„Jetzt bin ich dran…“ PSZ Kinder psychisch kranker Eltern psychosoziale zentren gmbh Tagungsdokumentation Freitag, 2. Oktober 2009, 9:00–17:00 Z 2000 – Veranstaltungszentrum Sparkassaplatz 2, A-2000 Stockerau INHALTSVERZEICHNIS Einführung: Kinder als Angehörige psychisch Erkrankter – ein Thema in NÖ? Dr. Wolfgang Grill & Maga. Doris Rath 2 Vortrag: Kinder mit psychisch kranken Eltern - Risiken, Belastungen und Resilienzen Prof. Dr. phil. Dipl.-Psychologe, Albert Lenz 8 Vortrag: Meine Mutter ist psychisch krank - Erfahrungsbericht einer Tochter Sylvia Pilz 29 Vortrag: Gefährdete Momente der Liebe? Dipl. Pädin. Maga. Christa Paulinz 35 Workshop 1: Angebote in Österreich und die Situation von erwachsenen Kindern psychisch kranker Eltern Maga. Joy Ladurner MSc 48 Workshop 2: Darüber reden, darüber schweigen - und: Was brauchen Kinder wirklich? Dipl. Pädin. Maga. Christa Paulinz & Drin. Sabine Röckel 78 Workshop 4: Diagnostik und Interventionen bei Kindern psychisch kranker Eltern Prof. Dr. phil. Dipl.-Psychologe, Albert Lenz 83 Ergebnisse der Evaluierung 105 Einführung: Kinder als Angehörige psychisch Erkrankter – ein Thema in NÖ? Dr. Wolfgang Grill (PSZ GmbH, Bündnis gegen Depression NÖ, Landesklinikum Weinviertel Hollabrunn) Maga. Doris Rath (PSZ GmbH, Bündnis gegen Depression NÖ) Tagungsdokumentation "Jetzt bin ich dran..." Kinder psychisch kranker Eltern Seite 2 von 105 Wolfgang Grill Doris Rath Kinder als Angehörige psychisch Erkrankter – ein Thema in NÖ ϑ ϑ ϑ ϑ Ziele der Veranstaltung Relevanz des Themas in NÖ Rahmen - Bündnis gegen Depression Ein Thema heute – Ablauf dieser Veranstaltung Wolfgang Grill Doris Rath Tagungsdokumentation "Jetzt bin ich dran..." Kinder psychisch kranker Eltern Seite 3 von 105 1 Kinder als Angehörige psychisch Erkrankter – ein Thema in NÖ – Ziele Veranstaltung ϑ ϑ ϑ Forcierung des Themas in der Erwachsenenpsychiatrie Vernetzung der Erwachsenenpsychiatrie, Kinder- und Jugendpsychiatrie, psychotherapeutische und psychosoziale Einrichtungen, Jugendwohlfahrt, Beratungseinrichtungen Initiativen zu einer abgestimmten familienorientierten Unterstützung Wolfgang Grill Doris Rath Kinder als Angehörige psychisch Erkrankter – ein Thema in NÖ – Ziele für betroffene Kinder Zielsetzung in der Beratung/Begleitung der betroffenen Kinder- und Jugendlichen ϑ Kindgerechte Information über Erkrankung des Elternteils um Verlustängste und Selbstwertproblematik vorzubeugen ϑ Entlastung von Scham- und Schuldgefühlen ϑ Erarbeitung von Krisenmanagement zur Entlastung von übergroßer Verantwortung, Etablierung bzw. Aktivierung einer Vertrauensperson ϑ Aufklärung über die Wichtigkeit sozialer Außenkontakte, Ermutigung und Unterstützung der gesamten Familie das Kind in seinem spontanen Bedürfnis nach sozialen Kontakten zu bestärken, und diese zu fördern Wolfgang Grill Doris Rath Tagungsdokumentation "Jetzt bin ich dran..." Kinder psychisch kranker Eltern Seite 4 von 105 2 Kinder als Angehörige psychisch Erkrankter – ein Thema in NÖ – Schätzungen ϑ ϑ ϑ ϑ Ca. 50 000 Kindern, die in Österreich mit zumind. einem Elternteil mit psychischer Erkrankung leben (Leixnering 2002) → in NÖ ca. 8000 Kinder unter 14 Jahren mit einer psychischen Erkrankung eines Elternteiles konfrontiert Gesundheitsbericht NÖ 2002: über 5000 Frauen in stationärer Behandlung, d.h. 500-1000 betroffene Kinder unter 18 Jahren (1020% dieser Pat. Kinder Mattejat, F., Lisofsky, B. ;2008) 1/3 der Entziehungen der Obsorge sind in D auf psychiatrische Erkrankung zurückzuführen – wären in NÖ ca. 600 betroffenen Kinder (1800 Kinder in Österreich in voller Erziehung der Jugendwohlfahrt) Psychosozialer Dienste NÖ OST - Dokumentation: 15% (ca. 350) KlientInnen haben Kinder Wolfgang Grill Doris Rath Kinder als Angehörige psychisch Erkrankter – ein Thema in NÖ – Bündnis gegen Depression ϑ EU-Projekt seit 2004, 17 Partnerländer in Europa ϑ in Österreich: Tirol, Steiermark, Kärnten, Wien, NÖ ϑ PartnerInnen NÖ: ϑ ϑ ϑ ϑ ϑ NÖGUS (Abteilung für Gesundheitsvorsorge), Einrichtungen der Psychosoziale Zentren GmbH Psychosozialer Dienst der Caritas St. Pölten, HSSG (Hilfe zur Selbsthilfe für seelische Gesundheit) HPE (Hilfe für Angehörige und Freunde psychisch Erkrankter) Wolfgang Grill Doris Rath Tagungsdokumentation "Jetzt bin ich dran..." Kinder psychisch kranker Eltern Seite 5 von 105 3 Bündnis gegen Depression: 4-Ebenen-Aktionsprogramm 1. 2. Kooperation mit HausärztInnen: Fortbildungen PR Aktivitäten: Aufklärung der Öffentlichkeit Ziel: 4. Bessere Versorgung für depressiv erkrankte Menschen Angebote für Betroffene und Angehörige 3. Zusammenarbeit mit MultiplikatorInnen: z.B. Pfarrer, LehrerInnen, Altenpflegekräfte Wolfgang Grill Doris Rath Kinder als Angehörige psychisch Erkrankter – ein Thema in NÖ – Bündnis gegen Depression Ergebnisse 2008 (Caritas St. Pölten und PSZ GmbH) ϑ Homepage (www.buendnis-depression.at), Folder, Informationsmaterial etc. ϑ 44 Schulveranstaltungen (2029 TN), 46 Veranstaltungen in VHS, Pfarren, gesunden Gemeinde etc. (1544 TN), 22 Veranstaltungen für Angehörige, MultiplikatorInnen und AllgemeinmedizinerInnen (597 TN) ϑ 45% gemeinsam mit Betroffenen Wolfgang Grill Doris Rath Tagungsdokumentation "Jetzt bin ich dran..." Kinder psychisch kranker Eltern Seite 6 von 105 4 Vielen Dank für die Aufmerksamkeit! Wolfgang Grill Doris Rath Tagungsdokumentation "Jetzt bin ich dran..." Kinder psychisch kranker Eltern Seite 7 von 105 5 Vortrag: Kinder mit psychisch kranken Eltern - Risiken, Belastungen und Resilienzen Prof. Dr. Albert Lenz (Kath. Hochschule Nordrhein Westfalen, Abteilung Paderborn) Kinder, die in Familien mit psychisch kranken Eltern aufwachsen, sind in vielfältiger Weise durch die elterliche Erkrankung betroffen und stehen unter erhöhtem Risiko, selbst eine psychische Störung zu entwickeln. Ob in Belastungssituationen Stress entsteht, der das Risiko für die Entwicklung von gesundheitlichen Beschwerden, psychischen Störungen und Verhaltensauffälligkeiten erhöht, hängt wesentlich davon ab, welche Mittel und Wege vorhanden sind, das heißt welche Ressourcen und Resilienzen verfügbar und mobilisierbar sind. Im dem Vortrag werden zum einen die zentralen Befunde der Belastungs- und Risikoforschung vorgestellt, zum anderen wird ein Überblick über die wichtigsten Ergebnisse der Bewältigungs- und Resilienzforschung gegeben, die wichtige Ansatzpunkte für die Praxis bieten. Tagungsdokumentation "Jetzt bin ich dran..." Kinder psychisch kranker Eltern Seite 8 von 105 KatHO NRW Aachen Köln Münster Paderborn Kinder psychisch kranker Eltern Risiken, Belastungen, Resilienzen Prof. Dr. Albert Lenz Diplom-Psychologe Katholische Hochschule Nordrhein-Westfalen Abteilung Paderborn Leostraße 19 - 33098 Paderborn Telefon 05251-122556: E-Mail: [email protected] www.katho-nrw.de KatHO NRW Aachen Köln Münster Paderborn Überblick 1. Ergebnisse der Risikoforschung 2. Belastungen: Einflussfaktoren und Wirkmechanismen 3. Resilienzen: Ergebnisse der Resilienzund Bewältigungsforschung 1 Tagungsdokumentation "Jetzt bin ich dran..." Kinder psychisch kranker Eltern Seite 9 von 105 KatHO NRW Aachen Köln Münster Paderborn Prävalenz psychisch kranker Eltern – konsekutive Erhebung (Lenz, 2005) Von den erfassten 808 erfassten Patient(-innen) hatten ca. 27 % Kinder unter 18 Jahren. Dabei zeigten sich signifikante geschlechtsspezifische Unterschiede: • 34 % der Patientinnen und 18 % der Patienten hatten Kinder unter 18 Jahren. • Ca. 77 % der Patientinnen lebten mit ihren minderjährigen Kindern auch zusammen, ca. 60 % der befragten Patienten wohnten mit ihren Kindern im selben Haushalt • unter den Patienten mit Kindern unter 18 Jahren waren alle großen Diagnosegruppen vertreten. KatHO NRW Aachen Köln Münster Paderborn Ergebnisse aus der Risikoforschung In der Allgemeinbevölkerung liegt das lebenslange Erkrankungsrisiko für Schizophrenie bei 1 %: • es ist um mehr als das 10 fache erhöht, wenn ein Elternteil unter einer schizophrenen Erkrankung leidet. • sind beide Elternteile erkrankt, liegt das Erkrankungsrisiko für die leiblichen Kinder bei etwa 40 % (Owen & O`Donovan, 2005). 2 Tagungsdokumentation "Jetzt bin ich dran..." Kinder psychisch kranker Eltern Seite 10 von 105 KatHO NRW Aachen Köln Münster Paderborn Ergebnisse aus der Risikoforschung In der Allgemeinbevölkerung liegt das Erkrankungsrisiko für Major Depression bei 12 % • bei einem Elternteil, der an einer majoren Depression leidet, beträgt das Erkrankungsrisiko für die Kinder etwa 26 %. • sind beide Elternteile erkrankt, liegt das Erkrankungsrisiko für die leiblichen Kinder bei über 28 % (Beardslee, 2002). KatHO NRW Aachen Köln Münster Paderborn Ergebnisse aus der Risikoforschung Metaanalysen haben gezeigt, dass etwa 61 % der Kinder von Eltern mit einer majoren Depression im Verlaufe der Kindheit/Jugend eine psychische Störung entwickeln (Beardslee, 2002; Beardslee et al., 2003). 3 Tagungsdokumentation "Jetzt bin ich dran..." Kinder psychisch kranker Eltern Seite 11 von 105 KatHO NRW Aachen Köln Münster Paderborn Belastungsfaktoren und Wirkmechanismen Genetische Faktoren Keine determinierende Wirkung! Genetische Faktoren moderieren die Umwelteffekte: d.h. die genetische Ausstattung bestimmt darüber mit, ob sich belastende Lebensereignisse pathogen auswirken oder nicht (Caspi et al., 2003) KatHO NRW Aachen Köln Münster Paderborn Psychosoziale Belastungen Kinder psychisch kranker Eltern sind folgenden familiären Risikofaktoren besonders häufig ausgesetzt (Ihle et al., 2001): • • • • sozioökonomische und soziokulturelle Aspekte wie Armut, unzureichende Wohnverhältnisse oder kulturelle Diskriminierung der Familie niedriger Ausbildungsstand bzw. Berufsstatus der Eltern und Arbeitslosigkeit Verlust von wichtigen Bezugspersonen, insbesondere eines Elternteils Zwei bis fünffach erhöhte Wahrscheinlichkeit für Vernachlässigung, Misshandlung und sexuellen Missbrauch. 4 Tagungsdokumentation "Jetzt bin ich dran..." Kinder psychisch kranker Eltern Seite 12 von 105 KatHO NRW Aachen Köln Münster Paderborn Belastungsfaktoren und Wirkmechanismen Art und Verlauf der Erkrankung • Beginn und Schweregrad der elterlichen Erkrankung • Krankheitsverlauf: schwere rezidivierende Verlaufsformen gehen mit einer hohen familiären Belastung einher • Geschlecht des erkrankten Elternteils (Hammen et al. 1990) KatHO NRW Aachen Köln Münster Paderborn Belastungsfaktoren und Wirkmechanismen Eltern-Kind-Interaktion • Empathie und emotionale Verfügbarkeit der Mütter sind durch die Depression reduziert • Feinfühligkeit, d.h. die Fähigkeit kindliche Signale wahrzunehmen, sie richtig zu interpretieren sowie prompt und angemessen darauf zu reagieren, ist eingeschränkt • Blickkontakt, Lächeln, Sprechen, Imitieren, Streicheln und Interaktionsspiele sind reduziert 5 Tagungsdokumentation "Jetzt bin ich dran..." Kinder psychisch kranker Eltern Seite 13 von 105 KatHO NRW Aachen Köln Münster Paderborn Belastungsfaktoren und Wirkmechanismen Die Mehrzahl der Studien befasst sich mit Einschränkungen in bindungsrelevanten Fähigkeiten, speziell in der elterlichen Sensitivität : • Unter- oder Überstimulation des Kindes • Unberechenbarkeit durch stark wechselndes Interaktionsverhalten Diese Interaktionsmerkmale sind als grundlegende Muster auch in der Kommunikation zwischen den psychisch kranken Eltern und ihren älteren Kindern zu finden (Deneke, 2007). KatHO NRW Aachen Köln Münster Paderborn Belastungsfaktoren und Wirkmechanismen Erziehungsverhalten • psychisch kranke Mütter nehmen die Kinder als besonders schwierig wahr • die Mütter haben Schwierigkeiten, sich durchzusetzen und Grenzen zu setzen • Mütter reagieren teilweise überängstlich und erlauben expansive Tendenzen zu wenig (Erziehungsstil schwankt zwischen permissiv und kontrollierend- einengend) • positive Kommentare, die das kindliche Selbstwertgefühl stärken, kommen weniger vor 6 Tagungsdokumentation "Jetzt bin ich dran..." Kinder psychisch kranker Eltern Seite 14 von 105 KatHO NRW Aachen Köln Münster Paderborn Belastungsfaktoren und Wirkmechanismen Belastungserleben der Kinder durch die elterliche Symptomatik (Mattejat, 2002). Z. B. bei depressiver Symptomatik: • Einschränkung der sozialen Kontakte der Familie • Einengung des kindlichen Handlungs- und Bewegungsspielraumes • Überbehütung und Überbesorgnis irritieren die Kinder und lösen Ängste und Unsicherheit, aber auch Wut und Aggressionen aus, die in Schuldgefühle umschlagen können. KatHO NRW Aachen Köln Münster Paderborn Belastungsfaktoren und Wirkmechanismen Belastungserleben der Kinder bei elterlicher Psychose (Sollberger, 2008) „Ist es die Mutter/der Vater, die/der krank ist, die/den die Kinder sehen oder ist es doch mehr die kranke Mutter/der kranke Vater?“ Ist die Krankheit eine Eigenschaft der Person oder definiert die Krankheit die Person umfassend und grundlegend? 7 Tagungsdokumentation "Jetzt bin ich dran..." Kinder psychisch kranker Eltern Seite 15 von 105 KatHO NRW Aachen Köln Münster Paderborn Belastungsfaktoren und Wirkmechanismen Tabuisierung und Kommunikationsverbot (Lenz, 2005) • Krankheit wird innerhalb der Familie umschrieben, umgedeutet, verschleiert • Schweigegebot nach außen • Krankheit gewinnt den Charakter eines geteilten Familiengeheimnisses KatHO NRW Aachen Köln Münster Paderborn Belastungsfaktoren und Wirkmechanismen Ent-Normalisierung des familiären Alltags (Lenz, 2005) • • • • Zusammenbruch vertrauter familiärer Strukturen Vorsicht, Rücksichtnahme und Schonung „Trennungsschuld“ auf Seiten der Kinder Schuldgefühle auf Seiten des erkrankten und/oder des gesunden Elternteils 8 Tagungsdokumentation "Jetzt bin ich dran..." Kinder psychisch kranker Eltern Seite 16 von 105 KatHO NRW Aachen Köln Münster Paderborn Belastungsfaktoren und Wirkmechanismen Gefühlslagen der Kinder (Lenz, 2005) • Kinder empfinden Ängste sowie Gefühle des Verlustes, der Trauer • Besonders quälend sind die Schuldgefühle • Gefühle der Hoffnungslosigkeit, Resignation und Demoralisierung • Ärger und sogar Wut auf den erkrankten Elternteil KatHO NRW Aachen Köln Münster Paderborn Belastungsfaktoren und Wirkmechanismen Parentifizierung (Lenz, 2008) Durch die psychische Erkrankung werden die Grenzen zwischen den familiären Subsystemen diffus: insbesondere die Generationengrenzen verwischen. Es kommt einer Rollenumkehr, in der Kinder Eltern- oder Partnerfunktion für ihre Eltern übernehmen. 