ÖGATAP 2/2009 Hans-Jürgen Wirth Narzissmus und Machtmissbrauch in der Psychotherapie Harald Ullmann Die metaphorische und narrative Dimension der Katathym Imaginativen Psychotherapie (KIP) – Über den Zusammenhang von Symbol, Drama und Metapher Leonore Kottje-Birnbacher Die Liebe in der Paartherapie mit KIP Barbara Hauler Geschlechtsunterschiede im therapeutischen Prozess Alle Rechte vorbehalten www.oegatap.at Impressum Die Imagination ist eine wissenschaftliche Pu­ blikation der Internationalen Gesellschaft für Katathymes Bilderleben IGKB und das offi­ zielle Organ der Öster­reichischen Gesellschaft für angewandte Tiefenpsychologie und allge­ meine Psychotherapie (ÖGATAP). Mathilde Pichler, Wien Ingrid Reichmann, Klagenfurt Monika Schnell, Berlin Claudius Stein, Wien Michael Stigler, Lausanne Eberhard Wilke, Malente Herausgeber und Eigentümer: Öster­reichi­ sche Gesellschaft für angewandte Tiefenpsy­ chologie und allgemeine Psychotherapie, Kaiserstraße 14/13, 1070 Wien, Tel.: 01 / 523 38 39, Fax: 01 / 523 38 39 - 10. Verlag: Facultas Verlags- und Buch­handels AG, Berggasse 5, 1090 Wien, Tel.: 01 / 310 53 56 Redaktion: Dr. Wilfried Dieter, Dr. Josef Bittner, Dr. Harald Ullmann Nicole Lachmann Layout und Satz: Gerhard Krill, Wien; [email protected] Schriftleitung: Dr. Josef Bittner Lektorat: Dr. Wilfried Dieter Redaktionsanschrift: Landhausgasse 2/44, 1010 Wien, E-Mail: [email protected] Wissenschaftlicher Beirat: Ulrich Bahrke, Halle Monika Bürgi, Basel Margret Flores d’Arcais-Strotmann, Amsterdam Jadranka Dieter, Wien Elfriede Fidal, Wien Susanne Frei, Wien Heinz Hennig, Halle Hans Kanitschar, Wien Leonore Kottje-Birnbacher, Düsseldorf Wolfgang Ladenbauer, Wien Matthias Mende, Salzburg Erscheinungsweise: Viermal jährlich Druck: Facultas Verlags- und Buchhandels AG Bezug: Für Mitglieder der Österreichischen Gesellschaft für angewandte Tiefenpsycholo­ gie und allgemeine Psychotherapie im Jahres­ mit­gliedsbeitrag eingeschlossen. 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Ziele der Gesellschaft: Ausbildung gemäß den Bestimmungen des Psychotherapiegesetzes vom 7. 6. 1990 in psycho­therapeutischen Methoden. Vorstandsmitglieder ÖGATAP: 1. Vorsitzende: Dr. Ingrid Reichmann, 2. Vor­ sitzender: Dr. Harald Meller, Ausbildungs­ leiterin: Dr. Brigitte Bischof, Schriftführe­­ rin: Dr. Eveline Schöpfer-Mader, Kassierin: Angela Trojan, KandidatInnenvertretung: Mag. Simon Severino, Mag. Martina Fitzek, Dozen­tInnenvertretung: Dr. Wilfried Dieter, Dr. Wolf­gang Ladenbauer, TherapeutInnen­ vertretung: Stephan Engelhardt, Elvira Öl­ scher, Rechnungsprüfer: Dr. Hans Halt­ mayer, Mag. Irmgard Stütz Nach § 25 (3): keine Nach § 25 (8): Imagination vertritt die An­­­ lie­gen der Österreichischen Gesellschaft für angewandte Tiefenpsychologie und all­ge­ mei­ne Psychotherapie und soll über ver­schie­ dene Thera­pie­methoden und vor allem deren Anwendung in der Praxis informieren. Inhalt 31. Jahrgang, Nr. 2/2009 Editorial 3 Hans-Jürgen Wirth Narzissmus und Machtmissbrauch in der Psychotherapie 5 Harald Ullmann Die metaphorische und narrative Dimension der Katathym Imaginativen Psychotherapie (KIP) – Über den Zusammenhang von Symbol, Drama und Metapher 20 Leonore Kottje-Birnbacher Die Liebe in der Paartherapie mit KIP 46 Barbara Hauler Geschlechtsunterschiede im therapeutischen Prozess 64 Heinrich Wallnöfer Nachruf auf Univ.-Prof. univ. med. Dr. Alois Moritz Becker 80 2 Imagination, Nr. 2 /2009 Editorial 3 Editorial Liebe Leserinnen, liebe Leser! Die Beiträge im vorliegenden Heft der »Imagination« spannen inhaltlich einen weiten Bogen. Drei Artikel stellen die KIP in verschiedenen Anwendungsformen und unter verschiedenen theoretischen Blickwinkeln dar. Eine vierte Arbeit beschäftigt sich mit dem hoch brisanten Thema »Missbrauch« in der Therapie, das als Gefahr alle psychotherapeutischen Methoden bzw. alle therapeutischen Beziehungen betrifft. Hans-Jürgen Wirth schreibt über »Narzissmus und Machtmissbrauch in der Psychotherapie« und stellt die psychologischen und soziologischen Voraussetzungen dar, unter denen es besonders leicht oder häufig zu sexuellem oder narzisstischem Missbrauch in Psychotherapien kommen kann. Die psychologischen Aspekte leitet Wirth ab aus den Konzepten von Horst-Eberhard Richter und Jürg Willi, die soziologischen vor allem aus den erstaunlich modern wirkenden Vorstellungen des großen Soziologen Max Weber. Mit Hinweisen auf die Ausbildungssituation für Psychotherapeuten und die Probleme der institutionalisierten Psychoanalyse greift Wirth gegen Ende seines Textes Aspekte der Prävention auf, die in Bezug auf das Thema »Missbrauch in Therapien« eine ganz prominente Rolle spielt. »Die metaphorische und narrative Dimension der Katathym Imaginativen Psychotherapie (KIP)« lautet der Titel der Arbeit von Harald Ullmann. Das Hauptziel dieser ungemein kenntnisreichen Studie ist es, eine Metaphernvielfalt im theoretischen Konzept der KIP zu erhalten und nicht durch eine »Flurbereinigung der Begriffe« eine einzige Wahrheit anzustreben, die vernebelt, dass unsere theoretischen Konzepte, egal wie ausgearbeitet oder schlüssig sie scheinen mögen, doch nie mehr sein können als Hinweise für »Optionen für Sicht- und Handlungsweisen«. Leonore Kottje-Birnbacher stellt ihr Modell der Paartherapie vor, zu dem ganz wesentlich auch die Einbeziehung von Imaginationen gehört. Sie zeigt, wie die Imagination, Nr. 2 /2009 4 Editorial Imaginationen einem Paar zu einer »Auszeit« verhelfen können, die für Erholung, Ressourcenaktivierung und zum Erproben neuer Rollen und Verhaltensmuster genutzt werden kann. Es handelt sich dabei offenbar um eine spezielle und sehr kreative Anwendung des Winnicott’schen Konzepts vom potentiellen Raum. Barbara Hauler schreibt über »Geschlechtsunterschiede im therapeutischen Prozess«. Sie arbeitet anhand von zwei Fallbeispielen und einer gründlichen Sichtung der einschlägigen Literatur heraus, dass auch heute noch viel zu wenig Wert auf die Geschlechtszugehörigkeit des Patienten/des Therapeuten gelegt wird und ein irrationaler Konsens weiterlebt, Übertragung und Gegenübertragung könnten sich in ihrem Verlauf unabhängig vom Geschlecht entwickeln bzw. so verstanden werden. Abgeschlossen wird das Heft mit einem Nachruf von Heinrich Wallnöfer auf den verstorbenen verdienstvollen Professor Alois Moritz Becker. Wie immer hoffe ich, dass ich Ihnen Appetit auf die Lektüre der Artikel unseres vorliegenden Heftes machen konnte und verbleibe Mit herzlichen Grüßen, Ihr Wilfried Dieter Imagination, Nr. 2 /2009 Narzissmus und Machtmissbrauch in der Psychotherapie 5 Narzissmus und Machtmissbrauch in der Psychotherapie Hans-Jürgen Wirth Macht in der therapeutischen Beziehung Den »unmöglichen Beruf« (Freud 1937) des Psychotherapeuten ergreift man nur, wenn man das unabweisbare Bedürfnis hat, sich auf »die Suche nach dem wahren Selbst« (Miller 1997) zu begeben, weil das »falsche Selbst« (Winnicott 1965) so lange dominiert hat. Niemand wird Therapeut – so formuliert Schmidt-Lellek (1995) – ohne narzisstisches Grundproblem. Möller (2004) bezeichnet viele Therapeuten gar als »Überlebende aus Katastrophenfamilien«, die in ihren Herkunftsfamilien die Aufgabe übernahmen, das Familiensystem aufrecht zu erhalten. Diese Therapeuten lernen schon als Kinder, psychosoziale Antennen für die Probleme anderer auszubilden. Ihre früh entwickelte Sensibilität und ihre ausgeprägte Begabung, sich in die Gefühlslage ihrer Mitmenschen einzufühlen, prädestiniert sie zwar für einen helfenden Beruf, macht sie jedoch zugleich anfällig dafür, sich entweder von anderen narzisstisch missbrauchen zu lassen oder auch umgekehrt, andere zur Stabilisierung des eigenen Selbstwertgefühls zu funktionalisieren. Wolfgang Schmidbauer (1977) hat mit dem »Helfersyndrom« eine Formulierung gefunden, die diese Zusammenhänge bis in das Alltagsbewusstsein hinein transportiert hat. Betrachten wir nach den subjektiven Ausgangsbedingungen nun die soziologische Dimension der psychotherapeutischen Situation unter dem Aspekt der Macht. Der Soziologe Max Weber (1921, S. 28) definiert Macht als »jede Chance, innerhalb einer sozialen Beziehung den eigenen Willen auch gegen Widerstand durchzusetzen, gleichviel, worauf diese Chance beruht.« Die komplementären Rollen von Therapeut und Patient, die ungleiche Verteilung spezifischer Kompetenz und die unterschiedliche emotionale Ausgangslage begünstigen die Chancen des Therapeuten, seinen Willen – auch gegen den Widerstand des Patienten – durchzusetzen. Umgekehrt fördern die emotionale Abhängigkeit und Bedürftigkeit Imagination, Nr. 2 /2009 6 Hans-Jürgen Wirth des Patienten, seine passive, leidende und Hilfe suchende Gefühlslage und seine geschwächten Ich-Funktionen bei ihm die Bereitschaft, dem Therapeuten Macht zuzugestehen und sich willig zu fügen (Heimannsberg 1995, S. 12). In seinem berühmten Essay »Politik als Beruf« richtet Weber im Zusammenhang mit den negativen Wirkungen der Macht seinen soziologischen Blick auf »einen ganz trivialen, allzu menschlichen Feind […]: die ganz gemeine Eitelkeit« (Weber 1919, S. 74). Er bezeichnet die Eitelkeit als eine »Berufskrankheit« der Politiker und der Wissenschaftler und vermutet, die Eitelkeit sei eine Eigenschaft, von der sich niemand so ganz frei wähnen könne. Weber gibt auch eine implizite Definition von Machtmissbrauch: »Die Sünde gegen den heiligen Geist seines Berufs aber beginnt da, wo dieses Machtstreben unsachlich und ein Gegenstand rein persönlicher Selbstberauschung wird, anstatt ausschließlich in den Dienst der ›Sache‹ zu treten« (S. 75). Interessanterweise thematisiert Weber hier implizit den engen Zusammenhang zwischen Narzissmus und Macht (Wirth 2002), auch wenn ihm der Begriff des Narzissmus als Soziologe nicht geläufig war. Übrigens hätte Weber den Begriff des Narzissmus, den Freud mit seinem Artikel »Zur Einführung des Narzissmus« 1914 in die Psychoanalyse einführte, durchaus kennen können, denn Webers Ausführungen über Politik als Beruf sind von 1919. Aber leider waren Psychoanalyse und Soziologie damals sehr getrennte Wissenschaften, die kaum voneinander Notiz nahmen, und sind es z. T. auch heute noch. Max Webers Überlegungen folgend definiere ich Machtmissbrauch in der Psychotherapie wie folgt: Wir können dann von Machtmissbrauch sprechen, wenn der Therapeut seine Stellung dazu benutzt, Interessen und Bedürfnisse zu befriedigen, die mit der sachlichen Aufgabe, seinen Patienten zu therapieren, nichts zu tun haben, sondern primär oder ausschließlich seiner »persönlichen Selbstberauschung«, seiner »Eitelkeit«, also seinem pathologischen Narzissmus dienen. Neuere Untersuchungen zur Qualitätssicherung von Psychotherapie zeigen, dass auch psychotherapeutische Behandlungen Risiken und unerwünschte Nebenwirkungen beinhalten (Märtens, Petzold 2002). Eine wesentliche Ursache für Therapieschäden ist der Machtmissbrauch durch Therapeuten. Macht als Verleugnung von Abhängigkeit Die amerikanische Psychoanalytikerin Jessica Benjamin (1996) hat in ihrem Buch »Die Fesseln der Liebe« den Versuch unternommen, das Problem der Macht mit der existenziellen Abhängigkeit des Menschen einerseits und seinem ebenso existenziellen Bedürfnis nach Souveränität andererseits in Verbindung zu bringen. Der Mensch ist nicht nur, wenn er als völlig hilfloser Säugling auf die Welt kommt, sondern sein ganzes Leben lang auf die Anerkennung durch andere Menschen angewiesen. Schon der Säugling hat ein primäres Interesse am Kontakt mit Imagination, Nr. 2 /2009 Narzissmus und Machtmissbrauch in der Psychotherapie 7 anderen Menschen, vor allem der Mutter, das sich nicht auf das Bedürfnis nach Nahrungsaufnahme und orale Bedürfnisse beschränkt. Damit sich ein Gefühl der Identität entwickeln kann, bedarf es eines Gegenübers, das durch Liebe und Anerkennung das Selbst-Gefühl bestätigt – oder genauer: überhaupt erst konstituiert. »Niemand kann sich der Abhängigkeit von anderen oder dem Wunsch nach Anerkennung entziehen«, fasst Benjamin (1996, S. 53) diesen Gedanken zusammen. Die Erfahrung, auf den anderen und sein Wohlwollen in fundamentaler Weise angewiesen zu sein, gehört zu den schmerzlichsten, aber auch beglückendsten Erfahrungen, denen jeder Mensch vom Beginn seines Lebens an immer wieder ausgesetzt ist. Die Ausübung von Macht und der pathologische Narzissmus stellen Strategien dar, um dieser Abhängigkeit zu entgehen (Wirth 2002). Wenn das Subjekt seine Abhängigkeit von einer anderen Person zu leugnen versucht, kann es danach trachten, diese Person mit Hilfe der Macht zu unterjochen, zu versklaven oder sich in anderer Form gefügig zu machen. Der andere soll gezwungen werden, seine Anerkennung auszudrücken, ohne selbst Anerkennung zu ernten. Die Anhäufung von noch so viel Macht kann das menschliche »Urbedürfnis« nach Liebe und Anerkennung jedoch nicht ersetzen, sondern nur umformen und ausnutzen. Wer Macht hat, kann sich Liebe und Anerkennung erzwingen und erkaufen. Er verschleiert damit seine fundamentale Abhängigkeit, ohne sie jedoch wirklich aufheben zu können. »Damit beginnt ein Circulus vitiosus: Je mehr der andere versklavt wird, desto weniger wird er als menschliches Subjekt erfahren, und desto mehr Distanz oder Gewalt muss das Selbst gegen ihn einsetzen« (Benjamin 1996, S. 213). Das daraus folgende Fehlen von Anerkennung führt beim Mächtigen jedoch zu einer narzisstischen Mangelerfahrung und zu narzisstischer Wut, die er mit einer weiteren Steigerung seiner Macht beantwortet. Aus dieser Dynamik leitet sich der suchtartige Charakter von Machtprozessen ab, der sich sowohl in unseren privaten Beziehungen, in der Politik, aber auch in der Therapeut-PatientBeziehung beobachten lässt. Macht und Ohnmacht in Paarbeziehungen Menschen, die unter einem gestörten Selbstwertgefühl leiden, entwickeln häufig als Bewältigungsstrategie ein übersteigertes Selbstbild, das durch die Ausübung von Macht eine Stärkung erfährt. So kommt es auch in Paarbeziehungen häufig vor, dass der eine Partner – von untergründigen Selbstwertzweifeln geplagt – ständig versucht, den anderen zu dominieren. Er zwingt ihm seinen Willen auf, um sich selbst zu beweisen, dass er der Wertvollere, der Klügere, der Überlegene ist. Bei solchen paardynamischen Machtkämpfen tritt der inhaltliche Aspekt – welche Ent­scheidungen und Handlungen nun im Einzelnen durchgesetzt werden sollen – Imagination, Nr. 2 /2009 8 Hans-Jürgen Wirth mehr und mehr in den Hintergrund zugunsten der bloßen Tatsache, den eigenen Willen wieder einmal durchgesetzt zu haben. Die Machtausübung dient der narzisstischen Gratifikation. Konstellationen, die die Ausübung von Macht begünstigen, können u. a. darin bestehen, dass die Partner besonders bereitwillig sind, sich auf die Bedürfnisse eines pathologischen Narzissten einzulassen, weil dies ihren eigenen pathologischen Wünschen nach Anpassung und Unterwerfung entgegenkommt. Schon Wilhelm Reich (1922) hat »Zwei narzisstische Typen« unterschieden: Der Typus des phallischen Narzissten zeichnet sich durch eine übersteigerte und demonstrativ zur Schau getragene Selbstsicherheit aus, um damit sein latentes Minderwertigkeitsgefühl zu kompensieren. Ihm könnte man raten: »Mach dich nicht so groß, so klein bist du doch gar nicht.