«Nostra Aetate ist ein Kompass»

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«Nostra Aetate ist ein Kompass»
Yves Kugelmann , 13. Mai 2015
Vor 50 Jahren wurde die Erklärung Nostra Aetate formuliert – Kardinal Kurt Koch
spricht über Gemeinsamkeiten zwischen Juden und Christen, über Annäherungen
und die Bedeutung des Heiligen Landes.
Kardinal Kurt Koch betont, dass es keine Kollektivschuld der Juden gibt – weder damals noch beim heutigen Volk
Israel.
Tachles: Sie sind im Vatikan unter anderem Mitglied der Kommission für die
religiösen Beziehungen zum Judentum. 2015 jährt sich die Erklä- rung Nostra
Aetate zum 50. Mal. Ist sie noch die zentrale Ausgangserklärung für Ihre Arbeit?
Kurt Koch: Natürlich stellen sich immer wieder neue Fragen. Aber Nostra Aetate ist das
Fundament der ganzen Arbeit, nicht nur für unsere Kommission, sondern für die ganze Kirche
und vor allem für die Päpste, die immer wieder an diese Konzilserklärung erinnern.
Wohin wäre die Entwicklung der katholisch-jüdischen Beziehungen ohne den
Kontext des Zweiten Weltkriegs und des Holocausts gegangen?
Der Holocaust war sicher ein wichtiger Anlass für diese Erklärung. Überdies sah man, dass es
innerhalb der Kirchengeschichte antijudaistische Tendenzen gegeben hatte, die dazu geführt
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haben, dass der Widerstand der Christen gegen die NS-Judenverfolgung nicht so stark
gewesen ist, wie man ihn hätte erwarten dürfen. Auch gab es bei einzelnen Kirchenvätern ein
Substitutionsdenken, demgemäss das «alte Volk Gottes» durch die Entstehung des
Christentums bedeutungslos geworden sei. Diese Hypothek musste selbstkritisch überdacht
und dabei neu entdeckt werden, dass das Judentum die Wurzel des Christentums ist und
dieses sich selbst ohne das alttestamentliche und auch heutige Judentum nicht verstehen
kann.
War es denn nicht sehr schwierig, entgegen der jahrhundertealten Tradition
damit zu brechen, dass das Judentum die Schuld an der Kreuzigung Jesus trage?
Man musste zu den Quellen zurückgehen und vor allem die Sicht des Paulus im 9. bis 11.
Kapitel seines Römerbriefes wieder entdecken, wo von der bleibenden Auserwählung Israels
die Rede ist. Es brauchte auch eine neue Sicht auf den Kreuzestod Jesu in dem Sinne, dass es
keine Kollektivschuld der Juden gibt – weder damals noch beim heutigen Volk Israel.
Wie beurteilen Sie die Akzeptanz der jüdischen Seite der Bemühungen der
Kommission? Nehmen Ihre jüdischen Partner die katholische Kirche so an, wie
sie ist?
Auf der universalen Ebene, für die ich verantwortlich bin, stelle ich eine grosse Akzeptanz fest,
und zwar bereits bei meinem Amtsantritt in Rom im Jahre 2010: Die ersten, die mich besucht
haben, waren allesamt Juden, die den Wunsch formuliert haben, der Dialog möge und müsse
weitergehen. Dies hat mir gezeigt, dass viele Juden in der katholischen Kirche einen
verlässlichen Partner sehen, sowohl im Kampf gegen den Antisemitismus wie auch in der
Vertiefung der religiösen Beziehungen. Viele Juden wünschen sich auch eine Begegnung mit
dem Papst.
Sie haben früher einmal gesagt, dass man die Karfreitagsfürbitte für die Juden
unter dem Aspekt, dass die katholische Kirche missionarisch ist, als logisch und
konsequent sehen müsse. Konnten Sie diesen Gedanken innerhalb der
Kommission vertreten?
Ich habe im Gegenteil die Meinung vertreten, dass in der Karfreitagsfürbitte gerade kein
Aufruf zur Missionierung der Juden enthalten ist. Sie spricht vielmehr die eschatologische
Hoffnung aus, dass sich am Ende der Zeiten zeigen wird, dass der Messias, den die Christen als
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in Jesus gekommen glauben, und der Messias, den die Juden noch erwarten, derselbe sein
wird. Die Fürbitte übersetzt insofern die Sicht des Paulus in ein Gebet.
Hat sich diese Sicht bei Ihren jüdischen Kollegen in der Kommission denn
durchgesetzt?
Die Frage wird immer wieder gestellt. Dabei ist es wichtig zu erklären, wie die Fürbitte zu
verstehen ist. Papst Benedikt XVI., der wirklich ein Freund der Juden ist, hat die Fürbitte neu
formuliert. Die Überschrift wurde aber nicht angepasst, was noch zu tun ist.