9 Tagungsdokumentation "Jetzt bin ich dran..." Kinder psychisch kranker Eltern Seite 17 von 105 KatHO NRW Aachen Köln Münster Paderborn Belastungsfaktoren und Wirkmechanismen Angst der Kinder vor „Vererbung“(Lenz, 2005) Insbesondere ältere Kinder und Jugendliche beschäftigen sich mit der Frage, wie groß die Gefahr ist bzw. sein könnte, im späteren Leben mit ähnlichen Problemen wie der erkrankte Elternteil konfrontiert zu sein. KatHO NRW Aachen Köln Münster Paderborn Belastungsfaktoren und Wirkmechanismen Fehlende soziale Unterstützung (Lenz, 2005) Kinder meiden eher die Kontakte zu familienexternen Personen • aufgrund des Schweige- und Kommunikationsverbotes • aufgrund der emotionalen Verstrickungen im Familiensystem • aus Angst vor Stigmatisierung 10 Tagungsdokumentation "Jetzt bin ich dran..." Kinder psychisch kranker Eltern Seite 18 von 105 KatHO NRW Aachen Köln Münster Paderborn Bewältigung Ob Belastungen zu Störungen führen, hängt entscheidend von der Art und Weise des Umgangs mit den Belastungen (Coping) und der Verfügbarkeit und Mobilisierung von Bewältigungsressourcen (Schutzfaktoren) der Person ab (Seiffge-Krenke & Lohaus, 2007). KatHO NRW Aachen Köln Münster Paderborn Bewältigung Antworten auf die Frage, warum Kinder Belastungen scheinbar „unverletzt“ überstehen, liefern • Resilienzforschung • Bewältigungs- (Coping-) Forschung 11 Tagungsdokumentation "Jetzt bin ich dran..." Kinder psychisch kranker Eltern Seite 19 von 105 KatHO NRW Aachen Köln Münster Paderborn Ergebnisse der Resilienzforschung Generelle Schutzfaktoren für Kinder psychisch kranker Eltern (Bender & Lösel, 1998) • Personale Schutzfaktoren • Familiäre Schutzfaktoren • Soziale Schutzfaktoren KatHO NRW Aachen Köln Münster Paderborn Ergebnisse der Resilienzforschung Kindzentrierte Schutzfaktoren • Temperamentsmerkmale wie Flexibilität, Anpassungsvermögen an Veränderungen, Soziabilität • Soziale Empathie und Ausdrucksfähigkeit • Effektive Problemlösefähigkeit und realistische Einschätzung persönlicher Ziele • Positive Selbstwertkonzepte, Selbstwirksamkeitsüberzeugungen und internale Kontrollüberzeugungen • Ausgeprägtes Kohärenzgefühl 12 Tagungsdokumentation "Jetzt bin ich dran..." Kinder psychisch kranker Eltern Seite 20 von 105 KatHO NRW Aachen Köln Münster Paderborn Ergebnisse der Resilienzforschung Familienzentrierte Schutzfaktoren • Emotional sichere und stabile Beziehung zu erwachsenen Bezugspersonen • Positive, zugewandte und akzeptierende, zugleich normorientierte, angemessen fordernde und kontrollierende Erziehung • Gute Paarbeziehung der Eltern • Flexible familiäre Beziehungsstrukturen KatHO NRW Aachen Köln Münster Paderborn Ergebnisse der Resilienzforschung Soziale Schutzfaktoren • Soziale Unterstützung und sozialer Rückhalt durch Personen außerhalb der Familie • Einbindung in ein Peer-Netzwerk • Soziale Integration in Gemeinde, Vereine, Kirche etc. 13 Tagungsdokumentation "Jetzt bin ich dran..." Kinder psychisch kranker Eltern Seite 21 von 105 KatHO NRW Aachen Köln Münster Paderborn Ergebnisse der Resilienzforschung Spezifische Schutzfaktoren für Kinder psychisch kranker Eltern (Mattejat et al., 2000) • Alters- und entwicklungsadäquate Informationsvermittlung und Aufklärung der Kinder über die Erkrankung und Behandlung des Elternteils • Adäquate individuelle und familiäre Krankheitsbewältigung KatHO NRW Aachen Köln Münster Paderborn Ergebnisse der Coping-Forschung Bewältigungsstrategien im Kindesalter • Problemlösende Strategien • Suche nach sozialer Unterstützung • Emotionsregulierende Strategien (konstruktive und destruktive Regulation) • Problemmeidung (Beyer & Lohaus, 2007) 14 Tagungsdokumentation "Jetzt bin ich dran..." Kinder psychisch kranker Eltern Seite 22 von 105 KatHO NRW Aachen Köln Münster Paderborn Ergebnisse der Coping-Forschung Situationsangemessenheit der Bewältigungsstrategien Bestimmte Bewältigungsstrategien sind nicht per se günstig und andere ungünstig. Entscheidend ist vielmehr die Passung zwischen Merkmalen der Situation und dem Bewältigungsverhalten (Klein-Heßling & Lohaus, 2002). KatHO NRW Aachen Köln Münster Paderborn Ergebnisse der Coping-Forschung Bewältigungsstrategien von Kindern und Jugendlichen (Compas et al., 2001; Lohaus & Beyer, 2007): • Problemlösende Bewältigung, die als direkte Strategie auf die Beeinflussung der Ursachen von Belastungen abzielt. • Emotionsregulierende Bewältigung, die als internale Strategie das primäre Ziel hat, die Beanspruchung auf Seiten des betroffenen Kindes zu regulieren. • Die Suche nach sozialer Unterstützung besitzt sowohl problemlösende als auch emotionsregulierende Funktion 15 Tagungsdokumentation "Jetzt bin ich dran..." Kinder psychisch kranker Eltern Seite 23 von 105 KatHO NRW Aachen Köln Münster Paderborn Familiäre Resilienz Die Schutzfaktoren und Bewältigungshandlungen wirken in einem komplex vernetzten Prozess aufeinander ein und beeinflussen sich durch die vielfältigen Wechselwirkungen gegenseitig. Aus einer systemischen Perspektive spricht man von der familiären Resilienz. KatHO NRW Aachen Köln Münster Paderborn Präventive Interventionen - Ausgangsüberlegung Die Förderung der familiären Resilienz (d.h. personaler, familiärer und sozialer Schutzfaktoren sowie konstruktiver Bewältigungsstrategien) können die Entwicklung von psychischen Störungen bei Kindern verhindern (Lenz, 2008). 16 Tagungsdokumentation "Jetzt bin ich dran..." Kinder psychisch kranker Eltern Seite 24 von 105 KatHO NRW Aachen Köln Münster Paderborn Kooperation als Voraussetzung für wirksame Hilfeleistungen (Lenz, 2008) ¾ Kooperation vor allem zwischen Kinder- und Jugendhilfe und dem Gesundheitssystem (ergibt sich durch dem Versorgungsauftrag der beiden Hilfesysteme) ¾ Kooperation mit Schulen und Kindergärten Erforderlich ist darüber hinaus ¾ Kontinuität und Verlässlichkeit der Hilfsangebote durch Integration in reguläre Versorgungsstrukturen KatHO NRW Aachen Köln Münster Paderborn Kooperation als Voraussetzung für wirksame Hilfeleistungen (Lenz, in Druck) Die Notwendigkeit für Kooperation zwischen den beiden Hilfesystemen lässt sich folgendermaßen begründen: ¾ elterliche Erkrankung ist mit großen Belastungen verbunden und erhöht das Störungsrisiko der Kinder ¾ Lebenssituation als Eltern stellt für psychisch Kranke eine zusätzliche Belastungsquelle dar ¾ Ängste und Schuldgefühle wirken sich negativ auf den Gesundungsprozess 17 Tagungsdokumentation "Jetzt bin ich dran..." Kinder psychisch kranker Eltern Seite 25 von 105 KatHO NRW Aachen Köln Münster Paderborn Multimodales Präventionsprogramm „Ressourcen fördern“ (Lenz, in Vorbereitung) Basismodule 1. Kooperation zwischen den Systemen der Kinder- und Jugendhilfe und der Psychiatrie 2. Kinder als Angehörige – Wahrnehmung der Kinder und Einbeziehung in die Behandlung des erkrankten Elternteils KatHO NRW Aachen Köln Münster Paderborn Multimodales Präventionsprogramm „Ressourcen fördern“ (Lenz, in Vorbereitung) Interventionsmodule 1. Diagnostische Einschätzung der Belastungen und Ressourcen 2. Förderung der familiären Kommunikation 3. Förderung der Problemlösekompetenz der Kinder und Jugendlichen 4. Förderung sozialer Ressourcen der Kinder und Familien 5. Psychoedukation für Kinder und Jugendliche 18 Tagungsdokumentation "Jetzt bin ich dran..." Kinder psychisch kranker Eltern Seite 26 von 105 KatHO NRW Aachen Köln Münster Paderborn Literatur • Fritz Mattejat & Beate Lisofsky (Hrsg.) (2008): Nicht von schlechten Eltern. Kinder psychisch kranker Eltern. Bonn: Psychiatrie Verlag • Albert Lenz (2005): Kinder psychisch kranker Eltern. Göttingen: Hogrefe Verlag • Albert Lenz (2008): Interventionen bei Kindern psychisch kranker Eltern. Göttingen: Hogrefe Verlag • Albert Lenz & Johannes Jungbauer (Hrsg.) (2008):Kinder und Partner psychisch kranker Menschen. Tübingen: dgvtVerlag KatHO NRW Aachen Köln Münster Paderborn Literatur in Vorbereitung Albert Lenz Ressourcen fördern Materialien für die Arbeit mit Kindern und ihren psychisch kranken Eltern Göttingen: Hogrefe erscheint 2010 19 Tagungsdokumentation "Jetzt bin ich dran..." Kinder psychisch kranker Eltern Seite 27 von 105 KatHO NRW Aachen Köln Münster Paderborn Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit! 20 Tagungsdokumentation "Jetzt bin ich dran..." Kinder psychisch kranker Eltern Seite 28 von 105 Vortrag: Meine Mutter ist psychisch krank Erfahrungsbericht einer Tochter Sylvia Pilz Schilderung der Erfahrungen einer Tochter im Umgang mit der psychisch erkrankten Mutter zu den Themen Krankheit – Beginn und Verlauf, Diagnose und Behandlung, Krankheitseinsicht der Mutter, Umgang mit Gesundheitsdienstleistern, Umgang mit der Situation (in der Familie, persönlich), Hilfestellungen und Möglichkeiten der Unterstützung. Tagungsdokumentation "Jetzt bin ich dran..." Kinder psychisch kranker Eltern Seite 29 von 105 Tochter einer psychisch erkrankten Mutter Ein Erfahrungsbericht 2. Oktober 2009 Beginn und Verlauf Wegfall des Nebenerwerbs, Auszug der Kinder, Wechseljahre etc. Depression – Manie – Depression – Manie…. Erholungsphase für alle Tagungsdokumentation "Jetzt bin ich dran..." Kinder psychisch kranker Eltern Seite 30 von 105 Diagnose und Behandlung Neurologen Offizieller Arztbericht: 2 Jahre nach Beginn der Krankheit Æ erster KH Aufenthalt Beipackzettel Krankheitseinsicht der Mutter ? Depression: ja Manie: nein Kommunikationsschwierigkeiten Æ Krankheit darf nicht präsent sein Æ Angst vor weiteren Ausbrüchen Neue Rollenverteilung in der gesamten Familie Tagungsdokumentation "Jetzt bin ich dran..." Kinder psychisch kranker Eltern Seite 31 von 105 Gesundheitsdienstleister ? Keine Kontaktaufnahme von Ärzten etc. Keine Kontaktaufnahme seitens der Familie Lediglich: Bereitstellung von Listen Psychologinnen in näherer Umgebung Programme für sportlichen Ausgleich Umgang mit der Situation Schweigen Hilflosigkeit Schock Wut, Aggression Überforderung Abgrenzen – Flucht ins Ausland Verständnis ? Schuld ? Tagungsdokumentation "Jetzt bin ich dran..." Kinder psychisch kranker Eltern Seite 32 von 105 Umgang mit der Situation Schwierigstes Element: Einsicht der Eltern u. a., dass Kinder die Situation mitnimmt, ebenso betrifft, ebenso emotional belastet etc. Keine Kommunikation außer in Extremfällen (eingeschränkte Komm.) Das Positive Zusammenhalt unter Geschwistern erhöht Selbstreflexion und Selbstvertrauen wurden intensiviert - Bewusstsein und Bewusstmachen der eigenen Grenzen - Gesteigerte Freude an den kleinen Dingen Tagungsdokumentation "Jetzt bin ich dran..." Kinder psychisch kranker Eltern Seite 33 von 105 Was hat geholfen? Gespräche mit Geschwistern HPE Wien ? Psychologische Beratungsstellen, Gespräche bzw. Information von Ärzten etc. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit! Tagungsdokumentation "Jetzt bin ich dran..." Kinder psychisch kranker Eltern Seite 34 von 105 Vortrag: Gefährdete Momente der Liebe? – Zum Beziehungsaufbau zwischen Kindern und psychisch kranken Eltern Dipl. Pädin. Maga. Christa Paulinz (Psychotherapeutin, Beratungslehrerin NÖ) Was lässt sich vor dem Hintergrund von Bindungstheorie und psychoanalytischer Selbstpsychologie über den Beziehungsaufbau zwischen Kindern und Eltern verstehen, wenn dieser Prozess durch die psychische Erkrankung der Pflegeperson geprägt ist? In zwei Fallvignetten werden besonders die frühen Jahre der kindlichen Entwicklung und die Adoleszenz unter diesen spezifischen Voraussetzungen beleuchtet. Tagungsdokumentation "Jetzt bin ich dran..." Kinder psychisch kranker Eltern Seite 35 von 105 Gefährdete Momente der Liebe ­ Zum Beziehungsaufbau zwischen Kindern und psychisch kranken Eltern Was lässt sich vor dem Hintergrund von Bindungstheorie und psychoanalytischer Selbstpsychologie über den Beziehungsaufbau zwischen Kindern und Eltern verstehen, wenn dieser Prozess durch die psychische Erkrankung der Pflegeperson geprägt ist? 1. Einführung 2. Beziehungsaufbau /bindungstheoretische Perspektive/1. Lebensjahr 3. Ausschnitt aus einem Beziehungsprozess / selbstpsychologische Perspektive (Narzissmuskonzept)/ Adoleszenz 4. Schlussfolgerungen In diese Arbeit sind Bilder und Erinnerungen aus meiner Arbeit mit Eltern, Kindern und Jugendlichen eingewoben, in deren Familiensystem eine psychische Erkrankung das Miteinander prägte. Meine Erfahrungen stammen aus meiner Arbeit als Beratungslehrerin und als Psychotherapeutin. Die beiden beschriebenen Prozesse sind anonymisiert; sie sind ein Amalgam von Erfahrungsbildern. Es könnte so oder ganz anders gewesen sein. Jede Geschichte, jeder Verlauf ist für sich verstanden einzigartig: Allerdings bilden Schuld und Scham, Wort‐, Sprach‐ und Verständnislosigkeit zentrale Elemente entlang der Entwicklung von Beziehung zwischen Kind /Jungendlichen und der Pflegeperson. Sie sind die Hauptfaktoren der Gefährdung von Liebe. In seinem Roman „Das Kind“ (Bernhard 1982) findet Thomas Bernhard Worte für das Unsagbare: 2 Tagungsdokumentation "Jetzt bin ich dran..." Kinder psychisch kranker Eltern Seite 36 von 105 „Wir alle waren auf dem Drahtseil und drohten abzustürzen, tödlich…. Insoferne waren wir eine seiltanzende Zirkusfamilie, die es sich niemals und auch nicht einen Augenblick gestattete, von dem Seil herunterzusteigen, und deren Übungen von Tag zu Tag schwieriger wurden. Wir waren auf dem Seil gefangen, vollführten unsere Überlebenskunst, die sogenannte Normalität lag unter uns, wir trauten uns nicht, in die Normalität hineinzustürzen, …..