Radikalisierungsprozesse im Kontext salafistisch

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10. Steirische Fachtagung für angewandte Psychologie in der Pädagogik "Fanatisierung, Radikalisierung, Gewalt",
Graz, 23. Jänner 2016
Radikalisierungsprozesse im Kontext salafistisch-djihadistischer
Mobilisierung: Herausforderungen für die Schulen
Ernst Fürlinger
Einleitung
Mit dem jugendkulturellen Salafismus steht die Schule heute einer neuen Form der
Demokratiefeindlichkeit, Intoleranz und geschlossener, harter Ideologien gegenüber. Es
handelt sich um Konflikte, die dem pädagogischen Bereich bisher v.a. vom
Rechtsextremismus her vertraut waren. Für die Schulen geht es darum, sich jenseits von
Hysterie und Laissez faire professionell auf diese Herausforderung einzustellen.
Ich werde in drei Schritten vorgehen: Ich werde in einem ersten Schritt auf das
Phänomen des Salafismus eingehen. In einem zweiten Schritt behandle ich die globale
Mobilisierung durch djihadistische Organisationen und werfe einen genaueren Blick
darauf, welche Jugendliche und junge Erwachsene es sind, die nach Syrien und in den
Irak ausreisen, und aus welchen Milieus sie stammen. Abschließend werde ich einige
Folgerungen für den Sozialraum Schule anstellen, was den Umgang mit diesem
Phänomen angeht. Konkrete Aspekte der Präventionspraxis werden das Thema des
Workshops sein.
I.
Salafismus als innerislamische Strömung
Unter Salafismus versteht man eine bestimmte Strömung innerhalb des Islam, die sich
an der reinen islamischen Frühzeit der „frommen Vorväter“ (arab. al-salaf al-salih)
orientiert, an den ersten drei Generationen der Muslime, an deren Lebensweise man sich
als Vorbild strikt halten soll, bis hin zur Kleidung oder Barttracht. Männer tragen Hosen,
die nur bis zu den Knöcheln gehen, Frauen sollen Kleider tragen, die den Körper weit
umhüllen. Die Salafiyya vertritt die Rückkehr zu den kanonischen Quellen des Islam:
auf den Koran, der literalistisch ausgelegt wird, und auf die Hadithe. Spätere
Entwicklungen im Islam werden als „Neuerungen“ strikt abgelehnt, vor allem die
Mystik (Sufismus) und die Befolgung der vier sunnitischen Rechtsschulen.
Der Salafismus vertritt eine rigorose Form der Lehre der Einzigkeit Gottes
(tawhid). Grundlegendes Konzept des Salafismus ist „Loyalität und Lossagung“, auf
Arabisch al-wala’ wa-l bara’, d.h. die ausschließliche Loyalität gegenüber Gott, dem
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Islam und den Muslimen und die Distanz von allem, was davon abweicht (Wagemakers
2014: 63ff). Das Konzept wird in unterschiedlichen Formen angewendet – auf der
sozialen Ebene wird daraus die Konsequenz gezogen, dass man im Alltag keinen
Umgang mit Nichtmuslimen und ihren Bräuchen pflegen soll. Auf der politischen und
militärischen Ebene wird das Konzept so interpretiert, dass mit Nicht-Muslimen keine
Allianzen eingegangen werden dürfen. Die jihadistisch-salafistische Form betont, dass
Ordnungen, die nicht auf dem göttlichen Gesetz basieren, vor allem die säkulare
Demokratie, abzulehnen sind und ihnen mit Gewalt entgegengetreten werden soll.
Muslimische Herrscher, die die Scharia nicht zur Gänze umsetzen, sollen mit Gewalt –
als Ausdruck der „Lossagung“ (bara’) – bekämpft und gestürzt werden, um einen
islamischen Staat errichten zu können.
Im 18. und 19. Jahrhundert entwickelten sich verschiedene salafistische
Bewegungen, vor allem der Wahhabismus in Zentralarabien., der über die
saudiarabische Monarchie weltweit mit starkem finanziellen Einsatz verbreitet wird.
