch: Denkt man diese Konfliktaustragung mit Hegel oder Marx,
dann ist sie mit einem Begriff vom Fortschritt verbunden: ein Fortschritt in
und durch Gegensätze und Widersprüche. Mit Nietzsche aber lässt sich das
wohl kaum verbinden.
Simons: Nein, so nicht mehr. Also, den Marx habe ich schon rauf- und runterstudiert; allein schon wegen der „MG“. Nein, in diesem Sinne gibt es
keinen Fortschritt. Es ist aber auch kein Rückschritt, sondern eine Art von ...
Widerspruch: Lebensbewältigung?
Simons: Ja, genau. Ich denke schon auch, dass es Fortschritte gibt; aber im
Sinne einer Geschichtslogik des Fortschritts meine ich das nicht.
Widerspruch: Wenn es Konflikte gibt, dann muß es entweder Regeln zu ihrer
Bewältigung geben oder sie werden ausgetragen. Man braucht dann aber
eine Art Fundament, das den Optimismus begründet, dass es keiner Regeln
bedarf, sondern die Konflikte sich selber tragen. Was ist das?
Simons: Die Konflikte teilen sich mit. Und aus der Mitteilung der Konflikte
kommt etwas in Gang.
Widerspruch: Und das, was in Gang kommt, ist nicht schlecht, sondern gut.
Simons: Ja, das ist gut.
Widerspruch: Woher wissen Sie das?
Simons: Das ist gewissermaßen die Grundvoraussetzung der Oikonomia,
daß Konfliktaustragung etwas bringt. Sie bringt von selber etwas aus sich
selbst. Zu ihr gehört deshalb auch wesentlich die Initiation des Anfangs.
Die Oikonomia – und das ist ganz frühe Antike – ist nicht ausschließlich
zielorientiert, um nicht zu sagen: zielhypnotisiert, wie die moderne Ökonomie, sondern sie ist anfangserschlossen. Sie ist ein Denken ex arches. Und
die Arche ist es, um die es geht. Mein Freund Albert – wenn ich mir erlauben darf, so zu reden – wen hatte der denn als seinen Lehrer? Parmenides.
Mit Parmenides, dem Arche-Denker, hat Albert Einstein die Gegenwart als
das Jetzt wiederentdeckt. Denn physikalisch war die Zeit ja verschwunden
und war Dimension des Raumes oder ein Punkt. Einstein hat die Zeit und
die Zeitigung der Gegenwart wiederentdeckt, und diese Gegenwartswieder-
104
Eberhard Simons
entdeckung hat uns von der „Weltraumwelt“ zu einem neuen Universum
gebracht. Und kam durch Parmenides.
Widerspruch: Sie meinen, die Relativitätstheorie wäre ohne Parmenides nicht
möglich gewesen?
Simons: Ja. Und so anfangsorientiert ist die Neue Oikonomia auch. Sie ist
nicht mehr einfach zielorientiert. Sie hat keinen Gott im Sinne einer causa
prima, die die Schöpfung macht, aber auch nicht im Sinne eines zielbestimmten metaphysischen Seins als finaler Kausalität. Die Anfangserschlossenheit ist das Eigentümliche der Oikonomia. Sie ermöglicht daher nicht nur
Innovationen, sondern auch Initiationen. Sie bedenkt: „Woher kommen die
Einfälle?“ „Was ist die Einbildungskraft, die sie hervorbringt?“ Und: „Wie
kann man Einfälle erschließen?“ Daher gibt es in der Oikonomia auch als
Spezial- und Sonderthemen etwa eine Ökonomie des Geizes und daraus
dann eine Ökonomie des Gewinns. Das ist natürlich ganz aktuell.
Widerspruch: Dann ist hier also die Initiierung der Ausgangspunkt. Wenn was
mal aufs richtige Gleis gesetzt ist, dann...
Simons: Wenn das nicht mechanisch gedacht ist, dann ja. Dann geht’s gut.
Widerspruch: Nun hat der Anfang jedoch die zwei Seiten: einerseits ist noch
nichts da, sonst wär’s nicht der Anfang; andererseits ist aber doch etwas da.
Und darin soll nun gleichsam keimförmig Vieles angelegt sein. Woher weiß
man denn, dass das am Anfang gut ist?
Simons: Es ist eben nicht am Anfang, so daß er am Anfang eingeordnet ist,
sondern es ist aus dem Anfang: ex arches. Und aus dem Anfang geschieht
ein bleibendes Anfangen. Es bleibt der Anfang der Vergegenwärtigung der
Welt aus dem Zeitigen von Zeit als Gegenwart. Der Anfang bleibt. Es ist
eben ein Unterschied, ob man zielorientiert oder anfangsorientiert denkt.
Auch die Transzendentalphilosophie ist ja anfangsorientiert, wenn sie die
Gegenständlichkeit der Gegenstände überhaupt und die Selbstbewusstseinsvoraussetzungen für Gegenständlichkeit behandelt. Sie ist eine Anfangs-, Aprioriforschung.
Widerspruch: Aber bei Ihnen ist dieses Apriori doch nicht transzendental
gemeint, sondern selbst geschichtlich.
Die „Neue Oikonomia“
105
Simons: Ja. Und wir haben wegen dieser Geschichtlichkeit auch die Chance,
so etwas wie eine Schicksalsökonomie zu betreiben. Wir können zum Beispiel die Frage verhandeln, was daraus folgt, dass Deutschland über 600
Jahre ein königs- und führungsloses Land war. Und warum Deutschland zu
den ganz wenigen Ländern gehört, in dem bis zum hohen Mittelalter die
Sonne – wie sonst überall auch – maskulin war: „der Sun“. Vom 12. bis 16.
Jahrhundert dann aber feminin wurde: „die Sunna“. Man kann sagen, das
seien läppische Geschichten, aber schicksalsökonomisch ist das, glaube ich,
bedeutsam.
Widerspruch: Wollen Sie sagen, die Sonne wurde feminin, weil die StauferHerrschaft zerbrochen ist?
Simons: Ja, natürlich. Denn danach gab es keinen deutschen König mehr; es
folgte eine führungslose Zeit von 600 Jahren, wo mit Deutschland alle machen konnten, was sie wollten. Die Herrschaft ging über an die Habsburger
und die haben sich um Deutschland nicht gekümmert. Einer kam zwar zur
Zeit der Reformation mal kurz herein, verschwand aber schnell wieder. Es
gab freilich auch Ludwig den Bayern, der ja hier an der Oper eine Akademie
gegründet hat. Aber das blieb Episode. Die 600 Jahre Führungslosigkeit
zeigen viel von Deutschland, und daraus kann man schicksalökonomisch
einiges entdecken und neue Zugänge zur Deutschlandfrage entwickeln. Wir
machen das in unser Stiftung, die das theoretisch erforscht und dazu Veranstaltungen macht.
Zudem ist an der Münchner Fakultät eine Zusatzausbildung für eine Managerausbildung von zwei Semestern vorgesehen, die mit einem „Master of
consulting“ abschließt. Dieser Studiengang soll interdisziplinär mit Betriebswirten, Ökonomen und anderen betrieben werden. Der Rektor hat
schon verkündet, dass die Münchner Universität eine Hohe Schule der
Managerausbildung wird. Und dabei haben wir mit unserer Stiftung eine
wichtige Funktion.
Widerspruch: Das hat aber nun nichts mit der Schicksalsökonomie zu tun,
sondern bezieht sich doch wohl eher auf das kyklische Management, das Sie
beschrieben haben.
106
Eberhard Simons
Simons: Na ja; ich halte jetzt eine Vorlesung über „Neue europäische Vernunft“. Und da kommen doch auch schon schicksalsökonomische Fragestellungen herein.
Widerspruch: Sie haben längere Zeit Vorlesungen über Ägypten gehalten.
Haben diese auch mit jenem Anfangs-Gedanken zu tun?
Simons: Ja. Denn das normale Schema sagt doch: Europa hat zwei Wurzeln,
die eine ist das Juden- und Christentum, und die andere das Griechen- und
Römertum. Völlig ausgeblendet wird dabei jedoch, dass die Wiege Europas
am Nil stand. So ist die ganze griechische Kultur die Fortsetzung der ägyptischen Weltauslegung, die über Kreta, die minoische Kultur, bis zur mykenischen Kultur reicht, bis dann die Dorer den ägyptischen Mythos umformuliert haben und die griechische Dichtung entstand, wo auch die Philosophie ihre Anfänge hat. Die Griechen jedenfalls haben sich immer als die
Söhne Ägyptens verstanden. Auch die Juden sind ja Söhne Ägyptens. Wenn
wir annehmen, dass Moses eigentlich „Tutmosis“ hieß, vielleicht sogar ein
Pharaosohn war, dann wird das evident. Dass Ägypten aus dem europäischen Kulturhorizont so herausgefallen ist, liegt daran, dass für die Juden
immer der Exodus entscheidend war, und Ägypten das Land der Knechtschaft. Und das hat sich durchgesetzt, so daß wir den ägyptischen Kulturhorizont nicht mehr haben.
Widerspruch: Historisch mag das ja stimmen. Aber liegt der Anfang nicht da,
wo es nicht kontinuierlich weitergeht, sondern wo es Brüche gibt: Anfänge,
die ein Feld eröffnen, das vorher nicht schon vorhanden war? In Griechenland ist geistesgeschichtlich doch etwas passiert, was sich nicht von Ägypten her erschließen läßt. Meinen Sie wirklich, das parmenideisches Denken
sei schulmäßig ägyptisches Denken?
Simons: Ja. Denn der Lehrer von Parmenides war Pythagoras. Und Pythagoras hatte „Bünde“ geschaffen, aus denen Parmenides hervorgegangen ist.
Ich sage ja nicht, daß es unmittelbar folgt, sondern nur, dass Parmenides
davon inspiriert war, und dass er das nun in eine andere Sprache übersetzt
hat. Insofern sehe ich hierin eine Kontinuität, die übrigens bis zu Alexander
dem Großen weitergeht.
Widerspruch: Es gibt aber doch den Streit zwischen Ägypten und Israel.
Auch wenn man den monotheistischen Gedanken vielleicht ansatzweise bei
Die „Neue Oikonomia“
107
den Ägyptern schon finden kann; aber dass der Gott der Juden ein moralischer Gott war mit Verpflichtungen, Sünden und Aspekten der Freiheit –
das wird doch als Kontrapunkt gegenüber dem Ägyptischen verstanden.
Selbst wenn man den einen oder anderen Pharao nennen mag, der dem
Monotheismus nahe kommt.
Simons: Amenophis Echnaton.
Widerspruch: Etwa. Juden und Christen würden dennoch behaupten, daß bei
allem Vergleichbaren eine entscheidende Differenz bleibt.
Simons: Also. Normalerweise ist es das Schema, dass der Monotheismus als
höher angesehen wird als der sogenannte Polytheismus, von dem allerdings
vor dem 9. Jahrhundert niemand geredet hat. Aber die Monokratie – jetzt
sag ich es mal so – war für Europa verheerend. Denn wir haben die größten
Konflikte und Kriege der Monokratie, also der Einmannherrschaft bis hin
zu Stalin und Hitler, zu verdanken. Die Monokratie war überhaupt kein
Segen für Europa, sondern eher ein Unglück. Und von daher halte ich die
Auskunft, der Monotheismus sei das bei weitem Höhere und das andere
das „Heidnische“, für obsolet. Die Sprache nicht nur der Ägypter, sondern
auch der Griechen war nicht nur monokratisch. Sie hatten zum Beispiel
auch ein Verhältnis zu den Tieren. Das war nicht übles Heidentum, sondern Zeus selbst hatte ein Verhältnis zu den Tieren, zum Stier, zum
Schwan, zur Schlange sogar und zum Adler. Er verwandelte sich in einen
Stier, als er die Europa nach Kreta holt. Aber auch die Juden schielten nach
Ägypten oder nach dem Baal und wollten gern einen Stierkult haben. Als
Moses auf dem Berg Horeb war, haben sie es gewagt, nur ein Stierlein, das
berühmte „Goldene Kalb“, zu verehren. Da gab es gleich ein Donnerwetter
sondergleichen. Lesen Sie das bitte mal nach. Man kann diese Geschichte
aber auch ganz anders herum lesen.
Im Ägyptischen jedenfalls war es eben nicht einfach der Pharao, sondern
es war die Pharaofamilie: Isis und Osiris mit Horus. Das ist eine ganz andere Weltauffassung als die Weltauslegung, wie sie in der Moderne dann zum
Tragen kam. Bei Kant z.B. haben wir ja so etwas wie die eine „Rund-umdie-Uhr-Erkenntnis“, das transzendentale Bewusstsein. Ägyptisch konnotiert aber wäre es, wenn wir auf die Unterschiede zwischen einer Morgenund Abend-, Mittags- und Mitternachtserkenntnis achten würden.
108
Eberhard Simons
Widerspruch: Sie sagen damit, dass die neue Oikonomia in der Rückbesinnung auf ägyptische Denkformen vieles wiederentdecken kann.
Simons: Ja. Eben auch als Heilungsökonomie. Wir halten auch Tagungen in
der Oase Siwa ab, einem herrlichen Oliven- und Palmenhain mit Quellen,
südlich von Alexandrien. Dort wurde Alexander der Große zum Pharao
und zum Sohn Gottes ernannt; erst in Memphis, dann in Siwa. Er hat eine
für das alexandrinische Reich äußerst wichtige, friedensstiftende Oikoumene geschaffen, indem er zwischen „Jupiter“, dem Gott der Römer, „Zeus“,
dem Vatergott der Griechen, „Ammon“, dem ägyptischen Gott und dann,
durch die Hochzeit zwischen Perserinnen und Griechen, auch die Mesopotamier und Perser versöhnte. Alexander konnte im Gesamtreich aus Feinden Freunde machen. Das ist schon allerhand.
Widerspruch: Wie kommen Sie denn, der Sie theologisch angefangen haben,
mit der Differenz zwischen solch sog. heidnischem und christlichem Denken
klar? Wenn man das, was Sie sagen, mit dem christlichen Gott Vater, Sohn
und Heiligem Geist verbinden will, dann hat man doch ganz schön zu tun.
Simons: Na ja, Gott Vater, Sohn und Heiliger Geist. Da muss man erstmal
darstellen, weshalb das eine erlösende Bedeutung haben kann. Ich will jetzt
mal etwas einbringen, worüber wir philosophisch noch nicht genügend
nachgedacht haben. Mit Nietzsche haben wir zwei Kategorien des dramatischen Denkens: die Tragodia und die Komodia. Das Dritte, eigentlich
Christliche, aber ist amnos, das Lamm. Und damit wäre die sog. „Amnologie“ eine ganz neue friedensstiftende Versöhnungsart, die in der christlichen
Liturgie als „agnus dei“ erscheint: dona nobis pace. Aus ihr kommt die
friedensstiftende Welt des Geistes hervor. Und von daher ist hinsichtlich
der Verbindung, nach der Sie fragten, schon einiges möglich. Der dreifaltige
Gott der christlichen Theologie ist kein Monokrat.
Widerspruch: Mir stand jetzt auch mehr die augustinische Theologie vor
Augen.
Simons: Seit der Spätantike gibt es aber auch ganz andere Zugänge und
Wurzeln, z.B. die griechische Theologie, die koptische oder die armenische.
Widerspruch: Man kann also die Trinitätslehre als Abminderung oder Relativierung des Monotheismus interpretieren.
Die „Neue Oikonomia“
109
Simons: Ja, das kann man. Aber das wäre dann auch die Aufgabe, sie aus
einer solchen Agnologie heraus zu entwickeln. Vielleicht bin ich der erste,
der so etwas macht. Wenn man einmal dramatisch durchdenkt, was das
bedeutet, dann bringt das was: Das Dramatische nicht als eine Trag-odia,
als „Bocksgesang“, sondern als Lammlied: Christus das Lamm. Die griechischen Tempel sind zweifelsohne wunderbare Gebilde, die sehr nach Griechenland passen; aber das spezifisch Christliche ist das menschlich Nahe,
wie das Lamm es symbolisiert.
Jedenfalls scheint mir ein monokratisch verfaßter Vernunftbegriff heute
obsolet zu sein. Wir sehen das doch schon bei Adorno. Bei ihm wird die
Vernunft zum Prinzip der Herrschaft, weil vernünftig denken heißt: Identifizieren mit Begriffen; und das ist schlechthin das Wesen von Herrschaft.
Die Vernunft ist keineswegs nur Aufklärung, sondern ungeheuer unterdrückend. Mit anderen Worten: hier setzt die Auflösung der Vernunft ein.
Derrida macht da weiter – auch wenn er mit der Chora bei Platon dann
etwas anderes beginnt. Angesichts einer solchen Zerrüttung des Vernunftanspruchs ist aber ein neuer Anfang wichtig. Den kann Adorno meines
Erachtens jedoch nicht mehr machen. Bei ihm ist mit dem vor-ichlichen
Impuls sozusagen Schluß. Und daher ist wichtig, was über Adorno herausführt. Für die Moderne ist das Denken Verallgemeinerung und die Vernunft die Verallgemeinerungsfähigkeit. Und das setzt voraus, daß alle Menschen ungefähr das gleiche Bewußtsein und die gleiche Wahrnehmung
haben. Für die Antike jedoch war es ganz wesentlich, Denken lernen zu
können, das heißt, eingeweiht zu werden. Ohne „Einweihung“, ohne Initiation, ist kein Denken zu lernen. Dieser Sinn für den Kultus der Einweihung
fehlt in der Moderne vollständig. Er ist ja nicht nur irgendeine religiöse
Geschichte, sondern ist für das Bewußtwerden des Gegenwärtigen selber
wesentlich. Wenn man die Vernunft so denkt, dann wird die bislang generalisierende Vernunft in eine initiierende Vernunft umgewandelt.
Widerspruch: Muß man nicht sagen, daß es einigermaßen verwegen erscheint,
wenn wir Europäer jetzt auch noch meinen, aus unserem Zentrismus heraus einen neuen Vernunftbegriff kreiieren zu müssen? Geht es an, daß wir
die Kritik an unserer eigenen Tradition auch noch selbst leisten? Wenn es
so ist, daß eine bestimmte Form von Vernunft diskreditiert ist, muß man in
Zeiten der Globalität dann nicht vielleicht warten, ob sich etwas Neues
110
Eberhard Simons
herauskristallisiert, das nicht mehr nur aus Europa kommt, sondern das aus
den Zugängen, den Archai, der anderen Kulturen entsteht?