“ (Bernhard 1982, S. 44f.). Wenn sich Miteinander in Familien so gefährlich, ja tödlich anfühlen kann – welche Herausforderungen bedeutet das für uns als Helfer? 1. Neben der Vielfalt, in der psychische Krankheiten zum Ausdruck kommen, macht es einen Unterschied, ob die psychische Erkrankung der Pflegeperson diagnostiziert und behandelt wird –oder eben nicht, ob die Krankheit einmalig oder episodisch auftritt –oder chronifiziert ist, welche Ressourcen das System bereithält ( Unterstützung, Begleitung, finanzielle Bedingungen etc.) und welche Belastungen aus dem System erwachsen (Stigmatisierung, Vereinsamung, Isolation etc.), um nur einige prozessbestimmende Faktoren zu benennen. Besonders aufgefallen ist mir die Anstrengung von Müttern oder Vätern, sich in ihrer Krankheit um „Inseln von Gesundheit“ im Sinne ihrer Kinder zu bemühen. Wenn das psychische Krankheitsbild auf irgendeine Weise soweit im System Familie und dessen Umfeld verstanden werden kann, dass an die Stelle der Sprachlosigkeit und Verzerrung, die eine psychische Krankheit mit sich bringt, Worte und Verstehen treten, so entsteht daraus eine echte Chance, den Beziehungsaufbau trotz aller Belastungen gelingen zu lassen. Aber, davon hat mich meine langjährige Arbeit in diesem Bereich überzeugt: Es geht nicht ohne Hilfe und Unterstützung. Hinter den Überlegungen zu Hilfe und Unterstützung verbirgt sich die Frage, welche Faktoren für die ausreichend gute Entwicklung eines Kindes fundamental und unverzichtbar sind. Sind es Aspekte der Liebe, wie der Vortragstitel vorschlägt ‐in den Sprachen von Psychologie, Neurobiologie, Psychoanalyse: die Bezogenheit, Fürsorge, Oxytocin, Stolz, elterliche Feinfühligkeit, „der Glanz im Auge der Mutter“ ,die dyadische Struktur der Psyche…? Vielleicht haben Sie sich über den romantischen Begriff gewundert: Liebe, und dann noch „Gefährdete Momente der Liebe“, das hat schon was von Rosamund Pilcher, wo sich unsere Gesellschaft doch in vielerlei Hinsicht an darwinistischen Prinzipien orientiert, die von der Idee des „Survival of the Fittest“ dominiert ist. Historisch betrachtet ist die Geschichte der Kindheit jedenfalls von der Vorstellung des Rechts des Stärkeren mit allen Implikationen wie Missachtung basaler Bedürfnisse, Wert und Unwert kindlicher Existenz etc. geprägt, und das bis weit in die Mitte des vergangenen Jahrhunderts hinein. Neben anderen Gründen erzwingen die Folgen des 2. Weltkriegs die wissenschaftliche Aufmerksamkeit auf den Säugling und dessen Bedürfnisse (Ich erinnere an dieser Stelle an 3 Tagungsdokumentation "Jetzt bin ich dran..." Kinder psychisch kranker Eltern Seite 37 von 105 Forschungsunternehmen zu den Folgen frühkindlicher Deprivation, die eng mit den Persönlichkeiten von Spitz und Bowlby verbunden ist). Tatsache ist, dass der Säugling existentiell auf Unterstützung angewiesen ist, die seine Lebensfunktionen schützt und adäquat zur Entwicklung bringt. Das bedeutet: Die Pflegeperson ist unverzichtbar, und ihre Möglichkeiten und Fähigkeiten zur Fürsorge prägen die Interaktion mit dem Säugling und seine intrapsychische Entwicklung. Weder Mutter noch Kind haben für diesen Prozess Instinktmuster zur Verfügung; der emotionale Austausch zwischen Mutter und Kind stößt Entwicklungen im Kind (und wohl auch in der Mutter) an, und formt sie. Wie die Pflegeperson die Bedürfnisse des Kindes wahrnimmt und auslegt, ist auf ihre Vorstellungen, ihre Phantasien aufgebaut. Wenn eigene Bedürfnisse den Blick auf die Bedürfnisse des Kindes zu sehr verstellen, ist die Ausbildung psychischer Stabilität des Kindes gefährdet. Psychische Erkrankungen schränken ganz allgemein gesprochen den Blick auf die Bedürfnisse des Anderen ein, oder verzerren sie. Wie verstehen wir die Auswirkung der Einschränkungen und Verzerrungen durch psychische Erkrankung, die das Pflegeverhalten eines Elternteils bestimmt? Fürsorgepraktiken gelten anfänglich in der Pflege und im Kontakt den elementaren Emotionen des Säuglings, seinen sinnlichen und subjektiven Erfahrungen. Sie bilden die Grundlage für menschliches Denken, Symbolbildung und Sprache. Die Qualität von Nähe, Zuwendung und emotionaler Wärme wird so zur Basis für kreatives und logisch reflektiertes Denken (Greenspan und Shanker 2007). Veränderungen passieren nach diesem Bild nicht durch den Wandel der genetischen Struktur im Ausleseprozess – wie uns das darwinistische Modell vermittelt‐, und die bisherige Anlage Umwelt Debatte greift für mein Verstehen zu kurz. Es sind Lernerfahrungen, die regulierende Gene beeinflussen, die wieder auf die Biologie wirken, die für die Bildung neuronaler Bahnen verantwortlich ist, ohne die Langzeitgedächtnis ‐ also in gewisser Weise der Entwurf meines Selbst, meine Vergangenheit‐ nicht möglich ist ( Kandel 2006, Bauer 2008). Wesentliche Lernschritte, die zum symbolischen Denken, zur Sprache führen, sind in kulturelle Lernprozesse eingebunden, und NICHT bloß auf unsere Genstruktur zu reduzieren. Genetische Ausstattung ist kein automatisierter Entwicklungsfaktor, sonder Stimuli der Außenwelt, emotionale Geschehnisse regen Genexpression, Genaktivität an, schalten sie also gleichsam ein oder aus – Erfahrungen bestimmen Entwicklung, Identitätsbildung und emotionale Anerkennung bedingen einander (Bauer 2008). Psychologie und Neurobiologie bestätigen die überragende Bedeutung einer Betreuungsperson, die beständige emotionale Zuwendung anbietet. Wenn ein Mensch auf die Welt kommt, braucht er einen verstehenden Anderen, mit dessen Hilfe er sein Selbst entfalten kann, d.h.: die Notwendigkeit der Bezogenheit, Interaktion, Empathie der Pflegeperson, das aufkeimende Selbstverhältnis des Kindes zu seinem Selbst, seine Identitätsbildung. 4 Tagungsdokumentation "Jetzt bin ich dran..." Kinder psychisch kranker Eltern Seite 38 von 105 Soweit so gut. Wie übersetzt sich die Wissensflut um die Bedürfnisse von Kindern in Beziehung und Erziehungspraktiken? Was ist gut (genug)? Wann ist man – so im Verständnis Winnicotts‐ eine „good enough mother“, ein „good enough father“? Oder – im Sinne des Vortragstitels: was im elterlichen Handeln und Sein könnte die Momente der Liebe – die das Fundament für eine gelingende Beziehung bilden, gefährden? Wie, wie lange und auf welche Weise braucht das Kind, der Jugendliche Zuwendung und Unterstützung? Darüber herrscht kein gesellschaftlicher Konsens im Sinne von Verantwortlichkeiten: Wie wollen/müssen Kinder und Jugendliche gehört und verstanden werden, damit sie auf die Herausforderungen des Lebens antworten können? Ich halte es für eine unverzichtbare Aufgabe der Gesellschaft, dafür Sorge zu tragen, dass Eltern der Beziehungsaufbau zu ihren Kindern gelingen kann, also: dass sie Gelegenheit haben, „gut genug, ausreichend genug“ für Entwicklung ihres Kindes zu sein . Das meine ich zuerst mal ganz allgemein: Die Folgen von emotionaler Vernachlässigung von Kindern aus Überforderung von Eltern sind erheblich, und wem das Leid und die Not, die daraus erwächst, nicht reicht, kann sie sicher volkswirtschaftlich buchhalterisch erfassen – sie lässt sich in Zahlen ausdrücken. Kinder und deren psychisch kranke Pflegepersonen ohne Unterstützung zu lassen, ist sträflich. Natürlich gibt es Väter oder Mütter, deren Krankheit ihnen die nötige Einsicht verwehrt, und solche, die trotz Einsicht Unterstützung und Hilfe ablehnen. Sie sind meiner Erfahrung nach in der Minderzahl. Respektvolle, nicht wertende Unterstützung und Begleitung bildet EINEN Teil und Voraussetzung von gelingender Eltern‐ Kind Beziehung, wenn diese durch die psychische Krankheit der Eltern belastet ist. In den beiden folgenden Vignetten beschreibe ich schleichende, relativ unbemerkte Fehlabstimmungen, die sich zwischen Kind/Jugendlichen und Pflegeperson vollziehen. Diese Fehlabstimmungen (Fehlabstimmungen insofern, als sie eine gesunde Entwicklung stören, hemmen oder unterbrechen) sind durch die psychische Erkrankung der Pflegeperson als organisierendes Beziehungsprinzip bestimmt, und bilden sich letztlich in der körperlichen, seelischen und sozialen Entwicklung des Kindes/Jugendlichen und in dessen Verhalten ab. Ich habe diese Verläufe mit einer ganz bestimmten Absicht gewählt: Dramatische Fehlabstimmungen und Entgleisungen im Beziehungsprozess von Mutter und Kind (und allen Varianten) haben für meine Erfahrung eine höhere Chance wahrgenommen, und damit –in einer hoffentlich zunehmend sensibilisierten Umgebung – beantwortet zu werden, etwa durch die Psychiaterin der Mutter, den Sozialarbeiter des Vaters, die Beratungslehrerin, etc. Die stillen „Gefährdungsmomente der Liebe“ erzeugen ebenso stille Nöte von Kindern und Jugendlichen und deren Familien: Das Seltsame im Verhalten des Kindes wird der Eigenart des Kindes zugeschrieben, das Unauffällige, Angepasste im Verhalten des Kindes soll bestätigen, dass die mütterliche/väterliche (psychische) Erkrankung auf die Entwicklung des Kindes/Jugendlichen keinen Einfluss hat. 5 Tagungsdokumentation "Jetzt bin ich dran..." Kinder psychisch kranker Eltern Seite 39 von 105 Diese Kinder/Jugendlichen bleiben in ihren Bedürfnissen und Nöten oft lange – viel zu lange‐ ungehört, unverstanden. Die Sprache, mit der sie ihr Bedürfnis nach ihnen entsprechender Aufmerksamkeit artikulieren, bleibt nur zu oft eine Sprache voller Unverständnis, Missverständnisse und Distanz. 2. Das führt mich zur ersten Überlegung: Was brauchen Kinder in ihren Anfängen für ihre psychische Entwicklung? Was sind hier die „gefährdenden Momente der Liebe“? Ich spreche in meiner ersten Vignette von der Beziehung des Kindes/Säuglings zu seiner frühen Pflegeperson: die üblichste Variante ist die Mutter‐Kind Beziehung, aber ich rufe uns die Möglichkeiten von Säugling‐Vater, Säugling‐Großmutter, Säugling –älteres Geschwister, etc. in Erinnerung, nicht zu vergessen, die Pflege‐ und Adoptiveltern. Wenn ich hier von Mutter/Vater – Kind spreche, subsumiere ich darunter alle Varianten – mit dem Wissen, dass sie ihrerseits bestimmte Bedingungen mitbringen, auf die ich hier nicht eingehe. Säuglingsforscher entlasten uns unmittelbar, wenn wir uns Gedanken machen, wie viel an Fehlabstimmung ein Kind gut und erfolgreich verarbeiten kann, wenn seine eigene intrapsychische Voraussetzung Beweglichkeit möglich macht: Wenn die Hälfte der –vorsprachlichen‐ sozialen Interaktionen zwischen Mutter und Kind so verläuft, dass Vertrauen entstehen kann, verstanden zu werden, und dass das Kind das Gefühl hat, auf Missverstehen regulierend einwirken zu können, können wir davon ausgehen, dass sich zwischen Mutter und Kind eine sichere Bindung entwickelt: Bindungsverhalten ist eine menschliche Notwendigkeit, geordnet in einem biologisch angelegten Bindungssystem, das im Moment von äußerer oder innerer Gefahr (Phantasie) aktiviert wird. Aus den Erfahrungen, die ein Kind mit seiner Pflegeperson erwirbt, und die seine beschützende Fürsorge gewährleisten, entstehen die Muster der Bindung, die in unterschiedlichem Ausmaß über das gesamte Leben wirken: als sicheres Bindungsmuster, als Risikomuster oder pathogen (Brisch 1999). Ich skizziere im Folgenden die Entstehung eines Bindungsmusters. Bestimmend sind die Elemente von Vorsprachlichkeit : der Säugling kann seine Bedürfnisse nonverbal ausdrücken ‐durch Mimik, Gestik, Lautierung, Vokalisierung, Tempo, Rhythmisierung etc.) und bereits hier die Dynamik von Verdrängung : Verdrängung der Notwendigkeit von Bindungsinteraktionen (Abwehrfunktion „Ich brauche niemanden…“). Maria (4a) wird in der gesamten Familie als besonders braves Kind gelobt. Sie zeigt keinerlei Anzeichen von Aufregung und Irritation, wenn ihre Mutter sie bei Großeltern oder Freunden zurücklässt. Das war immer so. Die Rückkehr der Mutter nach kurzer oder längerer Abwesenheit quittiert sie kaum mit einem Blick. Geschenke und Überraschungen, die die Mutter mitbringt, nimmt sie scheinbar unberührt hin. Gelegentlich deponiert sie einen Wunsch –etwa nach einem Spielzeug. Seine Erfüllung beantwortet sie beinahe gelangweilt. Maria ist häufig krank, jeder Infekt scheint sie niederzustrecken. Während dieser Krankheiten vermisst sie ihre Freundinnen aus dem Kindergarten kaum, obwohl sie sonst mit ihnen spielt und die Regeln der Pädagogin genau und scheinbar willig befolgt. Auffällig ist, dass auch die anderen Kinder sie nicht vermissen. Maria scheint keine Lücken zu hinterlassen. 