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Orlando Budelacci
Kants Friedensprogramm
Das politische Denken
im Kontext der praktischen Philosophie
ATHENA
Diskurs Philosophie
Band 3
Umschlagabbildung: Daniel Chodowiecki: Das Auge der Vorsehung, Radierung,
1787
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1. Auflage 2013
Copyright © 2013 by ATHENA-Verlag,
Mellinghofer Straße 126, 46047 Oberhausen
www.athena-verlag.de
Alle Rechte vorbehalten
ISBN (Print) 978-3-89896-137-0
ISBN (PDF-E-Book) 978-3-89896-727-3
»Es müssen nach und nach alle Maschinen, die als Gerüste dieneten, wegfallen, damit das Gebäude der Vernunft errichtet ist.«
Immanuel Kant, AA XV, Refl. 1415
»Die Geschichte, sagte Stephen, ist ein Albtraum, aus dem ich zu erwachen versuche.«
James Joyce, Ulysses
Vorwort
Die hier vorgelegte Dissertation über das politische Denken Immanuel
Kants entstand in den Jahren 1999-2001. Entscheidende Anstösse erhielt sie
nicht nur durch die Auseinandersetzung mit der umfassenden Sekundärliteratur zur Philosophie Kants, sondern ihre Antworten ergeben sich auch aus
Fragestellungen meiner Betreuerin Prof. Dr. Annemarie Pieper sowie auch
von Prof. Dr. Emil Angehrn und Prof. Dr. Henning Ottmann. Ihnen gilt
der Dank für die Unterstützung meiner philosophischen Studien. Dank für
Förderung schulde ich auch Prof. Dr. Kurt Seelmann; an seinem Lehrstuhl
für Strafrecht und Rechtsphilosophie habe ich im Rahmen eines DFG-Projektes während meiner Studienzeit gearbeitet. Prof. Dr. Georg Kreis und die
Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Europainstituts der Universität Basel
haben durch das anregende Arbeitsklima und die interdisziplinären Impulse
den produktiven Abschluss der Arbeit gefördert. Mein herzlicher Dank gilt
allen, die frühere Teile der Arbeit Korrektur gelesen und den Prozess des
Denkens und Schreibens begleitet haben.
Der Verfasser spricht der Freiwilligen Akademischen Gesellschaft, dem
Schweizerischen Nationalfonds, dem Reisefonds der Universität Basel sowie
der Max Geldner-Stiftung seinen Dank für die grosszügige Förderung dieses
Dissertationsprojektes aus. Gedruckt wurde diese Arbeit mit Unterstützung
des Dissertationenfonds der Universität Basel und des Max Geldner-Dissertationenfonds.
Basel, im September 2002
Orlando Budelacci
1
Einleitung – Kants Friedensprogramm
»Von Zeit zu Zeit unterbrechen merkwürdige Dämmerungen die aufgeklärte
Geschichte, das Licht zerfällt in zahllose flackernde und vieldeutige kleine
Flammen, der Boden wird einem unter den Füssen weggezogen, die Ereignisse beginnen sich im Teufelskreis um ein erneut heimatlos gewordenes Bewusstsein zu drehen.«1
1.1
Die Revolte gegen den Fortschritt
Gross waren die Erwartungen am Ende des Ost-West-Konfliktes, gross die
Ernüchterung angesichts der Folgeerscheinungen dieser Veränderungen.