Simons: Ich meine, dass man erstmal nicht darum herumkommt, daß andere
Kulturen keine Philosophie erfunden haben.
Widerspruch: Aber sie denken doch auch.
Simons: Ja. In ihrer Weise schon. Aber das weltweite wissenschaftlichtechnisch-ökonomische Reproduktionssystem haben sie nicht erfunden.
Das waren die Europäer. Wissen Sie, das soll sich ja nicht ausschließen. Die
Europäer können zu einem neuen Anfang finden, gerade wenn sie nicht
generalisieren. Sie müssen nicht sagen: „das gilt jetzt weltweit“. Das
Generalisierungsparadigma ist heute typisch für Amerika; Europa muß das
nicht machen. Aber ganz ohne Eigenes wäre es verheerend. Erst wenn die
Europäer ihr Eigenes haben wie die anderen auch, erst dann wird man das,
was man hat, mit anderen auch kommunizieren können.
Widerspruch: Herr Simons, wir danken Ihnen für das Gespräch.
Das Gespräch führten Franz Piwonka und Alexander von Pechmann
Besprechungen
Neuerscheinungen
Armin Adam, Franz Kohut,
Peter K. Merk, Hans-Martin
Schönherr-Mann (Hrsg.)
Perspektiven der Politischen
Ökologie. Festschrift für Peter
Cornelius Mayer-Tasch zum 65.
Geburtstag, Würzburg 2003 (Königshausen & Neumann), 277 S.,
35.90 EUR.
„Es ist die Aufgabe der Politischen
Ökologie, die gegenwärtigen Umweltzerstörungen in all ihren Dimensionen und aus unterschiedlichen Perspektiven einsichtig zu machen.“
(Klappentext). Gleichzeitig avanciert
– nach Mayer-Tasch – Politische
Ökologie zur Leitwissenschaft der Postmoderne wegen „ihre[r] herausragende[n] soziale[n] als Überlebenswissenschaft“ (S. 12; alle H. v. m.).
Im Rahmen von Methodenpluralismus, Interdisziplinarität und ganzheitlichem (globalen) Ansatz soll die
Politische Ökologie ein weites Feld
beackern, man mag fast geneigt zu
sagen, die „ganze Welt“ bestellen.
Diesem Anspruch wird der vorliegende Band nicht gerecht und den Rezensenten beschleicht der Verdacht,
dass dies auch an anderer Stelle nicht
geleistet werden kann, auch nicht
näherungsweise. In diesem Band fällt
auf, dass zwei Wissenschaftsbereiche
vollkommen ausgeblendet werden,
die eine interdisziplinäre Behandlung
dieses Themas eigentlich nahe legen
müsste: naturwissenschaftliche (insbesondere Biologie, Ökologie) und
wirtschaftswissenschaftliche Beiträge
sucht man vergebens, mit Ausnahme
von Knolls Artikel. So kreisen die
Artikel allein um klassische philosophische und sozialwissenschaftliche
Ansätze. Während der erste Teil
(„Theoretische Entwürfe“) die philosophischen Grundlagen der ökologischen Krise, erhellen will, beschäftigen sich die Artikel des zweiten Teils
(„Aktuelle Problemfelder“) mit der
ökologischen Krise vornehmlich aus
(empirisch-)sozialwissenschaftlicher
und politologischer Perspektive.
Der – wenn auch lediglich philosophiezentrierte – Theorien- und Methodenpluralismus, den der theoretischen Teil des Bandes vorstellt, ist
beeindruckend, selbst wenn der Leser
sich zuzeiten schwer tut, die zentralen
Fragestellungen und Angriffspunkte
der Politischen Ökologie nicht aus
den Augen zu verlieren.
Ausgangspunkt ist stets die Prämisse, dass wir in der Zeit einer ökologischen Krise leben. Gemeinsam ist allen Autoren eine kapitalismuskritische
Haltung und eine tiefe Skepsis bis
Ablehnung gegenüber dem „Projekt
112
Neuerscheinungen
Moderne“, welchselbig beide als
Hauptursachen der ökologischen Krise identifiziert und untersucht werden.
Aus geschichtstheoretischer Sicht
etwa kritisiert Armin Adam die Entmächtigung der Gegenwart durch das
Fortschrittsdenken der Moderne, der
er das Modell der Nachgeschichte
gegenüberstellt. Die Gegenwart müsse wieder „rückerobert“ werden aus
„den Klauen des Geschichtsdenkens“
und dies gelinge nur durch einen
radikalen „Verzicht auf historische
Deutung“.
Wolfgang Zängl wirft ein wenig
fruchtbares Schlaglicht auf die
Dialektik von Menschen und Natur,
wenn Prämissen und Konklusion
lauten: „Die Welt gehört der Welt –
dem Leben vor uns, dem mit uns und
dem nach uns“(S. 39).
Martin Schönherr-Mann will die
natürliche Unordnung der ökologischen Krise an der Unordnung unserer Theorien über die Natur festmachen: Relativitäts-, Chaostheorie und
Unschärferelation seien kein Erkenntnisfortschritt, sondern ein groß angelegtes Rückzugsgefecht von Galileis
mechanistischem Optimismus, an
dessen Ende heute eingeräumt werde,
die Natur sei prinzipiell nicht oder nur
in vagen Annäherungen erkennbar.
Interessant auch Bernd Meyerhöfers
Artikel zum Katastrophenbegriff
(„Poetik der Katastrophe“), der den
Begriff zunächst aus der aristotelischen Poetik heraus entwickelt, ihn
dann vor den Hintergrund mythologischer Vorläufer platziert, um am
Ende zu dem Ergebnis zu kommen,
dass es vor allem die Machiavellisti-
sche Politik der Machttechnik sei
(technokratische Beherrschbarkeit vor
Respekt/Anschmiegen an die Natur),
die ein echtes Lernen aus den Katastrophen verhindere.
Politischer ausgerichtet sind die drei
Artikel, die den theoretischen Teil beschließen. Zum ersten fordert Rudolf
zur Lippe – am Beispiel des Gemeingutbegriffs - eine quasi-kommunitäre,
wertkonservative Korrektur liberaler
Theorie und Praxis durch die Rückkehr zu informellen, traditionellen
Normen (etwa: Treu und Glauben).
Im liberalen Vertragsmodell werde
„existentielle Verbundenheit [...] abgelöst durch normative Verbindlichkeit“ (S. 108), was dazu führe das
Gemeinsame zunehmend als Negativität eines Privaten erfahren werde.
Bernd Guggenberger untersucht im
Anschluss daran mit Begriff der
Nachhaltigkeit eine zentrale Kategorie der Politischen Ökologie und
kommt zu dem Ergebnis, dass er
nicht zu halten ist. Zum einen fuße
das Konzept der Nachhaltigkeit mit
ihrer Konstanzannahme auf der –
wenig plausiblen und ebenso wenig
wünschbaren – Vorstellung einer entwicklungslosen Gesellschaft, zum
zweiten sei die Differenz zwischen
„hochgradiger Beschleunigungsgesellschaft“ und der Linearität der Nachhaltigkeitsmaxime schlichtweg zu groß
und zum dritten sei der Begriff der
Nachhaltigkeit nur auf lebendige
Systeme anwendbar, während wir
heute im Zeitalter von Cyberspace
und Genmanipulation „nach Künstlichkeit und totem Lebensersatz [gieren]“ (S. 117)
Abgeschlossen wird der theoretische
Neuerscheinungen
Teil durch den Beitrag Manuel
Knolls, der anhand der Marxschen
Werttheorie die ökologische Krise als
ökonomisch notwendige Folge der
kapitalistischen Verwertungsgesellschaft
sieht. Der Selbstzweck, die Verwertung des Wertes, die Marx in der
„allgemeinen Formel des Kapitals“
festgemacht habe, zwinge die Produzenten zu ständigem Wachstum. Verstärkt durch den Konkurrenzdruck
seien dauernde Produktivitätssteigerungen notwendig, die den Ersatz der
menschlichen Arbeitskraft ressourcenfressende Maschinen erzwinge.
Und genau dort liege die Ursache der
ökologischen Krise. Da die Politik
weitgehend von diesen ökonomischen Notwendigkeiten getrieben sei,
sieht Knoll es als „eher unwahrscheinlich“ an, dass marktwirtschaftliche
Systeme „angemessen und schnell
genug“ auf die ökologische Krise
reagieren könnten.
Im zweiten Teil seien an dieser Stelle lediglich die Beiträge Bernd Malunats sowie von Winfried Schulz als
besonders lesenswert vermerkt.
Es fällt auf, dass die Autoren die
Ursachen der ökologischen Krise jedoch allein im „Überbau“ und nicht
an ihrer ökonomischen Wurzeln festmachen. Es sind die falschen Theorien, die falschen politischen Konzepte oder die Schieflage geschichtlicher
Perspektiven, die für die Ursachen
der Krise gehalten werden. So nimmt
es nicht Wunder, wenn die Lösungen
aus der Krise sich in normativen Appellen zur korrektiven Umkehr oder
resignativ-pessimistischen Zukunftsbildern erschöpfen. Einzige und hervorstechende Ausnahme bildet der
113
Beitrag Manuel Knolls, der die ökologische Krise aus ihren ökonomischen
Ursachen heraus entwickelt und analysiert, um zu fragen, welche immanenten systemischen Kräfte denn
dem Kapitalismus zur Lösung zur
Verfügung stehen.
Nahezu sämtliche Beiträge glänzen
durch einen hohen Grad an sprachlicher Meisterschaft, die die Lektüre
schon aus literarischer Sicht zu einem
Lesevergnügen macht.
Wolfgang Melchior
Norbert Bolz
Das konsumistische Manifest
München 2002 (Fink-Verlag),
kart., 156 S., 10.- EUR.
Nichts kann die Welt dafür, dass
Norbert Bolz mal über Adorno promovierte und das kurze Zeit später
offenbar zutiefst bereute. Nichtsdestotrotz gibt der 50jährige, in Berlin
lehrende Medientheoretiker auf der
wissenschaftlichen Bühne seither mit
Vorliebe den geläuterten Ex-Adorniten, der mit nicht geringer Penetranz der Welt erklärt, dass im Grunde
alles gut ist, was sein früheres Idol
einst im Grunde für böse hielt. Als
Ausgangsszenario für eine therapeutische Sitzung mag das in Ordnung
gehen, als wissenschaftliches Kredo,
von Bolz in nuce schon Anfang der
1990er Jahre („Eine kurze Geschichte
des Scheins“) vorgestellt und hernach
mit Regelmäßigkeit variiert, ist das
mindestens ermüdend – zumal, wenn
die Belege für die gern forsch formulierten Analysen weitgehend fehlen.
Nun also ein konsumistisches Mani-
114
Neuerscheinungen
fest, in dem Norbert Bolz in sechs
Kapiteln – Die These / Der Terror /
Der Krieg / Das Geld / Der Konsum / Die Liebe – zu zeigen beansprucht, dass Kapitalisten alles in
allem die besseren weil friedlicheren
Menschen sind. Seine auf den ersten
zehn Seiten zum Manifest erhobene
These ist schlicht: Permanentes Einkaufen absorbiert sehr viel Zeit und
Leidenschaften, die außerhalb der
westlichen Weltshoppinggemeinschaft
in Ermangelung gut gefüllter Konsumstätten in Terroranschläge und
Kriege investiert werden. Kapitalistische Gesellschaften mögen unromantisch nüchtern, von sozialer Kälte,
Entfremdung, Sinnverlust und vielen
säkularen Plagen mehr gekennzeichnet sein – aber, so konstatiert Bolz,
wer sich erst einmal damit abgefunden hat, dass das Leben nicht viel
mehr zu bieten hat, als die Warenregale der Kaufhäuser bereit halten, der
kommt auch nicht auf die fundamentalistische Idee, mit Gewalt seine
Mitmenschen zur allein selig machenden Weltsicht zu bomben.
Demgegenüber ist die Geschichte
des Kapitalismus für Bolz auf lange
Sicht ein fortwährendes Heilsgeschehen. Den mörderischen Hobbes‘
schen Ur-Wolf verwandelt das Marktgeschehen am Ende in einen friedlebenden Kunden (59 f.), der sich mit
anderen Kunden im „ruhige(n) Begehren nach Reichtum“ (74) ergeht.
Eine kalte Idylle steht am Ende der
Bolzschen Märchenstunde, wie man
sie auch in den „Erwachet”-Heftchen
der Zeugen Jehovas findet, und die
schlimmstenfalls noch den „gehegten
Krieg”, die „dosierte Feindschaft”
(48) und die unvermeidliche gähnende Langeweile eines durch Konsum
befriedeten Gemeinwesens kennt.
Viel, sehr viel muss Bolz verdrängen,
um Plausibilität für seine plüschige,
schematische globale Zustandsbeschreibung reklamieren zu können.
Ein Manifest für den Kapitalismus,
dessen empirische Basis wesentlich
auf der Beobachtung gründet, dass
sich nach Ladenschluss auf dem
Berliner Kudamm keine Leichenberge türmen, genügt jedenfalls nicht
wirklich als angemessene Bewerbung
für den Friedensnobelpreis.
Muss man denn wirklich noch zeigen, dass die Geschichte des Kapitalismus keine Aneinanderreihung von
Kaffeekränzchen war und ist? Muss
man tatsächlich in Erinnerung rufen,
dass die Händler und politischen
Generalbevollmächtigten dieser Welt
ganz ganz böse werden können, wenn
die Warenzirkulation nicht gemäß
ihrer geostrategischen Bedingungen
funktioniert? Und ist es etwa bloß die
fiebrige Phantasmagorie der ewig
Neidischen und Ausgegrenzten, wenn
man konstatiert, dass die westliche
Konsumökumene und ihr unersättlicher Hunger nach Rohstoffen, Menschen, Land und Absatzmärkten weltweit zu viele blutige Messen gefeiert
hat, um die seit Kant und Hegel nicht
verstummen wollende, geschichtsphilosophische Mär vom „Konsum als ...
genaue(m) Gegenteil von Gewalt”
(61) nicht als ärgerliches Gerede eines
Provokateurs erscheinen zu lassen?
Freilich: Derart angestrengtes Ignorieren der Fakten ermüdet auf Dauer
auch den größten Apologeten des
Konsums – so sehr, dass selbst der
Neuerscheinungen
eigene Friedensdienst am Warenregal
unterbleibt. In einem Interview mit
dem Kölner Magazin „StadtRevue”
bekannte Bolz unlängst, er selbst lebe
nicht konsumistisch, um sich hernach
gar für die Askese als Lebensform zu
erwärmen. Man würde sich wünschen, die Bolzsche Wertschätzung
der Enthaltsamkeit würde auch wirksam, wenn das nächste traumatische
Adorno-Schub in Buchform bewältigt
werden will.
Franco Zotta
Erhard Eppler
Vom Gewaltmonopol zum
Gewaltmarkt? Die Privatisierung
und Kommerzialisierung der Gewalt; Frankfurt 2002 (Suhrkamp),
154 S., 9.- EUR.
Mögen Optimisten am Ende des Kalten Krieges an ein Ende der Kriege
überhaupt gedacht haben, so könnten
sie sich eines Besseren belehrt sehen.
Das Gegenteil ist richtiger, der kalte
Krieg ist dem heißen, dem SchießKrieg gewichen. Schieß-Kriege, begrifflich auf Konflikte heruntergespielt, hat es seit dem Ende des 2.
Weltkrieges unüberschaubar viele gegeben. Sie wurden kaum wahrgenommen, weil sie weit weg, irgendwo in
der sogenannten „Dritten Welt“,
Elend und Tod brachten. Daß diese
Kriege nur scheinbar weit weg sind,
hat der 11. September 2001 mit einigen Blitzschlägen erhellt. Der Krieg
hat uns eingeholt, er heißt nun Terror; der konventionelle Krieg ist zu
globalen postnationalen Terror-Kriegen mutiert. Krieg wird seither wieder
115
gebührend gewürdigt, obwohl oder:
weil sich die Gründe, die Formen und
Mittel, vor allem die Akteure vollständig gewandelt haben.
Diesem Paradigmenwechsel ist Eppler durch seine gehaltvolle Analyse
gefolgt, die bemerkenswert auch deshalb ist, weil der Autor für sich selbst
einen Paradigmenwechsel vollzieht –
vom erklärten Pazifisten zum nachdenklich gewordenen Verfechter
eines ‚gerechten Krieges‘. Die Gründe
dieses Wandels scheinen im Titel der
Schrift deutlich auf. Das Gewaltmonopol, seit Thomas Hobbes’ Leviathan
Signum des modernen Staates, wird
nicht nur verdrängt und ausgehöhlt,
das staatliche Gewaltmonopol wird
partiell durch auf Märkten käufliche
Gewalt ersetzt. Gewalt wird privatisiert und kommerzialisiert, vor allem
in ökonomisch wenig entwickelten
Ländern, aber auch in etablierten
Demokratien.
Dieser Befund klingt zunächst bieder-bürgerlich, passend zur zeitgenössischen ökonomischen Liberalisierung
der sich globalisierenden Wirtschaft.
Seine Virulenz erlangt er durch die
potentielle Allgegenwart der privatisierten Gewalt, die kriminell oder terroristisch jederzeit und überall gegen
Private wie Staaten zuschlagen kann,
ohne daß dagegen ein Kraut gewachsen scheint. Noch virulenter aber ist,
daß sich diese kriminell-terroristische
Privatisierung der Gewalt gerade aus
der Deregulierungsideologie der EntStaatlichung legitimieren läßt.
Im Gegensatz zu legitimer staatlicher
Gewalt, die Eppler als rational kalkulierbar einschätzt, hat private Gewalt
weder feste Adressaten noch Absen-
116
Neuerscheinungen
der, kann von jedem ausgehen, jeden
treffen. Privatisierte Gewalt ist kaum
lokalisierbar, trifft keine Unterscheidung zwischen Kombattanten und
Zivilisten; sie ist absolut gesetzlos
und von unvorstellbarer Brutalität.
Entspringt sie nationalistischen oder
religiösen Fundamentalismen, bieten
diese die moralische Legitimation,
Gewalt mit einträglichen kriminellen
Geschäften zu verbinden, und für
Söldner ist Beute ohnehin erklärtes
Kriegsziel.