6 Tagungsdokumentation "Jetzt bin ich dran..." Kinder psychisch kranker Eltern Seite 40 von 105 Maria scheint kein besonderes Interesse an Anderen zu haben. Als Marias Mutter professionelle Hilfe sucht, ist sie beunruhigt und verwirrt. Ihre großen Fragen lauten: Was ist nur mit meinem Kind los? Habe ich etwas übersehen? Habe ich etwas falsch gemacht? Die unausgesprochene Frage lautet: Warum lässt mich mein Kind keine erfolgreiche Mutter sein? Welche Antwort hält die Bindungstheorie für Frau P. bereit? Psychische Struktur entsteht – so wissen wir aus den Beziehungserfahrungen, die wir verinnerlicht haben. Frau P. kennt solche und ähnliche Sätze. Sie fühlt sich schuldig, weil sie seit einiger Zeit weiß, was „damals“, also während Marias ersten Lebensjahres mit ihr „los war“: Sie kennt den Namen für das Erleben von Antriebslosigkeit, Freudlosigkeit, Überforderung, bleierner Müdigkeit, dem Gefühl, nicht lieben zu können: Depression. Sie erinnert sich: Alle – sie selbst eingeschlossen‐ erwarteten von ihr, dass sie über dieses gesunde, hübsche Kind voller Glück sein würde, das nach einer lang geplanten, unkompliziert verlaufenen Schwangerschaft in einer ebenso unkomplizierten Geburt zur Welt gekommen war. Heiße Scham bei der Erinnerung an den Moment, in dem die Hebamme ihr Maria in den Arm legte: ein heftiger Impuls, den Säugling nicht zu nehmen, wegzusehen, dann Überwindung, schließlich liegt Maria bei ihr, es fängt an, sich gut anzufühlen. Das Schuldgefühl über diesen Moment hat Frau P. seit damals nicht verlassen, und sich in den Phasen, die von den Symptomen der Depression von Frau P. und ihrer Unsicherheit über die Bedürfnisse von Maria geprägt waren, zunehmend verstärkt. Ein „Gefährdungsmoment der Liebe“ hat sich eingestellt. Er webt sich in das Beziehungsgeschehen ein, und bildet mit weiteren Beziehungserfahrungen ein dichtes Geflecht, in das sich Mutter und Kind mehr und mehr einspinnen. Was sagt dieser Prozess über die Entwicklungsfähigkeiten des Säuglings? Die Fähigkeit zu lernen ist Säuglingen angeboren. Die Atmosphäre von Regelmäßigkeit und Ordnung bildet die entsprechende Voraussetzung für die adäquate Verarbeitung der Vitalitätsaffekte (Furcht, Angst, Freude…) des Säuglings. Die Gemeinschaftserlebnisse zwischen Mutter und Kind schreiben sich in die Beziehung ein, prägen beiderseits die Erwartungen aneinander und die intrapsychische Entwicklung des Kindes. Der Alltag von Maria und ihrer Mutter enthält sehr gegensätzliche Rhythmen: Die Fütterungsrituale, das Reinigungsprozedere und der Umgang mit Schlaf‐Wachphasen sind von den wechselnden Befindlichkeiten der Mutter geprägt: Fühlt sie sich ausreichend gut, wendet sie sich Maria unter Anstrengung mit größter Aufmerksamkeit zu. Sie greift Marias Signale intensiv auf, verstärkt sie gelegentlich so heftig, dass der Säugling mit Weinen oder Wegdrehen des Kopfes reagiert. Frau P. zuckt in solchen Momenten mit Erschrecken zurück; es entsteht eine Art Pause, die Maria zur 7 Tagungsdokumentation "Jetzt bin ich dran..." Kinder psychisch kranker Eltern Seite 41 von 105 Wiederannäherung nützt. Frau reagiert erleichtert, neuerlich intensiv. Auf diese Weise bildet sich ein ganz bestimmtes Muster der Bezogenheit. Wenn Frau P. von den Symptomen ihrer Depression – die sie damals als normale Reaktion auf die Umstellung in ihrem Leben verstand ‐besonders geplagt ist, versorgt sie Maria mechanisch, ohne entsprechende Emotion. Der Alltag scheint zu gelingen; weder Ehemann noch Familie zeigen sich über die auffällige „Müdigkeit“ von Frau P. beunruhigt. Der Wunsch nach „normalem Funktionieren“ ist groß, und unter diesem Deckmantel verschwinden neben den Symptomen von Frau P. auch Marias Schlafstörungen, Ess‐ und Gedeihstörungen und andere Auffälligkeiten, die einander ablösen, vor allem aber ein Prozess von Fehlabstimmung zwischen Mutter und Kind. Die kommunikativen Äußerungen von Frau P. passen zeitlich oder auch inhaltlich nicht zu denen Marias, Maria erlebt, dass sie die Mutter nicht in einer befriedigenden Weise bewegen und beeinflussen kann. Daraus entsteht eine Dynamik von Unbehagen, Stress und interaktivem Rückzug. In der gelingenden Interaktion sieht es so aus: „Das angeborene Du wird in der Begegnung mit dem tatsächlichen Du verwirklicht.“ (Dornes, 1988 über Braten ) Die Regulierung von Nähe und Distanz ist maßgeblich für die Entwicklung einer sicheren Bindung. Mutter und Kind entwickeln gemeinsam ein Muster ihrer Abstimmungsmöglichkeiten‐ das kann von Momenten von Paradies „es ist alles ganz gut“ charakterisiert sein, aber eben auch die Bitterkeit der Isolation enthalten. Bindungstheorie beleuchtet den Teil der Gesamtpersönlichkeit, der für das Zwischenmenschliche ausschlaggebend ist. Die Beziehung zwischen Maria und ihrer Mutter prägt Marias Bindungsstil: Bindungsforscher würden ihn als unsicher ‐vermeidend einstufen . Die Erfahrungen aus diesem früh (1. Lebensjahr)erworbenen Muster wirken aus dem Unbewussten als inneres „Arbeitsmodell“ ein Leben lang auf Verhalten und Erleben. Aus dem Umgang mit Trennung und Anpassung an Trennungssituationen lassen sich Schlüsse auf das Erleben von Vertrauen und Sicherheit ziehen. Frau Ps. Depression klingt nach etwa einem Jahr ab. Obwohl sie mehr an Freude und Liebe empfinden kann, hat sich das Prägende des ersten Jahres längst in die Beziehung zwischen Mutter und Kind eingeschrieben: Maria greift Beziehungsangebote der Mutter gleichsam uninteressiert auf, Zuwendung, Tröstung, Spielaufforderung der Mutter lässt sie irgendwie geschehen, von sich aus wird sie wenig initiativ. Zu Frau P.s Schuldgefühlen ihrer Unzulänglichkeit als Mutter mischen sich Enttäuschung und Ärger auf die schwachen Reaktionen des Kindes. Maria ist häufig krank; die früh im Inneren auf der Ebene des körperlichen verarbeiteten Spannungen aus unzureichender Regulierung belasten ihren Gesundheitszustand. 8 Tagungsdokumentation "Jetzt bin ich dran..." Kinder psychisch kranker Eltern Seite 42 von 105 Unsicher vermeidende Bindungsmuster bilden einen Risikofaktor für die seelische Gesundheit eines Menschen. Frau P. hat die Bedrohung letztlich wahrgenommen, die aus der psychischen Erkrankung für die Beziehung zu ihrer Tochter und deren Entwicklung stammt. Sie versteht, dass Maria im Alltag ihre Beziehungserfahrungen der frühen Zeit inszeniert. Maria stellt keine Ansprüche an ihre Umgebung, an die Menschen um sie. Sie reguliert ihre physischen und psychischen Bedürfnisse großteils mit Hilfe ihrer kindlichen Möglichkeiten. Längst sind aus den Bewältigungsstrategien der frühen Zeit selbstständige Störungsbilder entstanden: mangelnde soziale Anbindung, unzureichende physiologische Regulation, fehlende emotionale Selbstwahrnehmung. Diese Faktoren behindern Marias emotionale Entwicklung. Ihr fehlt das Instrumentarium über gelingende Interaktionen. Überstimulierung oder Zurückweisung durch ein Gegenüber, sei es die Mutter oder Andere kontrolliert sie längst über Vermeidung von Gefühlen. Eine schädigende Spirale von Selbst‐ und Fremdwahrnehmung hat sich in Gang gesetzt. Die Bindungsforschung erlaubt uns eine Ahnung über die Bedeutung vorsprachlicher Kommunikation, der Beziehung zwischen Mutter und Kind, ihr Gelingen und ihre Folgen. 3. Während die erste Vignette Aspekte der Gefährdung des Aufbau des Selbst und der Persönlichkeit beleuchtet, führt uns die zweite Vignette zu dem vulnerablen Entwicklungsabschnitt der Adoleszenz. Dieser Lebensabschnitt bedeutet nicht selten für bislang unbelastete Familiensysteme eine Herausforderung; umso mehr , wenn die emotionalen Funktionen eines Elternteils durch eine psychische Krankheit eingeschränkt sind. Die folgenden Überlegungen unterlege ich mit dem zentralen Element der Selbstpsychologie, der Narzissmustheorie. Ein gutes Fundament von Selbstgefühl und Selbsterleben, ein gesichertes „Ich bin Ich“ bildet die Grundlage für eine gesunde, entwicklungsfördernde Selbstliebe; Mängel und Defizite in diesem Bereich können zu übersteigerter Selbstverliebtheit führen, und störende oder hemmende Entwicklungsprozesse bewirken. Die Adoleszenz ist der Lebensabschnitt, in dem gewissermaßen ein körperlich seelischer Umbau mit entsprechenden Auswirkungen auf Verhalten und Einfindung in sozialen Rollen stattfindet. Jugendliche müssen mit einer Veränderung ihres Körpers und ihres Erlebens umgehen lernen, daraus resultierende Spannungen bewältigen, ihre Rolle in der peer group erarbeiten, Autonomieprozesse von Eltern einleiten und durchhalten – ebenso sind ihre Bezugspersonen gefordert. Wie vollzieht sich die seelische Entwicklung einer Jugendlichen, deren maßgebliche Bezugsperson im eigenen Narzissmus durch eine psychische Erkrankung beeinflusst wird? Wie spürt sich in einem solchen Familiensystem ein „Ich mag mich“, Ich respektiere mich“ an? Die Entwicklung eines sicheren Selbstgefühls und stabiler Selbststruktur steht in diesem Lebensabschnitt neuerlich auf dem Prüfstand. Die Antworten der Elternfiguren auf die Entwicklungsbedürfnisse der Adoleszenz sind daher in dieser Zeit besonders wichtig. Eine liebevoll regulierende elterliche Haltung ermöglicht Jugendlichen ein Hineinwachsen in ein realistisches Selbstbild, ohne dass es dauerhaft den Verzerrungen von Grandiosität oder Hemmung ausgesetzt ist. Soweit das Ideal. 9 Tagungsdokumentation "Jetzt bin ich dran..." Kinder psychisch kranker Eltern Seite 43 von 105 Peters Geschichte zeigt den psychischen Versuch eines Jugendlichen, einen Kompromiss zwischen eigenen Entwicklungsbedürfnissen und Anpassung an die Bedürfnisse des Vaters zu errichten. Peter ist 14 Jahre alt und lebt als jüngstes von drei Geschwistern bei seinen Eltern. Die Krankheit seines Vaters ist längst von Gewohnheiten absorbiert: Peters Vater ist seit 8 Jahren in Frühpension. Seine chronische Krankheit erlaubt keine Teilhabe am Arbeitsleben. Phasenweise verstärken sich die Symptome so sehr, dass Herr M. einen stationären Aufenthalt benötigt. Peter sind die Behandler seines Vaters vertraut: der Psychiater, die Psychotherapeutin, die Sozialarbeiterin. Aus seinen zahlreichen Besuchen auf der Klinik ist ihm auch der Krankenhausalltag nicht unbekannt. Die Symptome der Krankheit des Vaters kennt er aus zahllosen Momenten, die Dynamik der Krankheit hat man ihm beschrieben und erklärt. Er hat gelernt, mit dem Vater umzugehen, wenn er in angetriebener Stimmung große Zukunftspläne schmiedet, oder Tage stumm und dumpf vor dem Fernsehapparat verbringt. Meist ist der Vater allerdings einfach da, so wie in anderen Familien die Mütter, sorgt für Einkauf, Mittagessen und Schulbrot. Alles im Alltag der Familie hat längst eine gewisse Regelmäßigkeit gewonnen. Seit den letzten Sommerferien hat sich Peter mit einem Brüderpaar angefreundet, das im Wochenendhaus der Eltern seinen Urlaub verbringt. Bisher hatte er seine Sozialkontakte gering gehalten; er verbrachte die Zeit meist zu Hause. Besuche waren nicht besonders erwünscht – sein Vater benötigte Ruhe. Peter hatte bislang auch kein besonderes Interesse an den Aktivitäten seiner Klassenkameraden. Sie luden ihn auch nicht extra ein zu ihren Unternehmungen, allerdings verhinderte auch keiner von ihnen seine gelegentliche Teilnahme an dem einen oder anderen Event. Körperlich wirkte er jünger als die meisten. Peter hatte ein genaues Gespür entwickelt, was seinen Vater aufregen könnte. Er vermied solche Momente automatisiert, ohne großes Nachdenken. Den Verzicht auf eigene Strebungen erlebte er nicht als Einschränkung; der heimliche, unausgesprochene Deal schien zu lauten: So rege ich den Papa nicht auf, und alles ist gut. Peters Verhalten und Alltag war in Vielem von unhinterfragter Anpassung geprägt. Die besagten Sommerferien brachten eine Menge an Veränderungen mit sich: Er beteiligte sich rege und begeistert an den Aktivitäten des Brüderpaars, von dem ihn besonders der Ältere mit seinen offen inszenierten Protesten gegen Erwachsene tief beeindruckte. Das entstandene Gemeinschaftsgefühl veranlasste ihn, auch an Unternehmungen teilzuhaben, um deren Verbotscharakter er nur zu gut wusste: er rauchte, stand Schmiere bei kleinen Diebstählen im Supermarkt, verspottete im Schutz seiner neuen Freunde einige seiner Klassenkameraden. Seine Wünsche nach Grandiosität inszenierten sich in diesem Verhalten. Das brachte ihm zunehmend Ablehnung ein. Zu Hause erwähnte er nichts von seinem neu gewählten Freizeitverhalten. So vermied er die Realitäten, die das neue, aufgeblasene Selbstbild erschüttern 10 Tagungsdokumentation "Jetzt bin ich dran..." Kinder psychisch kranker Eltern Seite 44 von 105 könnten. Die Regulation durch elterliche Grenzsetzung verhinderte er durch Nicht‐Konfrontation. In dem er zwei Welten lebte, konnte auch die Selbstkritik nicht zum Tragen kommen. Seine körperliche Veränderung kam rasant; er wuchs, seine Stimme veränderte sich, und seine Stimmung schwankte erheblich. Obwohl er diese Stimmungsschwankungen durch vermehrten Rückzug von der Familie geheim halten wollte, spürte er die besorgten Blicke der Eltern, die neben der Unruhe über seine Veränderung eine Befürchtung enthielten, die er selbst auch hegte: es könnte sich um Vorboten derselben Krankheit handeln, die sein Vater hatte. Obwohl man mehrfach mit ihm darüber gesprochen hatte, auch über mögliche Reaktionen und Behandlungsmöglichkeiten, beruhigte ihn keine Erinnerung an diese Gespräche. Aus der Sehnsucht, so wie der Vater zu sein, erwuchs gleichzeitig die große Befürchtung, am Punkte der Krankheit so wie er zu sein. Diese Dynamik erzeugte noch mehr an innerem Rückzug, und Vermeidung emotionaler Kontakte. Zu Hause bemühte er sich vermehrt um Unauffälligkeit; er wollte nicht auf seine Veränderung angesprochen werden. Auf die wenigen Gesprächsangebote der Mutter reagierte er gereizt. Den Vater suchte er mit dem Hinweis „ganz normal“ zu beruhigen. Die für diesen Lebensabschnitt notwendige Entidealisierung der Eltern im Rahmen des Autonomieprozesses der Adoleszenz konnte er aus tiefer Angst, den Vater zu gefährden und ganz zu verlieren, nicht zulassen. Schlechte Schulleistungen, Konflikte mit Klassenkameraden und Lehrern und bedenkliche Freizeitaktivitäten bestimmten einen Teil seines Lebens, Anpassung, Banalisierung und Unauffälligkeit den anderen. Gefühlen von Leere und Langeweile beantwortete er mit heftigen Experimenten mit Alkohol . Die Gereiztheit im Umgang mit dem Vater steigerte sich. Die psychische Erkrankung eines Elternteils kann für ein Kind eine tiefe narzisstische Kränkung bedeuten: Die Kränkung kann aus den realen oder vorweggenommenen Reaktionen der Umwelt stammen: Stigmatisierung oder Isolierung. Sie kann dem unbeantworteten Identifikationsbedürfnis des Kindes entstammen, der Sehnsucht nach dem „Alter Ego“, nach dem „Ich will so sein wie Du, damit ich verstehe, wie ich werden kann“. Die Kränkung kann sich aus mangelnden Spiegelungsprozessen reaktivieren, die in der ersten Vignette deutlich werden, und aus vielen anderen „Gefährdungsmomenten der Liebe“. Diese Gefährdungsmomente kommen vornehmlich in den Autonomieprozessen der Adoleszenz zum Tragen. Autonomie, „Hinausgehen in ein eigenes Leben“, fühlt sich unter den Bedingungen, die die psychische Erkrankung eines Elternteils mit sich bringt, verboten an – und ist gleichzeitig eine psychische Notwendigkeit. Kompromisslösungen behindern die Entstehung von gesunder Selbstliebe; kindliche Selbstliebe entwickelt sich an der Selbstliebe der Elternfiguren. 