« Beim zweiten Typus des Narzissten ist es genau umgekehrt: Er leidet unter einem manifesten Minderwertigkeitsgefühl, hinter dem sich latente Größenphantasien verbergen. Auf ihn trifft das Motto zu: »Mach dich nicht so klein, so groß bist du doch gar nicht.« In der Terminologie des Paartherapeuten Jürg Willi (1972) würde man vom phallischen Narzissten und vom Komplementär-Narzissten sprechen, die sich in einer »narzisstischen Kollusion« ergänzen. Therapeut, Patient und Neurose Horst-Eberhard Richter hat in seinem für die psychoanalytische Familientherapie wegweisenden Buch »Eltern, Kind und Neurose« (1963) den Gedanken entwickelt, dass viele psychische Störungen von Kindern dadurch bedingt seien, dass Eltern ihre Kinder zur »Erfüllung ihrer unbewussten Erwartungsphantasien« funktionalisieren. Diese Eltern stehen »selbst unter dem Druck affektiver Konflikte« und »saugen das Kind gewissermaßen in ihren eigenen Konflikt hinein« (ebd., S. 73). Dem Kind wird dabei die Funktion oder Rolle zugewiesen, »den Eltern zu einer Entlastung von ihrer Konfliktspannung zu verhelfen« (ebd.). Diese Überlegungen lassen sich unschwer auf das Verhältnis zwischen Therapeut und Patient, das ebenfalls durch ein reales Machtgefälle gekennzeichnet ist, übertragen. Mit seinem im Rahmen der Paartherapie entwickelten Kollusions-Konzept hat Jürg Willi (1975) eine ergänzende Perspektive formuliert, indem er die welchselseitigen unbewussten Rollenerwartungen, das unbewusste Zusammenspiel zweier Partner, in den Mittelpunkt seiner Betrachtung stellte. Auch diese beziehungsdynamische Betrachtungsweise stellt eine wichtige Hilfe zur Analyse missbräuchlicher Therapeut-Patient-Beziehungen dar, wobei hier der affektive Beitrag des Patienten mit thematisiert wird. Ich werde Richters Ansatz etwas stärker akzentuieren, da ich deutlich machen will, dass die Verantwortung für eine »sachlich« und fachlich angemessene (und entsprechend auch für die unprofessionelle, missbrauchende) Imagination, Nr. 2 /2009 Narzissmus und Machtmissbrauch in der Psychotherapie 9 Ausübung der Therapeutenrolle allein beim Therapeuten liegt. Der Patient darf – und soll sogar – den Therapeuten emotional benutzen und »missbrauchen« in dem Sinne, dass er seine unbewussten Konflikte auf den Therapeuten überträgt. Es gehört zu den zentralen Kompetenzen eines Therapeuten, damit angemessen umgehen zu können. In Richters psychoanalytischem Rollenkonzept geht es um eine Charakterisierung der Eltern-Kind-Beziehung in der Familie. Das Modell fußt auf zwei psychoanalytischen und einem soziologischen Konzept: 1. der Theorie der Abwehrmechanismen; 2. Freuds zwei Typen der Objektwahl; 3. der soziologischen Rollentheorie, die mit dem psychoanalytischen Konzept der Abwehrmechanismen verbunden wird. Betrachten wir zunächst die Abwehrmechanismen. Diese stellen einen sehr zentralen und recht gut ausgearbeiteten Baustein der psychoanalytischen Theorie dar. Anna Freud (1936) beschreibt in ihrem Buch Das Ich und die Abwehrmechanismen unter anderen: Verdrängung, Regression, Reaktionsbildung, Rationalisierung, Intellektualisierung, Ungeschehenmachen, Projektion, Verschiebung, Identifikation mit dem Angreifer usw. Während die frühe psychoanalytische Theorie die Abwehrmechanismen nur als intrapsychische Vorgänge beschreibt, geht Richter einen Schritt weiter mit der Überlegung, dass wir auch unsere Mitmenschen dazu benutzen können, um unsere unbewussten Konflikte abzuwehren. Dieser Gedanke ist die entscheidende Neuerung bei Richter. Er spricht in diesem Zusammenhang von psychosozialen Abwehrmechanismen. Viele psychische Störungen von Kindern sind dadurch bedingt, dass Eltern ihre Kinder zur »Erfüllung ihrer unbewussten Erwartungsphantasien« funktionalisieren. Häufig findet man bereits vor der Geburt des Kindes sehr »differenzierte Phantasien der Eltern über die Position, die das Kind in der Familie einnehmen soll« (Richter 1976, S. 9). Das beste Beispiel ist Ödipus. Seine Eltern, Laios und Jokaste, hatten aufgrund eines Orakelspruches schon lange vor seiner Geburt, ja sogar schon vor seiner Zeugung, die Phantasie, von Ödipus werde großes Unheil ausgehen. Deshalb ließen sie ihn mit durchbohrten Füßen allein im Gebirge aussetzen. Ödipus ist also ein von seinen Eltern vernachlässigtes und misshandeltes Kind, das seiner Tötung nur knapp entrinnen konnte. Ödipus ist ein »Frühgestörter«, ein Umstand, der in der psychoanalytischen Theoriebildung nahezu vollständig ausgeblendet blieb (vgl. Wirth 2004). Auch bleibt die merkwürdige Tatsache festzuhalten, dass es sich bei diesem für die Psychoanalyse so zentralen Mythos von Ödipus um ein Familiendrama, das durch die unbewussten Ängste und Projektionen der Eltern in Gang gesetzt wird, handelt. In diesem familiären Geschehen wird dem Kind die Funktion z­ ugewiesen, »den Imagination, Nr. 2 /2009 10 Hans-Jürgen Wirth Eltern zu einer Entlastung von ihrer Konfliktspannung zu verhelfen« (Richter 1963, S. 73). Um die Funktion des Kindes für die Abwehrorganisation der Eltern theoretisch näher zu bestimmen, greift Richter nun auf den aus der Soziologie stammenden Begriff der »Rolle« zurück. Er definiert die kindliche Rolle als die Gesamtheit »der unbewussten elterlichen Erwartungsphantasien« (ebd.), die dem Kind die Erfüllung einer bestimmten Funktion zuweisen. Die Eltern benutzen das Kind in einer spezifischen Rolle, mit deren Hilfe sie ihre eigenen unbewussten Konflikte abwehren können. »Die Rolle des Kindes bestimmt sich also aus der Bedeutung, die ihm im Rahmen des elterlichen Versuchs zufällt, ihren eigenen Konflikt zu bewältigen« (ebd.). Um diese Rollenmuster nun genauer auszudifferenzieren, greift Richter auf Freuds zwei Typen der Objektwahl zurück: den narzisstischen Typus und den Anlehnungstypus. Nach Freud (1914, S. 154) suchen wir in unseren Partnern entweder einen Aspekt des eigenen Selbst (in diesem Fall sprechen wir von Projektion bzw. dem narzisstischen Typus der Objektwahl) oder wir suchen im Partner einen Ersatz für eine Objektbeziehung aus der Kindheit. In diesem Fall folgt die Beziehung dem Muster der Übertragung. Nach Freud (1914, S. 154) hat der Mensch »zwei ursprüngliche Sexualobjekte: sich selbst und das pflegende Weib«. Manche Menschen wählen ihre Liebesobjekte nach dem Vorbild ihrer eigenen Person. »Sie suchen offenkundigerweise sich selbst als Liebesobjekt, zeigen den narzißtisch zu nennenden Typus der Objektwahl« (ebd.). Andere Menschen wählen ihr späteres Liebesobjekt »nach dem Vorbild der Mutter«. Diesen Typus der Objektwahl nennt Freud »Anlehnungstypus«, weil die Objektwahl in Anlehnung an eine Elternfigur ausgesucht wird. Genau genommen hätte Freud auch vom »Übertragungstypus« der Objektwahl sprechen können, weil das Subjekt seine Elternbeziehung auf den Partner überträgt. Die beiden grundlegenden psychischen Vorgänge sind also 1. die Projektion und 2. die Übertragung. Richters Rollentypen folgend können zwei Muster unterschieden werden, nach denen der Therapeut seinen Patienten unbewusst missbrauchen kann: Entweder sucht der Therapeut im Patienten ein Substitut für einen Aspekt des eigenen Selbst (narzisstische Projektion), oder er will den Patienten in die Rolle drängen, Ersatz für einen anderen Partner zu sein (Übertragung). Betrachten wir zunächst die erste Gruppe: 1. Der Patient soll Abbild des eigenen Selbst sein. Er soll so werden, wie der Therapeut sich selbst sieht. Diese Rollenerwartung tritt bei narzisstisch gestörten Therapeuten auf, die sich selbst im Mittelpunkt sehen und nicht ertragen können, dass »ihre« Patienten, für die sie sich so sehr einsetzen, anders sind und anders werden als sie selbst. Bei Fallbesprechungen fällt dieses Beziehungsmuster dadurch Imagination, Nr. 2 /2009 Narzissmus und Machtmissbrauch in der Psychotherapie 11 auf, dass man nicht »zwischen« Therapeut und Patient kommt. Beide sind so eng miteinander verbunden, dass der Therapeut alle Kommentare von Kollegen nur als Störung seiner innigen Vertrautheit mit »seinem« Patienten auffassen kann. In der Perspektive von Willis Kollusions-Konzept bilden beide eine narzisstische Union, die ihnen »ein ozeanisches Glücksgefühl, einen Urzustand, der durch keine Subjekt-Objekt-Spaltung getrübt wird« (Willi 1975, S. 69), beschert. 2. Der Patient als Substitut des idealen Selbst des Therapeuten: Der Patient soll die unerfüllten Wünsche und Ideale des Therapeuten verwirklichen. Häufig tritt dieses Muster bei sogenannten »Lieblingspatienten« auf. Der Therapeut nimmt voll Bewunderung am bewegten oder auch besonders erfolgreichen Leben seines Patienten teil und idealisiert dessen Eskapaden, weil er selbst gerne so geworden wäre. Bei Therapeuten sind es oft unerfüllte narzisstisch-exhibitionistische Bedürfnisse und unerfüllte Karrierewünsche, die sie ihren Patienten zur stellvertretenden Realisation aufbürden bzw. die sie weder bei ihren Patienten noch bei sich selbst kritisch analysieren können. Der umgekehrte Fall tritt vielleicht noch häufiger auf, dass nämlich der Therapeut sich selbst als Ideal dem Patienten anbietet und aufdrängt. Manche Therapeuten missbrauchen ihre Patienten dazu, das eigene brüchige Selbstwertgefühl durch deren bewundernde Abhängigkeit zu stabilisieren. 3. Der Patient als Substitut der negativen Identität des Therapeuten (Sündenbock). Der Patient soll den Selbstanteil des Therapeuten, den er an sich selbst verleugnet und ablehnt, übernehmen und ausleben. Wenn Therapeuten ihren Patienten diese Rolle des Sündenbocks aufbürden, können sie daraus einen doppelten Nutzen ziehen. Zum einen bietet ihnen die Projektion verdrängter Impulse auf den Patienten die Möglichkeit, sich durch teilweise Identifizierung mit dem Patienten eine relativ schuldfreie Ersatzbefriedigung in der Phantasie zu verschaffen. So kann es durchaus sein, dass ein Therapeut mit lüsterner Neugier in das Sexualleben des Patienten eindringt, um eigene verleugnete Bedürfnisse zu befriedigen. Sexueller Missbrauch in der Therapie wird vom (meist männlichen) Therapeuten häufig dadurch angebahnt, dass er in aufdringlicher Weise in die sexuelle Phantasiewelt der Patientin eindringt, penetrante Fragen stellt und sie schließlich dazu auffordert, sich bestimmten sexuellen Phantasien hinzugeben. Im zweiten Schritt der Sündenbock-Praktik werden dann durch vorwurfsvolle und moralisierende Interpretationen die Selbstbestrafungstendenzen auf bequeme Weise abgeführt. Die moralisierenden und strafenden Deutungen sind als externalisierte Selbstbestrafung zu verstehen. Bei der Sündenbock-Projektion kann man eine Unterscheidung danach treffen, ob triebhafte »böse« Anteile oder eher schwache Selbstanteile projiziert werden. Bei der Projektion der schwachen Selbstanteile auf den Patienten dient die Ausübung von Macht dazu, die narzisstische Kränkung von einst – selbst der ohnmächtig Unterworfene gewesen zu sein, dessen Wille gebrochen, dessen Imagination, Nr. 2 /2009 12 Hans-Jürgen Wirth Selbstachtung mit Füßen getreten wurde – dadurch wett zu machen, dass anderen die gleiche Schmach zugefügt wird, die man selbst erleiden musste. Die Demütigungen, die dem Therapeuten einst selbst widerfahren sind, können in seiner eigenen Kindheit begründet sein, sie können aber auch während seiner Ausbildung zum Psychotherapeuten stattgefunden haben. Finden solche narzisstischen Projektionen im Rahmen von Lehranalysen statt (nach dem Motto: »Wenn ich so gelitten habe, warum soll es dann anderen besser gehen?«), kann es zur transgenerationalen Weitergabe von Traumatisierungen über mehrere Psychoanalytiker-Generationen hinweg kommen. Betrachten wir nun die zweite Gruppe, bei denen es um Fälle geht, in denen der Pa­tient einen vergangenen oder gegenwärtigen Partner des Therapeuten ersetzen soll. 1. Der Patient repräsentiert für den Therapeuten die eigenen Eltern oder Elternfiguren (oder Aspekte von ihnen). Therapeuten, die zeitlebens die Sehnsucht nach Liebe und Anerkennung durch ihre Eltern, die sie immer vermissen mussten, nicht bewältigt haben, neigen oft dazu, von ihren Patienten die Dankbarkeit, Bewunderung und Liebesbeweise zu erwarten, nach denen sie sich vergebens gesehnt haben. Sie benutzen die Patienten als Liebesquelle für sich selbst. Vielleicht sind solche Therapeuten bereit, ihren Patienten sehr viel Aufmerksamkeit zu schenken. Sie sind geduldige Zuhörer, kommen ihnen – wo immer es geht – entgegen, berechnen keine Ausfallhonorare usw. Patienten können sich von solchen Therapeuten zunächst sehr angenommen fühlen, und doch hat die Beziehung etwas Ausbeuterisches, da der Therapeut den Patienten nicht so annimmt wie er ist, sondern ihn letztlich nur in der speziellen Funktion als Spender von Dankbarkeit sucht. 