Die Prinzipien der Aufklärung hatten durch dieses Ereignis, so glaubte
man, einen grossen Schritt in Richtung der Verwirklichung demokratischer
Strukturen und der globalen Institutionalisierung des Menschenrechtsschutzes getan. Doch mit dem Ende der bipolaren Weltordnung zerbrach
auch ein Ordnungsgefüge, das die Stabilität innenpolitischer Strukturen
zu garantieren vermochte. Der Hoffnung in die Kraft der Vernunft und
des Rechts folgte als Gegenbewegung ein Anwachsen des politisch-kulturellen Selbstbewusstseins kleiner Minderheiten.2 Die gegenläufigen Tendenzen, das Wiederaufflammen von Separatismus und Fundamentalismus
und die damit verbundene Politik der Differenz begleiteten die Rekonstruktion der Demokratie auf diesem Globus. Der Partikularismus feiert
seine Auferstehung und mit ihm der Versuch, den Globalisierungsprozessen durch das Aufrichten von Grenzen zu entkommen.3 Die Hinwendung
zum Lokalen ist primär durch seine reaktive Antriebskraft zu verstehen,
durch das Bemühen, das eigene Menschsein im Rückgriff auf Traditionen
1 Lévinas, Emmanuel: Schwierige Freiheit, Frankfurt am Main 1996, S. 185.
2 Vgl. die Analyse von Taylor, Charles: Nationalismus und Moderne, in: (ders.) Wieviel
Gemeinschaft braucht die Demokratie? Aufsätze zur politischen Philosophie, Frankfurt
am Main 2002, S. 140-165.
3 Vgl. Barber, Benjamin: Coca-Cola und Heiliger Krieg. Wie Kapitalismus und Fundamentalismus Demokratie und Freiheit abschaffen, München 1996; Ignatieff, Michael:
Reisen in den neuen Nationalismus, Frankfurt am Main 1996. Rifkin, Jeremy: Access
– Das Verschwinden des Eigentums, Warum wir weniger besitzen und mehr ausgeben
werden, Frankfurt – New York 2000, S. 348 f.
8
und Religionen zu entwerfen.4 Die Dialektik der Aufklärung, der Wunsch
nach Rückbindung und Verortung des eigenen Selbst, die »Furcht vor der
Freiheit«5 begleitete den Vernunftglauben der Aufklärung und bestimmte
das »Zeitalter der Extreme«6 – wie der marxistische Historiker Hobsbawm
die Weltgeschichte des 20. Jahrhunderts bezeichnet.
Eine Beschreibung der Gegenwart und Vergangenheit darf die Wirkung
des kosmopolitischen Geistes der politischen Aufklärung nicht verabsolutieren, sondern muss auch auf die Gleichzeitigkeit von Barbarei und Schrecken verweisen. Mit der Internationalisierung von Recht, Wirtschaft und
Kommunikation korrespondiert ein Atavismus, der durch seine Negation
von Fortschritt und Gleichheit gekennzeichnet ist. Die Synchronie von
Universalismus und Sucht nach Differenz, anders gesagt die Apotheose des
Partikularen und der Aufstand des Geistes für die Freiheit des Menschen,
verdeutlicht die paradoxe Struktur der Geschichte, die »dialektischen
Tücken«7 des Entwicklungsprozesses. Und die Wiederkehr des Bösen ist
nicht als ein Auftauchen aus einer Versenkung zu deuten, sondern lediglich als eine Öffnung des reduzierten Blickfeldes, eine Sichtbarmachung
des Verbannten.8
Habermas stellt sich die Frage, ob die negativistischen Deutungen des
vergangenen 20. Jahrhunderts sich »vom Grauen der Bilder gefangen nehmen lassen«9 und dadurch der »Kehrseite dieser Katastrophen«10 entgehen.
4 Vgl. die Kontextualisierung dieses Gedanken vor dem Hintergrund der Unabhängigkeitsbewegung in Quebec. »Je mehr die Unterschiede verwischen, um so mehr werden
sie verabsolutiert.« Finkielkraut, Alain: Die Undankbarkeit, Gedanken über unsere Zeit,
Berlin 2001, S. 76. Vgl. auch Derrida, Jacques: Glaube und Wissen, Die beiden Quellen
der ›Religion‹ an den Grenzen der blossen Vernunft, in: Derrida Jacques/Vattimo, Gianni (Hrsg.): Die Religion, Frankfurt am Main 2001, S. 11 ff.