4. Beide, Maria wie Peter, bringen ihre Bedürfnisse für ihre seelische (aber auch: körperliche, soziale, verhaltensregulative) Entwicklung zum Ausdruck. 11 Tagungsdokumentation "Jetzt bin ich dran..." Kinder psychisch kranker Eltern Seite 45 von 105 Damit ihre eigene Entwicklung gelingen kann, passen sie sich den Angeboten der Pflegeperson an‐ wir erinnern uns an den Anfang unserer Überlegungen: die Anpassungsfähigkeit des Kindes und Jugendlichen dient seinem eigenen psychischen Überleben und seiner psychischen Entwicklung Die Anpassungsfähigkeit im Sinne der eigenen Entwicklung ‐ ich möchte sagen, die Not der Anpassung‐ führt nicht selten zu (sekundären) Verzerrungen: Marias Fehlanpassung an die emotionalen Angebote der Mutter gestalten – bindungstheoretisch gesprochen‐ ein Risikomuster in ihrem Erleben, das die auch weiterhin bestehen bleibt, nachdem die Depression der Mutter längst abgeklungen ist. Peters Suche nach seiner – neuen‐ Identität im Umbauprozess der Adoleszenz verweist in Entgleisungen des Narzissmus: Grandiosität oder zumindest überhöhtes Selbstwertgefühl – gleichzeitig Selbstzweifel und Gefühle der Minderwertigkeit – ausgedrückt in übertriebener Anpassung. Das Kind/der/die Jugendliche wird in den Resultaten seiner Anpassung bewertet , aber NICHT VERSTANDEN: Ich führe hier nur einige Momente auf, die zu Verständnisproblematiken in den „Gefährdungsmomenten der Liebe“ führen: • Das Kind/der/die Jugendliche wird als primärer Belastungsfaktor für die Krankheit des Elternteils verstanden. • Die Anpassungsversuche des K/J werden in ihrer Malaktivität dem K/J zugeordnet – das habe ich exemplarisch zu zeigen versucht. • Die Helfersysteme beantworten die Bedürfnisse des K/J‐ oder nicht. • Ein wesentlicher Faktor jenseits der Banalität bringt Gegebenes mit sich: Die Dinge sind, wie sie sind./Das Leben ist, wie es ist. Aber: • WIE kann die entsprechende SPRACHE gefunden werden, damit die „gefährdenden Momente der Liebe“ gefunden und entschärft werden können? Mit diesen Gedanken möchte ich uns in Gedanken überleiten, in dem uns die pragmatischen Übersetzungen dieser Überlegungen begleiten. 12 Tagungsdokumentation "Jetzt bin ich dran..." Kinder psychisch kranker Eltern Seite 46 von 105 Literaturverzeichnis Bauer, J.(2006). Prinzip Menschlichkeit, Hamburg: Hoffmann und Campe Bernhard, T. (1982). Ein Kind, Salzburg und Wien: Residenz Bartosch, E.(1999). Auf dem Weg zu einer neuen Psychoanalyse, Wien: Verlag Neue Psychoanalyse Brisch, K.H. (1999). Bindungsstörungen, Stuttgart: Klett‐Cotta Brisch, K.H. & Hellbrügge, T.(Hrsg.) (2006). Kinder ohne Bindung, Stuttgart: Klett‐Cotta Green, V. (Hrsg.)(2005). Emotionale Entwicklung in Psychoanalyse, Bindungstheorie und Neurowissenschaften, Frankfurt am Main: Brandes & Apsel Greenspan, S.I. & Shanker, S.G. (2007). Der erste Gedanke, Weinheim und Basel: Beltz Israel, A. (Hrsg) (2007). Der Säugling und seine Eltern, Frankfurt am Main: Brandes & Apsel Kandel, E. (2006). Auf der Suche nach dem Gedächtnis, München: Siedler Miller, A. (1983). Am Anfang war Erziehung, Frankfurt am Main: Suhrkamp Wolf, E.S. (1996). Theorie und Praxis der psychoanalytischen Selbstpsychologie, Frankfurt am Main: Suhrkamp 13 Tagungsdokumentation "Jetzt bin ich dran..." Kinder psychisch kranker Eltern Seite 47 von 105 Workshop 1: Angebote in Österreich und die Situation von erwachsenen Kindern psychisch kranker Eltern Maga. Joy Ladurner MSc (HPE, EUFAMI, Sozialforscherin) Ausgewählte Angebote für Kinder von psychisch kranken Eltern aller Altersgruppen in Österreich werden vorgestellt. Gemeinsam mit den TeilnehmerInnen sollen Lücken geortet und Vorschläge für weitere Angebote diskutiert werden. Ein weiterer Teil des Workshops konzentriert sich auf die Gruppe der erwachsenen Kinder psychisch kranker Eltern. Diese werden selten als eigene Zielgruppe wahrgenommen, sind jedoch bedingt durch ihre familiäre Situation bei ihrem Weg ins Erwachsenwerden und in die Selbständigkeit mit besonderen Herausforderungen und Belastungen konfrontiert. Ein Einblick in deren Lebenssituation wird gegeben und potentielle Unterstützungsangebote werden erarbeitet. Tagungsdokumentation "Jetzt bin ich dran..." Kinder psychisch kranker Eltern Seite 48 von 105 Workshop 1 „Die Situation erwachsener Kinder von psychisch erkrankten Eltern“ und „Ausgewählte Angebote für Kinder psychisch erkrankter Eltern in Österreich“ Joy Ladurner Stockerau, 2. Oktober 2009 www.eufami.org, www.hpe.at 1 Inhalte Präsentation „Erwachsene Kinder von psychisch erkrankten Eltern“ Gruppenarbeit und Diskussion Präsentation „Ausgewählte Angebote für Kinder von psychisch erkrankten Eltern in Österreich“ Gruppenarbeit und Diskussion Zusammenfassung und Ausblick www.eufami.org, www.hpe.at Tagungsdokumentation "Jetzt bin ich dran..." Kinder psychisch kranker Eltern 2 Seite 49 von 105 1 Video Placebo Song to Say Goodbye www.eufami.org, www.hpe.at 3 Belastungen Folgen Einflussfaktoren Hilfestellungen www.eufami.org, www.hpe.at Tagungsdokumentation "Jetzt bin ich dran..." Kinder psychisch kranker Eltern 4 Seite 50 von 105 2 Welchen Belastungen sind Kinder psychisch Erkrankter ausgesetzt? Überforderung Vernachlässigung Mangelnde Geborgenheit Gefährdung, Misshandlung, Grenzüberschreitung Stigma Fehlende Aufklärung und Information Fehlende Vertrauenspersonen Zusätzliche Belastung in der Familie durch Streit, Gewalt, Trennung, Scheidung Basierend auf Baubin (2008) www.eufami.org, www.hpe.at 5 ..und welche Folgen können diese haben? Angst und Verwirrung Schuldgefühle Schamgefühle Einsamkeit, Isolation Verantwortungsverschiebung und Rollenumkehr Abhängigkeitsverhältnis, Loyalitätskonflikte Ständiges Bemühen um Abgrenzung und Distanz Gestörte Selbstwahrnehmung und gestörtes Bild der Wirklichkeit Emotionale Defizite und Störungen www.eufami.org, www.hpe.at Tagungsdokumentation "Jetzt bin ich dran..." Kinder psychisch kranker Eltern 6 Seite 51 von 105 3 Einflussfaktoren auf die Auswirkungen der Belastungen auf Kinder Alter der Kinder Intensität der Einbeziehung in die Symptomatik des kranken Elternteils Krankheitsbewältigung des Erkrankten Kognitive Fähigkeiten des Kindes Kompensatorische Funktion eines stabilen gesunden Elternteils Quelle: Fischer (2008) http://www.promenteaustria.at/news/index.php/action.view/entity.detail/key.127/?print=true www.eufami.org, www.hpe.at 7 Was hilft? Altersentsprechende Information Innerfamiliäres Klima der Gesprächsbereitschaft Mindestens eine vertraute, stabile, Halt und Geborgenheit gebende Bezugsperson Schutz vor traumatisierenden Erlebnissen Erstellung eines Krisenplans in ruhigen Zeiten Unterstützung des Erkrankten in Krisenzeiten Gute Außenkontakte zu Gleichaltrigen Austausch in Gruppen ähnlich betroffener Kinder, spielerische Verarbeitung Ressourcen der Kinder stärken, soziale Netze aufbauen und festigen www.eufami.org, www.hpe.at 8 Quelle: Fischer (2008), http://www.promenteaustria.at/news/index.php/action.view/entity.detail/key.127/?print=true Tagungsdokumentation "Jetzt bin ich dran..." Kinder psychisch kranker Eltern Seite 52 von 105 4 Workshop 1 – Teil 1 „Die Situation erwachsener Kinder von psychisch erkrankten Eltern“ Erste Ergebnisse einer Befragung Joy Ladurner Stockerau, 2. Oktober 2009 www.eufami.org, www.hpe.at 1 Sample Samplegröße Alter Geschlecht Familienstand Kinder Tätigkeit Höchste abgeschlossene Ausbildung 2 Tagungsdokumentation "Jetzt bin ich dran..." Kinder psychisch kranker Eltern Seite 53 von 105 1 Angaben zum Elternteil Welcher Elternteil ist/war betroffen? Ist er/sie noch immer krank? Krankheitsbilder 3 Angaben zur Kindheit Wann ist die Erkrankung aufgetreten? Schutzfaktoren Wünsche, Bedürfnisse 4 Tagungsdokumentation "Jetzt bin ich dran..." Kinder psychisch kranker Eltern Seite 54 von 105 2 Angaben zur jetzigen Lebenssituation als Erwachsener Auswirkungen der psych. Erkrankung auf das eigene Leben Momentane Befindlichkeit Auseinandersetzung mit der Situation Bisheriges Nutzen von Angeboten Wünsche zu Unterstützungsangeboten für erwachsene Kinder Relevante Themen für diese Zielgruppe 5 Unterstützungsangebote in Österreich HPE Selbsthilfegruppen Erwachsene Kinder psychisch Erkrankter (Wien) Geschwister psychisch Erkrankter (Wien) Gemischte Gruppe: erwachsene Kinder, Geschwister und Partner psychisch Erkrankter, eigene Gruppe für erwachsene Kinder geplant (Innsbruck) 6 Tagungsdokumentation "Jetzt bin ich dran..." Kinder psychisch kranker Eltern Seite 55 von 105 3 Gruppenarbeit und Diskussion Unterstützungsangebote für erwachsene Kinder von psychisch erkrankten Eltern? Gruppe A: Welchen Belastungen könnte speziell diese Altersgruppe ausgesetzt sein? Gruppe B: Welche Unterstützungsangebote benötigt diese Personengruppe: im Allgemeinen und im Speziellen? 7 Gruppenarbeit und Diskussion Präsentation der Gruppenergebnisse Gemeinsame Diskussion 8 Tagungsdokumentation "Jetzt bin ich dran..." Kinder psychisch kranker Eltern Seite 56 von 105 4 Zusammenfassung und Ausblick Psychische Erkrankungen der Eltern können bedeutende und langfristige Auswirkungen auf das Leben ihrer Kinder haben Bislang kaum Angebote speziell für erwachsene Kinder psychisch kranker Eltern Unterstützung und Angebote wären sehr wichtig – Veränderungen und Lernen sind noch möglich Möglichst frühe Intervention! Mehr Prävention und Gesundheitsförderung, Empowerment, etc. Mehr Forschung notwendig 9 Pause 10 Tagungsdokumentation "Jetzt bin ich dran..." Kinder psychisch kranker Eltern Seite 57 von 105 5 Workshop 1 – Teil 2 „Ausgewählte Angebote für Kinder psychisch erkrankter Eltern in Österreich“ Joy Ladurner Stockerau, 2. Oktober 2009 www.eufami.org, www.hpe.at 1 Österreichweite Einrichtungen, Initiativen und Unterstützungsangebote* Kinder- und Jugendanwaltschaften Jugendwohlfahrt, Jugendamt Kinder- und Jugendabteilungen der Bezirkshauptmannschaften Psychosoziale Dienste, Sachwalter, etc. NGOs: Kinderschutzzentren, HPE, Caritas, pro mente, Rainbow Österreichisches Bündnis gegen Depression Rat & Hilfe Forum Rat auf Draht Telefonseelsorge Andere * Nicht nur für Kinder von psychisch erkrankten Eltern Tagungsdokumentation "Jetzt bin ich dran..." Kinder psychisch kranker Eltern 2 Seite 58 von 105 1 Wien Wiener Familienberatungsstelle des Vereins HPE, Hilfe für Angehörige Psychisch Erkrankter Psychosoziale Beratung und Information Jugendbroschüre Anonyme Onlineberatung für Angehörige Selbsthilfegruppen Quelle: www.hpe.at 3 Wien Wiener Frauengesundheitsprogramm Projekt zu Postpartaler Depression Ziel Prävention und Früherkennung von psychosozialen mütterlichen und perinatalen Krisen in Wien: Unterstützung von Betroffenen Maßnahmen „Netzwerk Perinatale Krisen“ in Wien Leitfaden zur psychosozialen Schwangerenbetreuung Informationsbroschüren Telefonhotline Quelle: http://www.frauengesundheit-wien.at/ Tagungsdokumentation "Jetzt bin ich dran..." Kinder psychisch kranker Eltern 4 Seite 59 von 105 2 Wien Wiener Frauengesundheitsprogramm Projekt zu Essstörungen und deren Auswirkungen Auf Kinderwunsch, Schwangerschaft und Mutterschaft Ziel Früherkennung von Essstörungen und postpartaler Depression Maßnahmen Erhöhte Aufmerksamkeit beim geburtshilflichen Gespräch Hotline für Essstörungen Gründung eines Netzwerkes aus allen in Wien auf Essstörungen spezialisierten Therapie- und Behandlungseinrichtungen Quelle: http://www.frauengesundheit-wien.at/ 5 Wien Betreuung psychisch kranker Mütter und deren Kinder in der Spezialambulanz für perinatale Psychiatrie des Otto Wagner Spitals Behandlung von psychischen Erkrankungen in der Schwangerschaft und nach der Geburt Einbindung in das Wiener Netzwerk „Perinatale Krisen“ Aktivitäten diverser andere Wiener Einrichtungen die sich u.a. mit Frühförderung, PPD oder Entwicklungs-diagnostik auseinandersetzen Quelle: Reiner-Lawugger (2009) Tagungsdokumentation "Jetzt bin ich dran..." Kinder psychisch kranker Eltern 6 Seite 60 von 105 3 Niederösterreich Sozialpsychiatrische Abteilung Waidhofen an der Thaya Eigene Mutter-Kind Einheit mit stationären MutterKind Behandlungsplätzen für psychisch kranke Mütter Lt. Aussage der WorkshopteilnehmerInnen gibt es derartige Möglichkeiten auch in Hollabrunn und im Burgenland (Podersdorf, geplant in Rust ab 2010) Quelle: Riffer et al (2008) http://www.springerlink.com/content/4q6u7361486j8810/ 7 Niederösterreich KIPSYKEL: Projektstudium „Kinder psychisch kranker Eltern-präventive Handlungsstrategien für das Feld der Psychiatrie“ des Diplomstudiengangs Sozialarbeit der Fachhochschule St. Pölten Dauer Ziele Maßnahmen Quelle: http://kipsykel.fh-stpoelten.ac.at/ Tagungsdokumentation "Jetzt bin ich dran..." Kinder psychisch kranker Eltern 8 Seite 61 von 105 4 Niederösterreich Ergänzt von den WorkshopteilnehmerInnen SAFE® - Sichere Ausbildung für Eltern” des Münchner Bindungsforschers Dr. med. KarlHeinz Brisch, Oberarzt an der Kinderklinik der Pädiatrischen Psychosomatik und Psychotherapie im Dr. von Haunerschen