2. Der Patient als Partnerersatz: Dieses Rollenmuster kann direkt in den sexuellen Missbrauch führen, kommt aber auch in einer nicht-erotischen Form vor, wenn nämlich der im realen Leben vereinsamte Therapeut gleichsam nur noch mit und über seine Patienten am realen sozialen Leben teilnimmt. Therapeuten, die kein befriedigendes privates Leben haben, geraten leicht in die Versuchung, ihr gesamtes emotionales Leben nur noch in den beruflichen Beziehungen zu suchen. Ist die Partnerersatzdynamik mit ausagierten sexuellen Kontakten verbunden, spricht Hirsch (1987, S. 53) von realem sexuellem Missbrauch. Als latenten Missbrauch bezeichnet er die vom Therapeuten ausgehenden sexuellen Wünsche und Phantasien, die an den Patienten gerichtet sind, aber nicht ausagiert werden, gleichwohl aber große negative Bedeutung für die psychische Entwicklung des Patienten haben. Denn das atmosphärisch-verführerische Bündnis zwischen Therapeut und Patient führt beim Patienten zu einer unauflösbaren Konfusion zwischen den eigenen inzestuösen Phantasien, den als Kind erlebten realen Übergriffen bzw. abrupten Zurückweisungen, der realen sowie der Übertragungsbeziehung zwischen Patient und Therapeut – eine Konfusion, die psychotische Erlebnisqualität hat. Imagination, Nr. 2 /2009 Narzissmus und Machtmissbrauch in der Psychotherapie 13 3. Schließlich kann der Patient auch die Rolle eines Bundesgenossen ein­ neh­men. Dazu kommt es besonders leicht in Lehranalysen, wenn der Lehranalytiker in Versuchung gerät, seinen Analysanden im Rahmen institutsinterner Macht­kämpfe auf seine Linie einzuschwören. Der Therapeut als Guru Gründer psychotherapeutischer Schulen stellen sich häufig so ähnlich wie Reli­gionsstifter dar. Dies hat vor allem damit zu tun, dass sich Psychotherapie mit den innersten Problemen der Menschen, mit existenziellen Fragen, mit Fragen nach dem Sinn des Lebens beschäftigt und damit eine der Funktionen wahrnimmt, die auch die Religion erfüllt. In gewisser Weise ist Psychotherapie säkularisierte Seelsorge. Doch bestehen in der »entzauberten Welt« (Max Weber) nach wie vor Bedürfnisse nach dem Außeralltäglichen, nach der außersinnlichen Wahrnehmung und nach Erlösung, die speziell von charismatisch auftretenden Therapeuten bedient werden. In der Psycho-Szene tummeln sich nicht nur wissenschaftlich fundierte Methoden, sondern auch eine kaum zu überblickende Vielzahl magischer und quasireligiöser Heilsangebote. Die Sanyasin-Bewegung in den siebziger Jahren ist ein eindrucksvolles Beispiel dafür, wie eine charismatische Führerfigur viele begeisterte Anhänger um sich scharen kann, indem sie einen neuen Kult, eine mystische Ideologie entwickelt, die »Rettung« und »Seelenheil« verspricht. Die kollektive Psychodynamik zwischen Führer und Anhängerschaft lässt sich als Kollusion zwischen Narzisst und Komplementär-Narzisst (Willi 1975) beschreiben: Beide Seiten haben einen enormen narzisstischen Gewinn, der Guru durch die Bewunderung und Ehrfurcht, die man ihm entgegenbringt, und durch die Macht, die er ausübt, die Gefolgschaft durch die teilnehmende Identifikation mit dem verehrten und idealisierten Größenselbst des Gurus. In jüngster Zeit ist der systemische Familientherapeut Bert Hellinger mit seinen Familienaufstellungen als ein solcher charismatischer Guru in Erscheinung getreten, der mit seinen mystischen Ritualen und autoritären Gesten große Massen seiner Anhänger zu faszinieren versteht. »Hellinger tritt als Guru auf, der alleine im Besitz der Wahrheit ist. […] Er verspricht Heilung unter der Bedingung, dass man sich ihm vollständig unterwirft«, schreibt Thea Bauriedl (2004, S. 85; zur Kritik an Hellinger vgl. auch Hilgers 2001, Weber 2003). Die Wirkung von psychoanalytischen Leitfiguren, Lehrern und tonangebenden Theoretikern hängt mit einer Eigenschaft zusammen, die man als Charisma bezeichnet. Ich greife hier nicht zufällig nochmals auf den Soziologen Max Weber (1921) zurück, der sich mit dem Phänomen charismatischer Persönlichkeiten beschäftigt hat. Er versteht unter Charisma die Eigenschaften einer Imagination, Nr. 2 /2009 14 Hans-Jürgen Wirth Führungs­persönlichkeit, die er mit Begriffen wie das »Außeralltägliche«, »das nie ­ agewesene«, das »nicht jedem Zugängliche« bezeichnet. Die charismatische D Persönlichkeit werde von einer besonderen Aura umgeben, die auf andere motivierend und faszinierend wirke. Charismatische Persönlichkeiten haben eine Vision einer besseren Zukunft, sie verfügen über Selbstvertrauen, Entschlossenheit und Ausdauer, sie besitzen eine außergewöhnliche Bereitschaft zum Risiko und scheuen keine persönlichen Wagnisse, sie leben ihre Vision vor, sie zeichnen sich durch moralische Integrität aus, fungieren als Sprachrohr der Gemeinschaft und sind anregende Kommunikatoren, die ihre Botschaften einfallsreich und emotional ansprechend transportieren. Max Weber hebt besonders die emotionale Quelle des Charismas hervor. Es entstehe – so Webers Worte – aus »einem Moment des Zorns, der Liebe, der spontanen Leidenschaft für eine Person oder eine Idee« und beziehe eben daraus seine kreative, innovatorische und andere ansteckende Kraft. Gerade deshalb sei die charismatische Persönlichkeit nicht zu planen und zu kontrollieren und gerate notwenig in Konflikt mit der bestehenden ökonomischen, sozialen, kulturellen und politischen Ordnung. Psychoanalytisch gesprochen zeichnet sich die charismatische Persönlichkeit durch ein hohes Maß an narzisstischer Besetzung der eigenen Persönlichkeit, der eigenen Ideen, Ideale, Werte und Visionen aus. Es bleibt in Webers Beschreibung durchaus offen, ob es sich um ein Charisma handelt, das auf einem starken gesunden oder einem pathologischen Narzissmus gründet. Man muss wohl davon ausgehen, dass beide Varianten existieren und auf den ersten Blick nicht so einfach voneinander zu unterscheiden sind (Dammann 2007). Aber nicht nur bei quasireligiösen Heilslehren, sondern auch im Rahmen wissenschaftlich fundierter psychotherapeutischer Methoden können Guru-Strukturen auftreten. Auch Sigmund Freud verhielt sich teilweise wie ein Religionsgründer, obwohl er seine Herkunft aus der Wissenschaft und seine Religionskritik so sehr betonte. So bekannte sich Freud (1914, S. 59f ) zu seiner Identifikation mit der heroischen Gestalt des Helden Robinson, der es sich »auf einer einsamen Insel« in einer »›splendid isolation‹ behaglich einrichtete«, wie Freud (ebd.) über sich selbst schreibt. Viele Psychoanalytiker folgten dem Vorbild Freuds und kultivierten ihren Außenseiterstatus in Gesellschaft und Wissenschaft. Paradoxerweise war es gerade auch der Erfolg der psychoanalytischen Ideen, insbesondere ihre unerwartete Ausbreitung in der dynamischen Psychiatrie Amerikas, der Ängste vor »Verwässerung« und »Identitätsverlust« bei den Psychoanalytikern aufkommen ließ (Thomä 2004, S. 136). Freuds Versuch, mit Hilfe des von ihm gegründeten »geheimen Komitees«, der Lehranalyse und der Zwangsmitgliedschaft in der Internationalen Psychoanalytischen Vereinigung die von ihm entwickelte »reine Lehre« direkt an die Adepten Imagination, Nr. 2 /2009 Narzissmus und Machtmissbrauch in der Psychotherapie 15 weiterzugeben, hat die wissenschaftliche und berufspolitische Weiterentwicklung der Psychoanalyse lange Jahre gelähmt, hat zu Indoktrination, Dogmatismus, elitärem Bewusstsein, Dissidenz und zahllosen Abspaltungen geführt (Wirth 2000, 2001). Dabei hat das autoritär-hierarchische Ausbildungssystem eine zentrale Rolle gespielt. Im übrigen haben Spaltungsprozesse innerhalb der Profession die Entwicklung der Psychotherapie von Anfang an begleitet. Sie sind Ausdruck der Schwierigkeit des Umgangs mit den unbewussten archaischen und existenziellen Konflikten, mit denen Psychotherapeuten täglich zu tun haben. Die emotionale Belastung, die es bedeutet, sich mit solchen Konflikten zu konfrontieren, kann dazu führen, dass man Halt in einer ideologisch fest gefügten Gruppe von Gleichgesinnten sucht. Manchmal sind Psychotherapeuten in Versuchung, ihre Identität zu stabilisieren, indem sie sich mit der Lehrmeinung und insbesondere mit dem Menschenbild einer bestimmten Psychotherapie-Schule über-identifizieren. Das Menschenbild beinhaltet das Grundverständnis des Menschseins und hat insofern auch eine hohe emotionale Bedeutung. Vermutlich handelt es sich bei den heftigen Streitigkeiten über theoretische oder behandlungstechnische Fragestellungen im Grunde häufig um eine Auseinandersetzung über das Menschenbild, das den umstrittenen Detail-Fragen zu Grunde liegt (vgl. Wirth 2004). Zugleich sind diese Spaltungen aber auch Ausdruck der Vielfalt der Ansätze und der Menschenbilder und spiegeln insofern den Pluralismus unserer Gesellschaft wider. Der Einfluss des Ausbildungssystems Wegen des real existierenden Machtgefälles zwischen Lehrer und Schüler ist das Ausbildungssystem in allen psychotherapeutischen Schulen ein Einfallstor für die Etablierung und dauerhafte Verankerung von Machtmissbrauch. Die Ausbildung zum Psychotherapeuten erfolgt nach dem Studium, die angehenden Psychotherapeuten sind also schon in einem mittleren Alter, meist sind sie gleichzeitig in verantwortlichen beruflichen Positionen tätig und auch im privaten Bereich als Beziehungspartner und Eltern bereits in einer verantwortungsvollen Erwachsenenrolle. Gleichwohl zwingt sie die Ausbildungssituation zurück in die Schülerrolle. In einer Gesellschaft, in der lebenslanges Lernen zur Norm geworden ist, wäre das nichts Schlimmes. Problematisch wird es nur, wenn die Ausbildungsmethoden eine Infantilisierung und Regression erzwingen und der Missbrauch von Macht institutionell verankert ist. Wie Anna Freud, Balint, später Mitscherlich, Cremerius, Richter und Kernberg und viele andere Kritiker des p ­ sychoanalytischen Ausbildungssystems dargelegt haben, hat die institutionalisierte Psychoanalyse das Kernstück der psychoanalytischen Ausbildung, die Lehranalyse, zu einem »Unterwerfungsritual« und zu einem Instrument der »Machtpolitik« und der »Indoktrination« umfunktioniert (Cremerius 1989). Imagination, Nr. 2 /2009 16 Hans-Jürgen Wirth Lehranalytiker scharen »ihre« Lehranalysanden um sich. Regelmäßig bilden sich an den psychoanalytischen Ausbildungsinstituten Fraktionen, in denen die tonangebenden und miteinander rivalisierenden Lehranalytiker jüngere Kollegen, die meist bei ihnen in Lehranalyse waren, auf ihre Linie einschwören. Die »Ausbildungskandidaten« werden in der Rolle als Bundesgenosse in einem Kampf funktionalisiert, den sie stellvertretend für die Lehranalytiker austragen. Welche Therapeuten sind besonders gefährdet, und wie können wir uns schützen? Es liegt auf der Hand, dass narzisstisch gestörte Therapeuten besonders gefährdet sind, ihre Patienten narzisstisch zu missbrauchen. Aber welcher Therapeut könnte von sich sagen, er hätte keine Selbstwertprobleme, stellt doch die Arbeit an den eigenen Konflikten, speziell den eigenen Selbstwertkonflikten, eine zentrale Berufsmotivation dar. Man muss also eher nach den Verhaltensweisen und Einstellungen fragen, die ein Ausagieren der in jedem Fall vorhandenen narzisstischen Konflikte begünstigen. Dies führt dann auch unmittelbar zu den Möglichkeiten der Prävention. Wer ausschließlich in einer psychotherapeutisch geprägten Welt lebt, ist gefährdet, weil er seine Weltsicht verabsolutiert, keine neuen Erfahrungen mehr macht und seine Fähigkeit zur Selbstreflexion und Selbstkritik einbüßt. Dies gilt auch, wenn sich der professionelle Kontakt auf den Austausch mit den gleichgesinnten Anhängern einer dogmatisch vertretenen Lehre beschränkt. Besonders gefährdet sind auch diejenigen, die die infantilisierenden Ausbildungsbedingungen angepasst und widerspruchslos durchlaufen haben. Sie vollziehen den Anpassungsmechanismus der »Identifikation mit der Rolle« (Parin 1977), die ihnen fortan als Identitätskorsett dient. Den besten Schutz gegen Machtmissbrauch in der Therapie bildet die kontinuierliche Reflexion der eigenen Arbeit in Intervision (Fallbesprechungen mit Kollegen), Supervision, Eigenanalyse, Teamgesprächen und Fortbildung. Dem fachlichen Austausch mit Kollegen anderer psychotherapeutischer Schulen und dem Austausch mit den Nachbarwissenschaften kommt ebenfalls eine wichtige präventive Bedeutung zu. Vielleicht übt der äußere Zwang, der die verschiedenen psychotherapeutischen Schulen im Rahmen der Gesundheitsversorgung zu einer engeren Kooperation miteinander nötigt, sogar eine heilsame Wirkung aus. ­Insbesondere die Diskussion der unterschiedlichen Menschenbilder, die unseren verschiedenen psychotherapeutischen Theorien, Schulen und Methoden zugrunde liegen, stellt eine Bereicherung unserer Vorstellungen davon, was Menschsein bedeutet, dar. Die Kenntnisnahme der vielfältigen und differenzierten psychotherapeutischen Menschenbilder könnte einen inneren Abschied von narzisstischen Imagination, Nr. 2 /2009 Narzissmus und Machtmissbrauch in der Psychotherapie 17 Allmachts- und Ewigkeitsphantasien begünstigen. Dazu müsste man sich aber gegenseitig respektieren, sich füreinander interessieren und verstärkt den wechselseitigen wissenschaftlichen und fachlichen Austausch suchen. Literatur Bauriedl, T. (2003): Bert Hellingers »Aufstellungen« – ein Symptom unserer Zeit. In: Bundes­ verband Psychoanalytischer Paar- und Familientherapie (Hrsg): Psychoanalytische Fami­lien­ therapie 7. Gießen: Psychosozial-Verlag, 77 – 97 Benjamin, J. (1996): Die Fesseln der Liebe. Psychoanalyse, Feminismus und das Problem der Macht. Frankfurt/M: Fischer Cremerius, J. (1995): Lehranalyse und Macht. Die Umfunktionierung einer Lehr-Lern-Methode zum Machtinstrument der institutionalisierten Psychoanalyse. In: Schmidt-Lellek, C. J., Heimannsberg, B. (Hrsg.): Macht und Machtmissbrauch in der Psychotherapie. Köln: Edition Humanistische Psychologie, 99 – 122 Dammann, G. (2007): Narzissten, Egomanen, Psychopathen in der Führungsetage. Fallbeispiele und Lösungswege für ein wirksames Management. Bern: Haupt Freud, S. (1914): Zur Geschichte der psychoanalytischen Bewegung. GW X, 43 – 113 Freud, S. (1937): Die endliche und die unendliche Analyse. GW XVI, 57 – 99 Heimannsberg, B. (1995): Gleichheit und Differenz. Der doppelte Boden der therapeutischen Beziehung. In: Schmidt-Lellek C. J., Heimannsberg, B. (Hrsg.): Macht und Machtmissbrauch in der Psychotherapie. Köln (Edition Humanistische Psychologie), 9 – 24 Hilgers, M. (2001): »Ich stelle gleich die Ordnung auf« – Neue Heilslehren und alte Ordnungen: die autoritären Methoden des Bert Hellinger. In: Bundesverband Psychoanalyti­ scher Paar- und Familientherapie (Hrsg.): Psychoanalytische Familientherapie 3. Gießen: Psychosozial-Verlag, 99 – 109 Hirsch, M. (1987): Realer Inzest. Psychodynamik des sexuellen Mißbrauchs in der Familie. Heidelberg: Springer Märtens M, Petzold, H. (Hrsg.) (2002): Therapieschäden. Risiken und Nebenwirkungen von Psychotherapie. Mainz: Grünewald Miller, A. (1997): Das Drama des begabten Kindes. Eine Um- und Fortschreibung. Frankfurt/M: Suhrkamp Möller, H. (2004): Machtmissbrauch in der Psychotherapie (unveröffentlichtes Vortragsmanuskript, Universität Innsbruck) Parin, P. (1977): Das Ich und die Anpassungsmechanismen. In: Psyche – Z Psychoanal. 31, 481 – 515 Reich, W. Zwei narzisstische Typen. [1922] In: Reich W. Frühe Schriften I. Aus den Jahren 1920 bis 1925. Frankfurt/M 1977: Fischer, 144 – 152 Richter, H.