DIE WELT VERÄNDERTE

Werbung
Darwin-Jahr 2009
21
„
Darwins Theorie hat eine neue Sicht der
Natur und des Lebens erzwungen.
Der Schöpfungsbericht war als Modell
für die Entstehung der Welt nicht mehr
länger haltbar.
❙ Dossier ❙
Vor 200 Jahren wurde Darwin geboren, vor 150 Jahren
erschien sein Werk „Der Ursprung der Arten“. Seine
Gedanken haben immer noch große Sprengkraft und
vielfach wurde der „Evoluzzer“ auch missverstanden.
| Redaktion Thomas Mündle |
“
❙ „Darwins Ideen sind korrekt“
S. 22
Für Biologie-Professor Gerd Müller bedarf die
Evolutionstheorie einer Ergänzung: Evo-Devo.
❙ Darwins kühne Gedanken
S. 23
Foto: Istocckphoto (2)
Neue Theorien brauchen neue Begriffe.
Eine Sammlung denkwürdiger Darwin-Zitate.
❙ Darwin oder Gott? Beide!
S. 24
Darwin hat das Weltbild revolutioniert? Richtig, doch
auch der Schöpfungsbericht war eine Revolution.
A
Charles Darwin
m 12. Februar 2009 jährt sich
der Geburtstag von Charles
Darwin zum 200. Mal. Darwin,
der die Grundtatsache der Evolution erkannte, war einer der
großen Aufklärer am Beginn der Moderne.
Seine Abstammungslehre formulierte, was
bereits einige seiner Zeitgenossen geäußert
hatten: dass die menschliche Spezies mit
allen anderen Lebewesen dieser Erde durch
einen gemeinsamen Stammbaum verbunden ist, der bis zu den Anfängen des Lebens
vor etwa 3,5 Milliarden Jahren zurückreicht.
Darwins Name steht für die Ablösung des
wissenschaftlich unbrauchbaren Weltentstehungsmodells der Bibel durch eine rational begründete Theorie.
Weitere Theorien mit Folgen
Mindestens ebenso weitreichend wie Darwins Erkenntnis des Evolutionsprinzips waren die Folgen, die seine weiteren Theorien
hatten. „Wie jedes andere Tier ist auch der
Mensch ohne Zweifel auf seinen gegenwärtigen hohen Stand durch einen Kampf um
die Existenz gelangt, und wenn er noch höher fortschreiten soll, muss er einem heftigen Kampf ausgesetzt bleiben. Es muss
für alle Menschen offene Konkurrenz bestehen“, so Charles Darwins in seinem im Jahre
1871 erschienenen zweiten Hauptwerk „Die
Abstammung des Menschen“. An gleicher
Stelle lesen wir: „Bei den Wilden werden die
an Geist und Körper Schwachen bald beseitigt. [...] Auf der anderen Seite tun wir zivilisierten Menschen alles nur Mögliche, um
den Prozess der Beseitigung aufzuhalten.
Wir bauen Zufluchtsstätten für die Schwachsinnigen, für die Krüppel und die Kranken;
wir erlassen Armengesetze und unsere
Ärzte strengen sich an, das Leben eines jeden bis zum letzten Moment zu erhalten. Es
ist Grund vorhanden anzunehmen, dass die
Impfung Tausende erhalten hat, welche in
Folge ihrer schwachen Konstitution früher
den Pocken erlegen wären. [...] Niemand [...]
wird daran zweifeln, dass dies für die Rasse
des Menschen in höchstem Maße schädlich
sein muss.“
Inspiriert durch Darwin, verkündeten zwischen 1871 und 1933 deutschsprachige Mediziner, Biologen, Philosophen und Publizisten in einer Serie von Bestsellerbüchern den
Abschied von der jüdisch-christlichen bzw.
humanistischen Ethik. Darwin, der 1882
starb, konnte auf die Rezeption seines Opus
keinen Einfluss mehr nehmen. Doch unter
Berufung auf ihn wurde von vielgelesenen
Autoren wie Ernst Haeckel, Ludwig Büchner, Alfred Ploetz, Wilhelm Schallmeyer,
Alexander Tille, Friedrich von Bernardi, August Forel, Eugen Fischer, Fritz Lenz oder
Hans Friedrich Karl Günther (auch „RasseGünther“ genannt) ein neues Wertesystem
ausgerufen. Bereits 1905 (!) wurde die „Gesellschaft für Rassenhygiene“ gegründet. In
einem mit dem Strafrechtler Karl Binding
im Jahre 1920 publizierten, viel beachteten
Buch über „Die Freigabe der Vernichtung
lebensunwerten Lebens – Ihr Maß und ihre
Form“ bedauerte der Psychiatrie-Ordinarius
Alfred Hoche, dass das seinerzeit (noch) geltende Recht die Tötung von Menschen, die
aufgrund unheilbarer und schwerer geistiger Behinderungen „vollständig wertlos“
DIE WELT VERÄNDERTE
dieser Erde sind durch einen gemeinsamen Stammbaum verbunden. Charles
| Alle Lebewesen
|
Darwin erkannte die Grundtatsache der Evolution. Darf man ihn auch kritisieren?
| Von Joachim Bauer |
seien, verbiete. Es waren akademische Eliten, die den Boden für die einmaligen Verbrechen bereiteten, die dann – nach 1933 –
folgen sollten.