Kinderspital der Ludwig-MaximiliansUniversität Das Programm SAFE® sollte auch in Österreich ein fester Bestandteil zur Prävention der „seelischen Gesundheit von Kindern“ werden. Quelle: 9 http://www.google.at/url?q=http://www.kinderhabenrechte.at/fileadmin/download/S_A_F_E_Infoblatt_3.doc&ei=62TGSsLW BY7-mQOnk5VI&sa=X&oi=spellmeleon_result&resnum=1&ct=result&usg=AFQjCNGdTXo__lrDQ6e491-oTQXzOTFPuA Niederösterreich Angebote der HPE Wien werden zum Teil auch in Niederösterreich angeboten 10 Tagungsdokumentation "Jetzt bin ich dran..." Kinder psychisch kranker Eltern Seite 62 von 105 5 Steiermark S.I.N.N. Evaluation Team Ziel: Einschätzung von familiären Ressourcen bei bestehender oder vermuteter psychischer Verletzlichkeit der Eltern und Erarbeitung von maßgeschneiderter Unterstützung (Fokus auf Resilienzprozesse) Fortbildung für Fachkräfte Forschung Quelle: http://www.sinn-evaluation.at/, Email Dr. Dimova (SINN) vom 3.09.09 11 Oberösterreich HPE Oberösterreich Publikation eines Kinderbuches von Christin Feliće „Jonas und der Elf“ für Kinder von psychisch erkrankten Eltern Betreuung der Zielgruppe „Mütter und Kinder“ 12 Tagungsdokumentation "Jetzt bin ich dran..." Kinder psychisch kranker Eltern Seite 63 von 105 6 Oberösterreich Pilotprojekte als Teil des Projektes „Alleinerziehende Mütter und Väter ohne Netz“ Unterstützung von psychisch erkrankten Frauen während der Schwangerschaft und nach der Geburt 13 Oberösterreich Arbeitsgruppe „Licht und Schatten“ in der Landesnervenklinik Wagner Jauregg Für Mütter und ihre Kinder 14 Tagungsdokumentation "Jetzt bin ich dran..." Kinder psychisch kranker Eltern Seite 64 von 105 7 Salzburg AhA: JOJO – Kindheit im Schatten JOJO richtet sich an Kinder psychisch erkrankter Eltern und die Geschwister von psychisch erkrankten Kindern und hilft durch: Beratung und Unterstützung Betreuung der Kinder Training für Eltern oder nahestehende Verwandte Fortbildungsaktivitäten für PädagogInnen Workshops für Schulklassen oder Kindergartengruppen Öffentlichkeitsarbeit und Lobbying Wissenschaftliche Forschung zur Thematik Kooperationen und Netzwerkarbeit Quelle: http://www.aha-salzburg.at/ 15 Salzburg Private Medizinische Universität (PMU) Salzburg Christian Doppler Klinik: Dissertation (Pilotstudie) und Forschungsprojekt (in Planung) Dr. Renate Stelzig-Schöler/Laura Hasselbring Befragung von PatientInnen mit minderjährigen Kindern: Einschätzung dieser in wieweit ihre Kinder psycho-soziale Auffälligkeiten aufweisen Quelle: Dr. Renate Stelzig-Schöler, Telefonat 1. Oktober 2009 Tagungsdokumentation "Jetzt bin ich dran..." Kinder psychisch kranker Eltern 16 Seite 65 von 105 8 Salzburg Kuratorium Psychische Gesundheit Private Medizinische Universität (PMU) Salzburg Christian Doppler Klinik: Initiative/Forschungsprojekt Kuratorium für psychische Gesundheit/ Prim. Dr. Manfred Stelzig Befragung schwangerer Frauen durch deren GynäkologInnen: Untersuchung der psychischen Befindlichkeit der Frauen während der Schwangerschaft Quelle: http://www.kuratorium-psychische-gesundheit.at/index.cfm?id=256&rubrik=Couchgefl%C3%BCster 17 Salzburg SHARING Ziel den Jugendlichen Verständnis für eigene soziale Rolle zu vermitteln Jugendliche in der Entwicklung von sozialen Fertigkeiten im Familien-, Schul- und Arbeitsalltag unterstützen Maßnahmen Psychodrama -Therapie für Jugendliche im Alter von 11-18 http://kipsykel.fh-stpoelten.ac.at/downloads/arbeitsmaterialien/Pr%C3%A4ventionskonzept.pdf 18 www.kinderseelenhilfe.at, Telefonat mit Prof. Thun-Hohenstein 1. Oktober 2009 Tagungsdokumentation "Jetzt bin ich dran..." Kinder psychisch kranker Eltern Seite 66 von 105 9 Tirol HPE Selbsthilfegruppe für erwachsene Kinder von psychisch erkrankten Eltern in Innsbruck Publikation/en zum Thema Quelle: Fischer (2009), Emailkontakt mit Mag. Fischer im September 2009 19 Tirol TAKA TUKA Präventionsprojekt der Caritas der Diözese Innsbruck in Kooperation mit der HPE Tirol für Kinder psychisch erkrankter Eltern Gründung 2007 Beschäftigung eines Kinderpsychologen für 25 Wochenstunden Kostenloses Angebot für die betroffenen Familien Zusammenarbeit mit Spezialisten, Austausch mit Einrichtungen die mit den Eltern arbeiten Quellen: http://www.caritas-innsbruck.at/einrichtungen.cfm?mode=showseite2&e_id=53, 20 http://www.bin-tirol.org/infoblatt_taka_tuka.pdf Tagungsdokumentation "Jetzt bin ich dran..." Kinder psychisch kranker Eltern Seite 67 von 105 10 Vorarlberg KIESEL – Kinder von Eltern mit seelischen Leiden Projekt des aks Vorarlberg Für Mütter und Väter, die sich Unterstützung für ihre Familie im Umgang mit der psychischen Erkrankung wünschen Für Kinder und Jugendliche, die im Alltag mit speziellen Fragen und besonderen Herausforderungen konfrontiert sind Quelle: http://www.aks.or.at/angebote-fuer-kinder/psychologie-psychiatrie/kiesel-kinder-von-eltern-mit-seelischen-leiden/ 21 Grenzüberschreitend Lindauer Kreis (Angehörigenvertreter aus D, CH, A) Regelmäßige Treffen Befragung von mehr als 150 psychiatrischen Einrichtungen zum Thema „Kinder – die vergessenen Angehörigen?“ Kooperative Planung von Projekten für Kinder psychisch Erkrankter bis 14 Jahre Organisation von gemeinsamen Veranstaltungen (Tagung zum Thema „Kinder als Angehörige“) 22 Tagungsdokumentation "Jetzt bin ich dran..." Kinder psychisch kranker Eltern Seite 68 von 105 11 Zusammenfassung Einige Angebote sind vorhanden Schwerpunkt auf Säuglinge und Kleinkinder Seit kurzem auch verstärkt auf Jugendliche Erwachsene Kinder nur punktuell betrachtet Nationale und regionale Vernetzung und Austausch? National agierende Einrichtungen, z.B. HPE Nationale Initiativen, z.B. Bündnis gegen Depression Identifikation, Erreichbarkeit der Kinder ? 23 Einige Veranstaltungen zum Thema Abschlussveranstaltung KIPSYKEL im Oktober 2009 in St. Pölten Tagung „Nicht von schlechten Eltern Kinder psychisch Kranker: Bilanz und Ausblick“ des BApK am 11. Dezember in Königswinter, Deutschland Fachtagung des NÖ Bündnis gegen Depression „Jetzt bin ich dran…..“ Kinder psychisch kranker Eltern am 2. Oktober 2009 in Stockerau Fachtagung des ASK-Hessen „Hilfen für Kinder psychisch kranker Eltern“ am 22. September in Hanau, Deutschland „Promotion of Mental Health and Well-being of Children and Young People – Making it happen“. Thematic Conference Mental health in Youth and Education, organised by European Commission and Swedish Ministry of Health and Social Affairs, 29-30 September in Stockholm EUFAMI Conference „The Forgotten Children“, organised in association with Lietuvos Sutrikusios Psichikos Žmonių Globos Bendrika (LSPŽGB), 26-27 November 2009 in Vilnius, Lithuania 24 Tagungsdokumentation "Jetzt bin ich dran..." Kinder psychisch kranker Eltern Seite 69 von 105 12 Gruppenarbeit und Diskussion Einteilung in Gruppen Gruppe A: Welche zentralen Unterstützungsmaßnahmen werden benötigt (Bedarf) - und wo bestehen noch Lücken (Vergleich zum Angebot)? Gruppe B: Wer sind die wichtigsten Stakeholder und wie (in welcher Form) könnten diese (besser) zusammenarbeiten (Vernetzung)? Gruppe C: Wie können betroffene Kinder identifiziert und erreicht werden? Gruppe D: Welche Prioritäten für die Zukunft identifizieren Sie für diese Zielgruppe? (Planung nächster Schritte/Umsetzung dieser in die Praxis) 25 Gruppenarbeit und Diskussion Präsentation der Gruppenergebnisse durch die Sprecher jeder Gruppe (5 min) Gemeinsame Diskussion 26 Tagungsdokumentation "Jetzt bin ich dran..." Kinder psychisch kranker Eltern Seite 70 von 105 13 27 Danke für Ihre Aufmerksamkeit und Mitarbeit! Kontakt: [email protected] www.eufami.org, www.hpe.at Tagungsdokumentation "Jetzt bin ich dran..." Kinder psychisch kranker Eltern 28 Seite 71 von 105 14 Workshop 1 - Ergebnisse Erwachsene Kinder psychisch Erkrankter und Angebote in Österreich Joy Ladurner Stockerau, 2. Oktober 2009 www.eufami.org, www.hpe.at Allgemeine Anmerkungen Suizid wird nicht behandelt und wurde auch in den Vorträgen nicht angesprochen Erklärungsversuche Für Männer/Väter mit psychischen Erkrankungen gibt es zu wenige Kontaktstellen (vs. Mutterberatungsstellen) Von den WorkshopteilnehmerInnen wurden einige weiteren Angebote genannt. Diese wurden in den Vortragsunterlagen ergänzt und farblich markiert 1 Tagungsdokumentation "Jetzt bin ich dran..." Kinder psychisch kranker Eltern Seite 72 von 105 Teil 1 - Erwachsene Kinder psychisch Erkrankter Belastungen Autonomie Verzicht Physische Erkrankung, Ko-morbidität, Versorgung Schuldgefühle Angst selbst zu erkranken Kinderwunsch Beziehungsprobleme Abhängigkeit, Verfügbarkeit, Distanz 2 Tagungsdokumentation "Jetzt bin ich dran..." Kinder psychisch kranker Eltern Seite 73 von 105 Unterstützungsangebote Austausch, Selbsthilfegruppen Informationen Beratungsangebote Vernetzung Sensibilisierung Entstigmatisierung Teil 2 - Angebote in Österreich 3 Tagungsdokumentation "Jetzt bin ich dran..." Kinder psychisch kranker Eltern Seite 74 von 105 Diskussion Behandelte Fragestellungen Gruppe A: Welche zentralen Unterstützungsmaßnahmen werden benötigt (Bedarf) - und wo bestehen noch Lücken (Vergleich zum Angebot)? Gruppe B: Wer sind die wichtigsten Stakeholder - und wie (in welcher Form) könnten diese (besser) zusammenarbeiten (Vernetzung)? Gruppe C: Wie können betroffene Kinder identifiziert und erreicht werden? Gruppe D: Welche Prioritäten für die Zukunft identifizieren Sie für diese Zielgruppe? (Planung nächster Schritte/Umsetzung dieser in die Praxis) A Versorgungslücken Langfristige Unterbringungsmöglichkeiten Aufklärungsbedarf Bewusstseinsbildung Mangelnde finanzielle Ressourcen und Zeit 4 Tagungsdokumentation "Jetzt bin ich dran..." Kinder psychisch kranker Eltern Seite 75 von 105 B Stakeholder Krankenhäuser Ambulante Einrichtungen, PSD Jugendamt Familienberatung Ärzte, niedergelassener Bereich Mütterberatung Beratungslehrerinnen SchulärtztInnen Andere C Identifikation von Kindern Kindergarten Lehrer Ärzte: Allgemeinmediziner, Fachärzte Elternarbeit Ausbildung Sensibilisierung für psychische Gesundheit Handlungsmöglichkeiten 5 Tagungsdokumentation "Jetzt bin ich dran..." Kinder psychisch kranker Eltern Seite 76 von 105 D Prioritäten für diese Zielgruppe Selbsthilfe auf eine gesicherte finanzielle Basis stellen Flächendeckende Versorgungsstruktur Ausbau bestehender Angebote und Möglichkeiten Prävention, Beratung 6 Tagungsdokumentation "Jetzt bin ich dran..." Kinder psychisch kranker Eltern Seite 77 von 105 Workshop 2: Darüber reden, darüber schweigen und - was brauchen Kinder wirklich? Dipl. Pädin. Maga. Christa Paulinz (Psychotherapeutin, Beratungslehrerin NÖ) Drin. Sabine Röckel (Psychosozialer Dienst Stockerau, PSZ GmbH, Landesklinikum Weinviertel Hollabrunn) Die psychische Erkrankung einer Pflegeperson erzeugt spezielle Herausforderungen an das Familiensystem. Damit die besonderen Bedürfnisse und Ansprüche von Kindern und Jugendlichen im Sinne ihrer seelischen Entwicklung adäquat beantwortet werden können, sind auch weitere Systeme in ihrer Kooperationsfähigkeit gefordert: Schule oder Kindergarten, PsychotherapeutInnen und die angebotenen Settings. In der Arbeitsgruppe sind diesbezügliche Stärken, Schwächen sowie Lücken und aufzufindenden Ressourcen von Institutionen und Projekten mit Schwerpunkt der regionalen Versorgung zur Sprache gekommen. Tagungsdokumentation "Jetzt bin ich dran..." Kinder psychisch kranker Eltern Seite 78 von 105 Darüber reden, darüber schweigen. Was brauchen Kinder wirklich? Workshop Dr. Sabine Röckel und Mag. Christa Paulinz Die psychische Erkrankung einer Pflegeperson erzeugt spezielle Herausforderungen an das Familiensystem. Damit die besonderen Bedürfnisse und Ansprüche von Kindern und Jugendlichen im Sinne ihrer seelischen Entwicklung adäquat beantwortet werden können, sind auch weitere Systeme in ihrer Kooperationsfähigkeit gefordert: Schule, Kindergarten, die Betreuungsysteme der psychisch kranken Pflegeperson, SozialarbeiterInnen, ÄrztInnen, BeratungslehrerInnen, PsychotherapeutInnen in ihren jeweiligen Settings etc. In der Begegnung von VertreterInnen unterschiedlicher professioneller Provenienz des psychosozialen Feldes bietet der Workshop Gelegenheit, Stärken, Schwächen sowie Lücken und noch zu entdeckende Ressourcen von Institutionen und Projekten mit Schwerpunkt der regionalen Versorgung zur Sprache kommen zu lassen. Die wesentliche Erkenntnis des Workshops sei hier vorweggenommen: Die Koordination der verschiedenen Helfersysteme ist ein höchst sensibles Unterfangen‐ und findet häufig nur statt, wenn sie durch die Initiative von Einzelpersonen aus dem professionellen Feld eingerichtet und getragen wird. Die Selbstverständlichkeit von interdisziplinären und interprofessionellen Helferkonferenzen scheitert an der Implantierung in den Systemen. Meist steht dafür weder ausreichend Zeit noch Finanzierung zur Verfügung. Wo die Zusammenarbeit der Helfersysteme im Sinn der betroffenen Kinder und Jugendlichen gelingt, zeigt der Synergieeffekt, dass durch die gemeinsam gefundene Sprache der Helfer die komplexe Aufgabe von passender Information und Begleitung gut bewältigt werden kann: • Damit wird die Isolationstendenz von Familien, die durch die psychische Erkrankung einer Pflegeperson gekennzeichnet sind, deutlich gebremst: Sie fallen nicht zwischen die Stühle. Die Krankheit und ihre Dynamik verschwindet nicht im Schweigen. • Die Problematik der unterschiedlichen Schwerpunkte der Helfersysteme lässt sich so einfacher bewältigen; die Helfersysteme erwerben eine Art „gemeinsamer Sprache“ in Richtung des Familiensystems. Kinder/Jugendliche bedürfen einer klaren Sprache, wenn die Verwirrung, Angst oder Verzweiflung, die über die Erkrankung des Elternteils entstanden ist, bewältigt werden