Privatisierte Gewalt ist regellos, in
jeder Hinsicht asymmetrisch. Das ist
ein qualitatives Novum seit den mittelalterlichen Condottieri, die nun Warlords heißen, als ‚multinationale Gewaltunternehmer‘ (H. Münkler) aber
vergleichbare Ziele verfolgen; ihnen
geht es um Politik oft noch am Rande, um Profit aber fast ausnahmslos.
Dies gilt etwa auch für bin Laden,
den Eppler als zwar charismatischen
religiösen Fundamentalisten, aber
eben auch als Drogenhändler und
Börsenspekulanten beschreibt, der
mit der Terrororganisation al-Qaida
ein an das Zeitalter der Globalisierung perfekt angepaßtes Gewaltunternehmen als global player betreibt.
Eppler analysiert die Entwicklung
vom staatlichen Gewaltmonopol zum
kommerzialisierten Gewaltmarkt zwar
als multikausales Geschehen, das
aber, vor dem Hintergrund der seit
Ende der Bipolarität entstandenen
amerikanischen Superiorität, im Kontext der wirtschaftlichen Globalisierung gedeiht. Anstatt die anstehende
politische Führungsaufgabe zur Gestaltung einer neuen (Welt-)Ordnung
zu übernehmen, breitet sich – schon
seit Reagan – die liberalistische Tendenz aus, den Markt regeln zu lassen,
was die Politik nicht regeln kann oder
nicht regeln will.
An dieser Haltung zu leiden haben
vor allem die schwachen, also wirtschaftlich wenig entwickelten Staaten.
Als Folge ihrer Schwäche läßt sich
der Mißbrauch staatlicher Gewalt beobachten, aus dem dann häufig privatisierte Gewalt von oben oder von unten
entsteht, wobei sich deren Funktionen
gelegentlich auch verkehren. Die
Privatisierung der Gewalt ‚von oben‘
beginnt überwiegend durch die Verletzung des legitimen Gewaltmonopols durch Staatsdiener, so Eppler.
Sie geht aus von Regierungen und deren Armeen oder der besitzenden
Oberschicht, die sog. „Paramilitärs“
einsetzt, um die ‚Drecksarbeit‘ verrichten zu lassen, also gegen das vorzugehen, was sie selbst als Gewalt
von unten ansehen – man denke etwa
an die lateinamerikanischen Todesschwadronen. Diese ausgelagerte,
halb-offizielle Gewalt neigt dazu, sich
zu verselbständigen. Die ursprünglichen politischen Ziele treten hinter
aufkommende kommerzielle Interessen soweit zurück, daß sie alle Versuche hintertreiben, zwischen Regierung und Aufständischen Frieden zu
schließen.
Ähnliche Tendenzen gelten für die
privatisierte Gewalt ‚von unten‘.
Traditionell geht sie aus von revolutionären Bewegungen, die sich um eine
gerechtere gesellschaftliche Ordnung
bemühen. Sie bekennen sich zwar
zumeist zu Ideologien, die oft in
religiösen oder nationalistischen Fundamentalismen wurzeln, doch zur
Neuerscheinungen
Finanzierung ihres Kampfes – oder
auch nur noch um des Profits willen
– eignen sie sich kriminelle Strukturen an, den Schmuggel und Drogenhandel, die Schutzgelderpressung u.ä.
Wenn die staatliche Autorität zerfällt, ein Staat sich dem – von der
UN-Charta gar nicht vorgestellten –
Ende nähert, weil er für angemessene
‚Daseinsvorsorge‘ aufzukommen nicht
mehr in der Lage ist – wie in einem
Viertel der schwarzafrikanischen Staaten bereits geschehen –, können Warlords mit terroristischen Methoden
ungestört ihren lukrativen Geschäften
nachgehen. Wo Gewalt zum Geschäft
wird, muß das Interesse an der Friedenssicherung durch einen funktionierenden Staat schwinden, der dem kriminellen Treiben Einhalt gebieten
könnte. Zugleich werden derartige
funktionsunfähige Staaten, die schwach
bleiben, weil sie vom globalisierten
Kapital gemieden werden, zu idealen
Schlupfnestern des internationalen
Terrorismus.
Eppler will aber nicht nur die Wege
der Gewalt analysieren – er will auch
aufklären, belehren. Seine erste Lehre
ist, daß die Kriege des 20. Jahrhunderts mit Massenheeren vorüber sind.
Deshalb ist Amerikas ‚Krieg gegen
den Terrorismus‘ mit seiner anachronistischen Orientierung nicht zu gewinnen. Eine Ausnahme möchte Eppler zulassen, die allerdings zur Regel
zu werden verspricht: Den Einsatz
militärischer gegen privatisierte Gewalt, um einen Staat wieder aufzubauen, wie etwa in Afghanistan, oder
um massiven Menschenrechtsverletzungen zu begegnen, wie etwa in
Bosnien oder im Kosovo. Und er
117
geht noch einen Schritt weiter: Es
gibt nicht nur machtpolitisch motivierte Interventionen, sondern schlimmer, weil aus zynischem Kalkül, auch
machtpolitisch begründete Nicht-Interventionen, etwa in Liberia oder im
Kongo. Dies kennzeichnet zugleich
seinen Bruch mit dem ‚alten‘ Pazifismus, der zwar nicht falsch, sondern
ungeeignet geworden ist angesichts
der Bedrohungen, die von privat-terroristischer Gewalt ausgehen.
Die zweite, weiterreichende Folgerung ist, daß als souverän nur noch
der Staat angesehen werden soll, der
den inneren Frieden, insbesondere also die Menschenrechte achtet. Staaten, die dazu aufgrund des fehlenden
Gewaltmonopols nicht (mehr) in der
Lage sind, verlieren auch ihre äußere
Souveränität, – und dies legitimiert
militärische Interventionen durch die
UNO. Daraus entsteht eine Form
von Welt-Innenpolitik, durch welche
das Gewaltmonopol der Staaten nicht
nur verteidigt, sondern durch ein
internationales Gewaltmonopol auch
überbaut wird. Organisatorisch läuft
dies auf eine Weltpolizei hinaus, die
aber als Militär auftritt, das für diese
Aufgabe vorbereitet und ausgerüstet
werden muß. Und gestärkt wird dieses
Konzept durch die Einrichtung einer
internationalen Strafgerichtsbarkeit.
Neben diese Welt-Innenpolitik gehört, so Epplers eindringliches Plädoyer, eine Welt-Sozialpolitik, die –
vor allem in der Armen Welt – dazu
beiträgt, daß es zum Staatszerfall gar
nicht kommt, weil eine entsprechende
internationale Zusammenarbeit zukunftsfähige und nachhaltige Entwicklungen ermöglicht.
118
Neuerscheinungen
Recht besehen plädiert Eppler für
eine Rekonstruktion der traditionellen
Staatslehre, die durch privatisierte
Gewalt notwendig geworden ist. Zu
überwölben sei dieses Konstrukt
durch die verbindliche Implementierung im Ansatz bereits vorhandener
internationaler Institutionen, aus der
letztlich die höhere Qualität einer
neuen Welt-Ordnung resultieren
könnte. Angesichts dieser Wendung
könnte man auf den Gedanken
verfallen,
privatisierte
Gewalt
gewissermaßen
als
deren
Geburtshelfer zu verstehen. Freilich
würden dadurch Ursache und
Wirkung
verkehrt;
denn
die
Schwächung der Staaten liegt in der
Kommerzialisierung und Privatisierung begründet, die durch die
Globalisierung – durchaus beabsichtigt – bewirkt worden ist. Daß Eppler
diesem Aspekt nur wenig Aufmerksamkeit zuwendet, ist zwar seinem
Thema geschuldet. Es bleibt gleichwohl ein Manko – weshalb seine
Vorschläge letztlich nur ‚gut gemeint‘
(G. Benn) sein könnten.
Bernd M. Malunat
Angelika Krebs
Arbeit und Liebe
Die philosophischen Grundlagen
sozialer Gerechtigkeit, Frankfurt/Main 2002 (Suhrkamp),
324 S., 12.- EUR.
Der größte Teil der Frauen- und
Familienarbeit ist noch immer unbezahlt, nicht anerkannt und unterbewertet. Dieser Befund ist der Ausgangspunkt von Angelika Krebs’ inhaltsreicher und klar argumentierender
Schrift. Unter Familienarbeit versteht
sie „Arbeit für Kinder, Kranke und
Alte, die konstitutiv auf Fürsorge angewiesen sind“ (12). Ihre vielschichtige Argumentation zielt darauf ab, eine
gerechtigkeitstheoretisch fundierte Begründung dafür zu liefern, daß Familienarbeit als ökonomische Arbeit
anerkannt und aus öffentlichen Mitteln entlohnt werden soll.
Auf dem Weg zu diesem Ziel verarbeitet Krebs eine Fülle von Material
zum Arbeits-, Gerechtigkeits- und
Liebesbegriff. So weist sie eine Reihe
von gängigen Vorschlägen zurück,
was unter Arbeit zu verstehen ist.
Alternativ dazu entwickelt sie im
Anschluß an Friedrich Kambartel ein
institutionelles Verständnis von Arbeit, nach dem jeder tätige Beitrag zu
einem gesellschaftlichen Leistungsaustausch als ökonomische Arbeit gilt
und als solcher Anerkennung verdient.
Nach diesem Arbeitsbegriff muß Familienarbeit als ökonomische Arbeit
anerkannt werden, da sie in einen gesellschaftlichen Leistungsaustausch
zwischen Familientätigen einerseits
und Singles und Dinks [double income,
no kids, M.K.] andererseits eingebunden ist: „Familientätige produzieren,
indem sie Kinder großziehen und Alte pflegen, öffentliche Güter, und dafür verdienen sie gesellschaftlich-ökonomische Anerkennung. Am augenfälligsten tritt der Öffentliche-GutCharakter von Familienarbeit in der
umlagefinanzierten Rentenversicherung
zutage. Singles und Dinks profitieren
im Alter davon, dass die Kinder anderer ihre Rente mittragen“ (15).
Mit der erfolgreichen Anwendung
ihres Arbeitsbegriffs auf die Famili-
Neuerscheinungen
enarbeit ist Krebs ein erster Schritt zu
ihrem Argumentationsziel gelungen.
Damit gibt sie sich allerdings nicht
zufrieden, sondern läßt sich im zweiten Teil ihrer Untersuchung auf eine
grundsätzliche und umfangreiche
Auseinandersetzung mit Gerechtigkeitskonzeptionen ein. Dabei knüpft
sie an die Why Equality?-Debatte und
an das von ihr 2000 herausgegebene
Buch Gleichheit oder Gerechtigkeit. Texte
der neuen Egalitarismuskritik an. So geht
auch die Einleitung zu diesem Sammelband, die einen Überblick über
die neue Egalitarismuskritik vermittelt, nahezu wortwörtlich in ihr neues
Buch ein.
Die neue Kritik am Egalitarismus
wird von Krebs nicht nur geteilt. Sie
knüpft auch an alternative Ansätze in
der Gerechtigkeitstheorie – primär
den von Avishai Margalit und sekundär den von Michael Walzer – an und
macht sie für ihre Argumentation
fruchtbar. Sowohl diese Ansätze als
auch ihre eigene Position versteht sie
als „nonegalitaristischen Humanismus“ (17 f., 132 f.). Kerngedanke der
Kritik am Egalitarismus ist, daß Gerechtigkeit gar nicht auf Gleichheit
abzielt, sondern auf die Erfüllung von
absoluten Gerechtigkeitsstandards für
alle, wie etwa den allgemeinen Zugang zu Nahrung und Obdach.
Gleichheit ist zwar auch eine Folge
der Erfüllung absoluter Standards,
aber nur als Nebenprodukt und nicht
als Ziel der Gerechtigkeit.
Für Krebs’ weitere Argumentation
ist der von ihr postulierte absolute
Standard des „Menschenrechts auf
soziale Zugehörigkeit“ von zentraler
Bedeutung (210). In einer Arbeitsge-
119
sellschaft erachtet sie die Erfüllung
dieses Gerechtigkeitsstandards für ein
menschenwürdiges Leben als unabdingbar. Da soziale Zugehörigkeit in
Arbeitsgesellschaften „wesentlich vermittelt ist über die Teilnahme an
Arbeit und an der monetären Anerkennung, die sie genießt“, läßt sich
aus diesem Menschenrecht auch ein
Recht auf entlohnte Arbeit und ein
Recht auf ihre Anerkennung als moralisch gefordert ableiten (200 f., 210
f.; das Argument für ein Recht auf
Arbeit findet Krebs bereits bei Margalit, 157 f.). Die Konsequenz, die
sich daraus für das Problem der weder
entlohnten noch anerkannten Familienarbeit ergibt, liegt auf der Hand:
„Menschen, die ihren Arbeitsbeitrag
zum gesellschaftlichen Leistungsaustausch leisten, aber behandelt werden,
als arbeiteten sie gar nicht, werden
sozial ausgeschlossen. Ihre Menschenwürde wird verletzt“ (210 f.). Will
eine Arbeitsgesellschaft für sich das
Prädikat gerecht oder anständig reklamieren, ist es nach dieser Argumentation erforderlich, daß sie die Familienarbeit aufwertet, indem sie sie
bezahlt und so anerkennt.
Im letzten Teil ihrer Untersuchung
tritt Krebs dem ihres Erachtens stärksten Einwand gegen das von ihr entwickelte „Lohn-für-FamilienarbeitModell“ entgegen: „Dieser Einwand
lautet auf Pervertierung der Liebe
durch das Eindringen des ökonomischen Do-ut-des-Denkens in persönliche Nahbeziehungen“ (19). Ihre dagegen vorgebrachte Argumentation
läuft darauf hinaus, das altruistische
Moment des Füreinander, des „um
des anderen willen“, der vor-
120
Neuerscheinungen
herrschenden Liebesbegriffe zurückzuweisen und statt dessen „den Aspekt des eigeninteressierten Tausches
in realen Liebensbeziehungen“ und
das Moment des geteilten Miteinanders herauszustellen (13 f.).
Abschließend sind noch zwei Einwände anzuführen, die sich gegen die
von Krebs dargelegte Position erheben. In theoretischer Hinsicht ist es
grundsätzlich problematisch, mit der
allgemeinen Würde des Menschen und
im besonderen mit einem „Menschenrecht auf soziale Zugehörigkeit“ als
absoluten Gerechtigkeitsstandards zu
argumentieren. Beides läßt sich nämlich nur postulieren und nicht wiederum überzeugend begründen. Das
zeigt sich etwa an den gängigen Begründungen für die Würde des Menschen. So kann die religiöse Begründung und Ableitung, die sich auf die
Ebenbildlichkeit des Menschen mit
Gott beruft, genausowenig überzeugen wie die Kantische, die sich auf die
sittliche Autonomie des Menschen
bezieht. Krebs rekurriert weder explizit auf diese Begründungen noch
macht sie einen eigenständigen Versuch, die von ihr postulierten Gerechtigkeitsstandards rational zu untermauern.
Der Einwand in praktischer Hinsicht ist simpler. Die Erfüllung der von
Krebs erhobenen und ihrem Selbstverständnis nach dem linken politischen Spektrum zuzuordnenden Forderungen läuft nämlich, wie sie selbst
betont auf den „Ausbau des Sozialstaates“ hinaus (17). Wie spätestens
durch die aktuellen Krisen des Sozialstaates deutlich geworden sein dürfte,
ist jedoch bereits das bestehende
Ausmaß an Gerechtigkeit in vielen
westlichen Arbeitsgesellschaften nur
noch schwer bezahlbar. Insofern
fragt sich, woher die beträchtlichen
Mittel kommen sollen, um das von
Krebs entwickelte „Lohn-für-Familienarbeit-Modell“ zu finanzieren.
Manuel Knoll
Albert Kümmel/Petra Löffler (Hg)
Medientheorie 1888-1933.
Texte und Kommentare, Frankfurt/Main 2002 (Suhrkamp),
brosch., 568 S.,17.- EUR.
Kaum etwas hat die sozialen, ökonomischen und politischen Verhältnisse
unserer Zeit derart fühlbar verschoben, wie die rasante Ausbreitung
digitaler Medientechnologien während der letzten Jahrzehnte. Deshalb
ist es keineswegs besonders überraschend, wenn heutzutage nicht zuletzt
innerhalb der geisteswissenschaftlichen
Debatten immer häufiger Beiträge erscheinen, die sich ausdrücklich medientheoretischen Argumentationsstrategien und Konzepten zuwenden, um
solcherart philosophische, sprachwissenschaftliche oder kulturhistorische
Fragestellungen zu erörtern.
Andererseits ist bei einer genaueren
Betrachtung diese momentane Attraktivität der Medientheorie schon deshalb äußerst verwunderlich, weil bis
dato ihr wissenschaftlicher Status eher
undeutlich geblieben ist. Davon zeugt
zumal die systematische Inkompatibilität und Zusammenhangslosigkeit
medientheoretischer Lesarten des Medienbegriffs. Während beispielsweise
die funktionalistische Medientheorie,
Neuerscheinungen
wie sie etwa Friedrich Kittler vertritt,
den Begriff des Mediums aufgrund der
medialen Grundfunktionen „Speichern“, „Übertragen“, „Verarbeiten“
bestimmt, und damit primär die
jeweiligen medientypischen Unterschiede betont, definiert demgegenüber die sogenannte Medienontologie
Marshall McLuhans alle technischen
Kommunikationsmittel
zwischen
Federkiel und Computer rein subsumtiv als „extensions of man“.
