Darwin-Jahr 2009 21 „ Darwins Theorie hat eine neue Sicht der Natur und des Lebens erzwungen. Der Schöpfungsbericht war als Modell für die Entstehung der Welt nicht mehr länger haltbar. ❙ Dossier ❙ Vor 200 Jahren wurde Darwin geboren, vor 150 Jahren erschien sein Werk „Der Ursprung der Arten“. Seine Gedanken haben immer noch große Sprengkraft und vielfach wurde der „Evoluzzer“ auch missverstanden. | Redaktion Thomas Mündle | “ ❙ „Darwins Ideen sind korrekt“ S. 22 Für Biologie-Professor Gerd Müller bedarf die Evolutionstheorie einer Ergänzung: Evo-Devo. ❙ Darwins kühne Gedanken S. 23 Foto: Istocckphoto (2) Neue Theorien brauchen neue Begriffe. Eine Sammlung denkwürdiger Darwin-Zitate. ❙ Darwin oder Gott? Beide! S. 24 Darwin hat das Weltbild revolutioniert? Richtig, doch auch der Schöpfungsbericht war eine Revolution. A Charles Darwin m 12. Februar 2009 jährt sich der Geburtstag von Charles Darwin zum 200. Mal. Darwin, der die Grundtatsache der Evolution erkannte, war einer der großen Aufklärer am Beginn der Moderne. Seine Abstammungslehre formulierte, was bereits einige seiner Zeitgenossen geäußert hatten: dass die menschliche Spezies mit allen anderen Lebewesen dieser Erde durch einen gemeinsamen Stammbaum verbunden ist, der bis zu den Anfängen des Lebens vor etwa 3,5 Milliarden Jahren zurückreicht. Darwins Name steht für die Ablösung des wissenschaftlich unbrauchbaren Weltentstehungsmodells der Bibel durch eine rational begründete Theorie. Weitere Theorien mit Folgen Mindestens ebenso weitreichend wie Darwins Erkenntnis des Evolutionsprinzips waren die Folgen, die seine weiteren Theorien hatten. „Wie jedes andere Tier ist auch der Mensch ohne Zweifel auf seinen gegenwärtigen hohen Stand durch einen Kampf um die Existenz gelangt, und wenn er noch höher fortschreiten soll, muss er einem heftigen Kampf ausgesetzt bleiben. Es muss für alle Menschen offene Konkurrenz bestehen“, so Charles Darwins in seinem im Jahre 1871 erschienenen zweiten Hauptwerk „Die Abstammung des Menschen“. An gleicher Stelle lesen wir: „Bei den Wilden werden die an Geist und Körper Schwachen bald beseitigt. [...] Auf der anderen Seite tun wir zivilisierten Menschen alles nur Mögliche, um den Prozess der Beseitigung aufzuhalten. Wir bauen Zufluchtsstätten für die Schwachsinnigen, für die Krüppel und die Kranken; wir erlassen Armengesetze und unsere Ärzte strengen sich an, das Leben eines jeden bis zum letzten Moment zu erhalten. Es ist Grund vorhanden anzunehmen, dass die Impfung Tausende erhalten hat, welche in Folge ihrer schwachen Konstitution früher den Pocken erlegen wären. [...] Niemand [...] wird daran zweifeln, dass dies für die Rasse des Menschen in höchstem Maße schädlich sein muss.“ Inspiriert durch Darwin, verkündeten zwischen 1871 und 1933 deutschsprachige Mediziner, Biologen, Philosophen und Publizisten in einer Serie von Bestsellerbüchern den Abschied von der jüdisch-christlichen bzw. humanistischen Ethik. Darwin, der 1882 starb, konnte auf die Rezeption seines Opus keinen Einfluss mehr nehmen. Doch unter Berufung auf ihn wurde von vielgelesenen Autoren wie Ernst Haeckel, Ludwig Büchner, Alfred Ploetz, Wilhelm Schallmeyer, Alexander Tille, Friedrich von Bernardi, August Forel, Eugen Fischer, Fritz Lenz oder Hans Friedrich Karl Günther (auch „RasseGünther“ genannt) ein neues Wertesystem ausgerufen. Bereits 1905 (!) wurde die „Gesellschaft für Rassenhygiene“ gegründet. In einem mit dem Strafrechtler Karl Binding im Jahre 1920 publizierten, viel beachteten Buch über „Die Freigabe der Vernichtung lebensunwerten Lebens – Ihr Maß und ihre Form“ bedauerte der Psychiatrie-Ordinarius Alfred Hoche, dass das seinerzeit (noch) geltende Recht die Tötung von Menschen, die aufgrund unheilbarer und schwerer geistiger Behinderungen „vollständig wertlos“ DIE WELT VERÄNDERTE dieser Erde sind durch einen gemeinsamen Stammbaum verbunden. Charles | Alle Lebewesen | Darwin erkannte die Grundtatsache der Evolution. Darf man ihn auch kritisieren? | Von Joachim Bauer | seien, verbiete. Es waren akademische Eliten, die den Boden für die einmaligen Verbrechen bereiteten, die dann – nach 1933 – folgen sollten. Die Macht (scheinbar) biologisch begründeter Menschenbilder ist auch heute spürbar. Im Jahre 1976 schrieb der britische Soziobiologe Richard Dawkins seinen Bestseller „Das egoistische Gen“. Lebewesen seien von Genen gebaute „Maschinen“, deren natürliche Bestimmung es sei, die in ihnen befindlichen Gene maximal zu verbreiten. „Ein Affe“, so Dawkins, „ist eine Maschine, die für den Fortbestand von Genen auf Bäumen verantwortlich ist, ein Fisch ist eine Maschine, die Gene im Wasser fortbestehen lässt.