Die Macht (scheinbar) biologisch begründeter Menschenbilder ist auch heute spürbar. Im Jahre 1976 schrieb der britische Soziobiologe Richard Dawkins seinen Bestseller
„Das egoistische Gen“. Lebewesen seien von
Genen gebaute „Maschinen“, deren natürliche Bestimmung es sei, die in ihnen befindlichen Gene maximal zu verbreiten. „Ein Affe“, so Dawkins, „ist eine Maschine, die für
den Fortbestand von Genen auf Bäumen verantwortlich ist, ein Fisch ist eine Maschine,
die Gene im Wasser fortbestehen lässt.“ Gene machen, so Dawkins, Menschen zu egoistischen Akteuren: „Gene in den Körpern von
Kindern werden aufgrund ihrer Fähigkeit selektiert, Elternkörper zu überlisten; Gene in
Elternkörpern werden umgekehrt auf Grund
ihrer Fähigkeit selektiert, die Jungen zu überlisten. Ich sage, dass die natürliche Auslese
tendenziell Kinder begünstigen wird, die so
handeln, und dass wir daher, wenn wir frei
lebende Populationen beobachten, im engsten Familienkreis Betrug und Eigennutz erwarten müssen.“ Welch ein Zufall, dass das
hier aufscheinende Menschenbild wunderbar zur herrschenden Weltwirtschaftsordnung passt, die sich damit als ein zur Natur
des Menschen angeblich ideal passendes
System definieren lässt.
Veränderungen, die zu neuen Arten führten,
zeigte, dass neben zufälligen auch eine Reihe von nichtzufälligen Faktoren im Spiel ist.
Das Erbgut von Organismen enthält weit
mehr als nur Gene (beim Menschen zum Beispiel bilden die ca. 24.000 Gene gerade einmal 1,2% des Erbgutes). Das Gros des Erbmaterials besteht aus Elementen, die es dem
Gesamtorganismus (bzw. seinen Zellen) erlauben, das eigene Erbgut in umfangreicher
Weise zu steuern. Im Gegensatz zur bisherigen Auffassung, der zufolge die Zellen unter der Regie der Gene stehen, zeigte sich in
den letzten Jahren, dass die Situation tatsäch-
Joachim Bauer ist
Neurobiologe und
Mediziner am Uniklinikum Freiburg.
Er war jahrelang in
der Genforschung
tätig. Sein neues
Buch „Das kooperative Gen“ sorgte
für Zündstoff.
Inspiriert durch Darwin, verkündeten Biologen,
Mediziner u.a. den Abschied von der jüdisch-christlichen Ethik. Darwin konnte auf die Rezeption
seines Opus keinen Einfluss mehr nehmen.
lich umgekehrt ist: Zellen eines Organismus,
die ihrerseits mit der Umwelt in Verbindung
stehen, haben vielfältige Möglichkeiten, auf
das Erbgut einzuwirken. Schwere, anhaltende Veränderungen der äußeren Lebensbedingungen können sogar dazu führen, dass
Zellen ihr eigenes Erbgut grundlegend umgestalten und so den Weg in Richtung neuer Arten bahnen. Nichts spricht für die Annahme eines evolutionären „Plans“ oder
„Designs“. Doch im Gegensatz zum darwinischen Dogma scheinen lebende Systeme keineswegs nur Objekte eines rein
zufälligen Veränderungsprozesses,
sondern in der Lage zu sein, ihr
Erbgut nach eigenen, in ihnen
selbst liegenden Regeln zu verändern. Ohne dieses aktive Entwicklungspotenzial wäre das
Leben auf unserem Globus
womöglich den zahlreichen
ökologischen Katastrophen,
die sich während der vergangenen 3,5 Milliarden Jahren
nachweislich ereignet
haben, zum Opfer
gefallen.
Leben auf Basis von reinem Zufall?
Darwin sah die Entwicklung neuer Arten aus jeweils vorher existierenden als
das Ergebnis eines kontinuierlichen, rein
zufallsbedingten Veränderungsprozesses.
„In der Variabilität organischer Wesen …
scheint uns nicht mehr Planung zu stecken
als in der Richtung, aus der der Wind bläst“,
schrieb er 1876. Was zur Entstehung neuer Arten führe, sei die Summierung fortwährend auftretender, zufälliger Veränderungen des biologischen Substrates. Unter
entstandenen Variationen würden sich die
jeweils lebenstüchtigsten durchsetzen, weniger lebenstüchtige würden durch die natürliche Selektion beseitigt. Darwin kannte
keine Gene. Nach deren Entdeckung wurde
das darwinische Dogma angepasst. Dass es
rein zufallsbedingte Veränderungen der Gene seien, die sich aufaddierten und so neue
Arten entstehen ließen, blieb ein bis heute
gültiges darwinisches Dogma der Biologie.
Nachdem bei zahlreichen Lebewesen das gesamte Erbgut („Genom“) entschlüsselt wurde, konnte man die Genome von einfachen
und verschiedenen höheren Lebewesen (einschließlich dem des Menschen) vergleichen
und der Evolution dabei sozusagen in die
Karten schauen. Eine Rekonstruktion der
Der Autor
„
Foto: BRUNEL University
WIE
“
22
| Darwin-Jahr 2009 |
6 | 6. Februar 2009
Die kühnen Gedanken
des Charles D.
Evo-Devo
„
Die heutige Fassung der Evolutionstheorie ist unvollständig. Diese
Ansicht vertritt
Prof. Gerd Müller
und fordert eine
Ergänzung: EvoDevo. Neuere Erkenntnisse aus
Ökologie, Entwicklungsbiologie und
Genomik sollen dabei zu einem präziseren Verständnis von Evolution
führen.
Darwin hat vieles richtig erkannt.
Aber über Gene etwa wusste er
nichts. Die letzten Bausteine, die
das Rätsel der Evolution lösen,
fügen sich erst heute zusammen.