Seit den 1990er Jahren gelangte der Salafismus auch nach Europa; in Deutschland trat
er etwa ab 2003/2004 offensiv missionierend in der Öffentlichkeit auf. 2005 wurde in
Deutschland das Netzwerk „Die wahre Religion“ gegründet. Ende 2005 gründete
Mohamed Mahmoud in Österreich die „Globale Islamische Medienfront“, eine InternetPlattform für die Propaganda der al-Qaida im deutschsprachigen Raum, die eine
wichtige Rolle für die Entwicklung der deutschsprachigen salafistisch-jihadistischen
Szene spielte (Steinberg 2012).
Gewöhnlich werden drei Richtungen unterschieden, die sich nach ihrer Methode
unterscheiden, wie die salafistischen Glaubensgrundsätze angewendet werden sollen
(vgl. Wictorowicz 2006):
(a) eine quietistische Richtung, die sich von Politik und politischen Diskussionen
fernhält, politisches Engagement ablehnt und sich auf Mission und Erziehung
konzentriert;
(b) ein missionarischer politischer Salafismus, der sich politisch beteiligt und
engagiert und die Anwendung der salafistischen Prinzipien für die Politik betont,
Gewalt aber ablehnt;
(c) eine djihadistische Richtung, die Gewalt legitimiert und argumentiert, dass die
gegebenen Umstände Gewalt und Revolution erfordern.
Diese verschiedenen Richtungen sind aber – gerade im deutschsprachigen Raum (vgl.
Abou Taam/ Sarhan 2014: 390) – nicht scharf trennbar. Es existieren
Austauschbewegungen, Mischungen und Überschneidungen zwischen den
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verschiedenen Richtungen und ihren Methoden (vgl. Wagemakers 2014: 57).
Beim Phänomen des salafistischen Djihadismus können (bezogen auf Europa) folgende
Ebenen unterschieden werden:
(1) djihadistische Organisationen wie al Qaida, IS, Jabhat al-Nusra
(2) Ausreisende / Auslandskämpfer, die sich ihnen anschliessen
(3) radikale salafistische Milieus in Europa, aus denen die Auslandskämpfer,
Attentäter und Sympathisanten stammen, und in denen sich mittlerweile eine
Jugendsubkultur entwickelt hat
(ad 2) Ausreisende / Auslandskämpfer
Kein vorhergehender Konflikt hat mehr freiwillige Auslandskämpfer mobilisiert als der
Konflikt in Syrien, und noch nie vorher sind so viele Europäer als freiwillige
Auslandskämpfer ausgereist (Hegghammer 2013). Nach einer Schätzung vom Jänner
2015 sind weltweit mindestens 20.700 Ausländer in die Kampfgebiete nach Syrien und
in den Irak gereist (Neumann 2015: 109), mehr als die Hälfte davon aus dem Nahen
Osten und Nordafrika, die meisten aus Tunesien (rund 3000) und Saudiarabien (2500).
Die Zahl der Auslandskämpfer aus Westeuropa wird auf bis zu 4000 Personen geschätzt,
mehrheitlich aus Frankreich (1200), Deutschland (Stand Sept. 2015: 740) und
Großbritannien (bis zu 600).
Im Verhältnis zur Einwohnerzahl kommt ein hoher Anteil aus Österreich, mit rund
240 Personen; ca. 50% sind tschetschenischer Herkunft, die zweitgrößte Gruppe sind
bosnischer Herkunft. Die Netzwerke der ersten Generation von salafistischen
Auslandskämpfern, die in den 90er Jahren im Bosnien- und Tschetschenienkrieg
beteiligt waren, sind weiter aktiv und rekrutieren nun die nächste Generation.
Die Mehrheit der europäischen „foreign fighters“ kommt aus muslimischen
Familien, aber 15% sind Konvertiten. Bis zu 15% der Ausgereisten sind Frauen, was für
die djihadistische Bewegung ein neues Phänomen darstellt (Neumann 2015: 112f).