“ Gene machen, so Dawkins, Menschen zu egoistischen Akteuren: „Gene in den Körpern von Kindern werden aufgrund ihrer Fähigkeit selektiert, Elternkörper zu überlisten; Gene in Elternkörpern werden umgekehrt auf Grund ihrer Fähigkeit selektiert, die Jungen zu überlisten. Ich sage, dass die natürliche Auslese tendenziell Kinder begünstigen wird, die so handeln, und dass wir daher, wenn wir frei lebende Populationen beobachten, im engsten Familienkreis Betrug und Eigennutz erwarten müssen.“ Welch ein Zufall, dass das hier aufscheinende Menschenbild wunderbar zur herrschenden Weltwirtschaftsordnung passt, die sich damit als ein zur Natur des Menschen angeblich ideal passendes System definieren lässt. Veränderungen, die zu neuen Arten führten, zeigte, dass neben zufälligen auch eine Reihe von nichtzufälligen Faktoren im Spiel ist. Das Erbgut von Organismen enthält weit mehr als nur Gene (beim Menschen zum Beispiel bilden die ca. 24.000 Gene gerade einmal 1,2% des Erbgutes). Das Gros des Erbmaterials besteht aus Elementen, die es dem Gesamtorganismus (bzw. seinen Zellen) erlauben, das eigene Erbgut in umfangreicher Weise zu steuern. Im Gegensatz zur bisherigen Auffassung, der zufolge die Zellen unter der Regie der Gene stehen, zeigte sich in den letzten Jahren, dass die Situation tatsäch- Joachim Bauer ist Neurobiologe und Mediziner am Uniklinikum Freiburg. Er war jahrelang in der Genforschung tätig. Sein neues Buch „Das kooperative Gen“ sorgte für Zündstoff. Inspiriert durch Darwin, verkündeten Biologen, Mediziner u.a. den Abschied von der jüdisch-christlichen Ethik. Darwin konnte auf die Rezeption seines Opus keinen Einfluss mehr nehmen. lich umgekehrt ist: Zellen eines Organismus, die ihrerseits mit der Umwelt in Verbindung stehen, haben vielfältige Möglichkeiten, auf das Erbgut einzuwirken. Schwere, anhaltende Veränderungen der äußeren Lebensbedingungen können sogar dazu führen, dass Zellen ihr eigenes Erbgut grundlegend umgestalten und so den Weg in Richtung neuer Arten bahnen. Nichts spricht für die Annahme eines evolutionären „Plans“ oder „Designs“. Doch im Gegensatz zum darwinischen Dogma scheinen lebende Systeme keineswegs nur Objekte eines rein zufälligen Veränderungsprozesses, sondern in der Lage zu sein, ihr Erbgut nach eigenen, in ihnen selbst liegenden Regeln zu verändern. Ohne dieses aktive Entwicklungspotenzial wäre das Leben auf unserem Globus womöglich den zahlreichen ökologischen Katastrophen, die sich während der vergangenen 3,5 Milliarden Jahren nachweislich ereignet haben, zum Opfer gefallen. Leben auf Basis von reinem Zufall? Darwin sah die Entwicklung neuer Arten aus jeweils vorher existierenden als das Ergebnis eines kontinuierlichen, rein zufallsbedingten Veränderungsprozesses. „In der Variabilität organischer Wesen … scheint uns nicht mehr Planung zu stecken als in der Richtung, aus der der Wind bläst“, schrieb er 1876. Was zur Entstehung neuer Arten führe, sei die Summierung fortwährend auftretender, zufälliger Veränderungen des biologischen Substrates. Unter entstandenen Variationen würden sich die jeweils lebenstüchtigsten durchsetzen, weniger lebenstüchtige würden durch die natürliche Selektion beseitigt. Darwin kannte keine Gene. Nach deren Entdeckung wurde das darwinische Dogma angepasst. Dass es rein zufallsbedingte Veränderungen der Gene seien, die sich aufaddierten und so neue Arten entstehen ließen, blieb ein bis heute gültiges darwinisches Dogma der Biologie. Nachdem bei zahlreichen Lebewesen das gesamte Erbgut („Genom“) entschlüsselt wurde, konnte man die Genome von einfachen und verschiedenen höheren Lebewesen (einschließlich dem des Menschen) vergleichen und der Evolution dabei sozusagen in die Karten schauen. Eine Rekonstruktion der Der Autor „ Foto: BRUNEL University WIE “ 22 | Darwin-Jahr 2009 | 6 | 6. Februar 2009 Die kühnen Gedanken des Charles D. Evo-Devo „ Die heutige Fassung der Evolutionstheorie ist unvollständig. Diese Ansicht vertritt Prof. Gerd Müller und fordert eine Ergänzung: EvoDevo. Neuere Erkenntnisse aus Ökologie, Entwicklungsbiologie und Genomik sollen dabei zu einem präziseren Verständnis von Evolution führen. Darwin hat vieles richtig erkannt. Aber über Gene etwa wusste er nichts. Die letzten Bausteine, die das Rätsel der Evolution lösen, fügen sich erst heute zusammen. “ Darwins Grundideen sind KORREKT „ So es überhaupt andere Welten gibt, auf denen sich Leben über längere Zeiträume entwickeln kann, sollte es auch zu intelligenten Lebewesen kommen. Das ist fast unausweichlich. Weltreise Evolutionstheorie bietet immer noch genügend Raum für Disput. Dabei interessieren sich Biologen kaum für die uninformierten Argumente der Kreationisten. | Die Darwin hatte im Grunde recht, aber er wusste zum Beispiel nichts über Molekularbiologie. Deshalb versuchen Biologen heute, seine Theorie zu vervollständigen. | V or 150 Jahren erschien Charles Darwins „Die Entstehung der Arten“. Bis heute wurde die Evolutionstheorie auf vielfache Weise bestätigt. Sie wurde aber auch ergänzt und bedarf immer noch der Erweiterung, so Gerd Müller, Professor für Theoretische Biologe von der Universität Wien. Herr Professor Müller, manche meinen, Evolution sei bloß eine Theorie … Gerd Müller: Evolution ist nicht bloß eine Theorie. Evolution ist die Tatsache, die wir untersuchen. Und über ihre Mechanismen gibt es eine Theorie – die Evolutionstheorie. Die Evolutionstheorie handelt nicht davon, ob Evolution stattgefunden hat, sondern wie. Und darüber gibt es immer noch viel Diskussion unter den Biologen. DIE FURCHE: Dann hat Darwin wohl nicht alles erklärt. Was fehlt? Müller: Die Grundideen von Darwin sind korrekt: Mit Variation und Selektion lässt sich die Veränderung von Arten erklären. Aber erst mit der Populationsgenetik – die statistische Verteilung von Merkmalen untersucht – und dem Wissen, das die DIE FURCHE: | Das Gespräch führte Thomas Mündle • Foto: Stanislav Jenis| „ damals aufblühende Paläontologie hervorbrachte, gelang eine exakte Modellierung von Evolutionsprozessen. Diese wichtige Erweiterung von Darwins Theorie nennt man die Moderne Synthese. Sie stammt aus den 1930er Jahren und bildet bis heute den Sie ist nicht bloß eine Theorie. Evolution ist die Tatsache, die wir untersuchen. Über die Mechanismen gibt es eine Theorie – die Evolutionstheorie. “ formalen Kern der Evolutionstheorie. Aber auch diese Theorie ist nicht komplett: sie befasst sich mit statistischen Gen-Verteilungen. Das Entstehen von komplexen Strukturen wie Händen, Augen etc. ist aber nicht ihr Gegenstand. Solche Fragen sollen nun in der sogenannten erweiterten Synthese beantwortet werden. Dabei gibt es eine Vielzahl an Zugängen. Ein wichtiger ist unserer: Evo-Devo – das steht für Evolutionary Development. Letztlich geht es dabei darum zu verstehen, wie aus einzelnen Zellen komplizierte Organismen entstehen. DIE FURCHE: Das klingt wie: „Die Entstehung der Arten“. Das war doch die Frage, die Darwin mit seinem berühmten Buch bereits beantwortet haben wollte. Müller: Darwin hat sich vor allem mit der Variation der Arten befasst. Die Artbildung war dann eines der Hauptprobleme der Modernen Synthese. Man kann nun verstehen, wie aus einer Population zwei verschiedene Arten werden können – etwa wenn sie wie die Darwinfinken auf einmal geografisch getrennt auf zwei Inseln leben und sich den dortigen Bedingungen anpassen. Aber damit ist noch nicht alles erklärt. Heute interessieren wir uns für die konkreten mechanistischen Prozesse: Wie arbeiten die Gene in den Zellen und was für Strukturen werden dadurch erzeugt? DIE FURCHE: Als Laie denkt man da vielleicht: Der Plan für das Tier liegt in den Genen. Bei kleinen Veränderungen der Gene – durch Mutationen – kommt es zu Veränderungen des Tiers. Und so entwickeln sich neue Arten. Ist das falsch? Müller: Es ist zu einfach. Die Gene werden oft als eine Art verkleinerte Abschrift des Körperbauplans betrachtet. So ist es aber nicht. Ein Beispiel: Wenn sie heute in einer Mücke, die in Bernstein eingeschlossen ist, die DNA eines Dinosauriers finden und diese exakt aufschlüsseln könnten, dann wissen sie immer noch nicht, wie der Dinosaurier ausgesehen hat – weil das nicht in der DNA steht. Denn: Die Gene enthalten zwar eine Art Anleitung für die Herstellung der Proteine, sie reagieren aber immer auch lokal auf das, was schon in der Zelle vorhanden ist. Das Ganze lässt sich am besten als Kreislauf verstehen: Die Gene beeinflussen die zelluläre Umwelt; die Umwelt beeinflusst die Gene. DIE FURCHE: Die Umwelt beeinflusst die Gene. Aber doch nicht im Sinne von Lamarck? Müller: Nein. Lamarck dachte, dass individuell erworbene Eigenschaften weitervererbt werden. Etwa die langen Giraffenhälse, wenn sich die Tiere nach den Baumwipfeln strecken. Hier geht es nicht um Vererbung, sondern um Variation: Raupen etwa, die sich von unterschiedlichen