“
Darwins
Grundideen sind
KORREKT
„
So es überhaupt andere Welten gibt, auf denen
sich Leben über längere Zeiträume entwickeln
kann, sollte es auch zu intelligenten Lebewesen
kommen. Das ist fast unausweichlich.
Weltreise
Evolutionstheorie bietet immer noch genügend Raum für Disput. Dabei interessieren sich Biologen kaum für die uninformierten Argumente der Kreationisten.
| Die
Darwin hatte im Grunde recht, aber er wusste zum Beispiel nichts über Molekularbiologie. Deshalb versuchen Biologen heute, seine Theorie zu vervollständigen. |
V
or 150 Jahren erschien Charles
Darwins „Die Entstehung der
Arten“. Bis heute wurde die
Evolutionstheorie auf vielfache
Weise bestätigt. Sie wurde aber
auch ergänzt und bedarf immer noch der Erweiterung, so Gerd Müller, Professor für Theoretische Biologe von der Universität Wien.
Herr Professor Müller, manche
meinen, Evolution sei bloß eine Theorie …
Gerd Müller: Evolution ist nicht bloß eine
Theorie. Evolution ist die Tatsache, die wir
untersuchen. Und über ihre Mechanismen
gibt es eine Theorie – die Evolutionstheorie.
Die Evolutionstheorie handelt nicht davon,
ob Evolution stattgefunden hat, sondern wie.
Und darüber gibt es immer noch viel
Diskussion unter den Biologen.
DIE FURCHE: Dann hat Darwin wohl
nicht alles erklärt. Was fehlt?
Müller: Die Grundideen von Darwin sind korrekt: Mit Variation und Selektion lässt sich die Veränderung von Arten
erklären. Aber erst mit der Populationsgenetik – die statistische Verteilung von Merkmalen untersucht – und dem Wissen, das die
DIE FURCHE:
| Das Gespräch führte Thomas Mündle • Foto: Stanislav Jenis|
„
damals aufblühende Paläontologie hervorbrachte, gelang eine exakte Modellierung
von Evolutionsprozessen. Diese wichtige
Erweiterung von Darwins Theorie nennt
man die Moderne Synthese. Sie stammt aus
den 1930er Jahren und bildet bis heute den
Sie ist nicht bloß eine Theorie. Evolution ist die Tatsache, die wir untersuchen. Über die Mechanismen
gibt es eine Theorie – die Evolutionstheorie.
“
formalen Kern der Evolutionstheorie. Aber
auch diese Theorie ist nicht komplett: sie
befasst sich mit statistischen Gen-Verteilungen. Das Entstehen von komplexen Strukturen wie Händen, Augen
etc. ist aber nicht ihr Gegenstand. Solche Fragen sollen nun in der sogenannten
erweiterten Synthese beantwortet werden.
Dabei gibt es eine Vielzahl an Zugängen. Ein
wichtiger ist unserer: Evo-Devo – das steht
für Evolutionary Development. Letztlich
geht es dabei darum zu verstehen, wie aus
einzelnen Zellen komplizierte Organismen
entstehen.
DIE FURCHE: Das klingt wie: „Die Entstehung
der Arten“. Das war doch die Frage, die Darwin mit seinem berühmten Buch bereits beantwortet haben wollte.
Müller: Darwin hat sich vor allem mit der
Variation der Arten befasst. Die Artbildung
war dann eines der Hauptprobleme der Modernen Synthese. Man kann nun verstehen,
wie aus einer Population zwei verschiedene
Arten werden können – etwa wenn sie wie
die Darwinfinken auf einmal geografisch getrennt auf zwei Inseln leben und sich den
dortigen Bedingungen anpassen. Aber damit ist noch nicht alles erklärt. Heute interessieren wir uns für die konkreten mechanistischen Prozesse: Wie arbeiten die Gene
in den Zellen und was für Strukturen werden dadurch erzeugt?
DIE FURCHE: Als Laie denkt man da vielleicht:
Der Plan für das Tier liegt in den Genen. Bei
kleinen Veränderungen der Gene – durch
Mutationen – kommt es zu Veränderungen
des Tiers. Und so entwickeln sich neue Arten. Ist das falsch?
Müller: Es ist zu einfach. Die Gene werden
oft als eine Art verkleinerte Abschrift des
Körperbauplans betrachtet. So ist es aber
nicht. Ein Beispiel: Wenn sie heute in einer Mücke, die in Bernstein eingeschlossen
ist, die DNA eines Dinosauriers finden und
diese exakt aufschlüsseln könnten, dann
wissen sie immer noch nicht, wie der Dinosaurier ausgesehen hat – weil das nicht in
der DNA steht. Denn: Die Gene enthalten
zwar eine Art Anleitung für die Herstellung
der Proteine, sie reagieren aber immer auch
lokal auf das, was schon in der Zelle vorhanden ist. Das Ganze lässt sich am besten als
Kreislauf verstehen: Die Gene beeinflussen die zelluläre Umwelt; die Umwelt beeinflusst die Gene.
DIE FURCHE: Die Umwelt beeinflusst die Gene.
Aber doch nicht im Sinne von Lamarck?
Müller: Nein. Lamarck dachte, dass individuell erworbene Eigenschaften weitervererbt werden. Etwa die langen Giraffenhälse,
wenn sich die Tiere nach den Baumwipfeln
strecken. Hier geht es nicht um Vererbung,
sondern um Variation: Raupen etwa, die
sich von unterschiedlichen Blättern ernähren, können ganz verschieden aussehen.