Eine Studie des deutschen Verfassungsschutzes wirft ein genaueres Licht auf die
670 Personen, die bis Ende Juni 2015 aus Deutschland ausgereist sind. Das Bild ist
uneinheitlich: Das Alter variiert, der Grossteil ist 17 bis 24 Jahre alt. Es sind meistens
Männer, aber 21% Frauen. 409 Personen wurden bereits in Deutschland geboren, 399
besitzen die deutsche Staatsbürgerschaft. 114 sind Konvertiten, das sind 17%. Fast die
Hälfte ist bereits kriminell geworden, in Form von Eigentums-, Gewalt- und
Drogendelikten sowie einzelnen Sexualdelikte. Über 150 Personen sind arbeitslos.
Andererseits sind viele gut gebildet: 82 haben Matura oder Fachhochschulreife, 80
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Studenten, von denen die meisten aber keinen Abschluss haben. 63 waren Schüler. Die
Anwerbung erfolgte über Freunde (37%), über Kontakte in salafistischen Moscheen
(33%) oder über das Internet (30%), nur in neun Fällen über Kontakte im Gefängnis
(vgl. Mascolo 2015; siehe dazu auch Lützinger 2010).
Gemeinsam sind ihnen negative Erfahrungen, Erfahrungen des Scheiterns, des
Verlusts. Viele kommen aus gebrochenen Familien, sind ohne Vater aufgewachsen. Sie
kommen überwiegend aus prekären sozialen Verhältnissen, haben häufig eine Karriere
als Kleinkriminelle hinter sich, sind überwiegend perspektiven- und hoffnungslos, sehen
keinen Sinn. Sie sind meistens ohne traditionelle religiöse Erziehung, religiöses Wissen
oder Praxis aufgewachsen, sind religiöse Analphabeten. Diese Jugendlichen und jungen
Erwachsenen suchen nach Sinn und Bedeutung. Sie versprechen sich von der
Mitwirkung im „Djihad“ Anerkennung, Gemeinschaft, eine sinnvolle Mission, Macht,
auch Abenteuer. Das ist auch der soziale Hintergrund, den z.B. die Attentäter in Paris
vom Jänner und November 2015 aufweisen.1
(ad 3) Radikale salafistische Milieus, aus dem die Ausreisenden stammen:
Salafistische Milieus sind seit 2010 gewachsen. In Deutschland wird die Zahl der
Salafisten derzeit vom Verfassungsschutz mit 7900 angegeben (Mascolo 2015),
gegenüber 4500 Personen Ende 2012. Für Österreich sind mir keine Schätzungen
bekannt, die Zahlen dürften aber anteilsmässig kleiner sein verglichen mit Deutschland.
Die salafistische Szene ist wie gesagt heterogen. Das Problem besteht darin, dass es in
den letzten Jahren zu einer Radikalisierung der Szene gekommen ist und die
djihadistische Richtung mittlerweile den Ton angibt (Neumann 2015: 140).
Die Richtung der Salafisten, die den Djihad legitimieren, wird im
deutschsprachigen Raum von einigen Netzwerken und Organisationen getragen, u.a.
vom Predigernetzwerk „Die wahre Religion“ von Ibrahim Abou Nagie. Das Netzwerk
hat seit Herbst 2011 über die „Lies-Stiftung“ eine öffentliche Koranverteilungsaktion
gestartet, die über ein professionelles Franchise-System auch in Österreich aktiv ist. Die
Koranverteilung wirkt unverfänglich - das Entscheidende erfolgt in kleinen Seminaren
abseits der Stände. Dort wird dann ein radikales Islamverständnis vermittelt, z.B.
Demokratie als Weg des Satans (Shaitan), der durch die „Kreuzzügler“ eingerichtet
wurde, die den Islam zerstören wollen.
Im Herbst 2011 wurde auch das Jugendnetzwerk „Millatu Ibrahim“ durch den
Wiener Mohammed Mahmoud und den Berliner Rapper Denis Cuspert gegründet. Es
1
Siehe dazu auch Studien zu Biografien und Hintergrund von europäischen Djihadisten: Bakker 2006;
Lützinger 2010; Weggemans/ Bakker/ Grol 2014.
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verstand sich als deutscher Zweig der globalen djihadistischen Bewegung und schloss
sich an das bestehende europäische Netzwerk an (vgl. Said 2014: 125).