Vor dem Hintergrund dieser eklatanten Unschärfen zeitgenössischer
Medientheorie richtet die vorliegende
Anthologie ihren Blick absichtlich auf
eine ausdrücklich historische Thematik, indem sie ausschließlich Originaltexte aus den zwischen 1888 und
1933 in Deutschland geführten medientheoretischen Diskussionen wiedergibt. Mag dies zunächst auch wie
die allenfalls akademisch relevante
Beschäftigung mit einem marginalen
Seitenaspekt der Medientheorie anmuten, so verknüpfen damit die beiden Herausgeber, die Medienwissenschaftler Albert Kümmel und Petra
Löffler, ein theoretisch höchst anspruchsvolles Projekt: Vermöge des
präsentierten Textmaterials soll nämlich insofern ein Schritt zur Rekonstruktion der „historischen Epistemologie“ medientheoretischer Rede als
solcher geleistet werden, als dadurch
jene (diskurs-)geschichtliche Schnittstelle sichtbar wird, an der „die Voraussetzungen geschaffen wurden,
Technologien wie Kino, Radio und
Fernsehen vergleichbar zu machen,
ohne bereits über eine explizite Medientheorie zu verfügen.“ (12)
Jener „medientheoretische Diskurs
121
avant la lettre“ entstammt für Kümmel und Löffler einer spezifischen
Ereigniskonstellation, in der sich ein
explosionsartiger Innovationsschub
im wissenschaftlich-technischen Bereich mit der radikalen Umgestaltung
des privaten wie öffentlichen Lebens
vermischte. In knapper Form umreißt
die nachstehende Chronologie diesen
Sachverhalt: „1895 Lumières Cinématographe; 1896 Marconis drahtlose
Telegraphie; 1897 Brauns Elektronenröhre; 1905 Ladenkinos; ab 1912
abendfüllende Spielfilme; 1923 Eröffnung des Unterhaltungsrundfunks
in Deutschland; 1929 erster deutscher
Tonfilm und erste Fernsehversuchssendungen.“ (14 f.)
Parallel zu diesen einschneidenden
Metamorphosen des technisch-gesellschaftlichen Milieus etablierte sich in
Deutschland eine überaus vielgestaltige und intensive medientheoretische
Debatte, die, so die These der Herausgeber, trotz aller massiven inhaltlichen Differenzen, aufgrund ihrer
„Verwendung eines zunehmend stabilen Repertoires rhetorischer Topoi
und diskursiver Figuren, das den neuen Kommunikationsapparaten Gemeinsame als Medialität hervortreten
läßt“ (15). Zwar blieb nach Löffler
und Kümmel dem deutschen Mediendiskurs die kardinale medientheoretische Bedeutung der Medialität –
also jenes technisch erzeugte Moment
massenmedialer Kommunikationsmittel, das von den davon betroffenen Individuen als ein befremdendes
„Walten a-subjektiver Mächte“ erlebt
wird – letztendlich verborgen. Aber
ihrem Befund zufolge verweisen die zusammengetragenen Dokumente nach-
122
Neuerscheinungen
drücklich darauf, dass sich damals
schon zumindest jene „diskursiven
Felder“ herauskristallisierten, welche
Medientheorie überhaupt erst denkbar machen, und die somit auch für
jede Vergegenwärtigung der „Genealogie des medientheoretischen Wissens“ konstitutiv sind.
Eine herausragende Rolle spielte in
den medientheoretischen Diskussionszusammenhängen besonders das diskursive Feld der Masse: „Die meisten
der neuen technischen Medien zwischen 1890 und 1930 wurden in enge
Beziehung zum diskursiven Gegenstand Masse gesetzt und erhielten auf
diese Weise ein erstes gemeinsames
Merkmal.“ (539 f.) In Deutschland
wurde die Diskursfigur der Masse
geradezu das „Gravitationszentrum“
medientheoretischer Reflexionen zumal deshalb, weil sich damit eine anscheinend unmittelbar evidente Verbindungslinie zwischen den disparaten Sphären von Technik, Wahrnehmung und Gesellschaft herstellen ließ.
Aber wie die diskursanalytische
Durchleuchtung der betreffenden
Arbeiten zeigt, wurde dadurch hauptsächlich jene extrem problembelastete
Antinomie erneut reproduziert und
bekräftigt, die sich schon in dem
diesbezüglichen Standardwerk „Psychologie des foules“ nachweisen lässt,
das Gustave Le Bon 1895 veröffentlichte: „Einerseits geht es (Le Bon;
Th. W.) um eine soziologische Analyse eines wesentlichen Kennzeichens
der Gegenwart“, die er aufgrund dieses Merkmals das „Zeitalter der Massen“ nennt. Andererseits geht es um
ein psychologisches Phänomen, das
die innere Struktur spontan gebildeter
... Kollektiva beschreiben soll.“ (541)
Die dergestalt dem „wissenschaftlichen“ Massendiskurs endemische
Verschleifung politisch-sozialer in
geistig-seelische Tatbestände verfestigte sich in Deutschland zu einer prinzipiell restaurativen Denkhaltung, welche in der Folge zwar nicht vollständig, aber doch überwiegend den Ton
in den hiesigen medientheoretischen
Auseinandersetzungen vorgab. Pointiert stellen dazu die Herausgeber in
einer abschließenden Bemerkung fest:
„Diffus assoziiert das Soziologem
‚Masse’ die ‚unteren Schichten’, ‚das
Proletariat’, ‚die Arbeiter’ ... Wird
diese Theoriefigur überschrieben durch
das Psychologem „Masse“, entsteht
eben jener ungenaue Begriff, der
Massenpsychologie erst ermöglicht...
Das Psychologem „Masse“ wird vom
Ereignis her gedacht: von Aufstand,
Lynchmord, Revolution. Anhand gewalttätiger Kollektiva, wird ein Paradigma ausgeprägt, das dann auf die
statistische Masse subkutan, als
schlummernde Möglichkeit sozusagen, übertragen wird. Die psychologische Masse ist immer die potentiell
aufständische Masse ... Wiewohl die
Sorge um die Latenz des Aufstandes
politisch eine Einheit der Massen gar
nicht wünschbar erscheinen lässt,
kehrt doch die Diagnose einer beklagenswerten Atomisierung der Gesellschaft immer wieder. Dieser Querstand entfaltet eine recht simple Dialektik, die auf die Unterscheidung
zwischen einer schlechten, weil anarchischen, und einer guten, weil richtig
geführten Masse hinausläuft. In dieser
Weise werden Massenmedien in
Deutschland immer wieder in schlech-
Neuerscheinungen
te Unterhaltungsmedien und gute Bildungsinstrumente eingeteilt: das gilt für
das Kino genauso wie für den Rundfunk oder das Fernsehen.“ (541 f.)
Bietet somit der Erläuterungsteil des
Bandes auch erhellende Einsichten in
den strukturellen Unterbau deutscher
Mediendebatte zwischen Wilhelminismus und Drittem Reich, so bleibt
dennoch die von Kümmel und Löffler eingenommene Kommentarperspektive insgesamt fragwürdig. Zwar
gelingt es ihnen dadurch die diffizilen
und hochkomplexen Prozesse des
Diskurssystems „Medientheorie“ während der genannten Epoche bündig
darzulegen. Aber indem sich ihr Interpretationsrahmen am Wissenschaftsideal völlig subjektfreier Beschreibung
funktionaler Abläufe orientiert, unterlassen sie es in ihren Anmerkungen
weitgehend, jene unstrittig wertvollen
Erkenntnisse zum epistemologischen
Wie sowohl mit dem jeweiligen Was
als auch dem historisch-gesellschaftlichen Substrat medialer Kommunikation in ein aussagekräftiges Verhältnis
zu setzen.
Der vorgestellte Reader ist insoweit
in erster Linie dafür zu loben, dass er
dem zeitgenössischen Publikum überhaupt den Zugang zu einem bislang
versperrten Archiv früher medientheoretischer Deutungsansätze eröffnet. Doch weil er lediglich das karge
Diskursornament der Massenmedien
im Auge hat, bedarf es schon der nuancierten Lektüre interessierter Leser,
um die in ihm ausgebreiteten Trouvaillen auch angesichts der heutigen
medientechnischen
Entwicklung
fruchtbar werden zu lassen.
Thomas Wimmer
123
Ludger Lütkehaus
Schwarze Ontologie, Über Günther Anders, Lüneburg 2002 (zu
Klampen), kart., 133 S., 14.- EUR.
Konrad Paul Liessmann
Günther Anders. Philosophieren
im Zeitalter der technologischen
Revolutionen, München 2002 (C.
H. Beck), Ln., 208 S., 19.90 EUR.
Während Adorno zu seinem 100. Geburtstag mit Biographien, Ausstellungen, Symposien und Vorlesungsreihen gefeiert wurde, war es ein Jahr
zuvor bei Günther Anders’ Jubiläum
vergleichsweise still geblieben. Der
Kämpfer gegen die atomare Drohung
und die Antiquiertheit des Menschen
ist offenbar selbst zu einer antiquierten Gestalt geworden. Mit dem Ende
des kalten Krieges scheint die atomare Gefahr gebannt. Scheint – denn
die Waffenarsenale ermöglichen noch
immer allem Leben auf diesem Planeten ein Ende zu machen, und weitere
Staaten haben oder drängen nach
Atomwaffen, um ihre Nachbarn zu
terrorisieren. Und: das Vergessen ist,
wie Anders darstellte, selbst antiquiert
– Technologien die einmal entwickelt
wurden, sind prinzipiell immer anwendbar, ein Vergessen gibt es für
uns nicht mehr. Während zu Anders’
Lebzeiten noch die Auswirkungen
von Technologien auf menschliches
Bewußtsein und Handeln untersucht
wurden, und die Frage nach der
Wertfreiheit von Technik gestellt
wurde, scheinen die Technologien
heute weitgehend akzeptiert, ja sogar
von den früheren Kritikern selbst
verwendet zu werden. Ob die neuen
124
Neuerscheinungen
Technologien wie Internet und Handy aus dem ‚Masseneremiten’ jedoch
solidarische und kommunikationsfähige Menschen machen, sei dahingestellt. Im Gegenteil, angesichts der
globalen Konkurrenz scheint statt
Kritik eher noch die Flucht nach
vorne geboten. Wer zu spät kommt,
den bestraft – nicht die Geschichte,
aber – die wirtschaftliche Konkurrenz. Wer zaudert, wer fragt, gilt als
Standortrisiko. Aber da es sich dabei
um unsere Welt und unser Leben
handelt, ist ein Zaudern, ein Fragen
vielleicht doch ganz sinnvoll. Und
dazu kann man bei Anders eine ganze
Menge lernen, und darüber hinaus
noch einen Philosophen, der neben
dem Moralisten und ‚Barbareikritiker’
bislang weitgehend unbekannt geblieben war: der Philosoph der Kontingenz.
Aus Anlaß des 100. Geburtstags
von Günther Anders wurden zwei
ältere Monographien neu aufgelegt.
Die Monographie von Ludger Lütkehaus ist die textidentische Neuausgabe seines Buches „Philosophieren
nach Hiroshima. Über Günther Anders“, 1992 im Fischer Taschenbuch
Verlag erschienen. Bei dem Werk von
Konrad Paul Liessmann handelt es
sich um die Neufassung der 1988
erstmals bei Junius in Hamburg erschienen Einführung. Bei beiden
Autoren handelt es sich um ausgewiesene Kenner des Werkes von Anders,
die hier zwei unterschiedliche Wege
verfolgen.
Lütkehaus stellt in vier von einander
unabhängigen Essays die zentralen
Punkte seiner Philosophie vor. In den
ersten beiden Essays werden die
Grundbegriffe der Anders’schen Technikkritik – prometheische Scham,
prometheisches Gefälle, Diskrepanzphilosophie u.ä. –, seine Analyse der
Bedeutung der Atombombe und der
heutigen Technik vorgestellt. Der
dritte Essay geht der Bedeutung von
Kunst nach Hiroshima nach. Im
vierten und längsten, für mich interessantesten Essay der Sammlung werden die ontologischen Thesen zur
Kontingenz dargestellt. Diese Untersuchungen, Essays und Aphorismen,
die Anders’ Werk von Anfang an
durchziehen und großenteils wohl
noch der Veröffentlichung harren,
sind eher im Hintergrund geblieben
und trotzdem von größtem Interesse.
Liessmanns Buch ist eine Einführung in das Gesamtwerk. Neben den
schon angesprochenen Themen nimmt
die Biographie breiten Raum ein.
Weiterhin wird auch die Auseinandersetzung mit Auschwitz – unter dem
Begriff des Monströsen – und der
Emigrationsroman ‚Die molussische
Katakombe’ behandelt. Ebenso wird
auch auf Berührungspunkte und
Differenzen zur Frankfurter Schule
und, wenn auch kurz, zu Jaspers’
Thesen zur Atombombe eingegangen. Da es sich hier um eine Neufassung handelt, konnten auch Neuerscheinungen wie die kürzlich erschienene Sammlung mit Texten zu Heidegger einbezogen werden. Liessmann geht darüber hinaus auch der
Frage nach, was an Anders’ Technikkritik heute aktuell ist, ob „die Antiquiertheit selbst ‚antiquiert’ ist“. Nach
Liessmann wäre dies ein Schein, der
eher auf einem veränderten Verhältnis zur Technik als auf grundlegenden
Neuerscheinungen
Änderungen derselben beruht. Und
daher behält das Werk von Anders
seine Aktualität.
Beide Autoren nehmen in ihren Reflexionen zur Philosophie die Anders’sche Postition etwas unreflektiert
auf. Bei Anders ist die Rede von „der
Weltfremdheit des Menschen“, wodurch der Mensch genötigt sei, seine
Welt immer neu zu erschaffen. Dahinter steckt eine unhistorische Sicht
auf ‚den Menschen’, über dessen
Verhältnis zur Welt undifferenziert
über Raum und Zeit hinweg sich
kaum etwas sagen läßt. Die ‚Frankfurter’ haben hier wohl zu recht ‚Freiburger Existenzialdüfte’ gerochen.
Auch werden Menschen in Verhältnisse geboren, die sie nicht neu erschaffen, sondern über die sie eher
wenig vermögen. Interessanterweise
werden die Thesen von Anders jedoch sehr prägnant und präzise, wenn
man sie nicht als abstrakte Bestimmungen ‚des Menschen’, sondern als
Analyse des modernen Menschen des
20. Jahrhunderts begreift. Hier erhalten auch Anders’ Kunstinterpretationen, besonders zu Rodin, ihre Faszination.
Anders’ ‚schwarze Ontologie’ wird
besonders von Ludger Lütkehaus
behandelt. Ihre zentrale These, die
der Kontingenz, lautet: es gibt keinen
Grund, warum Menschen sein sollen.
Daß wir sind, ist zufällig und unterliegt keiner höheren Seinsordnung;
wir genießen keinem anderen Seienden gegenüber einen höheren ontologischen Rang. Diese Seite gehört zum
Faszinierendsten an Anders’ Philosophie. Allerdings möchte ich auch hier
einen kleinen Einspruch anmelden:
125
daß ich bin, ist zufällig, nicht aber,
wie Anders meint, daß ich der bin,
der ich bin. Anders zitiert hier Grabbes Wort: „Einmal auf der Welt, und
dann ausgerechnet als Klempner in
Detmold“. Unterstellt wird hier ein
Sein unabhängig vom konkreten Lebensvollzug, der kontingent sei. Aber
ich habe kein Sein unabhängig von
meinem konkreten Lebensvollzug.
Daß ich bin, ist kontingent; mein Sein
jedoch vollzieht sich in konkreten
sozialen und gesellschaftlichen Lebenszusammenhängen und ist damit
nicht mehr kontingent.
Beide Bücher liefern solide Einführungen mit etwas unterschiedlichem
Schwerpunkt. Lütkehaus diskutiert intensiv Anders’ ‚schwarze Ontologie’,
Liessmann bettet Anders in den geschichtlichen Kontext und bietet eine
Gesamtübersicht, in der auch neuere
Fragestellungen aufgenommen werden. Sympathisch, daß beide Autoren
keine Berührungsängste haben und
auf die Arbeiten des anderen verweisen, wo sie es für sinnvoll halten.
Beide Bücher sind uneingeschränkt
lesenswert. Wer Günther Anders
noch nicht kennt, ist vielleicht mit
Liessmans Einführung besser bedient. Wer neben dem Technikkritiker auch den Ontologen kennenlernen möchte, dem sei besonders der
vierte Essay in Ludger Lütkehaus’
Sammlung empfohlen.
Lothar Butzke
126
Neuerscheinungen
Manfred Niehaus
In und nach Cages 4’ 33’’, Köln
2003 (édition questions im Salon
Verlag), brosch., 40 S., 7.50 EUR.
Im Verlauf der Avantgardebewegungen des 20. Jahrhunderts hat die
Kunst mehrmals und in verschiedener Hinsicht Endpunkte erreicht. Ein
solcher, durch keine Weiterentwicklung zu überbietender Endpunkt war
Duchamps’ objekt trouvé: jeder beliebige Gegenstand – und nicht nur Pissoirs – konnten nun aufs Podest
erhoben und zum Kunstwerk erklärt
werden. Ein anderer Endpunkt war
Malewitschs Monochromie, die das
Kolorit der Malerei auf Null reduzierte und eine weiß bemalte Leinwand
als Kunstwerk präsentierte. Ein dritter Endpunkt – diesmal auf dem
Gebiet der Musik – ist mit dem Namen von John Cage verbunden; es
handelt sich um das Verhauchen der
Klänge ins Nichts.
Damit sind wir bei jenem Werk angekommen, das Manfred Niehaus im
Titel seiner hommage an Cage nennt:
„4’ 33’’“, in Worten: 4 Minuten und
33 Sekunden. Das nämlich ist exakt
die Länge des Klavierstücks, das
nichts anderes zu Gehör bringt als –
Stille. Um es genau zu sagen: das
Stück zerfällt in drei Sätze mit einer
Dauer von 33 Sekunden, 2 Minuten
und 40 Sekunden und 1 Minute und
20 Sekunden, die dadurch voneinander getrennt sind, dass der Pianist den
Klavierdeckel öffnet und wieder
schließt. Was dazwischen zu hören
ist, hängt vom Zufall ab – nicht im
Sinne von Boulez und seiner Aleatorik, bei der es dem Interpreten über-
lassen bleibt, in welcher Reihenfolge
er verschiedene, komponierte Fragmente darbietet, sondern im Sinne
von Cage. Die Stille kann nämlich auf
ganz unterschiedliche Weise gehört
werden, je nachdem sie von Räuspern
und Gekicher des Publikums, vom
Anspringen der Klimaanlage im Konzertsaal oder von der Sirene eines
draußen vorbeifahrenden Feuerwehrautos unterbrochen und gestört wird.