Oder die gleichen Pflanzen etwa wachsen
im Tal anders als am Berg. Das Phänomen
heißt phänotypische Plastizität. Populati-
onen können auf einen Parameter wie Temperatur mit einer bestimmten Breite reagieren. Wenn es nun zum Beispiel heißer wird,
kann sich diese Reaktionsnorm verschieben. Das ist Selektion und so kann etwas
Neues entstehen.
DIE FURCHE: Und ab wann genau spricht man
von einer neuen Art?
Müller: (seufzt) Der Art-Begriff ist einer der
schwierigsten Begriffe überhaupt. Üblicherweise sagt man: Zwei Arten sind getrennt,
wenn sie sich nicht mehr gemeinsam fortpflanzen können. Aber auch das ist ein gradueller Vorgang, da jedes Individuum ein
klein wenig anders ist. Doch lassen Sie mich
noch ein paar Dinge zu Evo-Devo sagen. Das
Wichtigste ist, dass wir ein dialektisches
Frageprinzip anwenden: Erstens interessiert, wie Entwicklungssysteme evoluieren,
welche Gene wann an- und abgeschaltet werden, damit zum Beispiel ein Auge und nicht
ein Finger wächst. Zweitens wollen wir aber
wissen, welchen Einfluss die Entwicklungssysteme auf den Evolutionsablauf haben
– wie komplexe Baupläne und neue Merkmale entstehen oder in welche Richtung die
Variation gedrängt werden kann.
“
Fünf Jahre ist Darwin mit der Beagle
um die Welt gereist. Dabei hat er
so viel Material zusammengetragen,
dass er ein ganzes
Forscherleben davon zehren konnte.
Die Darwinfinken
auf Galapagos werden etwa als Schulbuch-Beispiel bis
heute verwendet.
Apropos „Richtung“. Das Auge
soll sich ja rund 30-mal und völlig unabhängig voneinander entwickelt haben. Ist das
nicht überraschend?
Müller: Nein, warum? Zellen, die eine Orientierung im Raum ermöglichen – und sei
es nur die Fähigkeit, vage Schatten zu unterscheiden – bieten einen evolutionären
Vorteil. Selbst auf fremden Planeten, wenn
es dort Leben gäbe, würden wir ein solches
Sinnesorgan erwarten. Wenn dort das Licht
von anderer Wellenlänge ist, wäre aber auch
der Aufbau des Auge entsprechend anders.
Hingegen ist anzunehmen, dass, wenn es
diese augenartigen Strukturen gibt, sie vorne am Körper entstehen, falls der Organismus denn eine gerichtete Bewegung hätte.
Ähnliche Umweltanforderungen führen
nun mal zu gleichartigen Strukturen.
DIE FURCHE: Heißt das, es gibt auch eine Notwendigkeit hin zu intelligentem Leben?
Müller: So es überhaupt andere Welten gibt,
auf denen sich Leben über längere Zeiträume entwickeln kann, sollte es auch zu intelligenten Lebewesen kommen. Das ist fast
unausweichlich, möchte ich sagen.
DIE FURCHE: Der bekannte Biologe Jacques
Monod war da anderer Meinung: Er sprach
vom Menschen als „Zigeuner am Rande des
Universums“. Der Mensch als rares Zufallsprodukt der Evolution.
Müller: Der Begriff des Zufalls wird oft missverstanden. Evolution ist kein beliebiger Zufall. Zufällige Ereignisse sind aber ein wichtiges Element der Evolution. Sie werden
durch die Evolution eingefangen und fixiert.
Dann ist aber nicht mehr alles möglich und
die weitere Entwicklung kann nur mehr in
eingeschränkte Richtungen gehen.
DIE FURCHE: Und wenn die Entwicklung dann
weitergeht, warum sprechen die Biologen so
ungern von Fortschritt?
Müller: Das ist ein unglücklicher Begriff,
weil er eine anthropomorphe Perspektive
beinhaltet. Der Mensch als intelligentes Wesen würde sich natürlich gerne als Endprodukt des Fortschritts sehen. Aber jede andere Population hat sich auch im Laufe der
Zeit immer wieder und besser an ihre spezifische Umwelt angepasst und so bis zum
heutigen Tag überlebt. Warum sollte der
Mensch da „fortschrittlicher“ sein als eine
Biene oder ein Bakterium?
DIE FURCHE: Letzte Frage: Woher kommt der
Begriff Darwinismus? Niemand redet ja von
Newtonismus oder Einsteinismus.
Müller: Die Biologen selbst sprechen kaum
von Darwinismus. Oft wird der Begriff verwendet, um weiterreichende Aspekte der
Evolutionstheorie zu kennzeichnen. Evolution beschränkt
sich ja nicht auf anatomische
Strukturen.
Die Biologie bemüht
sich etwa, den Verstand als Produkt
der Evolution zu
begreifen. Sie will
sogar wissen, ob
es überhaupt einen freien Willen
gibt. Allein diese
Fragen zu stellen, ist
für manche eine Provokation.
Evo-Devo - Die dritte Revolution
E
ine Flut an Neuerscheinungen ist rechtzeitig
zum Darwin-Jahr auf den Büchermarkt gespült
worden. Da im Gegensatz zu anderen wissenschaftlichen Klassikern Darwins Werke immer noch
sehr verständlich sind, kann man sich natürlich auch
auf die Originalliteratur stürzen. Im Verlag Zweitausendeins etwa ist der günstige Band „Gesammelte
Werke“ von Charles Darwin erschienen. Er enthält die
„Reise eines Naturforschers um die Welt“, „Über die
Entstehung der Arten“, „Die Abstammung des Menschen“ und „Der Ausdruck der Gemütsbewegungen“.