Zum Netzwerk „Millatu Ibrahim“ gehörte der Prediger Mirsad Omerovic
(„Ebu Tejma“), der in der Wiener Altun-Alem-Moschee (2. Bezirk) tätig war. Er
unterrichtete jahrelang über die Videochat-Plattform „Paltalk“ und war der Theologe
des Netzwerks. Erst im November 2014 wurde er verhaftet, der Prozess beginnt am 22.
Februar in Graz.
Seit dem Verbot von „Millatu Ibrahim“ im Juni 2012 koordinieren sich die
ehemaligen Mitglieder über die Onlineplattform „Tauhid Germany“, mit der Muslime
zum Djihad in Syrien und im Irak motiviert werden sollen (Wiedl/ Becker 2014: 196
und 204). Hier bildet sich eine militante westliche Jugendszene, die sich mittlerweile
von ihren Predigern und Lehrern wie Pierre Vogel, Abou Nagie u.a. abgelöst hat und
selbständig gemacht hat. Bei „Tauhid Germany“ mischen sich Elemente des Salafismus
(z.B. Bart) mit der Kultur und dem Outfit von Strassengangs (Sweater, Jeans,
djihadistische Logos).
Die salafistischen Milieus entwickelten eine radikale, salafistisch orientierte
Jugend- oder Gegenkultur. Einige Charakteristika sind:
• Sie verwendet eine bestimmte „Musik“, nashids, eine Art Sprechgesang ohne
Instrumentenbegleitung, in denen die djihadistische Ideologie propagiert wird.
• Sie kommuniziert über bestimmte soziale Medien, wie Chatgruppen auf WhatsApp,
Facebook, Telegramm (mit dem man verschlüsselt kommunizieren kann), Twitter;
bilden virtuelle Gruppen, die sich teilweise treffen.
• Sie verwendet bestimmte Codes, etwa
- in Form von Gesten, z.B. erhobener Zeigefinger beim öffentlichen Gebet
- in der Sprache: Gebrauch von best. arabischen Vokabeln wie kafir/ kuffar
-
(Ungläubiger), takfir oder taghut („Götze“, wird im weiteren Sinn auf
unterdrückerische nicht-legitime politische Herrscher angewendet)
Icons, z.B. die Abwandlung des Adidas-Logo mit der Aufschrift „alqaida“
Die Attraktivität der salafistischen Jugendsubkultur könnte in der spezifischen
Kombination verschiedener Elemente bestehen (vgl. El-Mafaalani 2014; Mücke 2015):
- eine radikale gesellschaftskritische Position
- sichtbare Provokation (ähnlich wie bei der Punker-Bewegung)
-
extreme klare, rigide Anweisungen für die persönliche Lebensführung
klare Feindbilder und vereinfachende, selektive Geschichtsbilder, die – wie im
Fall anderer fundamentalistischer Ideologien – eine Komplexitätsreduktion mit
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sich bringen
-
-
eine Gegenidentität, mit der man sich gegenüber der Gesellschaft und
gegenüber den Eltern abgrenzen kann, die entweder traditionell religiös oder
kaum religiös sind,
ein moralisches und intellektuelles Überlegenheitsgefühl als Avantgarde, die
-
den „göttlichen Weg“ geht, die trotz Repressionen für die „wahre
Religion“ oder die „wahre Sicht“ auf globale Konflikte einsteht.
das exklusive Versprechen, hier im Leben auf dem richtigen Weg zu sein, und
-
-
die Garantie auf das ewige Glück im Jenseits;
die Lösung komplizierter Identitätsfragen, indem man bei den Salafisten zu
einer Weltgemeinschaft gehört, in der ethnische, soziale oder religiöse Herkunft
egal ist;
man wird Teil einer Massenbewegung, erlebt eine „Wiedergeburt“, ein „neues
Leben“, wird Teil einer „heiligen Sache“ (Hoffer 2010).
Hier stoßen wir teilweise auf individuelle Faktoren, die für die Jugendphase typisch
sind, nämlich die Ablösung von der Familie, soziale Neuorientierung und die
Entwicklung einer eigenen Identität, die in dieser Phase zu bewältigen sind. Wie
niederländische und dänische Untersuchungen zeigen, kann diese Suche nach
Identität und Lebenssinn einen wichtigen Hintergrund für das Interesse am
militanten Islamismus darstellen (de Koning 2009; Hemmingsen 2010).2 Natürlich
müssen weitere Faktoren dazukommen, die erklären, warum diese
Entwicklungsaufgabe gerade über Radikalisierung und Militanz bewältigt wird.