-E. (1963): Eltern, Kind und Neurose. Zur Psychoanalyse der kindlichen Rolle in der Familie. Reinbek: Rowohlt Schmidbauer, W. (1977): Hilflose Helfer. Reinbek: Rowohlt Imagination, Nr. 2 /2009 18 Hans-Jürgen Wirth Schmidt-Lellek, C. J. (1995): Narzisstischer Machtmissbrauch in der Psychotherapie. In: Schmidt-Lellek, C. J., Heimannsberg B (Hrsg.): Macht und Machtmissbrauch in der Psychotherapie. Köln: Edition Humanistische Psychologie, 171 – 194 Thomä, H. (2004): Ist es utopisch, sich zukünftige Psychoanalytiker ohne besondere berufliche Identität vorzustellen? In: Forum der Psychoanalyse 20, 133 – 157 Weber, K. (2003): Bert Hellingers Familienaufstellungen – eine Kritik. In: Psychoanalytische Familientherapie Heft 6, 73 – 85 Weber, M. (1919): Politik als Beruf. Tübingen 1994: Mohr Weber, M. (1921): Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriss der verstehenden Soziologie. Tü­bin­gen 1980: Mohr Willi, J. (1975): Die Zweierbeziehung. Reinbek: Rowohlt Winnicott, D. W. (1965): Reifungsprozesse und fördernde Umwelt. Gießen 2000: Psy­cho­­so­zial-­Verlag Wirth, H.-J. (2000): Spaltungsprozesse in der psychoanalytischen Bewegung und ihre Auswirkungen auf die Theoriebildung. In: Schlösser, A. M., Höhfeld, K. (Hrsg.) (2000): Psychoanalyse als Beruf. Gießen: Psychosozial-Verlag, 177 – 192 Wirth, H.-J. (2001): Das Menschenbild der Psychoanalyse: Kreativer Schöpfer des eigenen Lebens oder Spielball dunkler Triebnatur? In: Schlösser, A. M., Gerlach A. (Hrsg.) (2001): Kreativität und Scheitern. Gießen: Psychosozial-Verlag, 13 – 40 Wirth, H.-J. (2002): Narzissmus und Macht. Zur Psychoanalyse seelischer Störungen in der Politik. Gießen: Psychosozial-Verlag. Wirth, H.-J. (2004): Zur »latenten Anthropologie« in der Psychoanalyse und anderen psychotherapeutischen Traditionen. In: psychosozial Heft 97, 11 – 28 Zusammenfassung: Wie in allen helfenden Beziehungen spielt auch in der Therapeut-Patient-Beziehung die ungleiche Verteilung von Macht eine wichtige Rolle. Für einen gelungenen therapeutischen Prozess ist der verantwortliche Umgang mit Macht eine zentrale Bedingung. Missbraucht der Therapeut seine Macht, kommt es zwangsläufig zum Scheitern des therapeutischen Prozesses, weil sich der Patient abgelehnt, unverstanden und erniedrigt fühlt und/oder weil er einer Retraumatisierung ausgesetzt ist, auch wenn er diese selbst noch nicht bewusst wahrnehmen kann. Narzisstisch gestörte Menschen streben nach Macht, weil sie damit ihr mangelhaftes Selbstwertgefühl kompensieren wollen. Umgekehrt nährt die Möglichkeit, Macht auszuüben, Größen- und Allmachtsphantasien. Macht wirkt wie eine Droge: Die Selbstzweifel verfliegen, das Selbstbewusstsein steigt. Machtphanta­sien dienen häufig der Überwindung unerträglicher Ohnmachtsgefühle: So empfinden narzisstisch gestörte Patienten häufig ein Gefühl der Macht, wenn sie mit ihrem selbstdestruktiven Agieren den Therapeuten ohnmächtig machen. Gehen Narzissmus, Macht und Aggression eine enge Verbindung ein, kommt es zu destruktiven und selbstdestruktiven Entwicklungen. Liebespartner, aber auch andere Interaktionspartner, beispielsweise Therapeut und Patient, verzahnen Imagination, Nr. 2 /2009 Narzissmus und Machtmissbrauch in der Psychotherapie 19 sich häufig in einem Macht-Ohnmachts-Kampf, der psychodynamisch als unbewusste narzisstische Kollusion (J. Willi) beschrieben werden kann. Die Macht wirkt wie eine institutionalisierte Abwehr, die den pathologischen Narzissmus verstärkt. In diesem Beitrag werden die Bedingungen für Machtmissbrauch in der Therapie untersucht. Dies geschieht mit Hilfe von Horst-Eberhard Richters psychoanalytischer Rollentheorie und Jürg Willis Kollusions-Konzept. Neben dem sexuellen Missbrauch durch Therapeuten, der in letzter Zeit offener thematisiert werden kann als früher, spielt der narzisstische Missbrauch eine wichtige Rolle. Bei Therapeuten, die sich als Gurus in Szene setzen, liegt der Verdacht eines narzisstischen Missbrauchs ihrer Macht nahe. Abschließend werden die Bedingungen (beispielsweise in der Ausbildungssituation) diskutiert, die Machtmissbrauch durch Therapeuten begünstigen bzw. präventiv vermeiden helfen. Keywords: Macht – Ohnmacht – Narzissmus – narzisstische Persönlichkeits­ störung – Machtmissbrauch Korrespondenzadresse: Prof. Dr. Hans-Jürgen Wirth Psychosozial-Verlag Walltorstraße 10 35390 Gießen E-Mail: [email protected] Prof. Dr. habil., Dipl.-Psych., Psychologischer Psychotherapeut, arbeitet als Psychoanalytiker und psychoanalytischer Paar- und Familientherapeut in eigener Praxis in Gießen. Lehrt an der Universität Bremen. Gründer und Verleger des Psychosozial-Verlages. Wichtigste Buch-Veröffentlichungen: Narzissmus und Macht. Zur Psychoanalyse seelischer Störungen in der Politik. Gießen 2002 (Psychosozial-Verlag). Imagination, Nr. 2 /2009 20 Harald Ullmann Die metaphorische und narrative Dimension der Katathym Imaginativen Psychotherapie (KIP) Über den Zusammenhang von Symbol, Drama und Metapher – Positionsbestimmungen im Wandel – Harald Ullmann 1. Zu Beginn ein Plädoyer für Metaphernvielfalt »Die Metapher hat uns ein Wissen voraus, das wir im Begriff immer erst einholen müssen,« schreibt Buchholz (1998) in einem Aufsatz über den psychoanalytischen Dialog. Und wie steht es mit dem Begriff, den wir uns von der KIP machen? Als Hanscarl Leuner seine Methode zur Handhabung gefühlsgetragener, symbolisch ausgestalteter Imaginationen erfand und ausarbeitete, hantierte er mit verschiedenen Begriffen. Die Bezeichnungen »Katathymes Bilderleben« (KB), »Symboldrama« und »Tagtraumtechnik« wurden von ihm und denen, die von ihm lernten, lange Zeit synonym nebeneinander verwendet. Das gestattete unterschiedliche Blickwinkel auf das Tagtraumgeschehen und hielt die Methode selbst, die mit einem frischen experimentellen Forscherelan begonnen hatte, flexibel und integrationsfähig für die nächsten Etappen auf dem Weg zu einem strukturierten Verfahren der Psychotherapie. Dieser Fortschritt schlug sich in neuen Begriffen nieder, durch welche die Einbettung solcher spezifischer Imaginationen in einen regelrechten tiefenpsychologisch fundierten Behandlungsprozess deutlich werden sollte. Neben der offiziell vereinbarten Bezeichnung »Katathym Imaginative Psychotherapie« (KIP) treten nunmehr andere Bezeichnungen für die »Psychotherapie mit dem Tagtraum« in den Hintergrund oder laufen gar Gefahr, eines Tages für »obsolet« erklärt zu werden. Das Eingangszitat auf den Kopf stellend, darf man sich fragen, ob künftig »der Begriff die Metapher einholt« und damit aus einem recht »offenen«, in steter Entwicklung befindlichen Ansatz ein kanonisiertes, orthodox und »geschlossen« auftretendes Verfahren machen könnte. Die Metaphernvielfalt (Ullmann 2001 a) Imagination, Nr. 2 /2009 Die metaphorische und narrative Dimension der Katathym Imaginativen Psychotherapie 21 bliebe dann auf der Strecke und mit ihr wohlmöglich die bisherige Offenheit der Konzepte für unterschiedliche Sichtweisen und Weiterentwicklungen, bezogen auf die eigene Methode und nicht zuletzt auf die jeweilige Patientin / den jeweiligen Patienten in ihrer /seiner Einmaligkeit. Denn jedwede Therapie stellt zunächst einmal nichts weiter dar als ein »leeres« Konzept, das auf unterschiedlichste Weise zu füllen ist. Folgt man der Argumentation von Buchholz (1998), dann erscheint es als Vorteil, wenn wir nicht definieren können, was »Therapie an sich« ist. Denn Therapie entsteht immer wieder aufs Neue, und »was dort geschieht, müssen die Beteiligten in actu herstellen«. Hanscarl Leuner war von seiner therapeutischen Sozialisation und Begabung her dafür disponiert, mit einer Vielzahl von Metaphern zu arbeiten. Aufgrund seines Jungianischen Hintergrundes war er in der Lage, den für seine junge Methode zentralen Symbolbegriff auch in einem von Sigmund Freud und seinen Schülern abgesteckten Terrain der Tiefenpsychologie mit einer angemessen wechselnden Optik zu betrachten. Die in der KIP gängige Auffassung vom symbolischen Geschehen konnte dadurch mit Gewinn recht gegensätzlich erscheinende Auffassungen über das Symbolische integrieren (Ullmann 2008). Der theoretischen Großräumigkeit, mit der Leuner die Phänomene des therapeutischen Prozesses betrachtete, entsprach in klinischer Hinsicht ein Vorgehen, das auf kreative Weise mit den vielfältigen Bedeutungsmöglichkeiten von Symbolen spielte. Bereits in der ersten Auflage seines Lehrbuchs findet sich eine Fülle von Fallbeispielen, in denen sich Leuner als ein Meister der metaphorischen Kommunikation erweist, ohne sie als solche auszuweisen (Ullmann 2001a). In der von ihm begründeten Tradition war es anfangs nicht üblich, die therapeutische Arbeit mit dem Symbol und das Sprechen darüber unter metaphorischen Aspekten zu betrachten. Demgemäß konzentrierte sich die einschlägige Literatur zunächst ganz auf die symbolischen Aspekte der Tagtraumtherapie, bevor verschiedene metaphorische und narrative Aspekte ins Blickfeld gerückt wurden (Ullmann 1998, 1999, Ullmann u. Teichmann 2001, d’Arcais-Strotmann u. Ullmann 2002). Doch die Komponenten des Symbolischen, des Dramatischen und des Metaphorischen sind – genauer betrachtet – in der KIP seit jeher eng miteinander verwoben. Symbol und Metapher haben – Buchholz (1998) zufolge – das »doppelte Sprechen« gemeinsam: »Sie sprechen über das eine und meinen das andere.« Der Unterschied zwischen beiden besteht darin, dass ein Symbol für etwas Anderes steht, das substituiert wird, während die Metapher in den Dienst der zwischenmenschlichen Kommunikation tritt und auf etwas Anderes verweist. Dieses Andere ist aber nur »da«, wenn es einen Hörer oder Leser gibt, der eine »funktional äquivalente Vorstellung« dazu entstehen lassen kann, die als solche selbst nicht mitteilbar ist. Deshalb »steht« die Metapher nicht »für« die Vorstellung, sondern sie ist eher »Wegweiser zur Vorstellung« und bildet »eine Brücke zwischen dem psychischen und dem sozialen System der Kommunikation«. Gemeinsamkeiten Imagination, Nr. 2 /2009 22 Harald Ullmann und Unterschiede zwischen Symbol und Metapher lassen sich bereits in der ersten Imaginationsübung einer beginnenden KIP, dem so genannten Initialen Tagtraum (ITT) ausmachen, wenn man ihn unter diesem Gesichtspunkt betrachtet und mitgestaltet (Ullmann 1997). Wenn wir im ITT einer taufrischen, noch halb geschlossenen Rose begegnen, dann steht sie in ihrer Eigenschaft als Symbol für etwas anderes und trägt dabei mehr als nur eine mögliche Bedeutung in sich. Ihre symbolische Bedeutung ist ihr in diesem Kontext wesenhaft eigen, unabhängig davon, wie viele Bedeutungen die Betrachter zu erkennen meinen. Ihre Bedeutsamkeit kann gleichsam unentdeckt bleiben, bis etwas davon im zwischenmenschlichen Dialog herausgegriffen und »durch die Blume gesprochen« weiter vermittelt wird. Die halb geschlossene Rose des ersten Tagtraums entfaltet sich damit zur Metapher, die erst jetzt – im Kontext der Kommunikation – diverse aktuelle Bedeutungen gewinnt, transformiert und transportiert über das therapeutische Gespräch. Das Symbolische in der KIP ist über die Jahre hin gründlich beschrieben und theoretisch erörtert worden, so dass hierzu auf eine Auswahl der einschlägigen Literatur hingewiesen werden kann (Salvisberg 1993, 2000, Dieter 1997, 2000, Schnell 2000, Bahrke 2005, 2007). Das Metaphorische hingegen bedarf im Zuge unseres Themas einer genaueren Begriffsbestimmung, um die sich daran anknüpfenden Argumente nachvollziehbar zu machen. Der Begriff Metapher (griech. »metapherein« = übertragen, verschieben) geht auf den griechischen Philosophen Aristoteles zurück, der damit die Übertragung eines fremden Nomens auf eine Gegebenheit bezeichnete (Retzer 1993). Indem die ursprüngliche Bedeutung »ver-rückt« (!) wird, öffnet sich der Blick für andere Perspektiven, die unsere Wirklichkeit um weitere Lesarten bereichern, andere Bereiche derselben aber auch verschleiern können. Buchholz (1998) unterscheidet zwei Kategorien von Metaphern. Die manifeste Metapher hat mit dem Symbol – wie schon gesagt – das »doppelte Sprechen« gemeinsam. Doch während das Symbol für etwas anderes steht, das in all seiner vielfach codierten Bedeutung vielleicht grundsätzlich doch noch auf den wesentlichen Kern dieses ursprünglichen Anderen zurückzuführen wäre, kommt durch die Metapher eine »Idee« zur Darstellung und in den Dialog, die »nicht übersetzbar« ist. Mit deren Übertragung in eine platte Prosa wäre die poetische Potenz der Metapher (Ullmann 2001 a) ein für alle mal erloschen. Durch das Abschleifen ihrer Bedeutungsvielfalt im alltäglichen Gebrauch verlieren viele Wörter unserer Sprache mit der Zeit an Prägnanz und Sinngehalt. So entstehen »tote« Metaphern (Lakoff u. Johnson 1998), die mit Gewinn als Sprachbilder aufzugreifen und – einer Anregung von Seithe (1997 a, 1997 b) folgend – über eine Motivvorgabe im Tagtraum zu neuem Leben zu erwecken sind. Das kann ein einzelnes Wort mit in Vergessenheit geratener, »übertragener« sinnlicher Bedeutung sein (z. B. »begreifen«, »unterstützen«, »aushalten«) oder eine abgenützte Redewendung (z. B. »auf der Stelle treten« – s. Fallbeispiel A1). Imagination, Nr. 2 /2009 Die metaphorische und narrative Dimension der Katathym Imaginativen Psychotherapie 23 Die konzeptuelle Metapher ist nicht so unmittelbar sinnlich fassbar wie die manifeste. Sie ist vielmehr erst durch einen Vorgang der Abstraktion aus den verwendeten Redeformen oder als ein Prinzip zu erschließen, das »die Art und Weise, wie wir die Dinge erleben«, steuert und ein »Sehen als …« erzeugt, das ein »Handeln als …« und ein »Fühlen als …« einschließt (Buchholz 1998). Die konzeptuelle Metapher stellt demnach mit anderen Worten eine Art von übergeordneter Metapher oder Meta-Metapher dar, ein semantisches Konzept, das Bestandteil unterschiedlichster Wirklichkeits-Konstruktionen sein kann, vom Weltbild bis hin zu den therapeutischen Konzepten und zu dem Bild, das sich Therapeut oder Patient 1 von dem machen, was Therapie sein soll. Alle »konzeptuellen« Modelle, die wir uns über unser therapeutisches Tun machen, fungieren darüber hinaus zugleich als handlungsleitende Metaphern. Doch sollte Therapie nicht besser möglichst weitgehend als »leeres« Konzept im oben angeführten Sinne betrachtet werden, das sich in einer je einmaligen Situation zwischen je einmaligen Menschen unwiederholbar auf je einmalige Weise füllt? Die Vertreter einer nomothetischen Position, die auf Gesetzmäßigkeiten und Regeln aus ist, werden gegenüber einer radikal idiographischen Position stets gute Argumente ins Feld führen können. Doch gibt es, wie sich abzuzeichnen beginnt, auch gute Argumente für eine Orientierung an der je individuellen Geschichte eines Menschen und des in ihm herangereiften subjektiven Weltbildes. Metaphernvielfalt bringt für beide Partner im therapeutischen Prozess die Chance einer Vielfalt an Optionen des theoretischen Denkens und des praktischen Handelns mit sich (s. auch Abs. 8). In diesem Sinne könnte auch eine Chance darin bestehen, eine althergebrachte, aus der Mode kommende Bezeichnung der Tagtraummethode noch einmal etwas näher in Augenschein zu nehmen, bevor sie wohlmöglich als »überkommener« Begriff in die Rumpelkammer der KIP-Geschichte verbannt wird. Der Begriff »Symboldrama« scheint mir geeignet, metaphorische und narrative Aspekte der Psychotherapie mit dem Tagtraum begreiflich zu machen, wenn man ihn beherzt in die Hand nimmt, in seine Bausteine zerlegt und mit diesen zu spielen beginnt: Symbol und Drama und noch mehr … (Man beachte hier den Versuch eines »griffigen« sprachlichen Umgangs mit einem »Begriff«, der als konzeptuelle Metapher der KIP aus guten Gründen nicht »tot« gesagt werden sollte.) 