Schöner und zum Teil in neuen – sprich: leichter lesbaren – Übersetzungen gibt es die Originalwerke auch
einzeln. Dass Darwin mit seiner Erklärung der „Entstehung der Arten“ erst den Anfang setzte, kann man
aus anderen Büchern lernen. Sehr kurzweilig ist etwa
Neil Shubins „Der Fisch in uns“ (Fischer 2009). Oder
Richard Dawkins’ neues, feines Buch „Geschichten
vom Ursprung des Lebens“, das auf über 900 Seiten einen Riesenbogen spannt: Es führt vom Menschen und
anderen Affen, über Nagetiere, Reptilien etc. zurück
bis zu einfachsten Archaea-Bakterien.
Dann gibt es eine Reihe von Büchern, die Darwin
und seine Theorie(n) behandeln. Eine einfache, klare
Einführung bietet hier Ernst Peter Fischers „Der kleine Darwin“ (Pantheon 2009). Dichter und anspruchsvoller ist Ulrich Kutscheras „Tatsache Evolution“, der
etwa auch der Frage nachgeht, inwieweit Alfred Wallace als Mitbegründer der Evolutionstheorie gelten
darf. Wer schließlich nur ein einziges Buch lesen will,
dem sei Jürgen Neffes ungewöhnliche Biografie „Darwin“ ans Herz gelegt (Rezension in FURCHE 51/08).
Darwin. Das Abenteuer des Lebens
Von Jürgen Neffe. Bertelsmann, München
2008, 527 S., geb.,  23,60
Geschichten vom Ursprung des Lebens
Von Richard Dawkins. Ullstein, Berlin
2008, 928 S., geb.,  30,80
Tatsache Evolution. Was Darwin nicht wissen konnte
Von Ulrich Kutschera. dtv, München
2009,339 S., kart.,  15,40
B
ereits Darwin wusste, wie
eng Evolution und Entwicklung verzahnt sind. Allerdings
hat erst der Werkzeugkasten der
modernen Molekularbiologie es
möglich gemacht, dass sich diese Zusammenhänge auch im Detail nachvollziehen lassen.
Das neue Feld der evolutionären Entwicklungsbiologie –
kurz: Evo-Devo – verspricht für
die Evolutionstheorie denn auch
nichts weniger als eine „dritte
Revolution“ (die erste war Darwins Theorie; die zweite die so-
Innovative Theorien verlangen nach einem neuen Vokabular.
|Charles
Darwin begriff, indem er neue Begriffe und Bilder schuf.|
DIE FURCHE:
BÜCHER - TEIL I
Erlesenes im Darwinjahr
23
| Darwin-Jahr 2009 |
6 | 6. Februar 2009
genannte Moderne Synthese).
Diese Meinung vertritt auch
Sean B. Carroll. In seinem Buch
„Evo Devo. Das neue Bild der
Evolution“ zeigt der US-Biologe
anhand von zahlreichen Beispielen, welch tiefe Einblicke in evolutionäre Prozesse Evo-Devo geben kann.
Überraschungen inklusive:
Insekten-Flügel etwa haben
sich aus Kiemen gebildet. Das
beweisen Gen-Analysen. Und
dieses Ergebnis erhält mit fossilen „Missing Links“ – wie etwa
einer bizarr aussehenden, wasserlebenden Nymphe, die Flügel
an allen Rumpfsegmenten besitzt – eine solide Stütze.
Das Buch dürfte zurzeit die
einzige deutschsprachige Einführung in Evo-Devo sein. Toll,
dass es, obwohl in einem Fachbuchverlag erschienen, auch für
Laien verständlich ist – und dazu
noch sehr spannend.
(tm)
Evo Devo
Von Sean B. Carroll. Berlin UP,
2008, 318 S., geb.,  46,20
| Von Thomas Mündle |
D
Kampf ums Dasein
Bereits 1838 hatte Darwin Thomas Malthus populäres Buch „Eine Abhandlung über das Bevölkerungsgesetz“ gelesen. Malthus
meinte, dass der Bevölkerungszuwachs exponenziell stattfinde, die
Nahrungsmittelproduktion aber viel langsamer
steige. Deshalb soll es
zu einem „Kampf ums
Dasein“ kommen. In Darwins „Die Entstehung der
Arten“ ist „the struggle of
existence“ ein zentraler
Begriff, der aber vielfach
falsch verstanden wurde.
Die deutsche Übersetzung von „struggle“ mit
„Kampf“ ist besonders
unglücklich; „struggle“
bedeutet weniger martialisch einfach „Anstrengung“. Darwin dachte
auch nicht an blutige Löwenkämpfe und derlei
Dinge. Als Beispiel nennt
er etwa eine Pflanze, die
„am Rande der Wüste mit
der Dürre ums Dasein kämpfe“.
arwin stellte eine Theorie zur Entstehung von
Atollen auf, schrieb über
den Ursprung von Emotionen
bei Mensch und Tier, verfasste
ein großes Werk über Rankenfußkrebse etc. Weithin bekannt ist er
natürlich als Vater des
Evolutionsgedankens.
Für seine Abstammungstheorie die richtigen
Worte zu finden, war dabei eine eigene Kunst. Einige Beispiele:
Ich denke
Darwin war von seiner
fünfjährigen Weltreise
auf der Beagle zurückgekehrt, da notiert er
1837 in sein Notizbuch B:
„I think“ und zeichnet
darunter einen Baum mit
vielen Verästelungen.