II.
Folgerungen für den Umgang mit dem Phänomen in der Schule
(1) Professionelle pädagogische Kultur des genauen Hinsehens
Die salafistische Protestkultur stellt für Jugendliche heute aus diesen Gründen ein
attraktives Angebot dar. Vor allem Jugendliche mit instabilen Persönlichkeiten aus
prekären sozialen Verhältnissen und schwierigen Familienverhältnissen bietet sie
Anerkennung, Sinn und Gemeinschaft. Neben den sozialen Faktoren muss aber
auch die Bedeutung des ideologischen Faktors berücksichtigt werden.
Die Anknüpfungen von Schülern und Jugendlichen daran sind unterschiedlich:
- Viele wird die schrille Szene mit ihren strengen Verhaltensregeln (u.a. kein
2
Hinweis: Herding/ Langner/ Glaser 2015.
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Alkohol, kein Sex vor der Ehe, 5maliges Gebet am Tag usw.) nicht interessieren.
-
-
Manche werden manche Codes oder Elemente nur übernehmen, um im
Mittelpunkt zu stehen oder um Erwachsene zu provozieren, ohne sich aber an
diese Gruppen anzuschließen.
Manche Schüler und Jugendliche werden mit den Djihadisten sympathisieren, in
den verschiedenen sozialen Medien bestimmten Auslandskämpfern oder
Predigern folgen, die sie wie Popstars bewundern. Es kann zum Standing und
zum „Coolsein“ in der Gruppe gehören, das neueste IS-Video auf dem
-
Smartphone anzusehen und zu versenden - ohne deswegen radikal zu sein.3
Einige können dadurch in eine gefährliche Radikalisierungsspirale geraten. Ob
das der Fall ist, kann nur durch ein sorgfältiges Clearingverfahren abgeklärt
werden. Manchmal wird man in diesem Fall auch Hilfe von externen Profis
brauchen. Eine einfache Liste mit Merkmalen, woran man eine einsetzende
Radikalisierung erkennt, gibt es nicht. Ein möglicher Indikator ist ein Abbruch
der Beziehungen zum bisherigen sozialen Umfeld, ein Rückzug des
Jugendlichen.
Aus dieser Diversität ergibt sich für die pädagogische oder schulpsychologische
Praxis die Notwendigkeit, genau hinzusehen und zu differenzieren. Dieses
sorgfältige Hinsehen auf jeden individuellen Fall, worum es den Schülern eigentlich
geht, statt sie vielleicht vorschnell als „extrem“ oder „radikal“ zu etikettieren, kann
durch nichts ersetzt werden. Auch Lehrer haben heute die Bilder des Terrors und die
gesellschaftliche Islamdebatte im Kopf. Es setzt ein hohes Maß an Selbstreflexion
und pädagogischer Professionalität voraus, mit diesem Phänomen
Erziehungsperson nicht im Modus des „Kulturkampfs“ umzugehen.
als
(2) Balance zwischen interkultureller Öffnung und aktivem Vorgehen gegen extreme
Positionen
Die Schüler aus Familien mit muslimischem Religionsbekenntnis können als „post9/11-Generation“ verstanden werden. Sie sind aufgewachsen im Kontext der
globalen Konflikte rund um al-Qaida und des „Kriegs gegen den Terror“, mitsamt
einer heftigen Auseinandersetzung rund um die Integration der Muslime in Europa.
3
„Nicht jeder junge Mensch, der sich für diese Bewegungen, ihre Botschaften und Angebote interessiert
oder auch (vorübergehend) in diesen Milieus bewegt, ist deshalb bereits ideologisch radikalisiert oder gar
ein/e potenzielle/r Terrorist/in.“ (Herding/ Langner/ Glaser 2015).