1 Unter Hinweis auf die nicht zu vernachlässigenden Gender-Aspekte der KIP (Hauler & Ullmann 2008) werden nachfolgend durchgängig männliche Formen benutzt, um den Text möglichst flüssig lesbar zu halten. Imagination, Nr. 2 /2009 24 Harald Ullmann 2. Symbolische, dramatische und metaphorische Elementen der KIP Aus dem Wort Symboldrama lässt sich, wenn man so will, ein Dreieck entfalten, dessen Ecken (s. Abb.) verschiedene, klinisch bedeutsame Elemente des Tagtraumgeschehens repräsentieren. Da ist zum einen das symbolische, zum anderen das dramatische und schließlich das metaphorische Element. Während dem Symbol, seiner Nähe zum Primärprozess entsprechend, etwas Zeitloses eigen ist, fächert sich das dramatische Element in unterschiedliche Zeitmodalitäten auf. Das Drama selbst, dessen Zeuge, Mitakteur oder Regisseur wir werden, spielt im Hier-und-Jetzt. Sprachlich gehört zu ihm deshalb der Modus des Präsens. Zur Narration, d. h. zu der Erzählung, die sich darauf bezieht, gehört dagegen der Modus des Imperfekt oder Perfekt. Das Drama konnte noch Drama Symbol auf der Bühne des Tagtraums »live« miterlebt und mitgestaltet Narration werden, die Narration dagegen erzählt von Geschehnissen, die bereits »passé« sind, aber durchaus noch wirksam sein können. Denn die Narration blickt zwar einerseits auf das gewesene Geschehen Narrativ zurück, andererseits entwickelt Metapher sie aber auch aus diesem heraus Vorstellungen über regelhafte Abb: Interdependenz symbolischer, dramatischer und Abläufe und Erwartungen an die metaphorischer Elemente der KIP Zukunft. Sie hat damit das Zeug, zu einem Narrativ zu mutieren, das im Modus von Konjunktiv oder Futur neue Möglichkeiten aufzeigt. Die Metapher hingegen enthält poetisch zu nennende Betrachtungsweisen, die in ihrer Vieldeutigkeit, Zeitlosigkeit und Verankerung im Unbewussten bereits dem Symbol nahe stehen. Hier schließt sich der Kreis, und so weiter und so fort. Denn Symbol und Metapher gehen in der KIP gleichsam »Hand in Hand«. Man sehe mir diese anthropomorphe Darstellung der Interdependenz von Symbol, Drama und Metapher nach. Handelt es sich doch dabei um nichts weniger als um eine ontologische Metaphorisierung (Lakoff u. Johnson 1998), wie wir sie als Psycho­therapeuten oder Didaktiker gerne und durchaus mit Gewinn einsetzen. So entspricht es einer bewährten tiefenpsychologischen Tradition, bestimmte Vorgänge zu metapsychologischen Begriffen zu verdichten und diese Metaphern sprachlich wie leibhaftige Wesen zu behandeln. Dadurch entstehen sinnfällige Mythologien, in denen »das Unbewusste« einem dann etwas zu »sagen« hat oder »das Über-Ich« mit dem »Ich« in einen »Konflikt« geraten kann. Imagination, Nr. 2 /2009 Die metaphorische und narrative Dimension der Katathym Imaginativen Psychotherapie 25 Derartige Metaphern mögen im einen Fall heuristisch und therapeutisch hilfreiche Konzepte sein, im anderen Fall mögen sie den Blick für das verstellen, was wirklich geschieht oder geschah. Aus wissenschaftstheoretischer und neurobiologischer Warte heraus wurden deshalb auch Argumente aufgeführt, die den klinischen Wert metapsychologischer Konzepte überhaupt in Frage stellen und einer Haltung den Vorzug geben, die sich an der je einmaligen Geschichte des Patienten orientiert, um im mitfühlenden Nacherzählen das Gewordensein seiner inneren Bilder und Strukturen individuell zu erkunden (Deneke 2001). Ein solcher Umgang mit erzähldramatischen Lebenslinien, Narrationen, Narrativen und Metaphern ergibt sich für das Symboldrama eigentlich fast wie von selbst. Denn die imaginative, affektgetragene Aktivierung von relevanten Episoden führt auf symbolischem Weg zu den Dramen, die das jeweilige Leben mitgestalten, um von dort aus Möglichkeiten für Verständnis und Neubeginn zu eröffnen (s. Abs. 5 ). Das ursprüngliche Drama wäre demnach im Symbol verdichtet und konserviert, zugleich aber auch über die erneute Begegnung mit dem Symbol aufzulösen oder zu verändern. Dieses Zusammenspiel von Symbol und Drama sei an einer Legende über die Entstehung des Symbols deutlich gemacht. Es gab einmal – so will es die Überlieferung – im Land der Griechen einen schönen Brauch zwischen Menschen, die für eine Weile unter dem Dach der Gastfreundschaft gelebt hatten. Im Moment des Abschieds pflegten sie ein Tontäfelchen in zwei Hälften zu zerbrechen, um sich dann eines Tages, wenn das Schicksal es wollte, gegenseitig daran zu erkennen, dass beide Hälften ineinander passten. Im Moment des Wiedersehens ergaben diese Hälften wieder eine Einheit, wenn man sie zusammen warf: als »Symbolon«. Das Symbol ginge demnach letztlich auf ein Drama zurück, nämlich das Urdrama von Trennung und Abschiednehmen. Dies wäre der vergangenheitsorientierte Blick. Das im Auseinandergehen geschaffene Symbol wird hier zur konkreten Verdichtung des gemeinsam erlebten und gestalteten Prozesses. Doch gleichzeitig gibt es eine Vision der möglichen Wiederannäherung. Denn hinter der Erzählung scheint ein Narrativ auf. Im Modus des Konjunktivs oder Futurs verweist es auf die Möglichkeit oder Gewissheit einer erneuten Begegnung und Wiedervereinigung der im symbolischen Akt getrennten Hälften. Lässt man diese Geschichte auf sich wirken oder spricht über sie, dann kann sich über den Aspekt des Symbolischen und Dramatischen hinaus ein dritter Aspekt einstellen, der ihr einen metaphorischen Gehalt verschafft. In einen therapeutischen Bedeutungsrahmen gerückt, mag das Geschehen auf unterschiedliche Sichtweisen von Trennung und Wiederannäherung anspielen, in denen Trennung etwa als Promotor der Progression erscheint oder Getrenntsein als Voraussetzung für das eigentliche Erkennen des Anderen und für die Individuation des eigenen Selbst. Im therapeutischen Kontext mögen darüber hinaus Symbole und bildhafte Metaphern entstehen, in denen das Auseinanderbrechen und Zusammenfügen der Tonscherben mit Wanderburschen in Verbindung gebracht wird, mit den Imagination, Nr. 2 /2009 26 Harald Ullmann auf‑ und abwärts schlagenden Flügeln von Zugvögeln oder dem natürlichen Einund Ausatmen in einem gesunden Körper. Durch solche Metaphern getröstet und ermutigt, mag der Gast von damals in schweren Zeiten den Rückweg antreten, seinen Gastgeber wiederfinden und ihm als Erkennungszeichen die andere Hälfte der Tonscherbe überreichen. Innerlich als Bild bewahrt und real wieder zusammengefügt, ist das Tontäfelchen ein Symbol für Gastfreundschaft, erneuert und bestärkt. Es »steht für« diese Gastfreundschaft. Beide Freunde können es stumm in der Hand halten und mit allen Sinnen als ihr Symbol empfinden. Spricht man dagegen später über die Geschichte von den Tontäfelchen, dann kann sie zur Metapher für andere Geschichten der Begegnung werden, die »so ähnlich wie« diese ablaufen. Auch auf Therapiegeschichten träfe dieser Vergleich zu. Die in einer Psychotherapie entstandenen bzw. gemeinsam geschaffenen Symbole werden in der verbalen therapeutischen Kommunikation zur Metapher. Metaphern können als Sprachbilder ihrerseits wieder zur Kreation von Symbolen Anlass geben. In der Psychotherapie mit dem Tagtraum findet sich reichlich Gelegenheit für ein solches Wechselspiel zwischen Metapher und Symbol (Ullmann u. Teichmann 2001). 3. Konturen einer raum-zeitlichen vierten Dimension Am Anfang unserer Tage war nicht das Wort und nicht das Bild, nicht die Metapher und nicht das Symbol. Am Anfang ist Bewegung, die sich in dramatisch zu nennenden Spannungsbögen auf- und abbaut, getragen von vital wichtigen und vorantreibenden Affekten. Die Entwicklung geht also von der zeitlich zu skalierenden Bewegung zum räumlich zu verortenden Begriff, vom Drama zum Symbol und von dort aus weiter zur sprachvermittelten Metapher (vgl. Schema in Abs. 2). In den für die Psychotherapie mit dem Tagtraum beschriebenen drei Dimensionen ihrer Wirksamkeit (Leuner 1994) pointiert die erste den symbolischen Pol des Verfahrens, während in der zweiten die Funktion der Affekte betont wird, die den Prozess tragen und voranbringen. Die dritte Dimension, in der es um die Förderung von Kreativität und kreativen Problemlösungen und damit nicht zuletzt um eine spielerische Komponente geht, baut sich in einem intermediären Raum zwischen Therapeut und Patient auf. Dieser imaginäre Raum oder Vorstellungsraum kann als Pendant zu jenem Übergangsraum betrachtet werden, den Winnicott als neu geschaffenes Drittes zwischen Kind und Mutter ansiedelt. Dort ist auch die spielerische Komponente der Tagtraumtherapie anzusiedeln und jener »Spielraum«, der sich in ihr und durch sie entfaltet. In früheren Arbeiten (Ullmann 1988 a, 1988 b, 1992) habe ich den »Spielraum« und die »Übergangsphänomene« – beides Metaphern, mit denen Winnicott (1973) Imagination, Nr. 2 /2009 Die metaphorische und narrative Dimension der Katathym Imaginativen Psychotherapie 27 ein kreativitätsförderndes ­­Raum‑Zeit-Kontinuum zwischen Mutter und Kind dichterisch zu beschreiben versucht – mit den Wirkfaktoren des therapeutischen Prozesses einer Behandlung mit dem Tagtraum in Verbindung gebracht. Die Übergangsfunktionen der KIP wurzeln zum einen in der zweiten Dimension, wenn es um die Erfahrung von Geborgenheit geht, zum anderen begründen sie über die Entfaltung der Kreativität eine dritte Dimension. In der KIP bedienen sich beide Partner des therapeutischen Prozesses metaphorischer und narrativer Strukturen, die über die beschriebene dritte Dimension des Verfahrens hinausweisen. Schon das Konzept der »Übergangsfunktionen« (Ullmann 1988a) enthält ja im Kern raum-zeitliche Strukturen, die sich mit Anleihen aus der zweiten und dritten Dimension im Laufe der Zeit zu einer vierten entwickeln, die nach ihrer anfänglichen Formulierung meist als narrative Dimension der KIP (Ullmann 1998, 2002) bezeichnet wird. Betrachtet man darüber hinaus das Wechselspiel von Geschichten und Sprachbildern als einen dialektischen Prozess zwischen Handlungsabfolgen und ihrer metaphorischen Verdichtung bzw. neuen Entfaltung in weiteren Handlungsabfolgen, dann wäre eigentlich dem Ausdruck metaphorisch-narrative Dimension der Vorzug zu geben (Ullmann 2001a). Die metaphorisch-narrative Dimension hat – idealtypisch betrachtet – zwei Kom­ponenten. Die eine kann man als eine intrinsische Komponente bezeichnen, weil sie dem Tagtraumerleben des Patienten von Anfang an inhärent ist und sich auch in dem bildnerischen Gestalten des Materials ausdrückt. Durch seine Interventionen trägt der Therapeut nun seinerseits – quasi von außen – eine extrinsische Komponente zur narrativen Dimension bei, die ihre eigene Geschichte hat und an der Erschaffung einer neuen Wirklichkeit maßgeblich beteiligt ist. Was aus heuristischen und didaktischen Gründen idealtypisch in zwei narrative Ausrichtungen getrennt erscheint, wird natürlich sehr schnell zu einem gemeinsamen Ganzen, in dem sogar der diagnostische und der therapeutische Teil des Geschehens ineinander wirken. Denn Therapeut und Patient sind innerhalb ihres gemeinsamen Kontextes in einem zirkulär ablaufenden Dialog miteinander verbunden, der in gewisser Weise mit dem Mutter-Kind-Dialog vergleichbar ist. 4. Zur Ontogenese der metaphorisch-narrativen Dimension Die frühe Interaktion des Säuglings mit seiner Umwelt zeichnet sich durch »Synchronie, Aktivität, Eingestimmtheit, Wechselseitigkeit« (Dornes 1993) aus. Man denkt dabei an die von Bartl geprägte Trias »Wärme, Rhythmus und Konstanz« (Bartl 1990) und andere Empfehlungen zur Behandlung psychosomatisch Kranker (Wilke 1990, Ullmann 1990). Der Ablauf der Handlung wird offenbar von beiden Partnern kontrolliert, reguliert und ausgehandelt. Man kann phasenhafte Imagination, Nr. 2 /2009 28 Harald Ullmann Abfolgen der Begegnung beobachten, die wie eine Rahmenhandlung abläuft – von der Initiierung und Begrüßung über den Spieldialog bis zur Beendigung der ganzen Interaktionssequenz. Was dann verinnerlicht wird, schließt wechselseitig regulierte Abfolgen von mütterlichen und kindlichen Handlungen ein, die eine bestimmte zeitliche Strukturierung aufweisen. Liegt es da nicht nahe, die »Be-Handlung« mit dem KB als Rahmenhandlung innerhalb eines Spieldialogs aufzufassen, der den Patienten neue, gesündere Geschichten von Spielsequenzen »erfahren« lässt? Wenn »die alltägliche, oft undramatische und relativ spannungsfreie Interaktion von ebenso großer Bedeutung ist, ja vielleicht von größerer als die kurzen Augenblicke hoher Spannung« (Dornes 1993), dann mag das zum Abwägen der Balance zwischen zwei verschiedenen Vorgehensweisen beitragen – zwischen dem Herstellen einer stillen Atmosphäre der Geborgenheit und dem Laut-werdenlassen des Konflikts, zwischen »Guided Affective Imagery« und »Symbol Drama«, den beiden Spielarten der KB-Therapie und ihrer erzählerischen Dimension. Unter Baby-Watchern kennt man neben dem Lernen mittels dynamischer Highlights auch das »low-tension-learning« und weiß inzwischen, dass »ein guter Teil der normalen und auch der pathologischen Interaktion zwischen Mutter und Kind, aber auch ein guter Teil der explorativen Aktivität des Kindes, in solchen Zuständen niedriger Spannung stattfindet« (Dornes 1993). Schon in den ersten Lebenswochen gibt es den »Spielraum« als besonders wichtiges Segment im Interaktionszyklus zwischen Mutter