5 Fromm, Erich: Die Furcht vor der Freiheit, Frankfurt am Main 1966.
6 Hobsbawm, Eric: Das Zeitalter der Extreme, Weltgeschichte des 20. Jahrhunderts,
München 1999.
7 Brunkhorst, Hauke: Weltbürgerrecht in einer Welt der Bürgerkriege, in: Brunkhorst,
Hauke (Hrsg.): Einmischung erwünscht, Menschenrechte und humanitäre Intervention, Frankfurt am Main 1998, S. 9.
8 Dazu merkt der französische Politikwissenschaftler Guéhenno an: »In Wahrheit gibt
es keine institutionalisierten Körperschaften mehr, und wer vom 21. Jahrhundert die
Weltrepublik und die Erfüllung des Kantschen Traums erwartet, täuscht sich zutiefst.«
»Guéhenno, Jean-Marie: Das Ende der Demokratie, München – Zürich 1994, S. 75.
9 Habermas, Jürgen: Die postnationale Konstellation, Frankfurt am Main 1998, S. 74.
10 Op. cit. S. 74
9
Gibt es ihn aber wirklich, den »Wendepunkt zum Besseren«11, den Klimawechsel im »Treibhaus der Ideen«12? Oder macht Habermas die positiven
Ergebnisse der europäischen Nachkriegsjahre zu einem pars pro toto, auf
dessen Folie er seinen Blick auf die Weltgeschichte richtet? Diese Frage
hatte sich auch Immanuel Kant gestellt, an einem anderen historischen
Ort und zu zu einer anderen Zeit. Sein politisches Denken führt nicht Klage darüber, dass sich auf der Basis der Vergangenheit keine Zukunft entwerfen liesse. Sein Zukunftskonzept enthält keine Nichtanerkennung der
historischen Faktizität, denn die Sinnhaftigkeit der Vergangenheit ist die
notwendige Bedingung der praktischen Gestaltung des Zukünftigen. Die
Erinnerung an historische Fakten wird einem bewussten Selektionsprozess
unterworfen, durch den der Geschichtsprozess als rückwärtsgewandte Prophezeiung gelesen wird. Der postulatorische Optimismus Kants meidet
darum die konkrete Auseinandersetzung mit den Untaten der Geschichte,
mit den Grausamkeiten vergangener Kriege, weil daraus ein Zustand der
Tatenlosigkeit folgen würde. Mit dem »Stein des Sisyphus«13 bezeichnet
Kant – in seiner Kritik an Mendelssohn – einen Zustand, der zu einer
»leere[n] Geschäftigkeit«14 führt. Mendelssohn deutet die Geschichte der
Menschheit als einen Prozess, der abwechslungsweise einen Schritt nach
vorne macht, um dann wieder in den alten Zustand zurückzufallen. Dieser
Wiederkehr des Gleichen setzt Kant einen Fortschrittsoptimismus entgegen, der aufgrund seiner praktischen Absicht die Sinnhaftigkeit des Vergangenen voraussetzen muss.
»Eine Weile diesem Trauerspiel zuzuschauen, kann vielleicht rührend und belehrend sein; aber endlich muss doch der Vorhang fallen. Denn auf die Länge
wird es zum Possenspiel; und, wenn die Akteure es gleich nicht müde werden,
weil sie Narren sind, so wird es doch der Zuschauer, der an einem oder dem
anderen Akt genug hat, wenn er daraus mit Grunde abnehmen kann, dass das
nie zu Ende kommende Stück ein ewiges Einerlei sei.«15
Kants Geschäft ist es nicht, im Dialog mit empirischen Fakten eine
Menschheitsgeschichte zu schreiben, die sich auf die dunkelsten Kapitel der
11
12
13
14
15
Op. cit.
Op. cit. S. 75
Gemeinspruch 166.
Streit 354.