Blättern ernähren, können ganz verschieden aussehen. Oder die gleichen Pflanzen etwa wachsen im Tal anders als am Berg. Das Phänomen heißt phänotypische Plastizität. Populati- onen können auf einen Parameter wie Temperatur mit einer bestimmten Breite reagieren. Wenn es nun zum Beispiel heißer wird, kann sich diese Reaktionsnorm verschieben. Das ist Selektion und so kann etwas Neues entstehen. DIE FURCHE: Und ab wann genau spricht man von einer neuen Art? Müller: (seufzt) Der Art-Begriff ist einer der schwierigsten Begriffe überhaupt. Üblicherweise sagt man: Zwei Arten sind getrennt, wenn sie sich nicht mehr gemeinsam fortpflanzen können. Aber auch das ist ein gradueller Vorgang, da jedes Individuum ein klein wenig anders ist. Doch lassen Sie mich noch ein paar Dinge zu Evo-Devo sagen. Das Wichtigste ist, dass wir ein dialektisches Frageprinzip anwenden: Erstens interessiert, wie Entwicklungssysteme evoluieren, welche Gene wann an- und abgeschaltet werden, damit zum Beispiel ein Auge und nicht ein Finger wächst. Zweitens wollen wir aber wissen, welchen Einfluss die Entwicklungssysteme auf den Evolutionsablauf haben – wie komplexe Baupläne und neue Merkmale entstehen oder in welche Richtung die Variation gedrängt werden kann. “ Fünf Jahre ist Darwin mit der Beagle um die Welt gereist. Dabei hat er so viel Material zusammengetragen, dass er ein ganzes Forscherleben davon zehren konnte. Die Darwinfinken auf Galapagos werden etwa als Schulbuch-Beispiel bis heute verwendet. Apropos „Richtung“. Das Auge soll sich ja rund 30-mal und völlig unabhängig voneinander entwickelt haben. Ist das nicht überraschend? Müller: Nein, warum? Zellen, die eine Orientierung im Raum ermöglichen – und sei es nur die Fähigkeit, vage Schatten zu unterscheiden – bieten einen evolutionären Vorteil. Selbst auf fremden Planeten, wenn es dort Leben gäbe, würden wir ein solches Sinnesorgan erwarten. Wenn dort das Licht von anderer Wellenlänge ist, wäre aber auch der Aufbau des Auge entsprechend anders. Hingegen ist anzunehmen, dass, wenn es diese augenartigen Strukturen gibt, sie vorne am Körper entstehen, falls der Organismus denn eine gerichtete Bewegung hätte. Ähnliche Umweltanforderungen führen nun mal zu gleichartigen Strukturen. DIE FURCHE: Heißt das, es gibt auch eine Notwendigkeit hin zu intelligentem Leben? Müller: So es überhaupt andere Welten gibt, auf denen sich Leben über längere Zeiträume entwickeln kann, sollte es auch zu intelligenten Lebewesen kommen. Das ist fast unausweichlich, möchte ich sagen. DIE FURCHE: Der bekannte Biologe Jacques Monod war da anderer Meinung: Er sprach vom Menschen als „Zigeuner am Rande des Universums“. Der Mensch als rares Zufallsprodukt der Evolution. Müller: Der Begriff des Zufalls wird oft missverstanden. Evolution ist kein beliebiger Zufall. Zufällige Ereignisse sind aber ein wichtiges Element der Evolution. Sie werden durch die Evolution eingefangen und fixiert. Dann ist aber nicht mehr alles möglich und die weitere Entwicklung kann nur mehr in eingeschränkte Richtungen gehen. DIE FURCHE: Und wenn die Entwicklung dann weitergeht, warum sprechen die Biologen so ungern von Fortschritt? Müller: Das ist ein unglücklicher Begriff, weil er eine anthropomorphe Perspektive beinhaltet. Der Mensch als intelligentes Wesen würde sich natürlich gerne als Endprodukt des Fortschritts sehen. Aber jede andere Population hat sich auch im Laufe der Zeit immer wieder und besser an ihre spezifische Umwelt angepasst und so bis zum heutigen Tag überlebt. Warum sollte der Mensch da „fortschrittlicher“ sein als eine Biene oder ein Bakterium? DIE FURCHE: Letzte Frage: Woher kommt der Begriff Darwinismus? Niemand redet ja von Newtonismus oder Einsteinismus. Müller: Die Biologen selbst sprechen kaum von Darwinismus. Oft wird der Begriff verwendet, um weiterreichende Aspekte der Evolutionstheorie zu kennzeichnen. Evolution beschränkt sich ja nicht auf anatomische Strukturen. Die Biologie bemüht sich etwa, den Verstand als Produkt der Evolution zu begreifen. Sie will sogar wissen, ob es überhaupt einen freien Willen gibt. Allein diese Fragen zu stellen, ist für manche eine Provokation. Evo-Devo - Die dritte Revolution E ine Flut an Neuerscheinungen ist rechtzeitig zum Darwin-Jahr auf den Büchermarkt gespült worden. Da im Gegensatz zu anderen wissenschaftlichen Klassikern Darwins Werke immer noch sehr verständlich sind, kann man sich natürlich auch auf die Originalliteratur stürzen. Im Verlag Zweitausendeins etwa ist