und Kind – »ein ›privater Raum in der Zeit‹ (Sander), in dem das Kind eine Wahlmöglichkeit hat und nicht von innen oder außen determiniert ist. Es kann seinen Interessen und seiner Aufmerksamkeit nachgehen. Es kann eigene Handlungen in Gang setzen, Initiativen entwickeln und deren Wirkung beobachten. Es kann die Erfahrung von Kontingenz, von Wechselseitigkeit machen. Wir stehen an einer Schwelle des Selbst als Agenten …« (Köhler 1985). Im KB entspräche das der Selbsterprobung auf dem Boden und im Schutze jenes »Übergangsraums«, von dem zuvor die Rede war. Mit der Entfaltung eines solchen Spielraums geht eine Weiterentwicklung des Selbsterlebens einher, die Stern (1992) in fünf Entwicklungsstufen bzw. Phasen einteilt. Für die Belange unseres Themas wird es mit der dritten Phase erst richtig spannend, und zwar dann, wenn das »subjektive Selbstempfinden« eine erste Ahnung davon vermittelt, ein eigenes Wesen zu sein, das seine eigenen psychi­ schen Zustände mit anderen Wesen austauschen und mit diesen gemeinsame, mitteilbare Zustände erleben kann. Damit ist der Beginn eines intersubjektiven Dialogs eingeleitet, der aber erst in der nächsten, der vierten Phase metaphorische bzw. symbolische Qualitäten annehmen kann, dann nämlich, wenn auf der Entwicklungsstufe des verbalen Selbstempfindens ein gemeinsames und symbolisch kommuniziertes Wissen um gefühlsmäßige Zustände existiert, um eigene wie Imagination, Nr. 2 /2009 Die metaphorische und narrative Dimension der Katathym Imaginativen Psychotherapie 29 gemeinsam erlebte. Die fünfte Entwicklungsstufe schließlich bringt die Fähigkeit mit sich, »persönliche Erlebnisse und Motive in einer erzählenden, kohärenten Geschichte zu organisieren« (Dornes 1993). Mit dem Erwerb der Sprache und dem allmählichen Wirksamwerden einer Kompetenz, die man – in Anlehnung an die von Lichtenberg (1983) beschriebene, ihr vorausgehende »imaging capacity« – als »facultas narrativa« bezeichnen könnte, folgt nun in der Phase des narrativen Selbst die Fähigkeit, Bilder wieder in einen zeitlichen Fluss zu bringen. Durch das Belegen mit Wörtern war ja zuvor das ganzheitliche, mit allen Sinnen verflochtene Erleben der vorherigen Phasen zu Ende gegangen – ein schmerzlicher Verlust, der nur in besonderen Augenblicken der Erleuchtung, der unio mystica oder des empathischen Gleichschwingens in einer Psychotherapie aufgehoben erscheinen mag. Gleichzeitig aber hatte uns die Sprache mit der Möglichkeit ausgestattet, Analogien und Metaphern zu finden, die unsere Befindlichkeit beschreiben und von unmittelbarem Leid distanzieren helfen. In der fünften Phase kommt nun die komplexe Fähigkeit hinzu, symbolische Brücken zwischen Vergangenheit und Zukunft zu bauen, Erlebtes zu konservieren, Zukünftiges durchzuspielen, Gegenwärtiges mitzuteilen und eine narrative Kontingenz herzustellen, die unser Selbstempfinden stabilisiert und das Identitätsgefühl in der Tradition verankert, der individuellen, familiären und kulturellen. Der »Spielplatz«, von dem vorhin die Rede war, ist damit zu einem kulturellen Raum geworden, der »Übergangsfunktionen« (vgl. Abs. 3) zu übernehmen vermag, indem er an guten gemeinsamen Erfahrungen anknüpft, die Phantasie beflügelt und auf die Suche nach inneren Kraftquellen schickt, die – unerschöpflich aus dem Inneren fließend – Trost spenden, Kränkungen heilen und neue Wege aufzeigen können (Ullmann 2001 c). 5. Klinische Phänomene und deren neurobiologische Korrelate Die metaphorisch-narrative Arbeit mit symbolischem Material baut auf drei einzelnen Komponenten auf, die sich in mehrfacher Hinsicht unterscheiden. Zu den dargestelltem entwicklungspsychologischen Aspekten kommen weitere hinzu, die den Blick auf die verwendeten Sprachmuster und die bildlich zu beobachtenden Phänomene sowie auf die anzunehmenden mentalen und neurobiologischen Korrelate richten. Beginnen wir mit dem Eigenschaftswort »narrativ«. Dieser Ausdruck bezeich­­net einen innerseelischen Vorgang, der dem, was in der »Realität« ge­schieht, eine bestimmte Bedeutung zuweist. Das entspricht der üblichen Auf­fas­sung vom konstruktivistischen Wesen des Narrativs und zeigt zugleich Aspekte der metaphorischen Perspektive. Doch der eigentlich tragende Vorgang des narrativen Geschehens gründet in einer erzähldramatischen Komponente, die einen Imagination, Nr. 2 /2009 30 Harald Ullmann ­Spannungsbogen von Erwartung und Lösung aufbaut. Dabei handelt es sich um jene schon erwähnten präsymbolischen dramatischen Spannungsbögen der frühen Entwicklungsphasen, die unserem sprachlich vermittelten Empfinden zeitlebens unterlegt sind. Säuglingsforscher benutzen hier gern den dramaturgischen Ausdruck »Plot« (Stern 1998). Sprachliche Muster, die auf das Wirken eines narrativen Vorgangs hinweisen, bedienen sich regelhaft der Worte »weil« und »dann«. Die narrative Konstruktion liebt es, ganz einfache Ursache-Wirkungs-Beziehungen herzustellen. »Weil ich in meiner Kindheit …« Und schon ist die Herkunft des Symptoms erklärt, und schon findet man sich in der Welt wieder zurecht. Der dem narrativen Vorgang unterlegte erzähldramatische Modus dagegen spannt sich gerne zwischen den Worten »dann« und »dann« auf. Lebhafte und spannende Imaginationen unterscheiden sich in diesem Punkt von solchen, in denen eine beschaulich betrachtende Modalität überwiegt. »Narrative« Vorgänge bauen auf den folgenden Prinzipien auf. Zuerst wird das Geschehen, um das es geht, unter Gesichtspunkten des angestrebten Wohlbefindens und der ästhetischen Stimmigkeit neu bewertet. Die Fragen dahinter sind: Fühle ich mich mit dieser Sicht der Wirklichkeit hinreichend wohl? »Macht« sie auch wirklich »Sinn«? Dann wird die passende Version von Geschichte konstruiert. Um sie weiter zu erzählen, bedarf es eines Zuhörers, der in der Lage ist, Verständnis für diese, meine Geschichte aufzubringen. Hier wird aus dem innerseelischen Vorgang ein zwischenmenschlicher. Auf der Ebene der Gehirnfunktionen korrespondieren nun Vorgänge in verschiedenen neuronalen Netzen, die sich von genetisch früh angelegten zu höher ausdifferenzierten Netzwerken aufbauen – aus tieferen Hirnregionen heraus, von unten nach oben oder neudeutsch »bottom-up«. Da gibt es nun zu unterst die Netzwerke für Spannung und Bewegung. (Sie sind hauptsächlich über Stammhirn, Kleinhirn und Basalganglien verteilt.) Dann kommen die Netzwerke für die Bewertung der Valenz, mit den Fragen »gut für mich?« und »macht’s Sinn?« (Sie finden sich in verschiedenen Bereichen des limbischen Systems.) Und weiter geht es in Netzwerke, die für Mitgefühl und Zeiterleben zuständig sind, bis es schließlich im Großhirn zur Weiterbearbeitung und zur Bewusstwerdung kommt. Das Eigenschaftswort »symbolisch« bezeichnet – auf eine kurze Formel gebracht – nichts anderes als einen innerseelischen Vorgang, bei dem Erlebnisinhalte an Bedeutungsträger von sinnlicher Prägnanz gebunden werden. Dabei ist es unerheblich, ob diese Bedeutungsträger mit den Augen zu sehen sind oder nur in der Vorstellung existieren. In jedem Falle stehen sie »für etwas«, das »durch sie« repräsentiert wird. »Symbolische« Vorgänge zeichnen sich dadurch aus, dass sie vielfach codiert sind und somit vielfache Bedeutungen in sich tragen. Darüber hinaus wurzeln sie tief im Empfinden für Körpervorgänge und Emotionen. Imagination, Nr. 2 /2009 Die metaphorische und narrative Dimension der Katathym Imaginativen Psychotherapie 31 Der Aufbau der neuronalen Netze entspricht – von unten nach oben, also bottom-up, betrachtet – der Geschichte ihrer Entwicklung. Körperliche Vor­­ gänge – vegetative und motorische – machen den Anfang. Über das limbische System und bestimmte Bereiche des rechten Temporalhirns kommen sie mit Emotionen und Interpretationen zusammen, bis sie am Ende in symbolischer Form repräsentiert sind. Die Übersetzungshilfe kommt von der primären Bezugsperson und deren eigenen, gleichschwingenden Netzwerken für Mitgefühl und Identifikation (Bauer 2005, 2008). An dritter Stelle sei nun als »metaphorisch« ein kreativer Akt der sprachlichen Neuschöpfung bezeichnet, bei dem in der Interaktion mit äußeren oder inneren Gesprächspartnern andere Varianten von Bedeutung geschaffen und kommunikativ vermittelt werden. Sprachlogisch besteht der Unterschied zum Symbolischen in der Zuordnung der Inhalte. Das Symbol stand »für etwas« dahinter Liegendes. Die Metapher dagegen stellt einen Vergleich an, bei dem der zweite der Gegenstände so ähnlich »ist wie« der erste, und das »macht« den Unterschied. Die zentralen Prinzipien, nach denen Metaphern funktionieren, bestehen darin, aus der Vielfalt möglicher Bedeutungen eine Auswahl zu treffen oder aber auf Ähnlichkeiten abzuheben und quasi künstlich eine bestimmte Bedeutung zu schaffen. Durch »Ver-rückung« entstehen andere Perspektiven der Betrachtung von Zusammenhängen – bis hin zu dem Kontext, in dem sich ein bestimmtes Geschehen ereignet. Die beteiligten neuronalen Netzwerke überschneiden sich teilweise mit denen der Symbolfunktion. (Dann nämlich, wenn sich der metaphorische Vorgang eines schon bereit liegenden Symbols bedient.) Zusätzlich kommen auch noch andere Netzwerke zum Tragen, die für das Sprachverständnis, für raum-zeitliche Perspektiven und für die Einbindung in Kontexte zuständig sind. Im Zusammenspiel zwischen dem Präfrontalen Cortex und der Hippocampus-Formation werden Inhalte des episodischen Gedächtnissystems aktualisiert und mit alternativen Informationen über den gerade aktuellen Kontext abgeglichen. Theoretisch und klinisch haben sich besonders Salvisberg (2005) und Dieter (2006) mit solchen Vorgängen befasst, während Stigler u. Pokorny (2000, 2008) sich seit langem um die Erforschung primärprozessnaher Wirkfaktoren auf der Ebene der Mikronarrative bemühen. In der Episodenaktivierung (s. u.) kommen implizit und explizit engrammierte narrative Entwicklungslinien und metaphorische »Weltbilder« zusammen. Die Trias von Vergegenwärtigen, Episodenaktivierung und Rekontextualisierung kann damit als Dreh- und Angelpunkt für den metaphorisch-narrativen Umformungsprozess der KIP angesehen werden, komplettiert durch Konsolidierung über Wiederholungsschleifen. Narrative, symbolische und metaphorische Vorgänge sind einerseits – wie wir festgestellt haben – prinzipiell voneinander zu unterscheiden. Andererseits sind sie aber auch aufs innigste miteinander vernetzt, beeinflussen sich gegenseitig und gehen ineinander über. Von der Geschichte zum Symbol und von dort zur Imagination, Nr. 2 /2009 32 Harald Ullmann Metapher – wie zuvor an jenem alten griechischen Brauch der Gastfreundschaft illustriert. Die Psychotherapie mit dem Tagtraum kann als ein Austausch von Metaphern und Geschichten verstanden werden. Wer als Patient kommt, bringt seine gesammelten Erzählungen mit: seine Lebensgeschichte und die Geschichte seiner Beziehungen, seine Leidens- und Krankengeschichte und in dieser die Problem- und Symptomgeschichte. Als Herausgeber dieser Rahmenerzählung ist er metaphorisch zu Werke gegangen. Denn er hat bestimmte Ereignisse in ihrer Bedeutung so verschoben, dass sie zu seinem dominierenden Weltbild passen. Zugleich hat der Patient aber auch unter der Vielfalt der erlebten Geschichten solche ausgewählt, die ihn in der Einengung des Krankseins dominieren, in steter Wiederholung und gespurt wie seine »Gehirnloipen«. Deshalb tun wir gut daran, wachsam auf Geschichten zu achten, die irgendwie aus dem Rahmen fallen und solche gezielt zu fördern (vgl. Abs. 6). Und schließlich bringt der Therapeut ja ebenfalls sein ganzes Repertoire an Geschichten mit. Wir sprechen da sonst üblicherweise von »Gegenübertragung«. Mit der Brille der Metaphern und Narrative betrachtet interagieren hier zwei Menschen im Symboldrama als Mitregisseure und zugleich Protagonisten eines einmaligen Theaterstückes. Angeleitet werden sie von inneren Repräsentanzen, in denen ihre jeweiligen Beziehungsschicksale weiterleben. Der therapeutische Rahmen, den die KIP zur Verfügung stellt, enthält als zentral wirksames Element den Tagtraum, der hier als eine von mehreren Geschichten in eine Art Rahmenhandlung eingebunden ist. Wie kommt es nun, dass die Einbildungskraft, die sich in der Psychotherapie mit dem Tagtraum entfaltet, auf das Gehirn so ungemein »prägnant« wirkt? Die basalen neurobiologischen Voraussetzungen werden von Autoren unterschiedlicher Provenienz im Grunde ähnlich dargestellt, seien es nun psychodynamisch orientierte Kliniker (Deneke 2001, Beutel 2002, Beutel u. Huber 2006) oder Verhaltenstherapeuten (Grawe 2000, 2004, Storch u. Krause 2007). Bei der Prägnanz ima­ginativer Geschichten haben wir es mit sechs basalen Vorgängen oder Prinzipien zu tun, die zwischen den men­ta­­len Prozessen und deren neuro­biologischem Korrelat Neurobiologische Prinzipien für die vermitteln (s. Tabelle). Das Prägnanz imaginativer Geschichten: erste Prinzip besteht in der grundsätzlichen Äquivalenz • Äquivalenz von Erleben und Vorstellen von Erleben und Vorstellen. Hier • Vergegenwärtigen aller Zeitmodalitäten geht es darum, dass es für Lern • Episodenaktivierung und Rekon­­tex­­tu­al­i­und ­Veränderungsprozesse sierung weitgehend unerheblich ist, • Konsolidierung von Gedächt­nisin­­hal­ten ob ihre bedeutsame »Realität« • Neuroplastizität in der Vergangenheit durch • Erfahrungsabhängiges Lernen ­lebt, in der Gegenwart »live« Imagination, Nr. 2 /2009 Die metaphorische und narrative Dimension der Katathym Imaginativen Psychotherapie 33 erfahren oder in die Zukunft projiziert wird. Denn dem Gehirn ist es fast egal, wohin sich der Blick richtet, ob nach außen oder nach innen, nach rückwärts oder nach vorwärts. Es baut ohnehin jede »Wirklichkeit« in der Gegenwart auf. Hier greift das Vergegenwärtigen aller Zeitmodalitäten als zweites Prinzip. In der gegebenen Situation werden Inhalte des episodischen Gedächtnissystems jetzt »prozessual aktiviert« (Grawe 2000) und zugleich in Abhängigkeit vom jeweiligen Kontext aufs Neue bearbeitet. Die Episodenaktivierung und Rekontextualisierung ist als drittes Prinzip auf der Ebene der Hirnfunktionen eng mit einem vierten Prinzip verzahnt, das als Konsolidierung bekannt ist. An dieser Stelle hat die Hippocampus-Formation nicht nur wesentlichen Anteil an der Kontexterkennung und -markierung, sondern sorgt zugleich durch ihren Anteil an den Wiederholungsschleifen des mnestischen Prozesses und der damit verbundenen allmählichen Abspeicherung im Format des Langzeitgedächtnisses für