Gemeinspruch 166; vgl. die Wiederaufnahme dieser Kritik im Jahre 1798 in der Schrift
über den »Streit der Fakultäten«. Streit 354 f.
10
Vergangenheit bezieht.16 Die Geschichtsphilosophie liefert sich nicht dem
faktischen Gang der Geschichte aus.17 Die Konstruktion des Vergangenen
dient dem Ausblick in die Zukunft. Im Gegensatz zur Politik der Identität,
die das Vergangene zwecks Exklusion von Minderheiten rekonstruiert, ist
Kants politische Philosophie zukunftsorientiert und tendenziell weniger
rückwärtsgewandt.18 Die Beschäftigung mit der Vergangenheit dient nicht
der Nostalgie, sondern der philosophische Blick soll sie auf eine Art und
Weise ausleuchten, die es ermöglicht, historische Fakten als Prophezeiung
des Gesollten zu lesen. Die Antworten für das Projekt Zukunft ergeben
sich durch eine gezielte Befragung der Geschichte, nicht durch die Zelebration des Negativismus. Dabei beansprucht die Geschichtsteleologie
nicht, den objektiven Gang der historischen Entwicklung aufzudecken,
sondern Kant enttarnt sie als heuristisches Modell, das nicht einen Wahrheits, aber einen Brauchbarkeitsanspruch verfolgt.19
Wer die Zukunft gestalten möchte, braucht nicht nur eine geschichtsphilosophische Versöhnung mit dem Diesseits als Basis, sondern auch ein
politisches Programm20, welches das Ziel fokussiert und den Weg dorthin beschreibt. Entscheidend ist es, einzusehen, dass in Kants politischem
Denken das utopische Ideal des ewigen Friedens einen Endpunkt zwischenstaatlicher Rechtsentwicklung markiert, der lediglich asymptotisch
verwirklicht werden kann. Infolgedessen besteht der Sinn des Friedens
darin, dass er Orientierungsgrundlage der Politik sein soll. Der Weg zum
Frieden führt über die kontinuierliche Reform des status quo. Weil das Er16 Strickstrock, Frank (Hrsg.): Lexikon der Völkermorde, Hamburg 1998; Gundolf, Hubert: Massenmord, Das dunkelste Kapitel der Menschheitsgeschichte von Nero bis Hitler, von Troja bis Hiroshima, München 1981.
17 Lutz-Bachmann, Matthias: Geschichte und Subjekt, Studie zu Bedeutung und Problematik der Geschichtsphilosophie im Werk von Immanuel Kant und Karl Marx, Frankfurt am Main 1981, S. 133.
18 Zur Politik der Identität vgl. Kaldor, Mary: Neue und alte Kriege, Organisierte Gewalt
im Zeitalter der Globalisierung, Frankfurt am Main 2000, S. 121-143.
19 Z. B. KdU 351; Frieden 218 & 227.
20 Saner, Hans: Kants Weg vom Krieg zum Frieden, Widerstreit und Einheit, Wege zu
Kants politischem Denken, München 1967, S. 14: »Er arbeitete nie ein politisches Programm aus, auf das sich irgendeine der bisherigen politischen Bewegungen mit Recht
hätte berufen können.« Der Entwurf eines Völkerbundes ist dem kantischen Denken
verpflichtet und als theoretisches Fundament seiner Entstehung zu begreifen. Über
die Konzeption dieses losen Staatenbundes hinaus entwickelt Kant ein politisches Programm auf globaler Ordnungsebene, das sich aufgrund seiner globalen Reichweite der
Instrumentalisierung durch eine einzelstaatsbezogene Parteipolitik entzieht.
11
reichte die unvollständige Verwirklichung des Friedensideals ist, gewinnt
der Entwicklungsprozess zum unerreichbaren Ideal einen entscheidenden
Stellenwert.