der günstige Band „Gesammelte Werke“ von Charles Darwin erschienen. Er enthält die „Reise eines Naturforschers um die Welt“, „Über die Entstehung der Arten“, „Die Abstammung des Menschen“ und „Der Ausdruck der Gemütsbewegungen“. Schöner und zum Teil in neuen – sprich: leichter lesbaren – Übersetzungen gibt es die Originalwerke auch einzeln. Dass Darwin mit seiner Erklärung der „Entstehung der Arten“ erst den Anfang setzte, kann man aus anderen Büchern lernen. Sehr kurzweilig ist etwa Neil Shubins „Der Fisch in uns“ (Fischer 2009). Oder Richard Dawkins’ neues, feines Buch „Geschichten vom Ursprung des Lebens“, das auf über 900 Seiten einen Riesenbogen spannt: Es führt vom Menschen und anderen Affen, über Nagetiere, Reptilien etc. zurück bis zu einfachsten Archaea-Bakterien. Dann gibt es eine Reihe von Büchern, die Darwin und seine Theorie(n) behandeln. Eine einfache, klare Einführung bietet hier Ernst Peter Fischers „Der kleine Darwin“ (Pantheon 2009). Dichter und anspruchsvoller ist Ulrich Kutscheras „Tatsache Evolution“, der etwa auch der Frage nachgeht, inwieweit Alfred Wallace als Mitbegründer der Evolutionstheorie gelten darf. Wer schließlich nur ein einziges Buch lesen will, dem sei Jürgen Neffes ungewöhnliche Biografie „Darwin“ ans Herz gelegt (Rezension in FURCHE 51/08). Darwin. Das Abenteuer des Lebens Von Jürgen Neffe. Bertelsmann, München 2008, 527 S., geb., 23,60 Geschichten vom Ursprung des Lebens Von Richard Dawkins. Ullstein, Berlin 2008, 928 S., geb., 30,80 Tatsache Evolution. Was Darwin nicht wissen konnte Von Ulrich Kutschera. dtv, München 2009,339 S., kart., 15,40 B ereits Darwin wusste, wie eng Evolution und Entwicklung verzahnt sind. Allerdings hat erst der Werkzeugkasten der modernen Molekularbiologie es möglich gemacht, dass sich diese Zusammenhänge auch im Detail nachvollziehen lassen. Das neue Feld der evolutionären Entwicklungsbiologie – kurz: Evo-Devo – verspricht für die Evolutionstheorie denn auch nichts weniger als eine „dritte Revolution“ (die erste war Darwins Theorie; die zweite die so- Innovative Theorien verlangen nach einem neuen Vokabular. |Charles Darwin begriff, indem er neue Begriffe und Bilder schuf.| DIE FURCHE: BÜCHER - TEIL I Erlesenes im Darwinjahr 23 | Darwin-Jahr 2009 | 6 | 6. Februar 2009 genannte Moderne Synthese). Diese Meinung vertritt auch Sean B. Carroll. In seinem Buch „Evo Devo. Das neue Bild der Evolution“ zeigt der US-Biologe anhand von zahlreichen Beispielen, welch tiefe Einblicke in evolutionäre Prozesse Evo-Devo geben kann. Überraschungen inklusive: Insekten-Flügel etwa haben sich aus Kiemen gebildet. Das beweisen Gen-Analysen. Und dieses Ergebnis erhält mit fossilen „Missing Links“ – wie etwa einer bizarr aussehenden, wasserlebenden Nymphe, die Flügel an allen Rumpfsegmenten besitzt – eine solide Stütze. Das Buch dürfte zurzeit die einzige deutschsprachige Einführung in Evo-Devo sein. Toll, dass es, obwohl in einem Fachbuchverlag erschienen, auch für Laien verständlich ist – und dazu noch sehr spannend. (tm) Evo Devo Von Sean B. Carroll. Berlin UP, 2008, 318 S., geb., 46,20 | Von Thomas Mündle | D Kampf ums Dasein Bereits 1838 hatte Darwin Thomas Malthus populäres Buch „Eine Abhandlung über das Bevölkerungsgesetz“ gelesen. Malthus meinte, dass der Bevölkerungszuwachs exponenziell stattfinde, die Nahrungsmittelproduktion aber viel langsamer steige. Deshalb soll es zu einem „Kampf ums Dasein“ kommen. In Darwins „Die Entstehung der Arten“ ist „the struggle of existence“ ein zentraler Begriff, der aber vielfach falsch verstanden wurde. Die deutsche Übersetzung von „struggle“ mit „Kampf“ ist besonders unglücklich; „struggle“ bedeutet weniger martialisch einfach „Anstrengung“. Darwin dachte auch nicht an blutige Löwenkämpfe und derlei Dinge. Als Beispiel nennt er etwa eine Pflanze, die „am Rande der Wüste mit der Dürre ums Dasein kämpfe“. arwin stellte eine Theorie zur Entstehung von Atollen auf, schrieb über den Ursprung von Emotionen bei Mensch und Tier, verfasste ein großes Werk über Rankenfußkrebse etc. Weithin bekannt ist er natürlich als Vater des Evolutionsgedankens. Für seine Abstammungstheorie die richtigen Worte zu finden, war dabei eine eigene Kunst. Einige Beispiele: Ich denke Darwin war von seiner fünfjährigen Weltreise auf der Beagle zurückgekehrt, da notiert er 1837 in sein Notizbuch B: „I think“ und zeichnet darunter einen Baum mit vielen Verästelungen. Diese berühmte Skizze zeigt, was Darwin bereits mit 28 Jahren dachte: Verschiedene Arten haben gemeinsame Vorfahren. Ja, letztlich haben alle Arten einen einzigen Ursprung. Ob das Bild vom Stammbaum korrekt ist, darüber grübelte er lange – einmal schreibt er: „Der Baum des Lebens sollte vielleicht die Koralle des Lebens genannt werden.