soll. Wenn die Entscheidung lautet: Darüber reden, dann ist neben dem WAS? auch das WIE? zu bedenken. Tagungsdokumentation "Jetzt bin ich dran..." Kinder psychisch kranker Eltern Seite 79 von 105 Die Diskussion im Workshop bewegt sich innerhalb dieses Rahmens, der auch durch die exemplarischen Fälle der Einleitung von Dr. Röckel und Mag. Paulinz repräsentiert ist. Dr. Röckel behandelt als Psychiaterin erwachsene PatientInnen. Kinder und Jugendliche begegnen ihr in diesem Kontext als Angehörige, nicht selten in extremen psychischen Ausnahmesituationen ihrer Väter oder Mütter. In dieser Dynamik tauchen Fragen oder Verleugnungen zur Befindlichkeit des Elternteils auf. In den Gesprächen mit den angehörigen Kindern und Jugendlichen wird oft die Fremdheit thematisiert, die die Krankheit erzeugt. Die Vielzahl der Interventionen und Antworten kann hier in ihrer Individualität unmöglich eingefangen werden. Hier eine Skizze von unzähligen Beispielen: Zwei Jugendliche kommen zum Angehörigengespräch. Das Krankheitsbild der Mutter sprengt die Grenzen jeder Vorstellung der beiden Kinder. Wahnbilder organisieren das Verhalten der Mutter; sie ist in einer eigenen Welt gefangen und unerreichbar für die zwei Jugendlichen. Auf den Bruch zwischen den Welten ‐ hier eine zugewandte, einfühlsame Mutter, da eine Mutter, die sich vollkommen fremd und unerreichbar anfühlt – reagieren die beiden unterschiedlich, mit Fragen einerseits, mit großer Zurückhaltung anderseits. Welche Worte findet man zur Beschreibung dieser komplexen psychischen Zustände der Mutter? Indem Dr. Röckel den Prozess des Traumgeschehens als Verständnisbrücke für das Wahnhafte im Erleben und Verhalten der Mutter anbietet, öffnen sich Zugangsmöglichkeiten. Die meisten von uns können sich vorstellen, in einem Traum mit allen seinen Verdichtungen und Verzerrungen gefangen zu sein. Die beiden Jugendlichen können diese Brücke für die zukünftige Gestaltung ihres Verstehens des eigenen Erlebens und der Beziehung zu ihrer Mutter verwenden. Dr. Röckel begegnet Kindern und Jugendlichen, wenn die psychische Erkrankung des Elternteils evident ist. Ganz anders ist das in den meisten Fällen im Arbeitsfeld der BeratungslehrerIn. Wirft ein Kind/Jugendliche(r) im Regelschulwesen in seinem Verhalten und der Darstellung seiner Befindlichkeit Fragen auf, die über den regulären schulischen Aufgabenbereich hinausgehen, so kann die Unterstützung einer BeratungslehrerIn beantragt werden. Es ist die Aufgabe der Beratungslehrerin, diese Fragen so zu untersuchen und zu beantworten, dass das ungehinderte schulische Fortkommen des Kindes/Jugendlichen möglich wird. Wenn deutlich wird, dass familiäre Belastungen die Quelle von Belastung innerer oder verhaltensmäßiger psychischer Regulation des Kindes/Jugendlichen darstellen, ist die Beratungslehrerin auf die Kooperation mit den Pflegepersonen auf besondere Weise angewiesen. Das kann sich bei der Dynamik einer psychischen Erkrankung eines Elternteils ganz unterschiedlich innerhalb dieser Pole gestalten: Es bietet sich die Chance, auf bestehende Verständniszugänge, Helfersysteme und andere Ressourcen zurückzugreifen, oder die elterliche Krankheit erstmals im Zusammenhang der Problematik des Kindes/Jugendlichen zu verstehen. Der folgende Fall illustriert eine von unzähligen Varianten: Nach einem Lehrerwechsel in der 3. Volksschulklasse werden die Symptome eines gut begabten Kindes unübersehbar: Leistungsabfall, ständige Konflikte mit KlassenkameradInnen, heftiges, körperhaftes Nähebedürfnis zur Lehrerin. Tagungsdokumentation "Jetzt bin ich dran..." Kinder psychisch kranker Eltern Seite 80 von 105 Zum Elterngespräch erscheint der Vater; Überlegungen zum Verhalten seines Sohnes führen eher in Nebengedanken zur Befindlichkeit der Mutter . Die Familie hat beschlossen, die gelegentliche Abwesenheit der Mutter dem Kind gegenüber als Verwandtenbesuche zu benennen, obwohl der Grund der Abwesenheit in notwenigen klinischen Aufenthalten begründet ist . Bei Nachfragen der Beratungslehrerin wird klar, dass die Eltern das Verheimlichen der psychischen Krankheit der Mutter als Schonung des Kindes verstehen. Mit dieser Gesprächsbrücke ergibt sich die Möglichkeit, die potentielle Auswirkung des Geheimnisses auf das Verhalten des Kindes zu untersuchen, und etwaig notwendige Helfer(systeme) zu installieren. Im Folgenden sind die in der Diskussion angerissenen mitgedachten Grundlagen genannt, die die Überlegungen zum dem Thema, was Kinder wirklich brauchen, bestimmen: • Womit müssen Kinder/Jugendliche klarkommen? Sie erleben die Folgen der elterlichen Erkrankung im geänderten Verhalten des Vaters/ der Mutter ihnen gegenüber, in der Veränderungen innerhalb der Familie, in den entstehenden sozialen Belastungen und den Veränderungen und Defiziten in elterlicher Fürsorge und Erziehungsaufgaben. • Belastungen aus den krankheitsbedingten Defiziten der Pflegeperson Die Aufmerksamkeit für die Grundbedürfnisse des Kindes /Jugendlichen werden phasenweise oder dauerhaft vernachlässigt; das kann bis hin zur Traumatisierung reichen, wenn die elterliche Erkrankung etwa durch Aggressionsschübe oder Suizidankündigungen geprägt ist. • Wie erlebt und verarbeitet das Kind/der Jugendliche die psychopathologischen Phänomene im Intrapsychischen? Die häufigsten Dynamiken führen zu Desorientierung , Angst, Schuldgefühlen („Papa ist krank, weil ich böse war“), Wut (resultierend aus Hilf‐ und Ausweglosigkeit), Scham, Verleugnung und Verdrängung der psychischen Krankheit und ihrer Auswirkungen und Loyalitätskonflikten in allen denkbaren Varianten. • Wie verändert sich das Familiensystem? In der Rollenverteilung innerhalb der Familie erzwingt sich eine Verantwortungsverschiebung, deren häufigste Konsequenzen Parentifizierung, Ersatzpartnerschaft, Allianzbildungen (Wir beide gegen die Welt) und Übernahme von Erwachsenenaufgaben des Alltags sind. • Welche sozialen Belastungsfaktoren entstehen für das Familiensystem? Aus Isolierung und Abwertungserlebnissen resultieren Rückzug, Tabuisierungsprozesse und Loyalitätsproblematiken • Was brauchen Kinder/Jugendliche? Alle Unternehmungen zu „Darüber reden, darüber schweigen“ sind von der Maxime aus zu sehen, dass das Schweigen in angemessener Form zu brechen ist. Tagungsdokumentation "Jetzt bin ich dran..." Kinder psychisch kranker Eltern Seite 81 von 105 Die Aufgabe der Helfer(systeme) besteht darin, mit kindlichen Gefühlen der Verantwortung und Schuld so umzugehen, dass aus der Stärkung des Selbstwertgefühls des Kindes/Jugendlichen ein Bewusstsein von Selbstwirksamkeit und Problemlösekompetenz entstehen kann. Um diese Aufgabe zu erfüllen, ist abschließend und neuerlich die Bedeutung der Vernetzung der Helfer(systeme) zu betonen, wie die Diskussion des Workshops bestätigt. Tagungsdokumentation "Jetzt bin ich dran..." Kinder psychisch kranker Eltern Seite 82 von 105 Workshop 4: Diagnostik und Interventionen bei Kindern psychisch kranker Eltern Prof. Dr. Albert Lenz (Kath. Hochschule Nordrhein Westfalen, Abteilung Paderborn) Angesichts der zentralen Bedeutung der Ressourcen für die Bewältigung von Belastungen liegt es nahe, die Ressourcenförderung in den Mittelpunkt professioneller Unterstützungsangebote für die Kinder psychisch kranker Eltern zu stellen. Ausgehend von den Ergebnissen der Risiko- und Belastungsforschung sowie der Bewältigung- und Resilienzforschung werden in der Arbeitsgruppe Methoden zur Aktivierung und Stärkung der personalen, familiären und sozialen Ressourcen dargestellt. Ziel der Interventionen ist es, die Kinder und Familien zu befähigen, mit den Belastungen konstruktiv umzugehen. Eine wesentliche Voraussetzung für eine differenzierte Planung von Interventionen und die Einleitung anderer weiterreichender Hilfsmaßnahmen ist eine umfassende Einschätzung der Belastungen, Probleme und Ressourcen des Kindes und der Familie. Tagungsdokumentation "Jetzt bin ich dran..." Kinder psychisch kranker Eltern Seite 83 von 105 KatHO NRW Aachen Köln Münster Paderborn Kinder psychisch kranker Eltern Diagnostik und Intervention Prof. Dr. Albert Lenz Diplom-Psychologe Katholische Hochschule Nordrhein-Westfalen Abteilung Paderborn Leostraße 19 - 33098 Paderborn Telefon 05251-122556: E-Mail: [email protected] www.katho-nrw.de KatHO NRW Aachen Köln Münster Paderborn Multimodales Präventionsprogramm „Ressourcen fördern“ (Lenz, in Vorbereitung) Basismodule 1. Kooperation zwischen den Systemen der Kinder- und Jugendhilfe und der Psychiatrie 2. Kinder als Angehörige – Wahrnehmung der Kinder und Einbeziehung in die Behandlung des erkrankten Elternteils 1 Tagungsdokumentation "Jetzt bin ich dran..." Kinder psychisch kranker Eltern Seite 84 von 105 KatHO NRW Aachen Köln Münster Paderborn Multimodales Präventionsprogramm „Ressourcen fördern“ (Lenz, in Vorbereitung) Interventionsmodule 1. Diagnostische Einschätzung der Belastungen und Ressourcen 2. Förderung der familiären Kommunikation 3. Förderung der Problemlösekompetenz der Kinder und Jugendlichen 4. Förderung sozialer Ressourcen der Kinder und Familien 5. Psychoedukation für Kinder und Jugendliche KatHO NRW Aachen Köln Münster Paderborn Kooperation im psychosozialen Kontext Kooperation ist ein Verfahren, bei dem im Hinblick auf sich überschneidende Zielsetzungen durch Abstimmung der beteiligten Einrichtungen / Institutionen eine Optimierung von Hilfeleistungen angestrebt wird (vgl. van Santen & Seckinger, 2003). 2 Tagungsdokumentation "Jetzt bin ich dran..." Kinder psychisch kranker Eltern Seite 85 von 105 KatHO NRW Aachen Köln Münster Paderborn Ergebnisse der Kooperationsforschung (Lenz, 2005; 2008) ¾ Kooperation wird allgemein ein hoher Stellenwert zugeschrieben ¾ Kooperation wird zugleich als zusätzliche und zeitaufwändige Aufgabe betrachtet ¾ Kooperationsbeziehungen zwischen Erwachsenenpsychiatrie und der Kinder- und Jugendhilfe werden häufig als unbefriedigend, nicht selten als spannungsgeladen und konflikthaft bezeichnet KatHO NRW Aachen Köln Münster Paderborn Kooperation ist eine voraussetzungsvolle Handlungsstrategie Kooperation zwischen unterschiedlichen Hilfesystemen stellt, wenn sie gelingen soll, eine Reihe von Anforderungen an die beteiligten Institutionen und deren Mitarbeiter/ Mitarbeiterinnen sowohl auf der interinstitutionellen als auch auf der intrainstitutionellen Ebene (van Santen & Seckinger, 2003). 3 Tagungsdokumentation "Jetzt bin ich dran..." Kinder psychisch kranker Eltern Seite 86 von 105 KatHO NRW Aachen Köln Münster Paderborn Voraussetzungen für den Aufbau einer funktionalen interinstitutionellen Kooperation Bildung eines fallübergreifenden Netzwerkes Ziele • Aufbau vertrauensvoller Beziehungen, gegenseitiger Akzeptanz • Kennen lernen der unterschiedlichen Aufgaben, Zuständigkeiten, Organisationsabläufe und Handlungslogiken (Denkmuster) • Reflektieren der Schnittstellen zwischen den Einrichtungen • Durchführung kollegialer Fortbildungen KatHO NRW Aachen Köln Münster Paderborn Diagnostik Gezielte und wirksame Hilfen setzen die Erfassung der individuellen, familiären und sozialen Belastungen sowie der verfügbaren bzw. mobilisierbaren personalen, familiären und sozialen Ressourcen voraus (Lenz, 2008). 4 Tagungsdokumentation "Jetzt bin ich dran..." Kinder psychisch kranker Eltern Seite 87 von 105 KatHO NRW Aachen Köln Münster Paderborn Diagnostik Diagnostische Instrumente • Explorationsleitfaden zur diagnostischen Einschätzung des kindlichen Belastungserlebens (Lenz, 2008) • Standardisierte psychodiagnostische Verfahren zur Erfassung der Belastungen (CBCL 4-18; KinderDIPS, SVF-KJ) KatHO NRW Aachen Köln Münster Paderborn Einschätzung der kindlichen Belastungen Inwieweit geht die elterliche Erkrankung mit Einschränkungen in der Fürsorge, Betreuung und in der Eltern-KindBeziehung einher? • In der Fähigkeit, Grundbedürfnisse des Kindes zu erfüllen • In der Fähigkeit, dem Kind als stabile und positive Bezugsperson zu dienen, • In der Fähigkeit, dem Kind ein Mindestmaß an Regeln, Grenzen und Werten zu vermitteln. • In der Fähigkeit, dem Kind grundlegende Lern- und Entwicklungschancen zu eröffnen 5 Tagungsdokumentation "Jetzt bin ich dran..." Kinder psychisch kranker Eltern Seite 88 von 105 KatHO NRW Aachen Köln Münster Paderborn Einschätzung der kindlichen Belastungen Gibt es Anzeichen für Tabuisierung der Krankheit in der Familie sowie für Rede- und Kommunikationsverbot über die familiäre Situation nach außen? Gibt es Hinweise auf Ereignisse in der Familiengeschichte, die verschwiegen werden, z.B. atmosphärisch und/oder szenisch? KatHO NRW Aachen Köln Münster Paderborn Einschätzung der kindlichen Belastungen Welche Vorstellungen haben die Kinder über die elterliche Erkrankung? Verfügen die Kinder über konkrete Kenntnisse oder besitzen sie nur ein diffuses und lückenhaftes Wissen? Inwieweit fühlt sich das Kind für die Erkrankung des Elternteils verantwortlich/schuldig? Gibt es Konflikte zwischen außerfamiliären Bezugspersonen und dem erkrankten und/oder gesunden Elternteil? 