Über die Einstellung von Papst Franziskus zum Judentum ist nicht viel bekannt.
Papst Franziskus hat bereits in Buenos Aires freundschaftliche Beziehungen mit Juden, vor
allem mit dem Rabbiner Abraham Skorka, gepflegt. Dem Papst liegt der jüdisch-katholische
Dialog sehr am Herzen, und er will ihn vertiefen. Dies ist vor allem bei seiner Reise ins Heilige
Land sichtbar geworden, auf der ihn ein jüdischer und ein muslimischer Freund begleitet
haben.
Was könnte ein nächster Schritt auf der Ebene des theologischen Dialogs sein?
Christen teilen mit den Juden die Überzeugung, dass der Bund, den Gott mit Israel
geschlossen hat, nie aufgekündigt worden ist, sondern gültig bleibt. Christen sind aber auch
überzeugt, dass in Jesus Christus ein neuer Bund geschenkt worden ist. Wie nun beide
Glaubensüberzeugungen so zusammengedacht werden können, dass sich Juden und Christen
nicht verletzt fühlen, sondern ernst genommen wissen: Diese theologisch komplexe Frage
muss im Mittelpunkt des jüdisch-christlichen Gesprächs stehen.
Bereitet es Ihnen Sorgen, dass es über wesentliche Fragen bei
fundamentalistischen Kreisen aller Seiten zu Gewalttätigkeiten statt zum Dialog
kommen könnte?
Gewaltpotenziale brechen dann auf, wenn man keinen Dialog führt und Vorurteile
aufrechterhält. Dies ist ein sehr bedrängendes Problem, da wir in allen Religionen
fundamentalistische Tendenzen feststellen müssen. Die einzige Alternative zur Gewalt sind der
Dialog und die Klärung der offenen Fragen.
Bezüglich Christenverfolgung in arabischen Ländern hat der Dialog sich leider
nicht durchsetzen können.
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Ja, aber deshalb bleibt die grosse Aufgabe, den Dialog zu vertiefen. Denn man darf nicht die
fundamentalistischen Islamisten mit den Muslimen überhaupt identifizieren. Wir stehen hier
aber vor einer grossen Herausforderung, denn 80 Prozent aller Menschen, die heute aus
Glaubensgründen verfolgt werden, sind Christen.
Aber werden Sie, wenn Sie entsprechend auf Ihrer Seite einwirken wollen, von
den christlichen Fundamentalisten überhaupt akzeptiert?
Man kann nur mit jenen Menschen einen Dialog führen, die ebenfalls einen führen wollen.
Jene Katholiken, die Nostra Aetate ablehnen, lehnen auch den ökumenischen und den
interreligiösen Dialog und die Religionsfreiheit ab. Sie müssen sich selbst die Frage stellen, wie
sie katholisch sein können, wenn sie einen grossen Teil des Konzils ablehnen.
Wie kann man in Zukunft in der breiten, auch säkularen Bevölkerung ein
Verständnis für die drei abrahamitischen Religionsgemeinschaften erzeugen?
Das Grundproblem, das ich in den westlichen Gesellschaften wahrnehme, ist die starke
Tendenz zur Privatisierung der Religion überhaupt, die damit keine öffentliche Angelegenheit
mehr ist. Eine Gesellschaft aber, die keinen öffentlichen Diskurs über Religion zulässt, ist
interreligiös nicht dialogfähig und fördert den Frieden zwischen den Religionen nicht.
Sehen Sie in irgendeinem Land eine Einbettung der Religionsgemeinschaften, die
für Sie Sinn macht?
Die Trennung von Staat und Religion gehört zu den Fundamenten der neuzeitlichen
Gesellschaften. Davon zu unterscheiden ist die Abtrennung der Religion von der
gesellschaftlichen Öffentlichkeit. In Amerika haben wir beispielsweise eine strikte Trennung
von Staat und Religion, aber eine starke Präsenz der Religion in der Gesellschaft. In Europa
haben wir noch immer starke staatskirchenrechtliche Verflechtungen, die Religion ist aber
weithin kein öffentliches Thema. Dieser Vergleich lässt den Schluss zu: Die Trennung von
Staat und Religion hat letztlich nur Bestand, wenn die Religion im öffentlichen Diskurs präsent
ist.
Würden Sie das französische oder türkische Modell des Laizismus als besser
funktionierend betrachten als das Konzept der Schweiz?
In Frankreich entwickelt sich der Laizismus beinahe zu einer neuen 'Religion' und verlässt den
Boden einer gesunden 'laicité'. In der Türkei haben wir heute starke Gegenbewegungen in
Richtung auf einen muslimischen Staat. Die Schweiz hat gute Voraussetzungen bei der
Trennung von Kirche und Staat, muss aber noch einige Vorkehrungen treffen, dass der
öffentliche Dialog über Religion über adäquate Gefässe verfügt.