“ Natürliche Selektion 1844 hat Darwin ein mehr als 200 Seiten dickes Manuskript mit dem Titel „Natural Selection“ fertiggestellt. Den Begriff der natürlichen Selektion entwickelt er in Anlehnung zur künstlichen Selektion. Künstliche Selektion findet durch den Menschen statt: Er sucht Tiere aus, kreuzt sie und hofft so Nachkommen mit ganz bestimmten Eigenschaften zu erhalten (Darwin selbst war Taubenzüchter). Bei der natürlichen Selektion züchtet die Natur (dahinter steckt kein Gott): Nur jene, die den „Kampf ums Dasein“ bestehen, überleben. Das Manuskript wird nicht veröffentlicht. Vielleicht weil just in jenem Jahr ein Buch mit evolutionären (aber sehr oberflächlich argumentierten) Gedanken erscheint und von den Kritikern zerrissen wird. Das Manuskript ist Darwin aber immerhin so wichtig, dass er es im Falle seines Todes veröffentlicht haben will. Entstehung der Arten Erst 1859 – Darwin ist bereits 50 – erscheint „The Origin of Species“. Das Buch wurde in nur 15 Monaten geschrieben. Der Grund für die Eile: Alfred Wallace hatte einen Essay mit seinen Überlegungen zum Artenwandel an Darwin geschickt. Darwin war geschockt: Das waren doch exakt seine Ideen! Deszendenz mit Modifikationen Mit diesem Ausdruck bezeichnet Darwin in „The Origin of Species“ die Wandelbarkeit der Arten im Laufe der Zeit. Das Wort Evolution kommt übrigens in der Erstausgabe kein einziges Mal vor. Deshalb sollte man auch nicht von Darwins Evolutionstheorie reden; seine Zeitgenossen sprachen von der Deszendenztheorie. „ Das Überleben des Tüchtigsten Nach der Lektüre von Darwins Artenbuch erfand Herbert Spencer den Begriff „survival of the fittest“. Das Wort Evolution kommt übrigens in der Erstausgabe von ‚Die Entstehung der Arten‘ kein einziges Mal vor. “ Darwin hat ihn in späteren Ausgaben der „Entstehung der Arten“ aufgenommen. Auch dieser Ausdruck ist missverständlich: „the fittest“ sind nicht „die Tüchtigsten“, schon gar nicht „die Stärksten“. Fitness ist heute ein biologischer Fach-Begriff, mit dem lediglich die Rate des Fortpflanzungserfolgs bezeichnet wird. Licht wird auf den Ursprung der Menschheit & ihre Geschichte fallen So heißt es kryptisch gegen Ende der „Entstehung der Arten“. Darwin schreibt nichts darüber, was seine Theorie für das Selbstverständnis des Menschen bedeutet. Seine Zeitgenossen ziehen ihre eigenen Schlüsse: Der Mensch stammt vom Affen ab! Erst zwölf Jahre später publiziert Darwin „Die Abstammung des Menschen“. Darin stellt Darwin die Hypothese auf, dass eine ausgestorbene Affenart in Afrika der Vorfahr des Menschen war. Der Baum des Lebens . Das Bild eines gemeinsamen Ursprungs allen Lebens entwirft Darwin bereits 1837 in seinem Notizbuch (Bild o.). Später werden seine Theorien auf die Aussage reduziert, dass der Mensch ein Affe sei (Bild u.). Wenn ich an das menschliche Auge denke, bekomme ich Fieber Das gestand Darwin in einem Brief dem US-Botaniker Asa Gray. Seine Theorie wollte ja ganz auf göttliche Eingriffe verzichten. Wie genau sich so etwas Komplexes wie ein Auge entwickelt haben könnte, das überstieg die Vorstellungskraft von Darwin bei Weitem. Das Auge wurde lange Zeit von den Kreationisten als Paradebeispiel für göttliches Design angeführt. Richard Dawkins hat jedoch in seinem großartigen Buch „Gipfel des Unwahrscheinlichen“ einen möglichen Entwicklungsgang für das Auge nachgezeichnet. 24 | Darwin-Jahr 2009 | D Gott oder Darwin? Beide! Foto: General / TopFoto / picturedesk.com 6 | 6. Februar 2009 ie Alternative ist bekannt: Glaubst du an die Bibel oder an Darwin? Wer auf die Bibel setzt, gilt bei Darwin-„Gläubigen“ als wissenschaftsfeindlich und hinterwäldlerisch. Ein Blick in die Geschichte zeigt jedoch, dass es sich bei Darwinismus und christlichem Schöpfungsverständnis um Geschwister handelt, die sich ähnlicher sind, als man glaubt. Ein Naturwissenschafter, der die Entstehung des Lebens untersucht, darf nicht mit Gott rechnen — andernfalls wäre er kein Wissenschafter. Schließlich könnte eine spätere Erkenntnis doch zeigen, dass ein natürlicher Vorgang ein bisher unverständliches Phänomen erklären kann. Ein Blick in die Bibel bereichert: Bereits in den Psalmen steht (Ps 14,1): „Die Toren sagen in ihrem Herzen: Es gibt keinen Gott.