Wie schon gesagt, es handelt sich
um eine hommage. Erzählt werden ein
paar Dinge aus dem Leben von Cage,
der 1912 in Los Angeles geboren
wurde, 1934 für einige Zeit Schüler
von Arnold Schönberg war, 1942 bei
Max Ernst und Peggy Guggenheim in
New York lebte, 1948 eine Lehrtätigkeit in North Carolina aufnahm und
1992 starb. Erzählt werden auch ein
paar Dinge aus dem Leben von Martin Niehaus, der 1933 in Köln geboren wurde, 1942 vom Großvater eine
Geige zu Weihnachten geschenkt
bekam, bei Bernd Alois Zimmermann
Komposition studierte und schließlich lange Jahre als Redakteur beim
Westdeutschen Rundfunk in Köln
arbeitete. Vor allem aber wird von
den Begegnungen beider Männer
berichtet, die nicht geplant waren,
ganz zufällig zustande gekommen
sind und doch – wie die Zufälle, die
auch „4’ 33’’“ zu einem Erlebnis machen können – einen so tiefen Eindruck hinterlassen haben.
Was diese Begegnungen über alles
bloß Private und Subjektive hinaushebt, sind die Schlaglichter, die damit
auch auf die Entwicklung der Neuen
Musik in der noch jungen Bundesrepublik geworfen werden. Wir befin-
Neuerscheinungen
den uns in den 50er und 60er Jahren,
in denen sich die Neue Musik nicht
nur gegen die konservativen Hörgewohnheiten des Publikums durchsetzen muss, sondern auch gegen den
entschlossenen Widerstand der Mandarine, die ihre einflussreichen Stellungen über den Zusammenbruch des
Faschismus hinweg retten konnten
und sie als „entartet“ bekämpften.
Wir erfahren von dem steinigen Weg,
den die kammermusikalischen Werke
Anton von Weberns zurücklegen
mussten, bis ihnen die rechte Anerkennung zuteil geworden ist, oder
von den ersten Auftritten der jungen
Komponisten-Generation nach dem
Kriege, d.h. von Pierre Boulez und
Luigi Nono, von Hans-Werner Henze, Henri Pousseur oder Karlheinz
Stockhausen.
Nicht zuletzt erzählt Niehaus auch
von den ex kathedra-Auftritten Th. W.
Adornos bei den Darmstädter Ferienkursen für Neue Musik, die die
Avantgarde auf die serielle Technik
„einschwor“, den Zufall als produktives Element der Kunst proklamierte
und gegen den Klassizismus Strawinskis, Bartóks und Hindemiths
auftrat. Es gab auch andere Zentren
der Gegenwartsmusik, in Donaueschingen etwa, in Köln, Westberlin
oder München („musica viva“); sie
blieben aber von Darmstadt abhängig, wo „alljährlich entschieden wurde, was als Neue Musik ernst zu
nehmen war und was nicht“ (17). Am
Ende einer Aufführung blickte man
auf Adorno; hob er die Hände zum
Applaus, so war das Stück genehmigt.
Dass sich Adorno zu Cage nicht
geäußert hat, wie Niehaus schreibt
127
(18), stimmt übrigens, wie sich bei
Gelegenheit einer Tagung zum 100.
Geburtstag Adornos herausgestellt
hat, nicht ganz. Heinz-Klaus Metzger,
der geistige Wegbegleiter der Neuen
Musik, hat den freilich nur im privaten Kreis geäußerten Satz notiert:
„Dass ein so reizender Mensch solche
Gräuel komponieren kann, lässt einen
wieder an die Menschheit glauben“.
Es handelt sich bei Niehaus’ Essay
um keine wissenschaftliche Arbeit,
keine historische oder musiktheoretische Abhandlung, sondern um persönliche Erinnerungen, die viel „Hintergrund“ freilegen und einen lebendigen Zugang zur Neuen Musik vermitteln. Am Ende der Lektüre bedauert man die Kürze und wünschte
noch mehr zu erfahren.
Konrad Lotter
Werner Rügemer
arm und reich. Bibliothek dialektischer Grundbegriffe, Bd. 3, Bielefeld 2002 (transcript Verlag),
kart., 49 S., 7.60 EUR.
Eine solide Einführungsreihe in die
verschiedenen Ansätze dialektischen
Philosophierens verspricht die von
Andreas Hüllinghorst herausgegebene
„Bibliothek dialektischer Grundbegriffe“ zu werden, in der bislang Christoph Hubig und Renate Wahsner
über die Begriffe „Mittel“ und „Naturwissenschaft“ publiziert haben und
weitere Beiträge von u.a. András
Gedö, Hans Heinz Holz, Jörg Zimmer und Thomas Metscher geplant
sind.
Der Publizist Werner Rügemer be-
128
Neuerscheinungen
fasst sich in seiner 50-seitigen Abhandlung so knapp wie prägnant und
schlagend mit dem Thema „arm und
reich“, indem er sich in einem ersten
Schritt der Empirie zuwendet, um
dann den Gegenstand im Rekurs auf
Mandeville, Smith, Hegel und Marx
philosophisch umfassend zu behandeln. So widmet er sich erst einmal
dem Lebenslagenbericht der Bundesregierung aus dem Jahr 2001, welcher
die Armutsentwicklung in Deutschland im Zeitraum von 1973 bis 1999
behandelt. Dieser stellt als zentrales
Armutskriterium den Umstand auf,
daß einem privaten Haushalt weniger
als die Hälfte des durchschnittlichen
Arbeitnehmereinkommens zur Verfügung steht. Als wichtigstes Erkennungsmerkmal gilt hier der Bezug
von Sozialhilfe (die 1988 3,5% der
deutschen Bevölkerung in Anspruch
nahm), gefolgt von der Über- und
Verschuldung privater Haushalte
(7%). Rügemer bemängelt, daß der
Bericht, „nahelegt, dass die Armut
das Ergebnis individueller ‚Defizite’
[wie z.B. Arbeitslosigkeit, Bildungsstatus, Familiensituation, R.J.] sei und
sich deshalb nur individuell überwinden lasse.“ (10) Weiterhin wird kritisch angemerkt, dass die Bundesregierung sich nicht einmal an den
Fakten orientiert, die statistisch zu
erfassen sind; denn Phänomene wie
‚verdeckte Armut’ (die nationale
Armutskonferenz schätzt, dass unter
drei Millionen Menschen derzeit
unterhalb des Sozialhilfeniveaus leben, ohne diese zu beantragen) oder
der ‚working poors’ (sie haben einen
oder mehrere Jobs, und sind trotzdem arm) werden hierbei nicht be-
rücksichtigt. Außerdem treffe der von
der Bundesregierung angenommene
Tatbestand, dass Menschen, die eine
Rente beziehen, automatisch nicht
arm sein können, empirisch nicht zu.
Überdies blieben viele Begleitumstände der Armut, wie chronische
Krankheiten und mangelnde Gesundheitsversorgung in dem Bericht
unerwähnt.
Noch nebulöser ist nach Rügemer
aber die Erfassung der globalen Armut.
Gilt in der Bundesrepublik z.B. jemand mit einem Einkommen unter
500 Euro als arm, so wird global von
einem ‚absoluten’ Armutskriterium
eines Verdiensts unter 2 $ pro Tag
ausgegangen, in der „nur“ 47% der
Erdbevölkerung leben. Rügemer nennt
dieses 2$-Kriterium willkürlich und
realitätsfern, weil hierbei die konkreten Umstände nicht mitbedacht werden. „Und selbstverständlich ist es ein
Hohn, wenn Menschen mit einem
Tagesverdienst von 2,01 Dollar nicht
mehr als arm bezeichnet werden.
Eine sichere Behausung, ausreichende
Ernährung und Kleidung, Strom,
sauberes Trinkwasser, Anschluss an
Kanalisation und Internet, eine Kühlanlage für Lebensmittel, Busfahrten,
Schulbesuch, eine regelmäßige Informationsquelle, medizinische Versorgung – solche elementaren Voraussetzungen würdigen Lebens sind auch
für 900 Dollar im Jahr nirgends zu
haben.“ (14 f.) Würden hier die Armutskriterien der reichen Länder
Anwendung finden, wäre die überwältigende Mehrheit der Menschheit
als arm einzustufen. „Die methodisch-definitorische Ebene spiegelt
dabei die politische Ebene wider, auf
Neuerscheinungen
der der Mehrheit der Menschen die
vollen Menschenrechte verweigert
werden. Das bedeutet gleichzeitig,
dass es der Menschheit unmöglich
gemacht wird, sich ein wahrheitsgemäßes Bild von sich selbst zu machen.“ (15)
Im Vergleich zum Thema ‚Armut’
wird zwar der Topos ‚Reichtum’ unausgesetzt als existenzielles Lebensmodell gepriesen, die Dimensionen des
realen Reichtums (mit geschätzten 2,5
Millionen reichen Haushalten in
Deutschland, die ab 5.500 Euro netto
verdienen. Somit wäre die Zahl der
Wohlhabenden höher als die der
Sozialhileempfänger!) jedoch heruntergespielt bzw. der Zusammenhang
von Armut und Reichtum sowie der
qualitative Umschlag von Einkommen
und Vermögen verschwiegen. Denn
wie Rügemer anhand der Marxschen
Akkumulationstheorie darstellt, sind
Armut und Reichtum die Pole desselben Akumulationsverhältnisses und
somit Relationskategorien: Reichtum
entsteht nicht aus sich heraus, sondern aus der einseitigen Abschöpfung
der Mehrwert bzw. Profit generierenden Arbeitskraft. So gedacht ist
Reichtum nicht etwa Besitz schlechthin, sondern das Vermögen, andere
für sich an seinen privaten Produktionsmittel arbeiten zu lassen (und
mithin die daraus entspringenden
Profite nicht ganz auszugeben, sondern wieder gewinnbringend reinvestieren zu können). Hier stellt der
Arbeitslohn der abhängig Beschäftigten kein gerechtes System von Entlohnung dar, sondern ist ein gesellschaftlich erfochtener, kultureller
Standard, der zur Erhaltung der Ware
129
Arbeitskraft dient, während die Kapitalakkumulation exponentiell zunimmt. Nach Rügemer wird aber das
Lohnniveau nirgends auf der Welt
mit den Kapitalgewinnen in Relation
gesetzt.
Desweiteren ergibt sich für Rügemer aus der Analyse der aktuellen
Phase des Kapitalismus, dass dieser
keine Arbeitsplätze mehr schafft,
sondern abbaut, und die übrig gebliebenen auszehrt. Zusätzlich erweist
sich die Aussage, daß möglichst hohe
Gewinne zu mehr Beschäftigung
führen, als ein Trugbild, das von der
Entwicklung auf dem Arbeitsmarkt
seit den 70er Jahren in Deutschland
wie anderen Ländern faktisch widerlegt wird. Vielmehr ist eine
Entkoppelung des Einkommens von
der Leistung in den oberen Etagen zu
verzeichnen, die sich in den Phantasie-Einkommen von Vorständen und
Managern niederschlägt, die, wie die
aktuelle Situation nahelegt, weniger
das Interesse an einer positiven Entwicklung des Arbeitsmarkt als an
ihrer Rendite hegen, deren vorzüglichster Hebel zu ihrer Steigerung
wiederum die Freisetzung von Arbeitskräften ist. Somit sind Armut
und Reichtum keine für sich bestehenden Kategorien, sondern „Fernwirkungen des dialektischen Verhältnisses von Lohnarbeit und Kapital“
(31). Dies überzeugend nachgewiesen
zu haben, ist das unbestreitbare Verdienst der exzellenten Abhandlung,
der man, wie der ganzen Einführungsreihe, nur eine möglichst weite
Verbreitung wünschen kann.
Reinhard Jellen
130
Neuerscheinungen
Kersten Schüßler
Helmuth Plessner. Ein intellektueller Sonderweg. Berlin 2000
(Philo-Verlagsgesellschaft),
298 S., 25.- EUR.
„Man kommt immer noch früh genug
zu spät“, schrieb Helmuth Plessner in
einem späten Aufsatz. Zwei Jahrzehnte nach der gebundenen Werkausgabe
erscheint nun im Suhrkamp Verlag
endlich die Paperback-Ausgabe der
Werke des Anthropologen und Philosophen, während die Zahl der ihm
gewidmeten Einzelveröffentlichungen
weiter zunimmt. Besser spät als nie,
könnte man mit Blick auf die Rezeption sagen.
Unter dem Unstern der Verspätung
verlief auch die Publikationsgeschichte von Plessners bekanntestem Werk:
„Die verspätete Nation“ erlangte nach
dem Erscheinen 1959 schlagwortartige
Berühmtheit – und war sofort umstritten. Wurde dem Verfasser der
geistesgeschichtlichen Studie über die
Deutschen doch ein apologetischer
Schicksalsglaube an einen deutschen
Sonderweg unterstellt. Übersehen wurde Plessners Eintreten für das stete
Offenhalten von Alternativen im politischen Prozess; aber auch, dass die
Analysen über „die Verführbarkeit des
bürgerlichen Geistes“ in Deutschland
nicht im Rückblick auf die Katastrophe
des Dritten Reichs formuliert worden
waren, sondern schon 1935 unter anderem Titel im holländischen Exil erschienen, wo Plessner seinen Studenten – und sich – die Erschütterungen
und den Niedergang des bürgerlichen
Verhältnisses zur Politik in seiner
Heimat zu erklären versuchte.
„Auch Bücher haben Schicksale“,
schrieb Plessner. Der Gedanke lag
eigentlich nahe, an Hand seiner Bücher und jener Werke, auf die sie
reagierten, das Außerordentliche, von
Verspätung, Exzentrizität und vor
allem hochreflektierter Zeitgenossenschaft bestimmte Schicksal Plessners
nachzuzeichnen. Das hat der Berliner
Historiker Kersten Schüßler in seiner
Dissertation unternommen. Dabei
kommt tatsächlich der erstaunliche
Denk- und Lebensweg eines Wissenschaftlers zum Vorschein, der auf
seinem Weg von der Zoologie zur
Anthropologie, Philosophie und Geistesgeschichte in vielfacher Weise die
intellektuelle Auseinandersetzung mit
berühmten zeitgenössischen Denkern
wie Weber und Husserl, Heidegger und
Schmitt, schließlich Horkheimer und
Adorno suchte. Durch die politischen
Umstände und durch den ungewöhnlichen Horizont des eigenen Denkens
geriet Plessner in die Rolle eines
Außenseiters, der erst spät im Leben
gesellschaftliche und intellektuelle
Anerkennung erfuhr. Die exzentrische
Position wurde auf diesem Lebensweg aber zur zentralen Denkfigur
einer Anthropologie, welche die Modernisierungskrisen der Weimarer Republik als Zivilisierungschancen für das
exzentrische Kulturwesen Mensch zu
begreifen wagte. Wie Plessner zu dieser Haltung kam und in welchem
prekären Umfeld er sie formulierte,
das zeichnet Schüßler – vor allem für
die Zeit bis ins Exil – textnah und
unter Einbeziehung der bedeutendsten Auseinandersetzungen, Begegnungen und Lektüren nach. Mit stetem
Blick auf den politischen Kontext
Neuerscheinungen
entfaltet sich die spannende Geschichte eines Wissenschaftlers, dessen Ringen um anthropologische
Erkenntnis und eine politische Haltung in der politischen Situation des
Deutschen Reichs in den 20er und
30er Jahren mit seinem Ringen um
eine akademische Karriere, um den
Sinn der eigenen politischen Existenz
und das Überleben selbst parallel
verlief: ein wirklicher „deutscher
Sonderweg“ im 20. Jahrhundert.
Plessners Lebensweg begann 1892
in Wiesbaden, wo er als Sohn eines
Arztes im bürgerlichen Haushalt und
väterlichen Sanatorium durch eine
Schar wohlhabender, i.e.S. exzentrischer Patienten mit fremden Sprachen, Lebens- und Denkwelten in
Berührung kam. Als Junge sah er den
Kaiser durch Wiesbaden paradieren
und entdeckte, dass Wilhelm II. wie
er selbst einen verkürzten Arm hatte.
Die Behinderung verhinderte die
Einziehung des kriegsbegeisterten
Studenten im Ersten Weltkrieg; stattdessen musste er im Germanischen
Museum in Nürnberg Hilfsdienste bei
der Ordnung der Sammlungen leisten. Das Studium der Zoologie und
Philosophie hatte Plessner nach Freiburg, Heidelberg und kurz auch Berlin (was Schüßler leider zu erwähnen
vergisst) geführt, und er hatte bereits
über den „Lichtsinn der Seesterne“
publiziert, als er sich verstärkt der
Philosophie zuwandte. Der gleichzeitige Zugriff auf Biologie und Philosophie erlaubte Plessner die Grundlegung einer eigenen Anthropologie –
als Philosophie der Biologie. Wie
dieser Ansatz aus Heidelberger Begegnungen und einem früh erwachten
131
politisch-historischen Interesse erwuchs, skizziert Schüßler facettenreich und schlüssig nach. Plessner war
in Heidelberg 1913 Gast im elitären
Weber-Kreis und hat dort sowohl
den berühmten Kulturhistoriker und
späteren Staatssekretär E. Troeltsch als
auch die Kommilitonen G. von Lukács
und E. Bloch kennen gelernt. Neben
der Promotion und der Habilitation
zu den drei kantischen Kritiken als
selbst tragendem System erschienen
als Frucht dieser Zeit zahlreiche kleine Aufsätze. Dabei verband Plessner
sein Interesse an historischen Epochen und außereuropäischen Kulturen mit einem anthropologisch wachen Blick auf den gesellschaftlichen
Wandel im Deutschen Reich, der eine
Politisierung der unpolitischen Deutschen auch in Plessners Augen dringend notwendig machte. 1923 erschien „Die Einheit der Sinne“, der
erste ganz eigene Versuch, menschliche Erkenntnis- und Ausdrucksmöglichkeiten in den Bereichen Sprache,
Konstruktion, Musik zu analysieren
und den einzelnen Kulturgebieten zuzuordnen – der Grundstein zur eigenen Anthropologie. 1924 folgte „Die
Grenzen der Gemeinschaft“, nach
Schüßler ein „Durchspielen“ der
anthropologischen Grundfigur des
exzentrischen Wesens in der Sphäre
moderner Gesellschaft und zugleich
eine Begründung ihrer notwendigen
„Offenheit“ im Interesse zwischenmenschlicher Seelenhygiene. Die endgültige Formulierung der Philosophischen Anthropologie – im Wettlauf
mit dem älteren und erfolgreicheren
Kollegen Max Scheler – gelang Plessner 1928. In „Die Stufen des Organischen
132
Neuerscheinungen
und der Mensch“ zeigte er, dass der
Mensch Teil der Natur ist und ihr
verhaftet bleibt, dass aber der Bruch
zwischen körperlicher Existenz und
geistiger Abhebung davon konstitutiv
für die Gestaltung der menschlichen
Existenz wird. „Existenz“ ist auch
das Schlüsselwort von Heideggers
„Sein und Zeit“, das ein Jahr früher
erschien und in dessen philosophischem Schatten Plessner von da an
stand. An Heidegger arbeitete er sich
nun ab, 1931 unter Zuhilfenahme des
Begriffs des Politischen von Carl
Schmitt. Beide, so Schüßlers Deutung, versuchte Plessner in einer
Weise gemeinsam zu denken, dass
sich die absolute und willkürliche
Begründungslogik in der Philosophie
(Heidegger) wie in der Politik
(Schmitt) in ein „weltoffenes“ Wechselverhältnis bringen lassen. Dass er
sich hier verbrannt und die beiden
Kollegen sich verrannt hatten, erkannte Plessner 1935, nach der Emigration ins holländische Exil. Während
sich Heidegger und Schmitt als „NSGeistesführer“ etablierten, räsonierte
Plessner über die Verspätung der
Nation als versäumte Chance: Im
politisch undefinierten Feld zwischen
westlicher Demokratie, östlicher Stalin-Herrschaft sowie faschistischen
und autoritären Regimen in Süd- und
Osteuropa gelegen, hätte Deutschland zu einem Beispiel für eine weltoffene, sozial und ästhetisch engagierte Bewältigung der in der Weltwirtschaft politisch akut gewordenen
Modernitätsprobleme werden können. Dieser Intellektuellentraum mag
heute irrational und, was Deutschland
als Modell betrifft, elitär klingen,
spiegelt aber das besondere, von
großen Zukunftshoffnungen getragene Bewusstsein des liberalen Teils
jener Generation wider, der Plessner
angehörte.