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Sie haben die wachsenden islamfeindlichen Einstellungen in der Bevölkerung
miterlebt, reagieren empfindlich darauf. Für sie ist der Islam ein wichtiger Faktor
ihrer Identität, auch wenn sie vielleicht gar nicht religiös praktizierend sind oder
viel Wissen über den Islam haben. Es geht ihnen darum, in ihrer mehrfachen
Zugehörigkeit anerkannt zu werden – und ein solcher Anspruch wird manchmal
provokant oder aggressiv vorgebracht. Eine reflektierte Haltung gegenüber
muslimischer Religiosität unterscheidet klar zwischen dem Mainstream-Islam und
islamistischem Extremismus. Sie begünstigt ein offenes, inklusives Klima der
Anerkennung kulturell-religiöser Vielfalt in der Schule, in dem klare Signale der
Zugehörigkeit gesetzt werden. Passiert das nicht, dann kann die islamische Identität
zu einer Gegenidentität zu werden, die sich gegen das Umfeld richtet.
Eine differenzierte, reflexive Haltung, was Multireligiosität in der Schule
betrifft, ermöglicht dann auch, in Konflikten eine klare, normativ begründete
Position zu beziehen. Das Stichwort ist hier „Grundrechtsklarheit“ der Schule
(Edler 2015, Kap. 5). Es geht um Fälle, in denen Schüler die individuelle Freiheit
und Selbstbestimmung von Mitschülern nicht akzeptieren. Es geht dabei z.B. um
Versuche, andere Schüler aggressiv zu missionieren oder wegen der Einhaltung
bestimmter islamischer Regeln wie Fasten zu mobben. Es geht um Fälle, bei denen
Mädchen wegen ihrer angeblich „unislamischen“ Kleidung von Mitschülern
eingeschüchtert werden. Es geht um Herabwürdigung von Angehörigen anderer
Religionen, z.B. in Form von antisemitischen Aussagen, oder von Menschen ohne
religiöses Bekenntnis. Es geht um Werbung für extremistische Gruppen. Hier
werden die Verantwortlichen in der Schule klare Grenzen setzen und pädagogisch
intervenieren müssen, auch in einer Zusammenarbeit mit den christlichen und
islamischen Religionslehrern.
(5) Dialog als demokratische Tugend in Gesellschaft und Schule
Zentral erscheint mir dabei der Dialog und die pädagogische Beziehung - als
Alternative zu Polarisierung, Stigmatisierung und Konfrontation.
Es braucht im Schulalltag Räume, in denen ein zwangloses Gespräch über die
Lebenswelt der Jugendlichen, über Fragen der Zugehörigkeit und Religion geführt
werden können. Aktuelle politische Konflikte wie im Nahen Osten oder
djihadistischer Terror mit den Schülern sollten abseits vom Lehrplan besprochen
werden. Diese Konflikte und die damit verbundene öffentliche Debatte wirken auf
die Beziehungen der Schüler und beschäftigen sie stark. Es geht dann darum,
politisch und pädagogisch erwünschte Haltungen nicht von oben herab durchsetzen
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zu wollen, weil man damit nur Widerstand erzeugt. Dialogische Pädagogik bedeutet
dann, zuerst zuzuhören, nachzufragen, zu erfahren, was die Schüler umtreibt. Sich
interessieren, statt zu belehren. Versuchen, die Probleme, die hinter provokanten
oder radikalen Äußerungen stehen, zu erkennen. Versuchen, sich in den anderen
hineinzudenken und seine Perspektive nachzuvollziehen. Ein Klima herstellen, in
dem tabuisierte, schwierige Themen unter den Schülern angesprochen werden
können. Es ist eine schwierige Übung, dabei provokante und schwer erträgliche
extreme Meinungen zunächst einmal auszuhalten, ohne gleich zu bewerten und zu
beurteilen. Erst in einer zweiten Phase versuchen, andere Sichtweisen und sachliche
Informationen einzubringen, die Perspektiven der anderen in der Klasse
einzubeziehen. Die Beziehung von Person zu Person aufrechtzuerhalten - auch
wenn man mit der Meinung des anderen nicht einverstanden ist. Alternativen ins
Gespräch einbringen, wie sich Schüler auf andere Weise für die Menschen in Syrien
und für Gerechtigkeit engagieren könnten. Solche Gespräche sind eine wichtige
Form von primärer Prävention – lange bevor es um manifeste Radikalisierung geht.
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