ein nachhaltiges Implementieren des umgeformten oder neu geschaffenen metaphorischnarrativen Repertoires. Für uns ist das in sofern relevant, als sich die zentrale Stellung des Tagtraums damit auch wieder relativiert. Schließlich tragen doch alle Phasen der KIP ihren Teil zum Konsolidieren durch Wiederholung bei. Fünftens werden nunmehr die nachmodellierten und neu formierten Gedächtnisinhalte als strukturelle Veränderungen in neuronalen Netzen verankert. Dieses Prinzip nennt sich Neuroplastizität. Die strukturell im Gehirn verankerten Vorerfahrungen und Gedächtnisinhalte steuern ab jetzt ihrerseits die Optionen für Wahrnehmung und Handeln. Dieses sechste Prinzip wird als erfahrungsabhängiges Lernen bezeichnet. Huether u. Sachsse (2007) haben eine Reihe von situativen Voraussetzungen für therapeutische Veränderungen und deren neurobiologische Implementierung aufgeführt und dabei auf die Aktivierung innerer Zustände (»states«) hingewiesen. In metaphorisch-narrativer Hinsicht ist hinter den verschiedenen IchZuständen bzw. States letztlich ein Repertoire an unterschiedlichen Versionen von Geschichten auszumachen, die in der gegenwärtigen Situation aktiviert, relativiert und umgestaltet werden können. Prekär ist nun, dass ausgerechnet die ganz früh angelegten, subcortical verankerten »Vor-Geschichten« und Erlebnisspuren besonders löschungsresistent bleiben. Sie sind der rationalen Korrektur durch Großhirnleistungen nur bedingt zugänglich (Roth 2007). Psychotherapie kann offenbar die dauerhaft im Bereich tiefer gelegener Schaltkreise eingebrannten Primitivgeschichten nicht löschen, wohl aber in begrenztem Ausmaß »top-down« zügeln und durch metaphorische Prozesse »toppen«. Zum anderen vermag Psychotherapie »katathym imaginativ« auf einer tieferen, emotions- und primärprozessnahen Ebene korrigierende emotionale Erfahrungen zu vermitteln. All dies geschieht auf dem Boden eines vertrauenswürdigen Rahmens, in dem es möglich wird, sich dem kritischen Erleben zu nähern, um es zu entaktualisieren, durch neue Narrationen zu ersetzen und metaphorisch in einen neuen, übergeordneten Kontext einzubinden. Und damit entstehen neue, hilfreiche Narrative. Imagination, Nr. 2 /2009 34 Harald Ullmann 6.Die KIP als metaphorisch-narrativer Prozess In der KIP sind Metaphern und Narrative in verschiedenen Phasen des therapeutischen Prozesses wirksam – vom Tagtraum zum Nachgespräch und darüber hinaus. Stark emotional eingefärbte, symbolträchtige Passagen, in welchen – auf der Ebene der basalen dramatischen Spannungsbögen, von denen die Säuglingsforscher berichten – neue Narrationen entstehen können, finden sich im Tagtraum und im Nachgespräch. Hingegen dominieren metaphorische Passagen, die mehr auf die kognitive Veränderung von Perspektiven ausgerichtet sind, eher bei der Bildbesprechung und in den weiteren Gesprächen. Betrachtet man den therapeutischen Prozess unter dem Aspekt der Auswahl und des Aufbaus von narrativem Material, dann erweist sich eine Unterscheidung in zwei Kategorien von Geschichten hilfreich. Die familientherapeutischen Autoren White u. Epston (1998) beschreiben auf der einen Seite einen Typus von althergebrachter oder beherrschender Geschichte, die eingeschliffen und mit Tabus abgestützt ist. Diese dominierende Geschichte kann unterminiert und mehr oder weniger abgelöst werden durch einen anderen Typ von Geschichte, der als spontane oder therapeutisch induzierte Ausnahmeerscheinung auftritt. Doch gerade einmalige Ereignisfolgen dieser Art, die aus dem Rahmen des Gewohnten fallen, können – wenn man auf sie zu achten und angemessen mit ihnen umzugehen weiß – künftig zum Träger des Neuen werden. In der KIP findet sich dieser Typus von Geschichte zuhauf, von der Übertragungsgeschichte bis zum Tagtraum. Man begegnet ihnen in einem Interview, das sich auf minimale narrative Sequenzen (Stern 1998) oder auf signifikante Szenen in einem psychoanalytisch orientierten Erstinterview (Argelander 1970) konzentriert. Wir können einmalige Ereignisfolgen grundsätzlich in jeder Phase einer KIP entdecken, aufgreifen oder initiieren, beginnend mit dem Initialen Tagtraum (Ullmann 1997). Zwischen dem Purzelbaum neben der Couch, von dem der Psychoanalytiker Balint (1970) berichtet, und dem Purzelbaum auf einer im Tagtraum imaginierten Wiese besteht demnach in dieser Hinsicht prinzipiell kein Unterschied. Balints Frage »Na und jetzt?«, die sich schließlich als »ein wahrer Durchbruch« erwies, wird in der KIP des öfteren gestellt. »Agieren und Neubeginn« werden damit auf die Bühne des Tagtraums gebracht. So eröffnen sich vielfältige Möglichkeiten für ein aktives Experimentieren und Üben des Patienten im Hier-und-Jetzt der Psychotherapie mit dem Tagtraum. Thomä (1984) betont aus psychoanalytischer Perspektive die »innovative Seite« des so genannten »acting in« für den Behandlungsprozess. Man kann dabei sicherlich nicht voraussetzen, dass der Patient seine unbewussten inneren Konflikte übersichtlich und brav auf der Tagtraum-Ebene abhandeln und davon absehen wird, sie auch in der Übertragung zu re-inszenieren. Er wird vielmehr anfänglich und zwischenzeitlich immer wieder auch Konflikte »aus­ agieren« müssen, d. h. in Handlungen umsetzen: als »acting out« außerhalb und Imagination, Nr. 2 /2009 Die metaphorische und narrative Dimension der Katathym Imaginativen Psychotherapie 35 als »acting in« innerhalb des Behandlungszimmers. Im »acting in« bekommen wir sie in der aktuellen Szene sozusagen »live« zu spüren. Thomä und Kächele (1985) betrachten ein solches Agieren in der Übertragung als willkommenes Material, mit dem die typischen Konfliktabläufe und Beziehungsmuster »ad oculos« geführt werden. Darüber hinaus sind im Rahmen des Enactment und der wechselseitig miteinander korrespondierenden projektiven Identifizierungen von Patient und Therapeut notwendigerweise Agiergeflechte zu erwarten, auf die besonders Dieter (2006) und Nohr (2006) hingewiesen haben. Wenn Leuner (1994) zwischen einer »Übertragungsneurose« und einer für das KB spezifischen »Projektionsneurose« unterschied, in welcher die inneren Konflikte auf dem Bildschirm des Tagtraums erscheinen und imaginativ bearbeitbar werden, hatte er wohl einen Idealfall vor Augen. Dieser entspräche dem Ideal einer hinreichend kooperativen Übertragungs- und Arbeitsbeziehung, die nicht selten erst einmal hergestellt und stets aufs Neue restituiert werden muss. Wir haben es also in der Regel mit einer Ergänzungsreihe zu tun, die vom Actingout über das Acting-in bis zu imaginativen Inszenierungen im Tagtraum reicht, die ich als Acting-inside bezeichnen möchte (Ullmann 2001 a). In dieser Variante des Agierens bzw. Enactments nehmen nicht nur die gleichsam »mitgebrachten« inneren Tendenzen des Patienten und des Therapeuten Gestalt an, sondern auch und gerade die in der Interaktion zwischen beiden aufkommenden, aus denen in dem miteinander geteilten und geschaffenen imaginativen Raum eine Art von Agier-Melange wird. Das szenische »acting inside« kann es also in sich haben. Warum auch sollte sich der »Wiederholungszwang« zur interpersonellen Inszenierung von inneren Konflikten (Freud 1914) grundsätzlich aus dem Symboldrama heraushalten? Dem Imaginieren auf der Tagtraum-Ebene hat demnach eine Phase des Durcharbeitens vorauszugehen oder zu folgen, denn sonst könnte die imaginäre Landschaft gleichsam zum verminten Terrain werden. Andererseits ist es wohl mit dem Durcharbeiten allein nicht getan. Die in der KIP neurobiologisch wirksame Trias aus Vergegenwärtigen, Episodenaktivierung und Rekontextualisierung (s. Abs.5) legt im Zusammenhang mit einem therapeutischen Konzept, das vor allem neue, weiterführende Geschichten und Versionen von Geschichte im Visier hat, eine Revision klassischer psychoanalytischer Positionen nahe. Zum »Erinnern, Wiederholen und Durcharbeiten« (Freud 1914) käme dann unter dem Arbeitstitel »Vergegenwärtigen, Ausprobieren und Durchspielen« ein alternativer Ansatz hinzu, der mit neurobiologischen, verhaltenstherapeutischen und neueren psychodynamischen Ansätzen kompatibel ist. Jede KIP-Sequenz trägt drei Phasen eines Neuschöpfungsprozesses in sich: die Tagtraumübung mit Vor- und Nachgespräch, das bildnerische Gestalten des Erlebten und die gemeinsame Bildbesprechung. Der Tagtraum selbst, das »Katathyme Bilderleben« im eigentlichen Sinne, birgt zunächst einmal eine starke »intrinsische« Potenz in sich: der Patient erzählt uns darin aus »seiner« Geschichte Imagination, Nr. 2 /2009 36 Harald Ullmann (vgl. Abs. 3). Die Symbole, die er findet, sind zugleich Metaphern für bisherige Lösungsversuche, auf die wir – im Rahmen der »extrinsischen« Komponente der metaphorisch-narrativen Dimension – mit neuen Eingaben und Vorgaben ant­ worten können. Wenn eine Patientin von Klessmann (1998) im Zuge des Dialogs mit dem inneren Kind ihr Pferd vor einer Mauer stehen sieht, die einen bestimmten Konflikt repräsentiert, dann wäre das eine Herausforderung, diese im Sinne der ersten Dimension des KB symbolisch zu überwinden. Die zweite Dimension, also die der archaischen Bedürfnisbefriedigung, bietet sich an, wenn ein Patient von Wilke (1998) den Staudamm brechen lässt, der seine Tränen zurückhielt. Und neue Dimensionen kündigen sich an, wenn eine meiner Patientinnen, die »mal wieder im Regen stehen gelassen« wurde, sich assoziativ an einen bestimmten Film erinnert, in welchem zwei Menschen, die im Regen stehen, zu tanzen anfangen, zu singen, sich auf ein neuartiges Erlebnis einlassend und mit ihm spielend. Da tanzt jemand gleichsam in die kreative, dritte Dimension hinein. Hier beginnt nun, wenn man als Therapeut mitspielt, die metaphorischnarrative Dimension der Methode zu wirken. Was lässt sich nicht alles in solchen Bildern und mit diesen machen? Welche metaphorischen Möglichkeiten bieten sich dem Patienten von Wilke, wenn sein Tränensee imstande ist, die Wüste im Hinterland fruchtbar zu machen? Welche narrativen Möglichkeiten des Aufbaus einer anderen Geschichte des Lebens schlummern in einer solchen Metapher? Welche erzählerische Potenz hat die Patientin von Klessmann entwickelt, die sich während der vorherigen Klinikbehandlung noch »irgendwas« ausdachte, weil sie die anderen nicht »um ihre schönen Geschichten beneiden« wollte? Und wie viele Optionen verwirft sie mit ihrem Pferd, bis eines Tages, im Fortgang der Therapie, endlich an einem anderen Objekt (einem Tisch, an dem ein Bein pferdefüßig wirkt), der Weg der Operation am Symbol beschritten wird? Und was wird aus dem Tanz meiner Patientin, wenn die Sonne alle Wolken vertrieben hat? 7.Polaritäten auf verschiedenen Ebenen des therapeutischen Geschehens Die metaphorisch-narrative Dimension der KIP bewegt sich auf verschiedenen Ebenen zwischen Polaritäten, sei es im Wechsel der Focussierung, in den Regieprinzipien oder in den Interventionstechniken. Der narrative Focus der vierten Dimension richtet sich von Anfang an auf etwa noch nicht ausprobierte Spielarten des Lebens, während der metaphorische Focus den Kontext beleuchtet, in welchem sich die bisherigen Lösungsversuche bewegen. Mit der Methode des Reframing wird alsdann versucht, den zunächst frucht- und ausweglos erscheinenden Konstellationen jene andere Seite abzugewinnen, die als alternative ­Sicht‑ oder Imagination, Nr. 2 /2009 Die metaphorische und narrative Dimension der Katathym Imaginativen Psychotherapie 37 Handlungs-Option in ihnen enthalten ist – sei es nun im Tagtraum oder in den anderen Phasen des therapeutischen Prozesses. Beispiel A1: Betriebswirt (35): Der schon erwähnten Sprachfloskel »auf der Stelle treten«, mit der einer meiner Patienten den Stillstand in seiner Lebenssituation und in der Therapie beschrieb, war auf zweifache Weise eine neue Wendung zu geben. Die metaphorische Wendung bestand darin, den Stillstand als Warteposition vor dem nächsten Fortschritt aufzufassen und im KB in Szene zu setzen. Im Kneippbecken (vgl. Abb.) konnte er, auf der Stelle tretend, die Kraft seiner Füße spüren und die Tendenz erkennen, mit unbedachten Schritten vorschnell an den Rand eines Waldes zu geraten, der Ängste barg, denen er noch nicht gewachsen war. Die narrative Wendung bestand schließlich darin, lustvoll größere Etappen zu bewältigen, auf dem Weg ins Dorf und zu den Beziehungskonflikten, die dort auf ihn warteten. (Über die Biographie und die auch unter Gender-Gesichtspunkten interessante Dynamik dieser KIP kann an anderer Stelle nachgelesen werden: Hauler u. Ullmann 2008) Neben eine gleichsam »beschauliche« metaphorische Komponente, die neue Sichtweisen erschließen kann, gibt es im Tagtraum immer auch eine dramaturgische, narrationsfördernde Komponente die nicht weniger an Aufmerksamkeit verdient. Kindt hat dazu aus linguistischer Perspektive zwei sprachliche Modalitäten der Tagtraumführung herausgearbeitet: eine beschreibende und eine erzählende (Kindt 1997). Bezüglich des hier zur Anwendung kommenden Interventionsstils können wir ein retardierendes und ein akzelerierendes Moment unterscheiden. Korrespondierend zu den beschriebenen Vorgehensweisen lassen sich unter den Metaphern, die wir als Therapeut aufgreifen oder einbringen, reflexionsfördernde und narrationsfördernde unterscheiden. Reflexionsfördernde Metaphern haben ihren Platz eher in jenen Phasen des Prozesses, die mehr kognitiv orientiert sind und der deutendenden bzw. verstehenden Bearbeitung des Erlebten dienen. Narrationsfördernde Metaphern dagegen sind dazu angelegt, die Dramaturgie des frischen Erlebens voranzubringen und narratives Material zu erschaffen. Diese Aufteilung in verschiedene Typen von Metaphern dürfte zu dem Konzept der »strukturierenden Faktoren« passen, in welchem innerhalb der KIP für das Bearbeiten und Erleben unterschiedliche »Räume« vorgesehen sind (Kottje-Birnbacher 1992). Die dem Patienten zu Beginn einer Imaginationsübung vorgegebenen Motive wären unter dem Gesichtspunkt der Produktion von erzähldramatischem Material nichts anderes als eine Sonderform der narrationsfördernden Metapher. In diesem Sinne lässt sich das Motiv als ein Symbol mit Aufforderungscharakter auffassen, das in der Gegenübertragung bzw. in einem gemeinsamen Vorstellungsraum herangereift ist, um schließlich im Moment der Motivvorgabe als Metapher eine Imagination, Nr. 2 /2009 38 Harald Ullmann Abb.: »Auf der Stelle treten.