Noch während der Nazi-Terror wütete, erschien das zweit bekannteste
Buch Plessners, die Studie über „Lachen und Weinen“. Es wirft ein Licht
auf Plessners randständige Position
auch in der deutschen Nachkriegsphilosophie, dass er damit philosophisch sowohl Distanz zu den persönlichen Freunden Adorno und
Horkheimer als auch zur dann reüssierenden, als Sprachphilosophie verkleideten Vernunftphilosophie hielt.
Zwar vertrat er Adorno auf seinem
Lehrstuhl im Frankfurter Institut für
Sozialforschung, als der für ein Jahr
nach Amerika ging. Doch die ‚Frankfurter’ empfanden Plessners Philosophische Anthropologie schlicht als
überholt, während er selbst Adornos
Kritische Theorie skeptisch als einen
„Kopfsprung aus dem Bannkreis der
Gesellschaft, den ihm immerhin die
Gesellschaft gewährt“, betrachtete.
Als Adorno und Plessner 1962
gleichzeitig Artikel für die Monatszeitschrift Merkur schrieben, wurde
zwar deutlich, dass für beide „die
Todeszone des Dritten Reiches“ die
entscheidende Zäsur in ihren Biographien war. Doch Adorno sah in der
Weimar Republik vor allem den sich
ankündigen Niedergang, Plessner dagegen die versäumte Chance. Und
während Auschwitz für Adorno zum
Verbot gerann, sich von gelungener
individueller Lebenspraxis ein konkretes Bild zu machen, variierte Plessner
seine anthropologische Denkfigur ex-
Neuerscheinungen
zentrisch gewahrten Glücksanspruchs
in einer Fülle von soziologischen Anwendungsbeispielen von Sport über
Schauspielerei bis zur Politik und
moderner Kunst. Die späten Aufsätze
und Artikel machen immerhin die
Hälfte der Gesamtausgabe von Plessners Werk aus. Dem nazistischen
Terror entkommen und „besser spät
als nie“ ordentlicher Professor in
Göttingen geworden, fühlte sich
Plessner in der Bundesrepublik endlich angekommen. Weit entfernt von
jeder Hippiekultur, in seinem fächerübergreifenden,
synästhetischen
Zugriff aber dem Zeitgeist nah, verarbeitete Plessner im späten Werk
einige Thesen der 20er Jahre aufs
Neue – und stellte unter anderem dar,
dass ein ‚Musizieren in Farben’ doch
möglich sei.
Dass Schüßler dem Nachkriegswerk
nur einen Bruchteil seiner Studie
einräumt, zeigt das Erkenntnisinteresse eines Historikers, dem die frühen,
krisenreicheren Jahre spannenderen
intellektuellen und biographischen
Stoff liefern, der damit aber auch auf
die intellektuelle wie politische Offenheit eines Denkens hinweisen will,
das sich der Krise seiner Zeit stellte.
Letzteres lässt sich gerade im philosophischen Werk Plessners neu entdecken. Bei aller Frische der Darstellung leidet Schüßlers Buch stellenweise unter editorischer Sorglosigkeit, zu
denen Rechtschreibmängel und ein
gelegentlich überambitionierter Satzbau gehören. Zudem weist es einen
hohen, wenn auch im hinteren Teil
gut verpackten „Wasserstand an
Fußnoten“ (Plessner) auf. Wo Plessner oft seine Quellen verschwieg,
133
meint es der Biograph eher zu gut mit
deren Offenlegung – eine Fleißarbeit,
die ein Drittel des Buchumfangs
ausmacht. Dafür machen Schüßlers
frischer Stil und sein Gespür für die
zwischenmenschlichen Verhältnisse
und geistigen Auseinandersetzungen
unter den deutschen Intellektuellen
jener Zeit die Biographie zu einem
gut lesbaren und außerordentlich
anregenden Text.
„Die menschliche Welt ist weder auf
ewige Wiederkehr noch auf ewige
Heimkehr angelegt. Ihre Elemente
bauen sich aus dem Unvorhersehbaren auf und stellen sich in Situationen
dar, deren Bewältigung nie eindeutig
und nur in Alternativen erfolgt“,
schreibt Plessner 1973. Dass eine
weltoffene Politik, ein zivilisiertes
Wägen von Alternativen, auch den
Deutschen möglich sei, das ist ein
zentraler Gedanke im Werk und eine
bleibende Hoffnung im Leben Hellmuth Plessners, woran Kersten
Schüßlers intellektuelle Biographie –
noch immer früh genug – erinnert.
Karsten Bammel
Ulrich Sieg
Jüdische Intellektuelle im Ersten
Weltkrieg. Kriegserfahrungen,
weltanschauliche Debatten und
kulturelle Neuentwürfe, Berlin
2001 (Akademie Verlag), geb.,
400 S., 44.80 EUR.
Die Geschichte des deutschen Judentums im Ersten Weltkrieg steht assoziativ noch immer unter dem Narrativ
jüdischer Kriegseuphorie und Überidentifizierung. Dies ging so weit,
134
Neuerscheinungen
dass noch im Dritten Reich viele
Juden in Deutschland die verhängnisvolle Vorstellung hegten, ein ‚eisernes
Kreuz’ in der Familie als Beweis
patriotischer Tugend schütze gegen
nationalsozialistische Übergriffe.
Ulrich Sieg, Privatdozent für Neuere
Geschichte an der Universität Marburg,
stellt in seiner Habilitationsschrift
dieses Narrativ und die stilisierte
Selbsteinschätzung vieler deutscher
Juden als „überzeugte Nationalisten“
und „Hüter traditioneller kultureller
Werte“ (11) infrage. Er analysiert die
Wahrnehmung, Verarbeitung und
Deutung des Ersten Weltkriegs innerhalb der deutsch-jüdischen Kultur
sowie den raschen geistigen Umbruch, den der Krieg bewirkte: ein
Umbruch von Assimilation und ersehnter Symbiose mit Deutschland
hin zu einer eigenen, ‚anderen’ philosophischen und politischen Position.
Dabei berücksichtigt Sieg das gesamte ideologische Spektrum des
deutschen Judentums, das er im Kontext der allgemeinen Geschichte
erfasst. Der kurze Zeitabschnitt des
Ersten Weltkrieges wird vom individuellen und kollektiven Gedächtnis her
auf sehr breiter Quellenbasis, von
Feldpost bis hin zu philosophischen
und politischen Publikationen, ausgewertet. Der Untersuchung liegt ein dem
jüdischen Bildungsbürgertum entsprechender, viele akademische Berufe einbeziehender Begriff des Intellektuellen zugrunde; und die Religion
und Kultur umfassende Definition
des Jüdischen entspricht dem zeitgenössischen jüdischen Selbstverständnis und Grad der Akkulturation.
Die Studie beginnt mit den religiö-
sen und politischen Strömungen im
deutschen Judentum und dessen
Identitätssuche vor 1914. Die Auswertung zeitnaher Dokumente zu den
unterschiedlichen Kriegserfahrungen
in Front, Etappe und Heimat zeigt,
dass der religionsneutrale „Burgfriede“ schon vor der vom „Alldeutschen
Verband“ lancierten Konfessionsstatistik vom Oktober 1916 gefährdet
und mit der Grenzsperre für jüdische
Arbeiter aus Polen 1918 beinahe
aufgekündigt war.
Die für jüdische Intellektuelle typischen Reaktionsmuster auf den Krieg
waren zu Beginn sowohl die Verherrlichung der Friedensidee als auch die
Kriegsbejahung verbunden mit der
Hoffnung auf einen schnellen Siegfrieden.
Für die Friedensidee, in der sich die
Heterogenität des Judentums widerspiegelt, stehen Leo Baecks Frontpredigten, Einsteins Pazifismus, der scharfe Ton der Kriegskritiker Ernst Bloch,
Gustav Landauer und Gershom Sholem sowie Stefan Zweigs dramatische
Dichtung „Jeremias“.
Hingegen näherte sich Hermann
Cohen, als Exponent des liberalen
Judentums, mit seiner die Kantische
Pflichtethik bemühenden Kriegsapologetik nicht selten der deutschen
„Professoren-Kriegsliteratur“ (322).
Im Laufe des Krieges geriet er mit
seiner harmonisierenden Vorstellung
einer deutsch-jüdischen Kultursymbiose allerdings in die Defensive.
Auch Martin Buber war 1914 keineswegs immun gegen den Kriegstaumel
und legitimierte den Krieg als ‚Letztwert’, ein Topos, das in „Ich und Du“
(Erstfassung 1916) existenzphiloso-
Neuerscheinungen
phisch transformiert wird. Wie später
auch in Franz Rosenzweigs „Stern der
Erlösung“ werden Kriegserfahrung
und Todesfurcht die unhintergehbaren Voraussetzungen des Denkens.
Siegs Analysen zeigen, dass die großen weltanschaulichen Diskussionen
des deutschen Judentums während
des Ersten Weltkrieges um die Definition der politischen und kulturellen
Schlüsselbegriffe angesichts des sich
radikalisierenden Antisemitismus kontrovers geführt wurden und oft von
nicht- oder antijüdischem Gedankengut beeinflusst waren, so dass z.B.
durch die Auseinandersetzung mit H.
St. Chamberlain oder W. Sombart
völkische und rassische Vorstellungen
den innerjüdischen Diskurs über
Zionismus und Ostjudentum prägten.
Ulrich Sieg hat umfassend und mit
großer Akribie eine kurze und spannende Zeit deutsch-jüdischer „intellectual history“ nachvollzogen. Der
Bogen dieser Geschichte spannt sich
von der Idee einer philosophischen
Synthese von Deutschtum und Judentum, über die Hinwendung zu
Geschichte und Existenzphilosophie
bis hin zur Verklärung des Ostjudentums und des israelitischen Prophetentums. Als ideologische Konsequenz dieses Krieges resümiert Sieg
für das deutsche Judentum eine charismatische Überhöhung des Nationsbegriffs, wie sie durch den Zionismus geschah.
Für Philosophen dürfte vor allem
die enge Verquickung von Denken
und Zeitgeschichte von Interesse sein
sowie die Vielseitigkeit und situationsbedingte Wendigkeit jüdischer Denker. Nicht zu vergessen sei ihre Stär-
135
ke, die vielen antisemitischen publizistischen und persönlichen Affronts
deutscher Intellektueller und Philosophieprofessoren(-kollegen) auszuhalten. All dies gehört leider auch zu
dieser Geschichte und führt drastisch
vor Augen, welche Chance auf eine
echte deutsch-jüdische intellektuelle
Symbiose hier vertan wurde.
Marianne Rosenfelder
Bernhard Waldenfels
Spiegel, Spur und Blick
Zur Genese des Bildes, Köln
2003 (édition questions im Salon
Verlag), brosch., 32 S., 7.50 EUR.
Was ist ein Bild? In seiner Definition,
die sich nicht auf das vom Maler produzierte Werk beschränkt, sondern
auf den gesamten Bereich der visuellen Erfahrung abzielt, beginnt Waldenfels mit verschiedenen Differenzierungen: mit der „signifikativen
Differenz“ zwischen dem was ist und
dem, was sichtbar wird; mit der „ikonischen Differenz“ zwischen dem was
sichtbar wird und dem Medium, worin es
sichtbar wird; mit der „pikturalen Differenz“ (bei künstlerischen Bildern)
zwischen dem Inhalt oder dem Material des Bildes und seiner Form oder
seiner Funktion.
Nach zwei Seiten wird der Begriff
des Bildes abgegrenzt: einerseits gegen die Ontologisierung des Bildes, in
der die ikonische Differenz verschwindet, d.h. Bild und Realität gleichgesetzt
werden, andererseits gegen die semiologisch-funktionale Herabstufung des
Bildes zu einem bloßen Hilfsmittel,
wo das Bild die Realität vertritt. Nur
136
Neuerscheinungen
das Festhalten an der ikonischen
Differenz ermöglicht es, das Bild
zugleich in Übereinstimmung mit der
Realität wie im Unterschied oder im
Gegensatz zu ihr zu betrachten, d.h.
als interpretierte Realität.
Waldenfels’ Anliegen geht über die
Definition des Bildes hinaus. Er will
eine „Genese des Bildes“ geben, d.h.
die Abfolge verschiedener Generationen von Bildauffassungen. Dabei
unterscheidet er drei Generationen,
die er als Spiegel, Spur und Blick
bezeichnet. „Spiegel“ oder Abbild
meint die Ähnlichkeit des Bildes mit
der Wirklichkeit, die Quasi-Verdoppelung des Sichtbaren. Auf die wichtige (Aristotelische) Unterscheidung
zwischen der Abbildung der bloß empirischen und der „möglichen“, notwendigen oder wesentlichen Wirklichkeit, zwischen der naturalistischen
Abbildung des Einzelnen und der
realistischen des Allgemeinen oder
Typischen kommt Waldenfels dabei
nicht zu sprechen. Von „Spur“ oder
Fernbild ist dann die Rede, wenn
hinter der Spiegelung oder der Ähnlichkeit „ein Ganzes sichtbar“ wird,
wenn sich im Hier und Jetzt „Abgründe der Ferne“ (14) auftun. In der
Abbildung der Gegenwart finden sich
Spuren der Erinnerung (Vergangenheit) oder Vorzeichen (Zukunft);
Fernbilder können als Wunsch- oder
Angstbilder auftreten. Als Zeugen
ruft Waldenfels Platons Begriff der
Anamnesis und Derridas Begriff der
Urspur auf; der eine erklärt alles Erkennen als Wiedererkennen und
Erinnerung an ein Vergessenes, der
andere verschränkt die Vergangenheit
mit der Zukunft. Der wichtige Unter-
schied zwischen der Assoziation, die
nur im Bewusstsein der Menschen
liegt, und der konkreten Utopie, in
der das Ferne, Zukünftige in der
Sache selbst als reale Möglichkeit
angelegt ist, bleibt unerörtert.
Die dritte Generation des Bildes, die
die beiden vorhergehenden in sich
vereint und höher hebt, ist der
„Blick“ oder das Fluchtbild. Sie bezeichnet die Verdoppelung des Sehens und des Gesehen-werdens. Das
Bild steigt gewissermaßen vom Sockel
herab, gewinnt – wie Pygmalion – ein
Eigenleben und macht den Sehenden
selbst zum Gegenstand. „Sofern
Spiegelbild und Spur an diesem Geschehen teilhaben, erreichen sie ...
eine Tiefendimension, wie sie in
Lacans Deutung des Spiegelstadiums
oder bei Levinas in der Spur des
Anderen zum Vorschein kommt.“
(22) Im Prozess der Angleichung
öffnet sich ein Spalt der Andersheit
und der Fremdheit, die Vergegenwärtigung wird zur Ent-gegenwärtigung,
das Bild der Realität zur Spur und
zum Sprung in die Transzendenz.
Wer Waldenfels’ phänomenologischen Ansatz kennt und schätzt, der
wird sich über die vorliegende Abhandlung als einer klar gegliederten,
komprimierten und anregenden Darstellung freuen. Wer sich dagegen
eine Einführung in die Theorie des
Bildes erhofft, wird weniger Freude
haben. Zu viele Voraussetzungen
fließen in die Darstellung ein, die
nicht eingeholt und geklärt werden,
so dass am Ende der Eindruck dominiert, es seien mehr Fragen aufgeworfen als beantwortet worden.
Konrad Lotter
Neuerscheinungen
Immanuel Wallerstein
Utopistik. Historische Alternativen des 21. Jahrhunderts; aus
dem Amerikanischen von J. Pelzer, mit einem Nachwort von A.
Komlosy, Wien 2002 (Promedia),
kart., 118 S., 9.90 EUR.
Utopistik nennt Immanuel Wallerstein, renommierter Soziologe, der sich
zuerst als Entwicklungstheoretiker,
dann als Theoretiker des modernen,
also kapitalistischen ‚Weltsystems‘
akademische Reputation erwarb,
seinen Ansatz, die Möglichkeiten
darzulegen, die nach dem von ihm
vorausgesagten, unweigerlich bevorstehenden endgültigen Zusammenbruch des Kapitalismus aufscheinen.