Diese berühmte Skizze
zeigt, was Darwin bereits
mit 28 Jahren dachte:
Verschiedene Arten haben gemeinsame Vorfahren. Ja, letztlich haben alle Arten
einen einzigen Ursprung. Ob das
Bild vom Stammbaum korrekt ist,
darüber grübelte er lange – einmal
schreibt er: „Der Baum des Lebens
sollte vielleicht die Koralle des Lebens genannt werden.“
Natürliche Selektion
1844 hat Darwin ein mehr als 200
Seiten dickes Manuskript mit dem
Titel „Natural Selection“ fertiggestellt. Den Begriff der natürlichen
Selektion entwickelt er in Anlehnung zur künstlichen Selektion.
Künstliche Selektion findet durch
den Menschen statt: Er sucht Tiere
aus, kreuzt sie und hofft so Nachkommen mit ganz bestimmten Eigenschaften zu erhalten (Darwin
selbst war Taubenzüchter). Bei der natürlichen
Selektion züchtet die Natur (dahinter steckt kein
Gott): Nur jene, die den
„Kampf ums Dasein“ bestehen, überleben. Das
Manuskript wird nicht
veröffentlicht. Vielleicht
weil just in jenem Jahr ein
Buch mit evolutionären
(aber sehr oberflächlich
argumentierten) Gedanken erscheint und von
den Kritikern zerrissen
wird. Das Manuskript ist
Darwin aber immerhin
so wichtig, dass er es im
Falle seines Todes veröffentlicht haben will.
Entstehung der Arten
Erst 1859 – Darwin ist bereits 50 –
erscheint „The Origin of Species“.
Das Buch wurde in nur 15 Monaten geschrieben. Der Grund für die
Eile: Alfred Wallace hatte einen Essay mit seinen Überlegungen zum
Artenwandel an Darwin geschickt.
Darwin war geschockt: Das waren
doch exakt seine Ideen!
Deszendenz mit Modifikationen
Mit diesem Ausdruck bezeichnet
Darwin in „The Origin of Species“
die Wandelbarkeit der Arten im
Laufe der Zeit. Das Wort Evolution
kommt übrigens in der Erstausgabe kein einziges Mal vor. Deshalb
sollte man auch nicht von Darwins Evolutionstheorie reden; seine Zeitgenossen sprachen von der
Deszendenztheorie.
„
Das Überleben des Tüchtigsten
Nach der Lektüre von Darwins Artenbuch erfand Herbert Spencer
den Begriff „survival of the fittest“.
Das Wort Evolution kommt übrigens in
der Erstausgabe von ‚Die Entstehung der
Arten‘ kein einziges Mal vor.
“
Darwin hat ihn in späteren Ausgaben der „Entstehung der Arten“
aufgenommen. Auch dieser Ausdruck ist missverständlich: „the fittest“ sind nicht „die Tüchtigsten“,
schon gar nicht „die Stärksten“.
Fitness ist heute ein biologischer
Fach-Begriff, mit dem lediglich die
Rate des Fortpflanzungserfolgs bezeichnet wird.
Licht wird auf den Ursprung der Menschheit
& ihre Geschichte fallen
So heißt es kryptisch gegen Ende der „Entstehung der Arten“. Darwin
schreibt nichts darüber,
was seine Theorie für das
Selbstverständnis des
Menschen bedeutet. Seine Zeitgenossen ziehen
ihre eigenen Schlüsse:
Der Mensch stammt vom
Affen ab! Erst zwölf Jahre
später publiziert Darwin
„Die Abstammung des
Menschen“. Darin stellt
Darwin die Hypothese
auf, dass eine ausgestorbene Affenart in Afrika der Vorfahr
des Menschen war.
Der Baum
des Lebens . Das
Bild eines gemeinsamen Ursprungs
allen Lebens entwirft Darwin bereits 1837 in seinem Notizbuch
(Bild o.). Später
werden seine
Theorien auf die
Aussage reduziert,
dass der Mensch
ein Affe sei (Bild u.).
Wenn ich an das menschliche Auge denke, bekomme ich Fieber
Das gestand Darwin in einem Brief
dem US-Botaniker Asa Gray. Seine Theorie wollte ja ganz auf göttliche Eingriffe verzichten. Wie genau sich so etwas Komplexes wie
ein Auge entwickelt haben könnte,
das überstieg die Vorstellungskraft von Darwin bei Weitem. Das
Auge wurde lange Zeit von den
Kreationisten als Paradebeispiel
für göttliches Design angeführt.
Richard Dawkins hat jedoch in seinem großartigen Buch „Gipfel des
Unwahrscheinlichen“ einen möglichen Entwicklungsgang für das
Auge nachgezeichnet.
24
| Darwin-Jahr 2009 |
D
Gott oder Darwin? Beide!
Foto: General / TopFoto / picturedesk.com
6 | 6. Februar 2009
ie Alternative ist bekannt:
Glaubst du an die Bibel oder
an Darwin? Wer auf die
Bibel setzt, gilt bei Darwin-„Gläubigen“ als wissenschaftsfeindlich
und hinterwäldlerisch. Ein Blick in
die Geschichte zeigt jedoch, dass es
sich bei Darwinismus und christlichem Schöpfungsverständnis um
Geschwister handelt, die sich ähnlicher sind, als man glaubt.