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Welches Land hat für Sie allenfalls Modellcharakter, auch im Umgang mit den
Religionen?
Jede Regelung hat ihre Vorteile, aber auch ihre Nachteile. Und in der Schweiz gibt es beinahe
so viele Regelungen, wie es Kantone gibt…
Die Aufklärung resultiert wohl heute in einer sehr grossen Herausforderung für
die Religionsgemeinschaften, weil sie hierarchisch zurückgefallen sind und sich
die Staaten entkonfessio- nalisieren...
Die Trennung von Staat und Religion gehört zum Erbe der Aufklärung, nicht hingegen die
Privatisierung der Religion. Die Religion ist zwar keine Staatssache, aber eine gesellschaftliche
Angelegenheit. Dass hier ein Problem vorliegt, zeigt sich im Umgang mit den Zeichen in
unserer Gesellschaft, die im weltlichen Bereich wie bei Polizei, Militär, Post, Musik usw.
akzeptiert sind. Konflikte hingegen entstehen stets bei religiösen Zeichen. Dies weist auf ein
ungesundes Verhältnis zur Religion hin.
Beruht dies auf der Ablehnung des Göttlichen in der Gesellschaft oder der
gläubigen Menschen?
Es ist eher die Angst vor dem öffentlichen Diskurs über Religion, da man befürchtet, dass in
den religiösen Auseinandersetzungen ein Konfliktpotenzial bestehen könnte. Aus dieser Angst
zieht man allerdings den falschen Schluss, dass man die Religion aus der Öffentlichkeit
verbannen will. Dieses Vorgehen ist aber kontraproduktiv.
Israel ist auch für die christliche Kirche das Heilige Land. Wie würden Sie das
heutige Verhältnis zu diesem Land, das heute jüdischer Staat genannt wird,
darstellen?
Dies ist eine äusserst komplexe Frage. Auf der einen Seite gehört die Landverheissung zur
biblischen Tradition und damit auch zum Judentum, das ein Recht auf einen eigenen Staat
hat. Davon zu unterscheiden ist die Art und Weise, wie der Staat Israel organisiert ist und
welche Politik er konkret betreibt. Diese bleibt – wie bei jedem Staat – der öffentlichen Kritik
ausgesetzt und kann nicht einfach mit der biblischen Landver- heissung legitimiert werden.
Die katholische Kirche vertritt zudem die Überzeugung, dass nur eine Zweitstaatenlösung
tragfähigen Frieden im Nahen Osten zu bringen vermag.
Gibt es rein theologisch gesehen einen Anspruch des Christentums auf einen Teil
dieses Landes?
Der katholischen Kirche geht es um den freien Zugang zu den Heiligtümern und um ein
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verbleiben Können der Christen im Heiligen Land. Sie erhebt jedoch keine territorialen
Ansprüche.
Kann man in christlicher Lesart nicht auch sagen, dass sich die Landverheissung
auf das alte Volk Israel bezieht, aus dem ja auch die Christen hervorgingen?
Das Heilige Land ist jenes Land, in dem Jesus ge- lebt hat, und hat für uns Christen eine ganz
be- sondere Bedeutung. Damit ist aber keine staatliche Implikation gegeben. Denn das
Charakteristische des Christentums ist die Universalität seiner Botschaft, die für die ganze
Welt bestimmt ist und deshalb nicht auf ein konkretes Territorium be- schränkt sein kann.
Aber worin besteht denn das Momentum des «Heiligen» Landes?
Der Hinweis scheint mir hier wichtig, dass das Heilige Land im theologischen Sinn grösser ist
als Israel und sich auf alle Heilsereignisse bezieht, die uns im Alten und Neuen Testament
überliefert sind.
Für die Christen ist es also einfach wesentlich, Zugang und gewisse Orte unter
ihrer Verwaltung zu haben?
Für uns ist wichtig, dass Christen zum Heiligen Land gehören und freien Zutritt zu ihren
Heiligtümern haben können.
Wo stehen wir 50 Jahre nach dem Zweiten Vatikanischen Konzil in der
Beziehung zwischen Christen- und Judentum?
Das 50-Jahr-Gedenken der Promulgation von Nostra Aetate im Jahre 2015 ist für uns ein
wichtiges Datum, mit dem verschiedene Gedenkveranstaltungen in Rom und an anderen Orten
verbunden sind. Es bedeutet eine elementare Herausforderung zu einer Standortbestimmung
im jüdisch-katholischen Dialog, indem wir uns darüber Rechenschaft geben müssen, welche
Wirkung Nostra Aetate erreichen konnte, wo wir heute stehen und worin die künftigen
Aufgaben bestehen werden. Auf jeden Fall ist und bleibt Nostra Aetate der Kompass auf dem
weiteren Weg der Versöhnung zwischen Christen und Juden.
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