Im Gegensatz zu Utopie erörtert
Utopistik die Optionen, wie eine
alternative, glaubhaft bessere, historisch auch mögliche Zukunft gestaltet
werden könnte, die aber keineswegs
mit Gewißheit eintreten müsse. Unter
Bezugnahme auf Max Webers ‚materiale Rationalität‘ geht es Utopistik
also um die Vereinbarung all dessen,
was von Wissenschaft, Moral und
Politik darüber zu erfahren ist, welches die letzten (welt)gesellschaftlichen Ziele sein sollten. Finale gesellschaftliche Gesamtziele festzulegen
ist nur in der Phase einer systemischen
Weichenstellung, also in der Zeit
eines historischen Übergangs realistisch, den Wallerstein ‚VerwandlungsZeitRaum‘ nennt.
Eine derartige Situation sieht der
Autor am Übergang des Jahrtausends
gegeben. Die Kraft des die Geokultur
des Weltsystems bestimmenden zentristischen Liberalismus verfällt, und
137
mit ihm geht das Vertrauen in die
Fähigkeit staatlicher Strukturen verloren, das wichtigste Ziel, die Verbesserung des Gesamtwohls, zu erreichen.
Durch die implizierte Delegitimierung
staatlicher Strukturen greift eine Antistaatsideologie um sich, die einen entscheidenden Pfeiler des modernen
Weltsystems unterminiert, das Staatensystem selbst, ohne den die notwendige endlose Kapitalakkumulation
nicht möglich ist. Das kapitalistische
Weltsystem ist damit in seine Krisenphase eingetreten. Die Träume von
einer besseren Welt aufgrund beständiger Fortschritte sind gescheitert, das
erwartete Paradies ist verloren.
In der bereits angebrochenen schwierigen Phase des Übergangs, die vielleicht die kommenden fünfzig Jahre
andauert, wird der Kapitalismus weiter geschwächt, vor allem durch den
weltweiten Trend zur Erhöhung der
Lohnkosten, durch die Erhöhung der
staatlichen Ausgaben, durch welche
sich die steuerliche Belastung der
Unternehmen erhöht, sowie durch
die unabdingbare Notwendigkeit, die
Kosten für die Reparatur der globalen
Umwelt zu tragen, wodurch wieder
die Steuerquote und zugleich die
Produktionskosten der Unternehmen
erhöht werden. Diesen Kostendruck
von den Unternehmen zu nehmen,
werden die geschwächten Staaten, die
ohnehin in einer ‚fiskalischen Krise‘
stecken, weil sie die Ausgaben für
unternehmerisch relevante Infrastrukturen erhöhen, die Steuern aber zugleich senken sollen, zunehmend weniger in der Lage sein. Als Folge tritt
global verstärkt das Problem auf, angemessene Profite realisieren zu
138
Neuerscheinungen
können, wodurch zugleich die ‚Unvermeidbarkeit des Fortschritts‘
obsolet wird. Wallerstein zeichnet so
ein Szenario, das von großer
Unordnung,
persönlichen
Unsicherheiten und Gefährdungen,
von Auflösung und Desintegration
gekennzeichnet ist – das Bild eines
historischen Systems in tiefster Krise,
das nicht mehr in der Lage ist, in ein
Gleichgewicht
zurückzukehren,
sondern in ein unkontrollierbares
Chaos
Unterversinken
Bezugnahme
muß.auf den Ansatz
der ‚materialen Rationalität‘ erwartet
und erhofft Wallerstein für die Zeit
nach dem Übergang ein System sozialer Gerechtigkeit, das relativ demokratisch und egalitär sein könnte, weil
der Primat der endlosen Kapitalakkumulation beendet sein wird. So
ließen sich Strukturen entwickeln, die
der Optimierung jedermanns Lebensqualität dienen, aber auch die Rettung
der Biosphäre bedeuten. Die Errichtung gemeinnütziger Betriebe könnte
die Grundlage für den Produktionsmodus des neuen Systems abgeben,
das dann vielleicht die nächsten 500
Jahre bestimmen wird, wobei die
Kreativität der menschlichen Phantasie herausgefordert ist.
Natürlich wird die letzte Phase des
Übergangs nicht kampflos verlaufen,
vielmehr werden die Privilegierten mit
allen Mitteln versuchen, ihre Privilegien zu bewahren. Wirksam führen
kann die bevorstehenden Auseinandersetzungen für die Unterdrückten
wohl nur eine zivilgesellschaftliche
Regenbogen-Koalition, auch wenn dies
ein Kampf wird, der keine Garantie
dafür bietet, daß er von den sozialen
Bewegungen gewonnen werden wird.
So vage diese Aussichten, so vage
abgefaßt ist die gesamte kleine Schrift,
und zwar sowohl argumentativ wie
auch sprachlich, wozu die oft unglückliche Übersetzung beiträgt. Die
argumentative Vagheit verdankt sich
wohl der Tatsache, daß Wallerstein
hier bloß eine Kompilation früherer
Publikationen vorlegt, ohne deren
Kenntnis die Schrift häufig unverständlich wirkt. Über den Inhalt kann
man geteilter Meinung sein, aber wer
von dem marxistisch geprägten Autor
eine Marx gemäße Interpretation des
Übergangs vom kapitalistisch geprägten Weltsystem in ein anderes (oder
auch in mehrere andere) erwartet,
wird gewiß enttäuscht. Wallerstein
wollte mit diesem Büchlein wohl ein
‚Alterswerk‘ vorlegen – sehr ‚weise‘
scheint es mir nicht geraten zu sein.
Bernd M. Malunat
Jutta Weber
Umkämpfte Bedeutungen.
Naturkonzepte im Zeitalter der
Technoscience, Frankfurt/Main
2003 (Campus), 318 S.,
39.90 EUR.
Schon lange überzeugt es nicht mehr
recht, Natur als das Gegebene, als das
vor aller gesellschaftlichen Formierung bloß bereit stehende Rohmaterial zu denken. In letzter Zeit jedoch
verschwinden auch noch die Restplausibilitäten solcherart Natürlichkeitsvorstellungen. Wenn Computer denken und Roboter Fußball spielen
können könnten, sind gedanklich auch
die letzten Bastionen säkularisierter
Gottesebenbildlichkeit schlicht durch
Neuerscheinungen
Menschen mittels der Natur produziert, und also mitnichten natürlich
gegeben. Was macht das mit unserem
Umgang mit der Natur?
Es ist schon ein paar Jahre her, da
meinten einige Linke, in der oder
auch gegen die marxistische Debatte
eine Banalität festhalten zu sollen.
Für uns Erdenbürger sei Natur niemals an sich, sondern eben für uns gegeben. Oder anders: Natur sei ein durch
und durch gesellschaftlich infiziertes
Phänomen bzw. Konzept. Prompt
wurde ihnen von anderen Idealismus
vorgerechnet und die Rechnung der
Gegen-Banalität aufgemacht: Natur
gibt es auch historisch vor und unabhängig von der Existenz menschlicher Kultur. Doch dieser Einwand
hatte schon damals aus guten Gründen einen schweren Stand. De facto
wahrnehmbar existierte er nämlich nur
in zwei unattraktiven Varianten. Die
harmlose Variante bestand in einer
konsequenzlosen Verdoppelung: man
gestand zu, dass Natur nur als gesellschaftliches Phänomen zu haben sei,
aber man hatte zu Anfang dieser
Rede einmal ganz doll und nachdrücklich betont, dass es Natur als
solche trotzdem auch unabhängig
von uns tatsächlich und in echt gibt.
Die ganze Rede stand sozusagen in
Anführungszeichen, und ggf. konnte
man daher immer darauf verweisen,
dass man es gar nicht so kulturalistisch meine, wie man es sagte. Die
zweite, ganz und gar nicht harmlose
Variante war der Stalinismus in allen
reinen und vermeintlich bereinigten
Abarten. Unterstellt war ein privilegierter Ort des Zugangs zu ‚der‘ Natur als der sogenannten materiellen
139
Basis der Gesellschaft. Das Politbüro
als gleichsam Heiliger Stuhl der Arbeiterbewegung, von dem aus ‚die‘
Gesetze ‚der‘ Natur abgelauscht und
‚der‘ Entwicklung ‚der‘ (sozialistischen) Gesellschaft implementiert
werden können. Gegen solche, schon
lange vor Stalin lebendigen Vorstellungen hat eine berühmte Fußnote
aus Lukács‘ Geschichte und Klassenbewußtsein eine steile Karriere gemacht. Lukács ist gleichsam der innermarxistische Gründungsvater jenes
Konzepts einer rein gesellschaftlichen
Natur und hatte damit wesentlichen
Anteil daran, dass Engels‘ Konzept
einer Dialektik der Natur nur mehr
mit spitzen Fingern angefasst wurde.
Dass Lukács selbst später seine Bemerkung deutlich zurückgenommen
hat, spielte keine Geige mehr; und
erst angesichts drückender ökologischer Probleme wurde gelegentlich
darauf verwiesen, dass in dem Konzept
einer rein gesellschaftlichen Natur
eine Allmachtsphantasie versteckt ist.
Oskar Negt gehörte damals zu den
Wenigen, die eigene frühere Einschätzungen zurück genommen haben.
Die ganze Debatte war und ist dadurch gekennzeichnet, dass beide
genannten Banalitäten theoretisch in
Anspruch genommen werden müssen, aber nur jeweils eine von beiden
ins Feld geführt und gegen die andere
stark gemacht wird. Wolfdietrich
Schmied-Kowarzik hat damals (1977)
im Anschluss an Heintel treffend die
Formel von der „Natur auf der
Schaukel” gebraucht.
Nun ist sie wieder da, die Debatte.
Freilich nicht als marxistische. Idea-
140
Neuerscheinungen
lismus oder Kulturalismus heißt heute
Konstruktivismus, gelegentlich gar
„radikaler” Konstruktivismus. Und
wieder gilt die Sorge der Materialität
der Konstruktionen. Vielfach schwingt
die Schaukel immer noch. In positiver
oder in negativer Absicht wird dort
von Vertretern oder von Gegnern
unterstellt, dass ein Konstruktivismus
keinerlei Begriff eines Gegebenen
mehr habe bzw. dass eine Gegenkonzeption einen Begriff des Gegebenen
im Sinne eines unveränderlichen,
eines ahistorischen und akulturellen
Gegebenen – einer fixen „Substanz”
– benötige. Aber die Debatte ist nicht
exakt die selbe; ihre Grundlagen
haben sich verschoben. In der Praxis
der Wissenschaften, in den Kommentierungen dieser Praxis, in den Feuilletons und selbst im Alltagsverständnis ist jener Realismus, der früher
einmal „Alltagsrealismus” hieß, in die
Defensive geraten. Man kann ihn
eigentlich nur noch in taktischer
Absicht zur Relativierung anderer
Positionen und zur Provokation, aber
nicht mehr ernsthaft vertreten. Damit
ist die Luft für Gegner des Konstruktivismus gleichsam dünner geworden,
denn jede Gegenposition muss das
Grundmotiv des Konstruktivismus
bewahren und kann ihn bestenfalls
gegen sich selbst ausspielen. „Die
Technowissenschaften sind längst
zum Posthumanismus übergegangen,
während die philosophischen Debatten ihn noch lauthals und mit Begeisterung fordern.” (243) Das eröffnet
zunehmend die Chance, sich nicht
selbst auf die Schaukel zu setzen,
sondern gleichsam mit ihr zu spielen
– durch ihr Schwingen hindurch zu
huschen sozusagen.
Es scheint mir das wesentliche Verdienst der Arbeit von Jutta Weber zu
sein, dieses Programm auf die Tagesordnung gesetzt und dessen theoretische und praktische Schwierigkeiten
verfolgt zu haben. Selbstverständlich
gibt es der selbsternannt ‚dritten‘
Wege zwischen Abbildrealismus und
radikalem Konstruktivismus gar viele.
Aber diese dritten Wege machen es
sich eben in der Schaukel bequem:
Man nehme ein bisschen Realismus
und ein bisschen Konstruktivismus –
und schon machen nur die Anderen
alle erdenklichen Fehler der „kruden”
Realismen und Konstruktivismen,
man selber aber schwingt „ausgewogen”. Genau aus dieser Bequemlichkeit steigt das vorliegende Buch aus.
„Im Lamento unterscheiden sich die
naturalistische und die kulturalistische
Position nicht – nur in der Strategie,
mit dieser Aporie und dem durch sie
verursachten Schmerz umzugehen.”
(240) Thema ist weder der Naturalismus noch der Kulturalismus als solcher, sondern deren gemeinsamer
Grundansatz.
Nach einer allgemeinen Einführung
zeigt das 2. Kapitel zunächst auf, dass
jene Sorge um die Materialität der
Konstruktionen durchaus berechtigt
ist. Anhand der Konzeptionen von
Derrida, Luhmann und Latour werden unterschiedliche Varianten von
Weltlosigkeit und Naturvergessenheit
herausgearbeitet, mit guten Gründen
z.T. gegen die erklärten Absichten der
verhandelten Autoren. So plausibel
und berechtigt es auch immer sein
mag, der Natur einen Status als gegebene Substanz in allen Spielarten zu
Neuerscheinungen
bestreiten, so problematisch sind die
Gegenentwürfe dann, wenn sie die
Konstruktion eines konstruktiven Naturbegriffs nicht ihrerseits als Konstruktion reflektieren, sondern durch
Verweis auf vermeintliche Selbstverständlichkeiten, empirische Forschungen oder unantastbare ‚Transzendentalien‘ als gegebene Tatsache verkaufen wollen. Etwas pauschal gesprochen: Die Konstruktion des Konstruktivismus wird nur selten als
Ausdruck der (Post-) Moderne historisch verortet, sondern nimmt den
Schein einer endgültigen, ahistorisch
gültigen Errungenschaft an.
Doch der Text führt keine nur innertheoretische, bereits rein akademisch hoch interessante Diskussion.
Ein besonderes und durchgehendes
Anliegen liegt in der Problematisierung des Verhältnisses von Theorie
und Politik. Die besondere Pointe
liegt darin, dass nicht bestimmte
theoretische Positionen in einem
logisch zweiten Schritt nachträglich
auf ihre politischen Konsequenzen
befragt werden, sondern dass die Unterstellung erprobt wird, dass bestimmte theoretische Positionen auch
bestimmte politische Einsätze sind.
Und um auch hier pauschal das Ergebnis zu benennen: Jene Weltlosigkeit geht mit erstaunlicher Konstanz
mit einer Art Positivismus und Pragmatismus einher, die gewisse bestehende Grundannahmen und gesellschaftliche Grundstrukturen gar nicht
erst als veränderbare und veränderungswürdige in den Blick nehmen
kann (exemplarisch 96 ff.).
Kapitel 3 und 4 machen dann den
Hauptteil der Arbeit aus. Dort wird
141
der Versuch unternommen, die bis
dato skizzierte erkenntnistheoretische
und ontologische Debatte in der
Gegenwart zu verankern. Jene allgemein-philosophische Debatte wird
unter zeitgenössischen Bedingungen
spezifisch gebrochen; u.a. und wesentlich sei unsere Gegenwart durch
die neu entstandenen Technowissenschaften – Artifical-Life-Forschung,
Robotik, Biowissenschaften etc. –
geprägt. Und dort sei die Bedeutung
von Natur zum einen überhaupt
zentrales Thema und zum anderen
wesentlich umkämpft, was insbesondere an den Debatten um das Verhältnis von lebendiger und nichtlebendiger Natur nachvollziehbar
wird. In ausgezeichneter Weise bilden
diese Wissenschaften Fundierung und
Anwendungsfall konstruktivistischer
Erkenntnistheorien. Dort gilt Natur
längst nicht mehr als gegebene Substanz, sondern ihrerseits als konstruiert und konstruierend. Und dort
findet sich ebenfalls eine starke, wenn
auch nicht unumstrittene, Tendenz
zur Entmaterialisierung der Konstruktionen. Vielfach gerät die Materie zum bloßen Träger von Information, was theoriestrategisch die Übertragbarkeit von Lebendigkeit von
kohlenstoffbasierten Organismen zu
Computern und Robotern und vice
versa ermöglicht. Die Bedeutsamkeit
dieser Wissenschaften, ja ihr paradigmatischer Charakter dürfte unbestritten sein. Doch damit nicht
genug.
Die Autorin übernimmt explizit die
Auffassung, von der Technoscience
auch als Epochenbegriff zu sprechen
(116-123, 130, 135, pass.). Das hat
142
Neuerscheinungen
zum Teil schlicht theoriestrategische
Gründe: der Begriff Technoscience
erlaube eine nüchternere Diskussion
des Verhältnisses von Kontinuität
und Bruch zur Moderne als der Begriff der Postmoderne. So weit, so gut.
Dennoch
verblüfft
die
Selbstverständlichkeit,
mit
der
heutzutage selbst bei durchaus nicht
fehlenden Verweisen auf marxistische
Theoriekontexte ein Epochenbegriff
nicht an eine ökonomisch basierte
Gesellschaftsformation
gebunden
wird. ‚Plötzlich‘ ist eine Epoche nicht
mehr dadurch gekennzeichnet, wie
die Mitglieder einer Gesellschaft mitund gegeneinander ihr Leben
produktiv leben, sondern scheinbar
dadurch,
wie
sie
sich
(wissenschaftlich) in ihrer Welt
orientieren und/oder die lebensnotwendigen Mittel zum Leben herstellen. In „altlinker” (vgl. 13 f.) Terminologie gesprochen: ‚plötzlich‘ sind
die Produktivkräfte doch ein wenig
materieller als die Produktionsverhältnisse. Allerdings fehlt nicht das
verbale Bekenntnis der Abgrenzung
von einem „technologischen Determinismus”
Das 5. Kapitel
(122).formuliert den philosophischen Kern des Ansatzes, vielfach im Modus der Suche. Wie jede
erkenntnistheoretische Position ist
auch der Konstruktivismus nicht als
rein erkenntnistheoretische Position
zu haben: auch die These der Konstruiertheit der Welt ist eine ontologische Annahme. Wenn aber erkenntnistheoretische Positionen nicht nicht
Ontologien sein können, ist gegen
vielfache Selbstmissverständnisse festzuhalten, dass viele Konstruktivismen
nicht Welthaltigkeit verloren haben,
die es nun gelte, ihnen wieder beizubringen. Vielmehr liegt das Problem
darin, dass eine je bestimmte Welthaltigkeit, die nicht nicht sein kann,
geleugnet wird. Das Credo der Arbeit
liegt, wesentlich im Anschluss an
Donna Haraway, darin, dass man nur
die Wahl hat zwischen verleugneten
und selbstreflexiv explizit gemachten
Ontologien, wobei letztere als die
‚besseren‘ Geschichten von Welt
gelten.