“ Ein Wissen um Gott war damals nicht zwingend aus der Schöpfung ableitbar. Dabei sollten wir es auch heute belassen. gilt fundamentalistischen Christen wie fundamentalistischen Darwinisten als Gegenstück zur | Die Evolutionstheorie | Schöpfung. Dabei war die biblische Schöpfungsgeschichte ursprünglich selbst ein revolutionärer Bruch. | Von Hans Förster | Schöpfung Anfang des 16. Jahrhunderts entstand Michelangelos „Erschaffung Adams durch Gott“ in der Sixtinischen Kapelle in Rom. Ostkirchliche Traditionen weigern sich bis heute, Gott in Bildern darzustellen, da er menschliches Erkennen übersteigt. Entmythologisierung Die Tragik liegt für den Historiker in einem anderen Aspekt: Man übersieht von christlicher Seite die ursprüngliche Funktion des ersten biblischen Schöpfungsberichts. Verzweifelt in den Text verkrallt, sucht man Gottes Finger in der Entwicklung des Lebens, blind dafür, dass es sich bei diesem Text ursprünglich um eine höchst aufklärerische und entmythologisierende Erzählung gehandelt hat. Dass nicht nur ein, sondern zwei Schöpfungsberichte in der Bibel zu finden sind, ist an dieser Stelle zweitrangig. Viel wichtiger ist, dass dieser Text vor rund 2500 Jahren entstanden ist. Dass dieser Text dem damaligen Wissen um die Natur entspricht, ist „ eine derartig banale Aussage, dass man sich fast schon geniert, es überhaupt zu erwähnen. Trotzdem wird heute zuweilen dieser Text völlig aus seinem historischen Kontext gelöst und mit Kategorien der Moderne gedeutet. Nach dem Schöpfungsbericht vollzieht sich die Erschaffung der Welt in sieben Tagen, das Verhältnis von sechs Arbeits- und einem siebten Ruhetag wird als ein Anspruch, der für alle Menschen gilt, durch das Vorbild des Handelns Gottes sakral legitimiert. Das war in der Antike revolutionär! Ein weiterer, wichtiger, wenn nicht der entscheidende Aspekt ist jedoch die Betonung der Geschaffenheit des ganzen Universums. Wissen die Gegner des Darwinis- An einem anthropomorphen Gottesbegriff festzuhalten, um die Schöpfung gegen die Wissenschaft zu ‚verteidigen‘, ist kontraproduktiv. “ mus überhaupt, was ein solcher Text in der damaligen Welt bedeutete, in der es nur so von Naturgottheiten wimmelte? Das war eine revolutionäre Entmythologisierung der antiken Welt! Da blieb kein Stein auf dem anderen! Verglichen damit ist die durch den Darwinismus hervorgerufene Revolution unseres Welt- bildes eine müde Geschichte: Der Sturm, der ein Boot auf dem Meer in seiner Gewalt hat, das ist kein Gott, das ist nur eine Naturgewalt. Der Nil, der jeden Sommer auf geheimnisvolle Weise zur trockensten Zeit anschwillt und Ägypten Nahrung und Reichtum schenkt, ist kein Gott, sondern geschaffene, unbelebte Natur — und dabei waren Priester in Ägypten nur damit beschäftigt, durch ihren Dienst den göttlichen Segen, der durchs jährliche Hochwasser auf Ägypten ruhte, herabzurufen. Als dann im Jahr 391 n. Chr. ein Kultbild des Sarapis vernichtet wurde, weil man von christlicher Seite diesen Zauber ablehnte, war Ägypten geteilt. Viele befürchteten, dass das Hochwasser des Nils ausbleiben würde. Nun, es kam wie jedes Jahr. Allerdings kam in diesem Jahr noch mehr Wasser als gewöhnlich. Pech für die dadurch arbeitslos gewordenen Priester. Der Laientheologe Prudentius spottet zu Beginn des 5. Jahrhunderts: „In den Wundern der Erde und des Meeres suchen sie Götter.“ Das ist eine radikale Entmythologisierung der Welt! Und wahrscheinlich würde sich dieser Mann heute darüber wundern, dass man in der Ursuppe stochert und dort einen Schöpfergott zu finden hofft. Hier fischt man im Trüben. Damals redete man von Gott als dem, der jedes menschliche Erkennen über- steigt — und bis heute weigern sich die ostkirchlichen Traditionen aus diesem Grund, Gott darzustellen. Das Anliegen der biblischen Schöpfungsgeschichte war die radikale Entmythologisierung dieser Welt. Mit dem Ende des religiösen Pluralismus in der Antike und dem Sieg des Christentums verschwand dieser revolutionäre Aspekt des Schöpfungsberichtes völlig aus dem Blickfeld: In einer Welt, in der es keine Götter mehr gab, musste diese Funktion des Textes in Vergessenheit geraten. Und so wurde der Text neu gedeutet und gelangte in Widerspruch zur Wissenschaft. Ambivalentes Verhältnis Und so stehen heute Kirchenlicht und Leuchte der Wissenschaft, so will es scheinen, einander gegenüber: Der Darwinist Richard Dawkins schart Menschen um sich, die sich aufgrund dieser Entwicklungslehre des Lebens zum Materialismus bekennen, und bezeichnet sie als „bright“, also