»Die Welt ist noch iung. Eine Helfte ist kaum entdeckt. Der Mensch wird
seine Bestimmung noch erreichen, in Erziehung, Religion, Lebensart und
bürgerlicher Verfassung, imgleichen Völkerrecht.«21
Dies ist das politische Credo des Denkers aus Königsberg. Sein Projekt
ist ein Zukunftskonzept, das den status quo jederzeit als Zwischenschritt
interpretiert, auf dessen Grundlage eine Annäherung an eine globale Weltfriedensordnung geleistet werden soll. Nicht durch einen revolutionären
Umbruch, sondern durch die kontinuierliche Reform des Bestehenden.
Vor dem Gerichtshof der Vernunft hält Kant sein Plädoyer für eine politische Strategie der kleinen Schritte.
1.2
Kants politische Philosophie der internationalen
Beziehungen
In Kants politischem Programm manifestiert sich die Kritik an einer revolutionären Politik der Interventionen, die durch Sofortmassnahmen zu
einer Neuordnung der internationalen Beziehungen beitragen möchte.
Der Interventionismus in die Freiheitssphäre eines souveränen Einzelstaates wird nicht grundsätzlich verboten, aber mit Blick auf die Möglichkeit einer zukünftigen globalen Friedensordnung reformiert. Der Krieg
als Mittel der Politik setzt die Bedrohung oder faktische Verletzung der
eigenen Freiheitssphäre voraus, er soll also Verteidigungskrieg bleiben. Das
ius in bello muss zudem Prinzipien folgen, die das Vertrauensverhältnis
zwischen den Staaten im Hinblick auf eine gemeinsame Friedenspolitik
nicht zerstören. Kant versucht demnach, eine Veränderung des Krieges
zwecks Stabilisierung zwischenstaatlicher Koexistenz vorzunehmen. Weil
in einer Zwischensouveränitätsordnung kein unabhängiger Richter existiert, darf der Sieger eines Konfliktes den besiegten Staat seines Selbstbestimmungsanspruchs nicht berauben.22 Durch die Stabilisierung der bestehenden Ordnung ist eine Basis errichtet, auf der die Selbstmodifikation
21 AA XV, S. 621, Refl. 1423. Auch AA XV, S. 634, Refl. 1453: »Wir sind in Ansehung des
Völkerrechts noch barbaren.«
22 Vgl. die Analyse der Kategorien des »Rechts zum, im und nach dem Krieg« in Kapitel
5.4 dieser Arbeit.
12
der politischen Systeme der Einzelstaaten ablaufen kann. Dieser Republikanisierungsprozess wird durch einen republikanischen Leitstaat ausgelöst,
der als Vorbild Ausgangspunkt eines autonomen Modifikationsprozesses
der anderen Staaten wird. Die Reform des Kriegsrechts verläuft parallel
zu der kontinuierlichen Ausbreitung eines republikanischen Staatennetzes,
das seinerseits wieder zu friedensgeneigten Staaten führt. In der Figur des
Handelsgeistes entwirft Kant eine Ergänzung dieser in unterschiedlicher
Geschwindigkeit ablaufenden Prozesse, durch welche die Herstellung eines Friedenszustandes mit der menschlichen Selbstsucht in Übereinstimmung zu bringen ist. Das »krumme[m] Holz[e]«23, die anthropologische
Grundausstattung, garantiert die Herstellung eines Zustandes, in dem die
friedliche Koexistenz egoistischer Wohlstandsinteressen reguliert wird.24
Kants politisches Denken rechnet mit der Schlechtigkeit des Menschen:
»Alle Übel in der Welt kommen dem Menschen vom Menschen.«25 Die
politische Theorie braucht kein illusionäres Menschenbild, denn die invisible hand versöhnt die realistische Anthropologie mit dem Zukunftsoptimismus.