Das Verdienst der Arbeit liegt darin,
eine alte Debatte wiederbelebt und in
ihrer aktuellen Bedeutsamkeit und
zeitgenössisch gebrochenen Gültigkeit aufgezeigt zu haben. Über die
Charakterisierung der Epoche mag
man weiter streiten. Klar ist jedoch,
was wieder einmal auf dem Spiel
steht: im Klima der neuen Wissenschaften, artig begleitet von ‚radikal‘konstruktivistischen Erkenntnistheorien, dokumentiert sich wieder einmal, vermutlich in radikalerer Weise
als je zuvor, eine Allmachtsphantasie
unbedingter Naturbeherrschung. Dass
wir alle, oder doch wenigstens die
industrielle und wissenschaftliche Elite, kleine Götter seien, die ihre Evolution nunmehr selbst in die Hand
nehmen könnten, ist längst eine
wirkmächtige Idee diesseits aller
spinnerten Träumereien. Heute heißt
das in kritischer Absicht „Hyperproduktionismus” und wird von Haraway wie folgt charakterisiert: „Der
Mensch schafft alles, einschließlich
seiner selbst, aus der Welt heraus, die
lediglich Ressource und Potential für
sein Projekt und sein aktives Handeln
sein kann.” (zit. nach 266) Früher
hieß das Idealismus und wurde 1843
Neuerscheinungen
von Feuerbach wie folgt charakterisiert: „dieser hat seinen Pantheismus
im Ich − außer dem Ich ist nichts, alle
Dinge sind nur als Objekte des Ich.”
Und schon sind die Etiketten wieder
säuberlich verteilt: Ein Idealist wäre,
wer in dieser Kritik von Haraway und
Weber angesichts der alten Feuerbachschen Einsicht nur die ewige
Wiederkehr des Gleichen, nicht aber
eine Aufforderung zum politischen
Eingreifen im Hier und Jetzt wahrnimmt.
Volker Schürmann
Kurt Wuchterl
Handbuch der analytischen Philosophie und Grundlagenforschung.
Von Frege zu Wittgenstein, Stuttgart/Wien 2002 (Haupt), 682 S.,
36.00 EUR.
Die analytische Philosophie ist tot! Es
lebe die analytische Philosophie ... vor
allem, wenn sie so vorgetragen und
vermittelt wird wie im vorliegenden
Band. Kurt Wuchterl (1931) mag einigen durch sein „Lehrbuch der Philosophie“ bekannt sein, das mittlerweile
in die 5. Auflage geht und sich zum
Standardlehrbuch gemausert hat. Der
Autor ist derzeit außerplanmäßiger
Professor an der Universität Stuttgart
und gehört seit einigen Jahren zu den
„Schwergewichten“ der analytischen
Philosophie in Deutschland.
Wuchterls Handbuch hält sich nicht
lange mit Erklärungen zur Relevanz
der analytischen Theorie auf. Analytische Philosophie (AP) bezeichnet für
Wuchterl zweierlei: einmal historisch
143
eine Denkschule, die Ende des 19.
Jahrhunderts mit Freges sprachlogischen und meta-mathematischen
Schriften begann und in der programmatischen Aufforderung Moores
zusammengefasst wurde, die Philosophen sollten ihre oft so spekulativen
Aussagen doch einer Analyse unterziehen. Und zum zweiten eine bestimmte Klasse von Methoden (Methodenlehre) – man möchte fast geneigt sein hinzuzufügen: eine philosophische Haltung – , die auch heute
noch einflussreich ist. Hier zeichnet
sich bereits ein definitorisches Problem ab, welches das gesamte Handbuch begleitet. Zum einen wird die
AP als ein historisches geschlossenes
Phänomen, als eine philosophische
Schule aufgefasst, zum anderen jedoch rein systematisch als eine bestimmte Methode oder als eine Menge definiter Methoden begriffen, die
sich hinreichend genau von anderen
Methoden abgrenzen lassen. Der
Zweck dieser oszillierenden Definition
von AP ist klar: den Interessierten
sollen Ergebnisse eines historisch
abgeschlossenen Prozesses dargeboten werden, um sie als noch heute
relevant auszuweisen.
Neben diesen definitorischen Prämissen liegt dem Handbuch noch eine
weit weniger begründete (ich meine
jedoch: begründbare) zugrunde. Dass
nämlich die AP mit Wittgenstein
ihren Höhepunkt erreicht habe. Das
Modell des Lehrbuchs folgt damit
dem klassischen Muster philosophischer Schulen (und damit weniger der
systematischen Abgrenzung), in der
ein „Meister“ als Höhe- und Kulminationspunkt einer theoretischen Rich-
144
Neuerscheinungen
tung zu setzen, um anschließend aus
ihm die Paradigmen der Strömung
„abzuleiten“.
Das Handbuch ist in acht Abschnitte geteilt und folgt einer historischen
Schilderung. Es beginnt mit einer
historischen Einführung in den Analysebegriff bzw. dem „Analytischen
Denken in der philosophischen Tradition“, die mit einer vorläufigen
Charakterisierung der AP abschließt.
AP sei demnach gekennzeichnet durch
eine analytische Methode, die vor
allem mathematischen Methoden entlehnt sei. Zum zweiten sei AP charakterisiert durch ein Wendung zur Sprache, gepaart mit „zwei weiteren
Hauptmerkmalen, Logik und Erfahrungsbezug“. (27)
Dabei
unterscheidet
Wuchterl
trotzdem zwischen verschiedenen
„Ausprägungen der AP als Methode“:
- die Idealsprachphilosophie (Frege,
früher Wittgenstein),
- die neopositivistische Philosophie,
wie sie im Wesentlichen vom Wiener Kreis (Carnap, Neurath,
Schlick) vertreten wurde,
- die Philosophie der Normalsprache
(ordinary language philosophy), die
vor allem vom späten Wittgenstein
in Anknüpfung an Moores Programm vertreten wurde.
In den weiteren Abschnitten („Mitbegründer der AP“, „Entwicklung der
AP in Cambridge“, „Philosophische
Reflexionen im Umfeld mathematischlogischer Grundlagenfragen“, „Philosophische Reflexionen im Umfeld
physikalischer
Grundlagenfragen“,
„AP als wissenschaftliche Theorie“,
„Spätphilosophie Wittgensteins als
Höhepunkt der analytischen Entwick-
lung“, „Ausblicke auf die Weiterentwicklung der AP zu einer neuen Tradition“) werden die Stationen der AP
am Beispiel der jeweils führenden
Philosophen beleuchtet. Jeder Unterabschnitt widmet sich einem einzelnen Autor, der mit einem Lebenslauf,
einer je nach Bedeutung mehr oder
weniger kurzen philosophischen Biografie und einer Auswahl seiner Primärwerke vorgestellt wird. Besonders
lobenswert sind die Absätze, in denen
Wuchterl auf die „philosophische
Motivation“ der Autoren eingeht.
Der biografische Hintergrund steht
nie vereinzelt im Raum, sondern leitet
stets zu einem thematischen Teil
über, in dem die wichtigsten Theorien
und Konzepte des Autors vorgestellt
und kurz diskutiert werden. Geradezu
genial geraten ist Wuchterl dabei die
autorenübergreifende thematische Verzahnung – trotz des historischen und
autorenorientierten Aufbaus. So verweisen behandelte Theoriekonzepte
eines Autors bereits auf die eines
Opponenten, wo sie didaktisch geschickt aufgegriffen und weitergetragen werden. Nahezu perfekt ist dies
bei der Behandlung der Philosophie
der Mathematik gelungen. Obwohl
Freges Philosophie von der Begriffsschrift bis zu den Logischen Untersuchungen behandelt wird, greift Wuchterl
das logizistisches Programm Freges
im nächsten Abschnitt (Hilbert) wieder auf, um den Formalismusstreit zu
beleuchten. Weitere hundert Seiten
später wird dann Brouwers intuitionistisches Konzept gegen beide vorherigen Ansätze mathematischer Begründung gesetzt, ohne dass der
Leser noch einmal vorblättern müss-
Neuerscheinungen
te. Ein Monografie zur Philosophie
der Mathematik hätte dies nicht besser tun können!
Im Handbuch der analytischen Philosophie sind kaum thematische Schwerpunkte zu entdecken. Dies soll keinerlei Kritik bedeuten; im Gegenteil, es
setzt klar auf Vollständigkeit und
liefert sie auch (einzig die analytische
Ethik kommt etwas zu kurz, aber
dazu gibt es ja bereits Frankenas Standardwerk). Nahezu alle wichtigen
Themen und Richtungen der AP
werden behandelt, allerdings sind bei
den einzelnen Autoren dann Schwerpunkte gesetzt. Das Handbuch ist
weniger als Nachschlagewerk als
vielmehr als umfassende Einführung
in die analytischen Einzeldisziplinen
und -themen gedacht (herauszuheben
sind die Abschnitte zu Russell und
Wittgenstein). Es wendet sich an alle
Studierenden und an den „Nichtfachmann“ der AP (so Wuchterl selbst)
und erfüllt seinen didaktischen Anspruch vollkommen. Obwohl historisch geordnet, vermag der Leser
durch den didaktisch geschickten
Aufbau der Abschnitte an jeder beliebigen Stelle des Handbuches „einzusteigen“. Im Gegensatz zu Stegmüllers Hauptströmungen der Gegenwartsphilosophie oder Specks Grundprobleme der
großen Philosophen. Philosophie der Gegenwart II-V weist es einen klaren roten
145
Faden auf und stellt erst einmal die
Zusammenhänge her, die Fachdiskussionen außen vor zu lassen. Wer mit
Stegmüllers Hauptströmungen seine
Probleme hatte, möge sich erst
Wuchterls Handbuch zuwenden, um
dann nochmals Stegmüllers Vierbänder zu konsultieren.
Das gesamte Lehrbuch atmet noch
den optimistischen Aufbruchsgeist,
mit dem Wittgenstein und Russell
ihre Theorien vertraten, und in dem
sich die AP auch heute noch als vernünftiges methodisch orientiertes
Korrektiv – nicht Lehrmeister – dessen begreift, was außerhalb ihrer
Denktradition vertreten wird. Das
Zitat des Leiters des Münchner Instituts für Wissenschaftstheorie & Logik, Ulises Moulines, mag dies abschließend verdeutlichen: „Die analytische Philosophie hat Standards
gesetzt, hinter die es kein Zurück
mehr gibt, so dass Anzeichen dafür
sprechen, dass nicht nur das 20. das
Jahrhundert der Analytischen Philosophie gewesen ist, sondern dass das
21. Jahrhundert es auch bleiben
wird.“ Man mag es ihr wünschen,
wenn sich auch nicht zu übersehende
und zu leugnende Gegenentwicklungen abzeichnen.
Wuchterls Handbuch jedenfalls sollte
zuvor noch gelesen werden.
Wolfgang Melchior
AutorInnen
JADWIGA ADAMIAK, Journalistin,
München
GEORG KOCH, M.A., Antiquar und
freier Autor, München
KARSTEN BAMMEL, Studienrat,
Seminarleiter am Goethe-Institut,
Berlin
WOLFGANG LANGER, Dr. phil.,
Beamter, Brannenburg
ROGER BEHRENS, M.A., Wiss. Mitarbeiter an der Bauhaus-Universität
Weimar, Lehrbeauftragter an der Uni
Hamburg und Uni Lüneburg
HAUKE BRUNKHORST, Prof., Dr.
phil, geschäftsführ. Vorstand des
Instituts für Soziologie, Flensburg
MICHAELA HOMOLKA, Dr. phil.,
philosophische Beratung &
Moderation, Kirchseeon
REINHARD JELLEN, Doktorand der
Philosophie, München
IGNAZ KNIPS, Lehrbeauftragter der
Uni Köln, Abt. Internationale
Beziehungen, Köln
MANUEL KNOLL, Dr. phil., Lehrbeauftragter am Institut für Politische
Wissenschaft der LMU und der
Hochschule für Politik, München
KONRAD LOTTER, Dr. phil.,
Privatgelehrter, München
BERND M. MALUNAT, freiberufl.
Politikwissenschaftler, München
MARIA MARKANTONATOU,
Soziologin, (Keele, Staffordshire)
WOLFGANG MELCHIOR, M.A., Doktorand der Philosophie, Unternehmensberater, Publizist, München
ALEXANDER VON PECHMANN, Dr.
phil., Lehrbeauftragter für Philosophie an der LMU und VHS München
FRANZ PIWONKA, Diplomsoziologe,
München
MARIANNE ROSENFELDER, M.A.
der politischen Philosophie, freie
Journalistin, München
OLAF SANDERS, Dr. phil.,
wiss. Assistent am Institut für
147
Allgemeine Erziehungswissenschaft
der Universität Hamburg
VOLKER SCHÜRMANN, Dr. phil.
habil., Dozent an der sportwiss.
Fakultät der Uni Leipzig
GERHARD SCHWEPPENHÄUSER,
Prof., Dr. phil., Professor am Fachbereich Gestaltung der FHS Würzburg
und am Fachbereich Erziehungswissenschaft der Uni Kassel
EBERHARD SIMONS, Prof., Dr. phil.,
Professor für Philosophie,
Vorsitzender des Stiftungsrats der
„Europ. Stiftung: Neue Oikonomia
für Wirtschaft und Kultur“, München
ALFONS SÖLLNER, Prof., Dr. phil.,
Lehrstuhl für Politische Theorie und
Ideengeschichte, TU Chemnitz
CHRISTOPH TÜRCKE, Prof., Dr. phil.,
Professor für Philosophie an der
Hochschule für Grafik und Buchkunst, Leipzig
PERCY TURTUR, M.A., freier Autor,
München
THOMAS WIMMER, M.A., freier Autor
und Herausgeber, München
FRANCO ZOTTA, Dr. phil.,
freier Autor, Unna.
Impressum
Widerspruch
Münchner Zeitschrift für Philosophie
24. Jahrgang (2004)
Herausgeber
Münchner Gesellschaft für
dialektische Philosophie
Tengstr. 14, 80798 München
Redaktion
Jadwiga Adamiak, Manuel Knoll,
Georg Koch, Konrad Lotter,
Wolfgang Melchior (Internet),
Alexander von Pechmann (verantw.),
Franz Piwonka, Marianne Rosenfelder,
Percy Turtur
Verlag
Widerspruch Verlag
Tengstr. 14, 80798 München
Tel & Fax: (089) 2 72 04 37
e-mail: [email protected]
Erscheinungsweise
halbjährlich / 500 Exemplare
Gestaltung: Percy Turtur, München
ISSN 0722-8104
Preis
Einzelheft: 6.- EUR
Abonnement: 5.50 EUR ( zzgl. Versand)
Namentlich gekennzeichnete Beiträge
geben nicht unbedingt die Meinung der
Redaktion wieder. – Für unaufgefordert
zugesandte Manuskripte wird keine
Haftung übernommen. – Nachdruck von
Beiträgen aus Widerspruch ist nur nach
Rücksprache und mit Genehmigung der
Redaktion möglich.
http://www.widerspruch.com
W
I
D
E
R
Das Archiv im Internet:
S P R U C H
alle Nummern; alle Artikel
Widerspruch 1/81___ (Heft 1) _______Wissenschaft und sozialer Fortschritt
Widerspruch 2/81___ (Heft 2) _______________ Freiheit der Wissenschaft?
Widerspruch 1/82___ (Heft 3) ______ Friedensbewegung & Friedenstheorie
Widerspruch 2/82___ (Heft 4) _____ Krise in Gesellschaft und Wissenschaft
Widerspruch 1/83___ (Heft 5) ________________ Ethik in der Disskussion
Widerspruch 2/83___ (Heft 6) _____________ Marx-Rezeption in Munchen
Widerspruch 1/84___ (Heft 7) ________________Abschied von der Arbeit?
Widerspruch 2/84___ (Heft 8) ___ Hilfe zur Selbsthilfe im Konservativismus
Widerspruch 1/85___ (Heft 9) _______________________ Frauen-Denken
Widerspruch 2/85__ (Heft 10) ________ Computer – Denken – Sinnlichkeit
Widerspruch 1/86__ (Heft 11) ______________________ Gen-Technologie
Widerspruch 12______ (1986) ________________ Wiederkehr des Mythos?
Widerspruch 13______ (1987) ______ Philosophie im deutschen Faschismus
Widerspruch 14______ (1987) ____ Heimat. Zwischen Ideologie und Utopie
Widerspruch 15______ (1988) ________________________ Neues Denken
Widerspruch 16/17___ (1989) ______________ Ich – Subjekt – Individuum
Widerspruch 18______ (1990) _____Restauration der Philosophie nach 1945
Widerspruch 19/20___ (1990) ______________________Ende der Linken?
Widerspruch 21______ (1991) ______________ Multikulturelle Gesellschaft
Widerspruch 22______ (1992) _______________ Wozu noch Intellektuelle?
Widerspruch 23______ (1992) _______________"Markt und Gerechtigkeit"
Sonderheft _________ (1992) ______________________ Walter Benjamin
Widerspruch 24______ (1993) _________________ Gewalt und Zivilisation
Widerspruch 25______ (1994) _______________ Die Philosophie des Mülls
Widerspruch 26______ (1994) _________________ Ästhetik des Nationalen
Widerspruch 27______ (1995) __________________ Philosophie und Alltag
Widerspruch 28______ (1996) _______________________ Public Relations
Widerspruch 29______ (1996) ______________________ Geist und Gehirn
Widerspruch 30______ (1997) ________________ Afrikanische Philosophie
Widerspruch 31______ (1998) ________________________ Globalisierung
Widerspruch 32______ (1998) ______________________ Problem Bildung
Widerspruch 33______ (1999) ________________________ Wagnis Utopie
Widerspruch 34______ (1999) _________________ Geschlechter-Differenz
Widerspruch 35______ (2000) ______________________ Nie wieder Krieg
Widerspruch 36______ (2001) ____ Perspektiven postnationaler Demokratie
Widerspruch 37______ (2001) ____jüdisches Denken – jüdische Philosophie
Widerspruch 38______ (2002) ___________________Ökologische Ästhetik
Widerspruch 39______ (2003) ________________ Kritik der Globalisierung
Widerspruch 40______ (2003) _______________ Kampf der Kulturbegriffe
http://www.widerspruch.com
[email protected]
Herunterladen