6 Tagungsdokumentation "Jetzt bin ich dran..." Kinder psychisch kranker Eltern Seite 89 von 105 KatHO NRW Aachen Köln Münster Paderborn Einschätzung der kindlichen Belastungen Kann das Kind Unterstützungsleistungen aus dem sozialen Netzwerk mobilisieren? Welches Mobilisierungs- und Hilfesuchverhalten zeigt das Kind Welche Erfahrungen macht das Kind im Netzwerk bei der Suche nach Unterstützung? Welche Formen der sozialen Unterstützung erhält das Kind? KatHO NRW Aachen Köln Münster Paderborn Einschätzung der kindlichen Belastungen Wie groß ist die Bereitschaft des Kindes auf andere Personen zuzugehen und seine Probleme, Nöte und Sorgen zu offenbaren? Welche Reaktionen aus dem sozialen Umfeld erlebt das Kind? 7 Tagungsdokumentation "Jetzt bin ich dran..." Kinder psychisch kranker Eltern Seite 90 von 105 KatHO NRW Aachen Köln Münster Paderborn Ressourcenorientierte Diagnostik Bewältigung hängt wesentlich davon ab, welche Ressourcen einer Person zur Verfügung stehen und mobilisiert werden können, um konstruktive Aktivitäten und Handlungen in Gang setzen zu können (Lenz, 2008). Die Ressourcendiagnostik zielt auf eine systematische Identifizierung und Analyse von Ressourcen ab. KatHO NRW Aachen Köln Münster Paderborn Fragen zur Ressourcenexploration an die Eltern • • • • • • • • Was kann ihr Kind besonders gut? Welche Stärken und Fähigkeiten hat es? Welche Interessen und Hobbies hat ihr Kind? Was mögen sie an ihrem Kind? Was mögen wohl andere Personen (z.B. Großeltern, Geschwister, Freunde, Lehrer) an ihrem Kind? Mit wem trifft sich ihr Kind gerne? An wen wendet es sich, wenn es Fragen, Sorgen oder Nöte hat? Wer weiß alles von den Problemen? An wen können sie sich wenden? Mit wem können sie reden? Was schätzt ihr Kind an dem Zuhause und der Wohnumgebung besonders? 8 Tagungsdokumentation "Jetzt bin ich dran..." Kinder psychisch kranker Eltern Seite 91 von 105 KatHO NRW Aachen Köln Münster Paderborn Fragen zur Ressourcenexploration an das Kind • • • • • • • KatHO NRW Was kannst du besonders gut? Welche Stärken und Fähigkeiten hast du? Welche Interessen und Hobbies hast du? Was mögen wohl deine Eltern, Großeltern, Geschwister, Freunde und Lehrer an dir? Welche Menschen sind dir am liebsten? Was schätzt du besonders an deinem Zuhause und an dem Wohnumfeld? An wen kannst du dich wenden, wenn du Fragen, Sorgen oder Nöte hast? Wer weiß alles von den Problemen? An wen kannst du dich bei den Problemen wenden? Mit wem kannst du reden? Aachen Köln Münster Paderborn Analyse der sozialen Ressourcen Das Kind wird zunächst aufgefordert, sich Personen aus der Familie und dem sozialen Umfeld zu überlegen • die ihm besonders nahe stehen, ohne die es sich das Leben nur schwer vorstellen kann, • die ihm wichtig sind, mit denen es gerne zusammen ist, mit denen es sich aber nicht ganz so eng verbunden fühlt, wie mit der ersten Gruppe, • mit denen es sich häufiger trifft, mit denen regelmäßigere soziale Kontakte bestehen, die gefühlsmäßigen Bindungen aber eher schwächer und distanzierter sind und 9 Tagungsdokumentation "Jetzt bin ich dran..." Kinder psychisch kranker Eltern Seite 92 von 105 KatHO NRW Aachen Köln Münster Paderborn Analyse der sozialen Ressourcen Netzwerkzeichnungen stellen eher unstrukturierte Verfahren dar: Kinder sollen an irgendeiner Stelle eines Zeichenblattes mit einem Malstift das „Ich“ durch ihren Namen oder ein Symbol, beispielsweise einen Kreis oder ein Quadrat, eintragen. In einem nächsten Schritt sollen alle Netzwerkmitglieder entsprechend ihrer Bedeutung und der Enge der Bindung mehr oder weniger nah um die eigene Person platziert werden. KatHO NRW Aachen Köln Münster Paderborn Analyse der sozialen Ressourcen Netzwerkkarte ICH 10 Tagungsdokumentation "Jetzt bin ich dran..." Kinder psychisch kranker Eltern Seite 93 von 105 KatHO NRW Aachen Köln Münster Paderborn Analyse familiärer Ressourcen Familie in Tieren oder die verzauberte Familie Stell dir vor, alle Mitglieder deiner Familie wären Tiere. Male deine Familie, als ob jedes Familienmitglied ein Tier wäre. Du selbst auch. Erklärungen und Beschreibungen für die Wahl der einzelnen Tiere nicht als Ausdruck konflikthafter Beziehung interpretiert, vielmehr wird das Kind angeregt, die Fähigkeiten und Stärken der gemalten Tiere zu benennen. KatHO NRW Aachen Köln Münster Paderborn Multimodale Diagnostik • Urteil von Eltern, Lehrern oder anderen Bezugspersonen • Selbsturteil von Kindern und Jugendlichen • Verhaltensbeobachtung • Das „klinische“ Urteil erfasst durch Exploration, Testergebnisse 11 Tagungsdokumentation "Jetzt bin ich dran..." Kinder psychisch kranker Eltern Seite 94 von 105 KatHO NRW Aachen Köln Münster Paderborn Präventive Interventionen - Ausgangsüberlegung Die Förderung der familiären Resilienz (d.h. personaler, familiärer und sozialer Schutzfaktoren sowie konstruktiver Bewältigungsstrategien) können die Entwicklung von psychischen Störungen bei Kindern verhindern (Lenz, 2008). KatHO NRW Aachen Köln Münster Paderborn Interventionen Problemlösekompetenz stellt eine übergreifende Form des Bewältigungshandelns dar, • verbessert die Anpassungsfähigkeit der Kinder in akuten Belastungssituationen und • befähigt, in neuen oder bislang ungewohnten Belastungssituationen mit Anforderungen besser fertig zu werden. 12 Tagungsdokumentation "Jetzt bin ich dran..." Kinder psychisch kranker Eltern Seite 95 von 105 KatHO NRW Aachen Köln Münster Paderborn Interventionen Bewältigungsstrategien von Kindern und Jugendlichen (Compas et al., 2001; Lohaus & Beyer, 2007): • Problemlösende Bewältigung, die als direkte Strategie auf die Beeinflussung der Ursachen von Belastungen abzielt. • Emotionsregulierende Bewältigung, die als internale Strategie das primäre Ziel hat, die Beanspruchung auf Seiten des betroffenen Kindes zu regulieren. • Die Suche nach sozialer Unterstützung besitzt sowohl problemlösende als auch emotionsregulierende Funktion KatHO NRW Aachen Köln Münster Paderborn Interventionen Wirksame Bewältigung ist gekennzeichnet durch die Passung zwischen Merkmalen der Anforderungssituation: • problemlösungsorientierte Strategien in kontrollierbaren Situationen, • emotionsregulierende Strategien in unkontrollierbaren Situationen, • vermeidende Strategien in unkontrollierbaren Situationen, in denen keine soziale Unterstützung verfügbar 13 Tagungsdokumentation "Jetzt bin ich dran..." Kinder psychisch kranker Eltern Seite 96 von 105 KatHO NRW Aachen Köln Münster Paderborn Interventionen Förderung der Problemlösekompetenz anhand alltäglicher Problemsituationen: z.B. Zwei Jungen haben von der Krankheit deiner Mutter (deines Vaters) erfahren. Sie ziehen dich damit andauernd auf und machen sich über deine Mutter (deinen Vater) lustig. KatHO NRW Aachen Köln Münster Paderborn Interventionen - Psychoedukation Psychoedukation ist ein dialogischer Prozess, in dem die Kinder ermutigt werden, Fragen zu stellen, ihre Informationsbedürfnisse zum Ausdruck zu bringen und auf die Mitteilungen zu reagieren (Beardslee & MacMillan, 1993). 14 Tagungsdokumentation "Jetzt bin ich dran..." Kinder psychisch kranker Eltern Seite 97 von 105 KatHO NRW Aachen Köln Münster Paderborn Interventionen - Psychoedukation Wissen über die Krankheit erhöht die Widerstandsfähigkeit der Kinder gegenüber Belastungen: • vermittelt Hoffnung und positive Zukunftserwartungen und • befähigt, ein Gefühl der Kontrolle und Selbstwirksamkeit zu entdecken. Basis für das Kohärenzgefühl (Aaron Antonovsky, 1997) KatHO NRW Aachen Köln Münster Paderborn Interventionen - Psychoedukation Informationsbedürfnisse der Kinder (Lenz, 2005) • Umgang im familiären Alltag: Wie soll ich mich dem kranken Elternteil gegenüber verhalten? Wie soll ich auf Äußerungen und Verhaltensweisen des kranken Elternteils reagieren? Wie kann ich Vater oder Mutter in gesunden Phasen und akuten Krankheitsphasen unterstützen? • Mögliche Veränderungen im Familienleben: Wird sich mein Leben ändern und wenn ja, wie? Wer wird für mich sorgen? • Erbeinflüsse: Angst vor einer möglichen eigenen Erkrankung. 15 Tagungsdokumentation "Jetzt bin ich dran..." Kinder psychisch kranker Eltern Seite 98 von 105 KatHO NRW Aachen Köln Münster Paderborn Interventionen - Psychoedukation Kinder haben ein Recht, die Wahrheit über die Krankheit zu erfahren • sie müssen nicht alle Details erfahren (insbesondere jüngere Kinder wären damit emotional und kognitiv überfordert) • sie müssen aber über alle wesentlichen Veränderungen informiert werden sowie über alle Angelegenheiten, die sie betreffen • sie brauchen auch die Sicherheit, die Wahrheit erfahren zu haben KatHO NRW Aachen Köln Münster Paderborn Interventionen - Psychoedukation Krankheitsinformationen für Kinder bis zum 3. Lebensjahr Kind sollte erfahren • Mutter oder Vater ist krank. • Es ist nicht schuld. Es hat nichts falsch gemacht. Mama geht es heute nicht gut, sie ist müde und traurig. Wenn es ihr wieder besser geht, spielt sie wieder mit dir. 16 Tagungsdokumentation "Jetzt bin ich dran..." Kinder psychisch kranker Eltern Seite 99 von 105 KatHO NRW Aachen Köln Münster Paderborn Interventionen - Psychoedukation Kinder vom 3. bis zum 6. Lebensjahr Das Kind sollte in dem ersten Gespräch erfahren: • Mutter oder Vater ist krank • Die Krankheit heißt… • Mutter oder Vater ist in die Klinik gekommen, damit die Ärzte besser helfen können • Für das Kind werden sich momentan diese oder jene Veränderungen ergeben KatHO NRW Aachen Köln Münster Paderborn Interventionen - Psychoedukation Kinder vom 7. bis zum 12. Lebensjahr Es ist wichtig, den Kindern deutlich zu vermitteln, dass sie mit der Krankheit nichts zu tun haben: Weder ihr Verhalten noch ihre Gedanken haben die Krankheit ausgelöst. 17 Tagungsdokumentation "Jetzt bin ich dran..." Kinder psychisch kranker Eltern Seite 100 von 105 KatHO NRW Aachen Köln Münster Paderborn Interventionen - Psychoedukation Jugendliche vom 13. bis zum 18. Lebensjahr Kognitiv sind sie in der Lage, Situationen und Ereignisse zu verstehen und mögliche Konsequenzen ähnlich wie die Erwachsenen einzuschätzen. Auf der emotionalen Ebene fällt es ihnen schwer, mit ihren heftigen und ambivalenten Gefühlen zurechtzukommen. Gefahr besteht darin, dass sie in der Krisensituation überschätzt werden. KatHO NRW Aachen Köln Münster Paderborn Interventionen - Psychoedukation Setting für Psychoedukation • Krankheitsinformation sollte im Familiengespräch erfolgen • Vorbereitende Gespräche sollten mit Eltern und Kindern getrennt durchgeführt werden 18 Tagungsdokumentation "Jetzt bin ich dran..." Kinder psychisch kranker Eltern Seite 101 von 105 KatHO NRW Aachen Köln Münster Paderborn Interventionen Förderung und Stärkung sozialer Ressourcen (Lenz, 2008) • Strategien zur unmittelbaren Netzwerkförderung Netzwerkkonferenz (erweitertes Familiensetting) Patenschaften (mit der Möglichkeit einer flexiblen Krisenintervention) Peer-Counselling (Peer-Paten) • Gruppeninterventionen AURYN-Kindergruppe KatHO NRW Aachen Köln Münster Paderborn Interventionen Netzwerkkonferenz Die Kinder und Eltern werden motiviert, eine Einladung an diejenigen Personen auszusprechen, die an der Lösung des bestehenden Problems mitarbeiten sollen. 19 Tagungsdokumentation "Jetzt bin ich dran..." Kinder psychisch kranker Eltern Seite 102 von 105 KatHO NRW Aachen Köln Münster Paderborn Interventionen Ziel der Netzwerkkonferenz Bezugspersonen aus dem sozialen Umfeld zusammenzuführen und nicht oder nur wenig genutzte bzw. verloren gegangene Kommunikationskanäle zu fördern sowie emotionale und instrumentelle Unterstützungspotenziale im sozialen Netzwerk zu aktivieren. KatHO NRW Aachen Köln Münster Paderborn Interventionen Durch die Netzwerkkonferenzen werden • Patenschaften und • Peerbeziehungen im Sinne von Peer-Counselling als Unterstützungsmöglichkeiten für die Kinder angestoßen 20 Tagungsdokumentation "Jetzt bin ich dran..." Kinder psychisch kranker Eltern Seite 103 von 105 KatHO NRW Aachen Köln Münster Paderborn Interventionen Gruppenintervention Gruppe ist Medium und Katalysator sowohl für individuelle als auch für soziale Prozesse zur Förderung und Initiierung sozialer Ressourcen. Indikation: Kinder benötigen, neben Kontakten auch einen Schutzraum, der ihnen Sicherheit und ein Gefühl der Zugehörigkeit vermittelt, in dem sie sich emotional öffnen, über Probleme reden und neue Kommunikationsmuster erproben können. Kontraindikation: stark parentifizierte Kinder. KatHO NRW Aachen Köln Münster Paderborn Literatur in Vorbereitung Albert Lenz Ressourcen fördern Materialien für die Arbeit mit Kindern und ihren psychisch kranken Eltern Göttingen: Hogrefe erscheint 2010 21 Tagungsdokumentation "Jetzt bin ich dran..." Kinder psychisch kranker Eltern Seite 104 von 105 Ergebnisse der Evaluierung An der Veranstaltung haben insgesamt 187 Personen teilgenommen. Von den verteilten Feedbackbögen wurden 100 ausgefüllt und retourniert: Im Folgenden soll ein kurzer Überblick über die Ergebnisse gegeben werden: Kriterien Durchschnitt* Erhaltene Rückmeldungen** Tagungsablauf ingesamt Erreichbarkeit des Veranstaltungsortes Ausstattung des Veranstaltungsortes Tagungsverpflegung Vorträge, Workshop und Diskussion allgemein Möglichkeiten fachlicher Austausch Praxisbezug der Inhalte Gewinn an theoretischem Wissen WS1: Angebote in Österreich und die Situation von erwachsenen Kindern psychisch kranker Eltern WS2: Darüber reden, darüber schweigen - und: Was brauchen Kinder wirklich? WS3: Kindeswohlgefährdung – ein Thema für die psychiatrische Landschaft? Psychische Erkrankung – ein Thema für die Jugendwohlfahrt? WS4: Diagnostik und Interventionen bei Kindern psychisch kranker Eltern 1,5 1,4 1,3 1,3 1,8 1,9 1,7 2,2 96 99 93 98 98 97 98 99 2,2 15 1,6 32 2,2 13 1,7 32 Gesamtnote 1,7 100 *Bewertet wurde nach dem Schulnotensystem 1= sehr gut, 5= nicht genügend) ** Erhaltene Antworten zu den jeweiligen Fragen Die Möglichkeit im Feedbackbogen Verbesserungsvorschlägen und Anmerkungen anzuführen wurde von einigen BesucherInnen genutzt. Kritisch wurde vor allem auf die schlechte Akustik, die schlechte Lesbarkeit der Präsentationen (im hinteren Teil des Saales) sowie auf die zu lange Phase der Einführung/Vorstellung/Begrüßung hingewiesen (nur mehrfach ähnliche Nennungen werden hier angeführt). Mehrfach gelobt wurden die Tagesverpflegung und die Veranstaltung generell. Tagungsdokumentation "Jetzt bin ich dran..." Kinder psychisch kranker Eltern Seite 105 von 105