Noch ist man auf dem Weg zum Frieden nicht am Ziel seiner Verwirklichung angelangt. Ausgangspunkt des Annäherungsprozesses ist der souveräne Einzelstaat, in dessen experimentellen Raum der Staat sich selbst
modifiziert. Der Weg der Aufklärung führt zu einer staatlichen Ordnung,
in welcher die Transferleistung zwischen gesellschaftlichen Anliegen und
dem politischen System stattfindet. Innerhalb dieses Identitätssystems
fungiert die aufgeklärte Öffentlichkeit als Bindeglied, als Kommunikationsraum, in dem die »Freiheit der Feder« Bedingung der Möglichkeit
eines dialektischen Selbstaufklärungsprozesses ist.
23 Idee 41. Vgl. auch AA XV, Refl. 1464, S. 644: »Aus so krummem Holtze lasst sich kein
Mercur schnitzen.«
24 Frieden 226.
25 AA XV, Refl. 1427, S. 623. Vgl. auch AA XV, Refl. 1425, S. 622: »Der Mensch ist von
Natur böse. […] Muss zur Gerechtigkeit gezwungen werden und kann sich nicht wohl
regiren. […] Betrachten wir den Menschen nur auf dieser Welt, so ist er ein object zum
Lachen. Nehmen wir ihn vor einen strengen Richter, so ist sein Schicksal beweinenswerth.« AA XV, S. 622, Refl. 1426: »Würde er aber nicht den Keim des Guten in sich
haben (einen allgemeinen guten Willen), so würde man nicht von ihm Besserung hoffen
dürfen.« Ähnlich umschreibt Weber den Typus des Verantwortungsethikers: »Der Verantwortungsethiker dagegen rechnet mit eben jenen durchschnittlichen Defekten des
Menschen, – er hat […] gar kein Recht, ihre Güte und Vollkommenheit vorauszusetzen
[…].« Weber, Max: Der Beruf zur Politik, in: (ders.) Soziologie, Unversalgeschichtliche
Analyse, Politik, Stuttgart 1992, S. 175.
13
Die politische Prioritätenordnung, die Kant für die Reform zwischenstaatlicher Beziehungen vorschlägt, ist nur vor dem Hintergrund seines
Vertrauens in den autonomen Gestaltungsprozess staatlicher und zwischenstaatlicher Ordnung verstehbar. Dieser Katalog der Prioritäten anerkennt die experimentelle Freiheitssphäre jedes souveränen Staates. Die
zwischenstaatliche Koexistenzordnung soll stabilisiert werden, damit der
Einzelstaat sich selbst reformieren kann. Der Entwicklungsprozess zur
Reife führt auch über misslungene Versuche: »Allein man reift für die Vernunft nie anders, als durch eigene Versuche.«26 Bedingung der Möglichkeit
Reife zu erlangen, ist Freiheit, durch welche ein kontinuierlicher Lernund damit Erziehungsprozess möglich wird.
Die Staatssouveränität garantiert die Unabhängigkeit von heteronomen
Modifikationen des politischen Systems; sie schützt den internen Republikanisierungsprozess vor Interventionen und ermöglicht so die Durchsetzung des Prinzips der Volkssouveränität. Dieses für die Moderne folgenreiche Prinzip soll – durch einen kontinuierlichen Reformprozess »von
oben«27 – staatliches Handeln an gesellschaftlichen Anliegen ausrichten,
ohne die Geltung staatlicher Autorität anzuzweifeln.
Durch die Demokratisierung von Entscheidungsstrukturen verliert
das Widerstandsrecht, das in Kants politischer Theorie dezidiert verneint
wird, seine zentrale Bedeutung, die von der politischen Basis gelöste Politik durch einen revolutionären Akt zu ersetzen. Das Widerstandsrecht
wird von Kant absolut verneint, d. h. auch wenn das politische System
seinen zentralen Bezugspunkt noch nicht im Prinzip der Volkssouveränität
hat, kann es keine Geltung beanspruchen.28 Die Einrichtung basisdemokratischer Entscheidungsstrukturen darf nicht revolutionär, sondern muss
evolutionär erfolgen; durch den öffentlichen Vernunftgebrauch.