Ein Naturwissenschafter, der
die Entstehung des Lebens untersucht, darf nicht mit Gott rechnen —
andernfalls wäre er kein Wissenschafter. Schließlich könnte eine
spätere Erkenntnis doch zeigen,
dass ein natürlicher Vorgang ein
bisher unverständliches Phänomen erklären kann. Ein Blick in
die Bibel bereichert: Bereits in den
Psalmen steht (Ps 14,1): „Die Toren
sagen in ihrem Herzen: Es gibt keinen Gott.“ Ein Wissen um Gott war
damals nicht zwingend aus der
Schöpfung ableitbar. Dabei sollten
wir es auch heute belassen.
gilt fundamentalistischen Christen wie fundamentalistischen Darwinisten als Gegenstück zur
| Die Evolutionstheorie
|
Schöpfung. Dabei war die biblische Schöpfungsgeschichte ursprünglich selbst ein revolutionärer Bruch.
| Von Hans Förster |
Schöpfung
Anfang des
16. Jahrhunderts
entstand Michelangelos „Erschaffung Adams durch
Gott“ in der Sixtinischen Kapelle in
Rom. Ostkirchliche
Traditionen weigern sich bis heute,
Gott in Bildern
darzustellen, da
er menschliches
Erkennen übersteigt.
Entmythologisierung
Die Tragik liegt für den Historiker in einem anderen Aspekt: Man
übersieht von christlicher Seite die
ursprüngliche Funktion des ersten biblischen Schöpfungsberichts.
Verzweifelt in den Text verkrallt,
sucht man Gottes Finger in der
Entwicklung des Lebens, blind dafür, dass es sich bei diesem Text ursprünglich um eine höchst aufklärerische und entmythologisierende
Erzählung gehandelt hat. Dass nicht
nur ein, sondern zwei Schöpfungsberichte in der Bibel zu finden sind,
ist an dieser Stelle zweitrangig. Viel
wichtiger ist, dass dieser Text vor
rund 2500 Jahren entstanden ist.
Dass dieser Text dem damaligen
Wissen um die Natur entspricht, ist
„
eine derartig banale Aussage, dass
man sich fast schon geniert, es überhaupt zu erwähnen. Trotzdem wird
heute zuweilen dieser Text völlig
aus seinem historischen Kontext gelöst und mit Kategorien der Moderne gedeutet.
Nach dem Schöpfungsbericht
vollzieht sich die Erschaffung der
Welt in sieben Tagen, das Verhältnis von sechs Arbeits- und einem
siebten Ruhetag wird als ein Anspruch, der für alle Menschen gilt,
durch das Vorbild des Handelns
Gottes sakral legitimiert. Das war
in der Antike revolutionär!
Ein weiterer, wichtiger, wenn
nicht der entscheidende Aspekt ist
jedoch die Betonung der Geschaffenheit des ganzen Universums.
Wissen die Gegner des Darwinis-
An einem anthropomorphen
Gottesbegriff festzuhalten, um die
Schöpfung gegen die Wissenschaft
zu ‚verteidigen‘, ist kontraproduktiv.
“
mus überhaupt, was ein solcher Text
in der damaligen Welt bedeutete, in
der es nur so von Naturgottheiten
wimmelte? Das war eine revolutionäre Entmythologisierung der antiken Welt! Da blieb kein Stein auf
dem anderen! Verglichen damit ist
die durch den Darwinismus hervorgerufene Revolution unseres Welt-
bildes eine müde Geschichte: Der
Sturm, der ein Boot auf dem Meer in
seiner Gewalt hat, das ist kein Gott,
das ist nur eine Naturgewalt. Der
Nil, der jeden Sommer auf geheimnisvolle Weise zur trockensten Zeit
anschwillt und Ägypten Nahrung
und Reichtum schenkt, ist kein Gott,
sondern geschaffene, unbelebte
Natur — und dabei waren Priester
in Ägypten nur damit beschäftigt,
durch ihren Dienst den göttlichen
Segen, der durchs jährliche Hochwasser auf Ägypten ruhte, herabzurufen. Als dann im Jahr 391 n. Chr.
ein Kultbild des Sarapis vernichtet
wurde, weil man von christlicher
Seite diesen Zauber ablehnte, war
Ägypten geteilt. Viele befürchteten,
dass das Hochwasser des Nils ausbleiben würde. Nun, es kam wie jedes Jahr. Allerdings kam in diesem
Jahr noch mehr Wasser als gewöhnlich. Pech für die dadurch arbeitslos
gewordenen Priester.
Der Laientheologe Prudentius
spottet zu Beginn des 5. Jahrhunderts: „In den Wundern der Erde
und des Meeres suchen sie Götter.“
Das ist eine radikale Entmythologisierung der Welt! Und wahrscheinlich würde sich dieser Mann heute
darüber wundern, dass man in der
Ursuppe stochert und dort einen
Schöpfergott zu finden hofft. Hier
fischt man im Trüben. Damals redete man von Gott als dem, der jedes menschliche Erkennen über-
steigt — und bis heute weigern sich
die ostkirchlichen Traditionen aus
diesem Grund, Gott darzustellen.
Das Anliegen der biblischen
Schöpfungsgeschichte war die radikale Entmythologisierung dieser Welt. Mit dem Ende des religiösen Pluralismus in der Antike
und dem Sieg des Christentums
verschwand dieser revolutionäre
Aspekt des Schöpfungsberichtes
völlig aus dem Blickfeld: In einer
Welt, in der es keine Götter mehr
gab, musste diese Funktion des
Textes in Vergessenheit geraten.
Und so wurde der Text neu gedeutet und gelangte in Widerspruch
zur Wissenschaft.