als „hell“ oder „blitzgescheit“. Gerade weil es sich bei Dawkins um einen Wissenschafter handelt, schockiert um so mehr, dass sich in seinem Werk „God Delusion“ Formulierungen finden, die eigentlich nur bei einem religiösen Fanatiker zu erwarten sind. Das jüdisch-christliche Gottesbild unter Bezugnahme vor allem auf den ersten Teil der Bibel polemisch zu verzerren und gar den Gott der Bibel einen „psychotischen Verbrecher“ zu nennen („psychotic delinquent“), darf man getrost als geistige Brandstiftung bezeichnen. Jede Form von Religion ist für Dawkins der Nährboden, auf dem Extremismus gedeiht. Auch hier die Ähnlichkeit: Der Wissenschafter wird zum fanatischen Prediger! Als Historiker sieht man solche Ansichten als Gefahr für eine offene Gesellschaft. Die Schöpfung ist aus biblischer und theologischer Sicht so weit von Gott losgelöst und selbständig, dass eine eindeutige und unwiderlegbare Gotteserkenntnis aus der Schöpfung unmöglich ist. Der Christ bekennt im Glaubensbekenntnis seinen Glauben (!) an Gott, den Schöpfer der Welt. An einem anthropomorphen Gottesbegriff festzuhalten, um die Schöpfung gegen die Wissenschaft zu „verteidigen“, ist kontraproduktiv. Die Kirchenväter des 4. Jahrhunderts dachten von Gott abstrakter. Von ihnen könnte man lernen. Auch ist es hilfreich, die Bibel in ihrem historischen Kontext zu lesen. Dies würde den Dialog mit der Wissenschaft positiv befruchten. Nur dies berechtigt die Theologie, einen naturwissenschaftlich begründeten Materialismus als Grenzüberschreitung zu bezeichnen. Denn eine naturwissenschaftliche Betrachtung der Natur muss die Frage nach Gott aus methodischen Gründen ausschließen. Daher liegen mögliche Antworten außerhalb ihrer Methode. | Der Autor ist Kirchenhistoriker u. forscht, vom Wissenschaftsfonds gefördert, in der Papyrussammlung der Österr. Nationalbibliothek | BÜCHER - TEIL II Darwinisten und Andersgläubige W eit über die engen Fachgrenzen hinaus hat Darwins Evolutionstheorie Widerspruch erzeugt. Wie das? Was kann diese Theorie denn genau erklären? Warum laufen die Argumente der lautesten Kritiker (der Kreationisten) eigentlich fehl? Schließlich: Inwiefern lässt sich heute noch an einem Schöpfungsglauben festhalten, wenn überhaupt? Antworten darauf gibt der Band „Evolutionstheorie – Schöpfungsglaube“, herausgegeben von Rudolf Langthaler (Königshausen & Neumann Verlag 2008). Dass hier ganz unterschiedliche Experten – Biologen, Theologen, Philosophen und ein Wirtschaftswissenschafter – zu Wort kommen, spiegelt auch die Breite der Sprengkraft von Darwins Ideen wider. Tiefergehend haben sich auch Christian Kummer in „Der Fall Darwin“ und Philip Kitcher in „Mit Darwin leben“ mit dem Verhältnis von Evolutionstheorie und Schöpfung befasst. Die Motivation ist dabei sehr unterschiedlich: Kitcher, US-Wissenschaftsphilosoph mit Schwerpunkt Biologie, wurmt es, dass sich der Kreationismus im angloamerikanischen Raum so hartnäckig hält. Tatsächlich findet er einen wirksamen Hebel gegen die pseudowissenschaftlichen Angriffe: Eine historische Lektüre. Bereits Darwin hatte gegen ähnliche Argumente zu kämpfen. Er siegte, weil er – schon vor 150 Jahren – die schlüssigste Erklärung für viele Naturphänomene zu bieten hatte. Das heißt nicht, dass er alles erklären konnte – im Gegenteil: Darwin | Von Thomas Mündle | selbst wies auf diese und jene Ungereimtheit hin. Kitcher empfiehlt dieselbe Strategie im Umgang mit Kreationisten: Wer so viele Belege auf seiner Seite habe, müsse nicht versuchen, jede Lücke zu schließen. Die Beweislast sei umzudrehen, was dann zeigen würde: Der Kreationismus bietet gar keine wirkliche alternative Erklärung. Christian Kummer teilt diese Kritik am Kreationismus. Damit verschärft sich aber für ihn als Theologen (er ist auch Biologe) die Frage, wie sich denn die Natur als Gottes Schöpfung heute noch denken lässt. Kitcher hat hier eine klare Antwort: Darwin hat mit der Theorie einer ziellosen Evolution die Idee, dass es in der Welt sinnvoll zugehen könnte, endgültig zerstört. Kummer hakt hier nach: Wenn es ziellos in der Natur zugeht, warum entschlüpfen den Biologen in ihren Reden immer wieder „um zu“- und „damit“-Erklärungen? Die Frage nach dem Wozu des Ganzen ist, so scheint es, nicht tot zu kriegen. Für Kummer bleibt eine kleine Hintertür für die heutige Natur-Theologie. Der Fall Darwin Von Christian Kummer. Pattloch Verlag, München 2009, 303 S., geb., 20,60 Mit Darwin leben Von Philip Kitcher. Suhrkamp Verlag, Frankfurt 2009, 224 S., geb., 25,50