Die Dominanz des Dogmas der Staatssouveränität im zwischenstaatlichen Beziehungsgefüge garantiert die Erhaltung der Autonomie der Modifikationsprozesse, vermag aber die aus rechtstheoretischer Perspektive
ungenügende Überwindung des Sicherheitsdilemmas nicht zu leisten. Die
Staatssouveränität schützt den autonomen Prozess der Vergesellschaftung
eines politischen Systems: Staatssouveränität ist die Bedingung der Mög26 Religion 863.
27 Die Dissertation von Langer ist der wichtigste Beitrag zur Reformkonzeption Kants.
Langer, Claudia: Reform nach Prinzipien, Untersuchungen zur politischen Philosophie
Immanuel Kants, Stuttgart 1986.
28 Gemeinspruch 162.
14
lichkeit, die Legitimation einzelstaatlicher Politik vom Kopf auf die Füsse
zu stellen.
1.3
Philosophie und Politik
Nicht nur Europa, auch der Friede ist ein Kap. »Das Wort »cap« (caput,
capitis) meint, wie Sie wissen, den Kopf, das Haupt, das äusserste Ende
eines Aussengliedes, einer Verlängerung oder eines Extrems, es meint das
Ziel, die Spitze und den Zipfel, jenes Äusserste, das zuletzt kommt, das
Letzte, die letzte Verlängerung oder das letzte Ende, es meint das eschaton im allgemeinen.«29 Der ewige Friede ist ein utopisches Leitbild, nicht
ein realisierbares Noch-nicht. Der Friede ist jenes »Äusserste«, das über
die gesollte Form von Praxis aufklärt. Kant, der »theoretische Politiker«30,
schränkt seine erfahrungsunabhängige Wissenschaft auf die Begründung
von Prinzipien ein, die einen »weltkundigen Staatsmann«31 benötigen, der
die vernunftrechtlichen Prinzipien als normative Orientierungsrichtlinien
seines Handelns kennt, aber kraft seiner Urteilskraft Einzelentscheidungen trifft. In Platons »Politeia« gibt es keine Erholung von den Übeln der
Staaten, solange die Politik nicht mit der Philosophie verschmilzt.32 Die
prinzipielle Bestimmung der Regierungsmaximen wird unmittelbar mit
der Tätigkeit des praktischen Politikers verknüpft.33 Aufgaben, die in diesem Modell vereint werden, sind bei Kant getrennt. Die a priori durch
Vernunft bestimmten reinen Rechtsprinzipien können die konkret-situative Verwirklichung mittels der Urteilskraft im Einzelfall nicht ersetzen.
Diese Entscheidungen zur realen Durchsetzung eines durch die Vernunft
bestimmten Ideals können nur durch die Berührung mit der geschichtlich-politischen Welt getroffen werden. Die konkrete Politik wird nicht
29 Derrida, Jacques: Das andere Kap, Frankfurt am Main 1992, S. 15. Zur Interpretation
der Europaschrift Derridas vgl. Budelacci, Orlando: Nachdenken über Europa, in Basler
Magazin Nr. 10, Basel 2002, S. 8. Vgl. auch Han, Byung-Chul: Zu Derridas Gedanken über Europa in das andere Kap, in: Stegmaier, Werner (Hrsg.): Europa-Philosophie,
Berlin – New York 2000, S. 177-188. Zur Frage der Parallelisierung der politischen
Philosophie Kants und Derridas vgl. Niederberger, Andreas: Zwischen Ethik und Kosmopolitik: Gibt es eine politische Philosophie in den Schriften Jacques Derridas? in:
Allgemeine Zeitschrift für Philosophie, Jg. 27, Heft 2, S. 157 ff.
30 Frieden 195.
31 Op. cit.
32 Platon: Politeia 473b-d.
33 Frieden 195.
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