Ambivalentes Verhältnis
Und so stehen heute Kirchenlicht
und Leuchte der Wissenschaft, so
will es scheinen, einander gegenüber: Der Darwinist Richard
Dawkins schart Menschen um sich,
die sich aufgrund dieser Entwicklungslehre des Lebens zum Materialismus bekennen, und bezeichnet
sie als „bright“, also als „hell“ oder
„blitzgescheit“. Gerade weil es sich
bei Dawkins um einen Wissenschafter handelt, schockiert um
so mehr, dass sich in seinem Werk
„God Delusion“ Formulierungen
finden, die eigentlich nur bei einem
religiösen Fanatiker zu erwarten sind. Das jüdisch-christliche
Gottesbild unter Bezugnahme vor
allem auf den ersten Teil der Bibel
polemisch zu verzerren und gar
den Gott der Bibel einen „psychotischen Verbrecher“ zu nennen
(„psychotic delinquent“), darf man
getrost als geistige Brandstiftung
bezeichnen. Jede Form von Religion ist für Dawkins der Nährboden,
auf dem Extremismus gedeiht.
Auch hier die Ähnlichkeit: Der Wissenschafter wird zum fanatischen
Prediger! Als Historiker sieht man
solche Ansichten als Gefahr für
eine offene Gesellschaft.
Die Schöpfung ist aus biblischer
und theologischer Sicht so weit
von Gott losgelöst und selbständig, dass eine eindeutige und
unwiderlegbare Gotteserkenntnis
aus der Schöpfung unmöglich ist.
Der Christ bekennt im Glaubensbekenntnis seinen Glauben (!) an Gott,
den Schöpfer der Welt. An einem
anthropomorphen Gottesbegriff
festzuhalten, um die Schöpfung
gegen die Wissenschaft zu „verteidigen“, ist kontraproduktiv. Die
Kirchenväter des 4. Jahrhunderts
dachten von Gott abstrakter. Von
ihnen könnte man lernen. Auch ist
es hilfreich, die Bibel in ihrem historischen Kontext zu lesen. Dies würde den Dialog mit der Wissenschaft
positiv befruchten. Nur dies berechtigt die Theologie, einen naturwissenschaftlich begründeten Materialismus als Grenzüberschreitung
zu bezeichnen. Denn eine naturwissenschaftliche Betrachtung der
Natur muss die Frage nach Gott aus
methodischen Gründen ausschließen. Daher liegen mögliche Antworten außerhalb ihrer Methode.
| Der Autor ist Kirchenhistoriker u.
forscht, vom Wissenschaftsfonds
gefördert, in der Papyrussammlung
der Österr. Nationalbibliothek |
BÜCHER - TEIL II
Darwinisten und Andersgläubige
W
eit über die engen Fachgrenzen
hinaus hat Darwins Evolutionstheorie Widerspruch erzeugt.
Wie das? Was kann diese Theorie denn genau erklären? Warum laufen die Argumente
der lautesten Kritiker (der Kreationisten) eigentlich fehl? Schließlich: Inwiefern lässt
sich heute noch an einem Schöpfungsglauben festhalten, wenn überhaupt? Antworten
darauf gibt der Band „Evolutionstheorie –
Schöpfungsglaube“, herausgegeben von Rudolf Langthaler (Königshausen & Neumann
Verlag 2008). Dass hier ganz unterschiedliche Experten – Biologen, Theologen, Philosophen und ein Wirtschaftswissenschafter –
zu Wort kommen, spiegelt auch die Breite
der Sprengkraft von Darwins Ideen wider.
Tiefergehend haben sich auch Christian Kummer in „Der Fall Darwin“ und Philip
Kitcher in „Mit Darwin leben“ mit dem Verhältnis von Evolutionstheorie und Schöpfung befasst. Die Motivation ist dabei sehr
unterschiedlich: Kitcher, US-Wissenschaftsphilosoph mit Schwerpunkt Biologie, wurmt
es, dass sich der Kreationismus im angloamerikanischen Raum so hartnäckig hält. Tatsächlich findet er einen wirksamen Hebel gegen die pseudowissenschaftlichen Angriffe:
Eine historische Lektüre. Bereits Darwin hatte gegen ähnliche Argumente zu kämpfen. Er
siegte, weil er – schon vor 150 Jahren – die
schlüssigste Erklärung für viele Naturphänomene zu bieten hatte. Das heißt nicht, dass er
alles erklären konnte – im Gegenteil: Darwin
| Von Thomas Mündle |
selbst wies auf diese und jene Ungereimtheit
hin. Kitcher empfiehlt dieselbe Strategie im
Umgang mit Kreationisten: Wer so viele Belege auf seiner Seite habe, müsse nicht versuchen, jede Lücke zu schließen. Die Beweislast sei umzudrehen, was dann zeigen würde:
Der Kreationismus bietet gar keine wirkliche
alternative Erklärung.
Christian Kummer teilt diese Kritik am
Kreationismus. Damit verschärft sich aber
für ihn als Theologen (er ist auch Biologe)
die Frage, wie sich denn die Natur als Gottes Schöpfung heute noch denken lässt.
Kitcher hat hier eine klare Antwort: Darwin
hat mit der Theorie einer ziellosen Evolution die Idee, dass es in der Welt sinnvoll zugehen könnte, endgültig zerstört. Kummer
hakt hier nach: Wenn es ziellos in der Natur
zugeht, warum entschlüpfen den Biologen
in ihren Reden immer wieder „um zu“- und
„damit“-Erklärungen? Die Frage nach dem
Wozu des Ganzen ist, so scheint es, nicht tot
zu kriegen. Für Kummer bleibt eine kleine
Hintertür für die heutige Natur-Theologie.
Der Fall Darwin
Von Christian Kummer. Pattloch Verlag,
München 2009, 303 S., geb.,  20,60
Mit Darwin leben
Von Philip Kitcher. Suhrkamp Verlag,
Frankfurt 2009, 224 S., geb.,  25,50
Herunterladen