« Und dann? sprachliche Form anzunehmen und narrative Potenzen zu entfalten, vom unmittelbaren katathymen Bilderleben bis zu den narrativen Versionen der danach zu erzählenden Geschichte und neuen Metaphern, die daran anknüpfen. Im Lauf des Tagtraums entsteht ein verbal vermittelter Dialog auf der Bildebene, der symbolische und ganzheitliche Qualitäten des unmittelbaren Erlebens mit sprachlichdiskursiven Qualitäten auf gleichsam poetische Weise in der Schwebe hält. Die in der Imagination erschaffenen Symbole können hernach innerpsychisch oder in Form von gemalten Bildern und anderen künstlerischen Produkten überdauern. Sie können aber auch über das Medium der Sprache kommuniziert werden und interaktive Metaphern (Fabregat u. Krause 2008) werden, welche sich als konkret gehaltene Themen durch den therapeutischen Prozess hindurchziehen und diesen mitgestalten. Beispiel A2: In einer fortgeschrittenen Phase seiner Therapie trat unser Beispiel-Patient erneut auf der Stelle. Doch gleich zu Anfang der KIP hatte er schon begonnen, Bilder zu kreieren, die als Symbole oder Metaphern thematisch um Füße, Fußstapfen, Spuren und Schritte kreisten. Im Erstgespräch war die Rede vom »Auftreten« im Beruf und von den »Auftritten« einer früheren Freundin. Mit dem Initialen Tagtraum meinte er, »Neuland betreten« zu haben und brachte mir zur nächsten Stunde ein Bild mit, auf dem er Spuren in den Sand gezeichnet hatte. »Sehen Sie meine Fußstapfen?« Die werden hinfort auf fast allen weiteren Bildern zu sehen sein (vgl. Abb.). Und Metaphern wie »bodenständig« oder »raumgreifend« werden bis in die Tagträume hinein symbolbildend wirksam sein, um von dort aus erneut Eingang in Metaphern zu finden. Symbol und Metapher gehen also in dieser KIP – wie so oft – gleichsam »Hand in Hand«. Imagination, Nr. 2 /2009 Die metaphorische und narrative Dimension der Katathym Imaginativen Psychotherapie 39 8. Mit kleiner und größer werdender Optik Beide Betrachtungsweisen im Symboldrama, die metaphorische und die narrative, stellen sich jeweils auf eine Makro-Ebene und auf eine Mikro-Ebene ein, korrespondierend zu passenden Regieprinzipen und Interventionsstilen, die andernorts eingehender erläutert werden (Ullmann 2001a, 2001c, 2002). In der Makro-Ebene etwa kann es darum gehen, sich auf das jeweilige Problem oder Symptom, einen Mangel oder einen Konflikt einzustellen und zugleich auf die Kehrseite all dessen – im Sinne eines Ansatzes, der die bisherigen Bewältigungsversuche positiv konnotiert, Ressourcen aufzuspüren versucht und symptomatisches Verhalten in einen anderen Betrachtungsrahmen hinein ver-rückt (metaphorischer Fokus). Auf der Mikro-Ebene dagegen lässt sich unmittelbar an den sich einstellenden Spannungsbögen, protonarrativen Strukturen und inneren Schemata arbeiten. Man kann eine solche mikroskopische Perspektive als eine Art von Lupe oder Zeitlupe dazu verwenden, direkt auf der Bildebene nachmodellierend zu intervenieren (Beispiele bei: d’Arcais-Strotmann u. Ullmann 2002, Ullmann 2001 b). Unter dieser Art von Lupe zeigt sich im jeweiligen Fall nicht selten im Kleinen, was auch im größeren Zusammenhang der individuellen Beziehungsschicksale aktuell ist. Dies wiederum kann aufgegriffen und auf der Makro-Ebene weiter bearbeitet werden, sei es deutend oder alternative Möglichkeiten anregend. Im Wechsel der Optik zwischen beiden kann die KIP eine Fülle von metaphorischen und narrativen Potenzen entfalten (Beispiel-Fall: Ullmann 2001 b). Eine Sonderform des Spiels mit Metaphern, deren Grundmuster aus dem in der Hypnotherapie entwickelten Story-Telling entlehnt sind, führt – unter sorgfältigem Achten auf die Gegenübertragung – gezielt extrinsisches Material in den therapeutische Prozess ein. Das spezifische KB-Element besteht dann darin, die Spuren der eingebrachten Metaphern auf der Ebene des »Symbol-Dramas« weiterzuverfolgen und mit ihnen nach den Regeln unserer Kunst zu arbeiten. Dieser Ansatz, der Klienten-Metaphern von Therapeuten-Metaphern (Krause u. Revenstorf 1997) unterscheidet, eignet sich besonders für zwei Gruppen von Klienten bzw. Patienten. Zum einen profitieren von diesem Vorgehen jene Patienten, die bisher oder zeitweilig über wenig Phantasie verfügen, z. B. solche mit Psychosomatischen Erkrankungen oder Burnout-Syndrom. Zum anderen können Erzähl-Metaphern helfen, Entwicklungsschritte zu tun oder Hürden zu überwinden, mag es sich um ältere Menschen handeln, die phasentypische Krisen zu meistern haben, oder um Heranwachsende, die vor einer Prüfung zurückscheuen. Beispiel B: Student (29): Schier endlos und ohne vorzeigbaren Erfolg studierte er Jura, jenes Fach, in dem sein Vater eine große Karriere gemacht hatte. Selbst stets aufs Neue entmutigt, »wie vor einem Riesenberg« stehend, und vom Vater als »Langeweiler« gedemütigt, machte er Imagination, Nr. 2 /2009 40 Harald Ullmann inzwischen einen Bogen um die ferner gerückte Uni und wählte lieber den knappen Weg in die Kneipe. Nachdem der Vater die Familie wegen einer jungen Liebe verlassen hatte, ist unser Patient als ältester Sohn in sein Elternhaus heimgekehrt, das zum Verkauf ansteht. Während der Vater jetzt in einer anderen Stadt zur High Society gehört, versumpft der Sohn im Souterrain, umgeben von ungelesenen Stapeln an Skripten, still trinkend und gelegentlich in den Streitereien mit der Mutter lauter werdend. Mutter ist es schließlich, die ihn in die Therapie schickt. Von Therapie will er zunächst genau so wenig wissen wie vom Studium, aber der Therapeut scheint ihm doch irgendwie auf einer gemeinsamen Wellenlänge zu liegen, wenn von Bukowski, Suff und Underground die Rede ist. Manche der Geschichten, die der zum Besten gibt, sind auch wirklich »nicht ganz ohne«: Diverse Versager-Mythen fährt er auf, von Prinz Charles bis zu Herostrat, der wenigstens ein großes Feuer zustande brachte, umrahmt von Underground-Stories, die den Patienten in einem eigentümlichen Bewusstseinszustand erreichen. Unser ewiger Student hört schließlich in einer Art von akademischer Telemach-Version der Odyssee eine Geschichte, die ihn sichtlich berührt und damit einen Bezugsrahmen herstellt, in dem er sich verstanden und angenommen fühlt: als loyaler, treuer Sohn, der wie ein Held im Wartestand lange durchhalten kann. Das ist endlich mal etwas anderes als ein »Langeweiler«! Im ITT zeigt sich eine mickerige Margerite, die vor dem Hintergrund der großen Buchsbaumhecke ziemlich verloren wirkt. Beim ersten Berg-Motiv macht sich Resignation breit, denn dieses Bergmassiv, das da plötzlich vor ihm steht, ist einfach zu steil. Beim Blick aus gemessener Entfernung, neben einem Freund auf der Bank sitzend, relativierten sich die Größenverhältnisse der zwei sehr unterschiedlich hohen Berge. Der Therapeut erwähnt später Bergwanderungen auf halber Höhe und weiß von den kleinen Schritten zu berichten, in denen der angehende Wildwasser-Kanute die Eskimo-Rolle üben muss, bis sich eines Tages, oben bleibend, beim stolzen Aufrichten des Körpers, dieses unglaubliche Hochgefühl einstellt. Die weiterhin eingestreuten Underground-Stories beginnen unseren Dauerstudenten allmählich zu nerven. Beim zweiten Berg-KB übt er sich im Wechsel von Aufsteigen und Ausruhen, genießt die Pausen und entwickelt die Zuversicht, irgendwann auch einmal den Gipfel zu erreichen. Beim dritten Berg-KB soll es um nichts anderes gehen als die Vorgabe, das Hochgefühl einer gelungenen Bergbesteigung auszukosten. Der Körper strafft sich. Die Freunde kommen hinzu. Durst wird durch Bier erst schön. Im gemalten Bild ist der Bergaufstieg mit Paragraphen gepflastert. Am Ende einer KIP, die ihn auch an andere Orte der katathymen Landschaft führt, steht für unseren lernfreudig gewordenen Studenten erneut ein Berg an. Diesmal liegt er im Mittelgebirge. Die Etappen sind gut machbar. Auf der Höhe angekommen, wird er von einigen Freunden begrüßt und beglückwünscht. – Von jetzt an beginnen die Examensvorbereitungen … Hinter dem berichteten Gang der Handlung mag man systemische Ansätze (positive Konnotation, Umdeutung, paradoxe Intervention) oder hypnotherapeutische Techniken im Umfeld der »eingebetteten Metaphern« entdecken. Aber am Ende war das doch wohl eine ganz normale KIP, oder? Was von alledem wurde symbolisch oder metaphorisch bedeutsam? Was trug zu Veränderungen in der Imagination, Nr. 2 /2009 Die metaphorische und narrative Dimension der Katathym Imaginativen Psychotherapie 41 Gestaltung von Narrativen und aktuellen Lebenslinien bei? Durch welche Untersuchungsdesigns werden die Wirkungen der mataphorisch-narrativen Dimension wohl zu erklären sein? Wie ist ihre Effizienz zu beweisen oder gar zu messen? Sind therapeutische Konzepte, die sich auf das individuelle Weltbild des Einzelnen konzentrieren und an einer je einzigartigen Geschichte interessiert sind, vor dem Hintergrund der Forderungen nach diagnosespezifischen Therapieansätzen und Effizienzstudien überhaupt »zeitgemäß«? »Mir erscheint die Idee vollständiger Erklärbarkeit als eine Hoffnung, die das Staunen befriedigt und beseitigt. Man kann nun in einer Welt leben, in der es das Wunder und das Unwissbare nicht mehr gibt; das ist das Ergebnis unserer Erklärungsversuche.« So heißt es in den Gesprächen für Skeptiker (v. Foerster u. Pörksen 1999). Der Erklärbarkeit der Welt durch theoretische Konzepte und Untersuchungen mit wissenschaftlichem Anspruch werden auch und gerade für psychotherapeutische Belange Grenzen gesetzt bleiben. Denn unsere Theorien (griech.: »Anschauungen«) sind letztlich nichts anderes als wirklichkeits­ konstruierende und handlungsleitende konzeptuelle Metaphern. Im günstigen Fall haben sie sich in der klinischen Praxis bewährt. Im ungünstigen Fall verstellen sie den Blick für alternative Sicht- und Handlungsweisen. In der KIP scheint es nicht selten so, als würden sich mentale Vorgänge auf dem Projektionsschirm des Tagtraums abbilden. Wenn dem so wäre, hätte dieses Verfahren gegenüber anderen den Vorzug, dass die gängigen Theorien somit (im griechischen Wortsinn) mit anschaulicher Evidenz vor Augen träten. Nur wäre das wohl zu schön, um wahr zu sein. Denn Theorien sind modellhafte Konstrukte, die allenfalls brauchbar und in bestimmten Bereichen gültig sein können, aber nicht wahrer werden, wenn sie anschaulich zu sein scheinen. Die Optik der metaphorisch-narrativen Dimension erlaubt klinisch praktikable Mikro- und Makro-Einstellungen auf den therapeutischen Prozess. Doch geht es dabei eben nicht um die eine oder einzige Wahrheit, sondern um nichts anderes als Optionen für Sicht- und Handlungsweisen. Über ein großes und flexibles Repertoire derselben zu verfügen, könnte sogar ein erstrebenswertes therapeutisches Ziel sein. Die Maxime der Metaphernvielfalt mag dazu beitragen, dass die Einstellungen unserer Optik vielfältig bleiben und der KIP auch in Zukunft ein buntes, mehrdimensionales Kaleidoskop zugestanden wird. Imagination, Nr. 2 /2009 42 Harald Ullmann Literatur Argelander, H. (1970): Das Erstinterview in der Psychotherapie. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft d’Arcais-Strotmann, M., Ullmann, H. (2002): Der Tagtraum unter der Lupe. Imagination 24,1:62 – 78 Bahrke, U. (2005): Entwicklung von Symbolisierungsfähigkeit – eine Herausforderung für die Katathym imaginative Psychotherapie. In: Kottje-Birnbacher, L., Wilke, E., Krippner, K., Dieter, W.: Mit Imaginationen therapieren. 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Sie reichen vom Symbol bis zu seiner Entfaltung in der Interaktion und von der Motivgestaltung bis zur Gestaltung des therapeutischen Prozesses. Dabei greifen symbolische, dramatische und metaphorische Elemente ineinander, die unter entwicklungspsychologischen, neurobiologischen und psychodynamischen Gesichtspunkten zu betrachten sind. Sie alle bündeln sich auf der Ebene des Tagtraumgeschehens in der Trias Vergegenwärtigen – Episodenaktivierung – Rekontextualisierung, komplettiert durch den Vorgang der Konsolidierung über Wiederholungsschleifen. Für einen kreativen Umgang mit dem agierenden Moment des Verfahrens sollte künftig neben klassischen klinischen Konzepten, die auf die Notwendigkeit des Durcharbeitens von Übertragungswiderständen und Wiederholungszwang abheben, zunehmend auch ein Vorgehen praktiziert werden, das vom episodi­ schen Vergegenwärtigen zum Ausprobieren und wiederholten Durchspielen neuer Options- und Handlungsweisen führt. Der diesbezügliche, als narrative Dimen­sion bekannt gewordene Verständnisrahmen ist im Sinne einer metaphorisch-­narrativen Dimension zu erweitern. Autor: Dr. med. Harald Ullmann Arzt für Neurologie und Psychiatrie Facharzt für Psychotherapeutische Medizin Psychoanalyse Nowackanlage 15 D – 76137 Karlsruhe Imagination, Nr. 2 /2009 46 Leonore Kottje-Birnbacher Die Liebe in der Paartherapie mit KIP Leonore Kottje-Birnbacher Die Anlässe für eine Paartherapie sind vielfältig. Oft sind es permanente Auseinandersetzungen aus Enttäuschung aneinander, weswegen sich Paare irgendwann fragen, ob sie so weiterhin ihr Leben verbringen wollen, ob es noch einen besseren Weg miteinander gibt, oder ob sie sich besser trennen. Oft möchte auch einer die Beziehung weiterführen und der andere nicht, weil er sich heftig in jemanden anders verliebt hat, oder weil er seinen Partner einfach nicht mehr liebt und sich eine Beziehung ohne Liebe auf die Dauer nicht vorstellen kann, oder einer fühlt sich vom andern schlecht behandelt, dem ist aber nicht klar, was er dem andern konkret antut. Es gibt auch Paare, die mit einer Lebensumstellung nicht gut zurecht kommen, sie sagen, nach der Geburt des ersten Kindes hätte sich die Beziehung sehr verändert, sie seien sexuell nicht mehr recht zusammen gekommen und emotional auch nicht; oder den dritten berufsbedingten Umzug in eine andere Stadt habe die Frau emotional nicht mehr verkraftet und sei depressiv geworden. Oder beide sind völlig erschöpft nach einem Hausbau, der viel mehr Geld verschlungen hat als geplant, oder genervt durch die anstrengenden Kinder oder durch Eltern bzw. Schwiegereltern, die sich einmischen oder allein nicht mehr zurecht kommen und Pflege brauchen o. Ä. Die Situationen und die sich in ihnen entfaltenden Gefühle sind sehr komplex, und man hat es immer mit zwei Personen gleichzeitig zu tun, denen man gerecht werden sollte. Daher braucht man gute theoretische Konzepte, um die wesentlichen Strukturen entdecken und viele andere Informationen ausblenden zu können, und ein breites Repertoire an Interventionstechniken, um Veränderungen anregen zu können. Für das theoretische Verständnis hat sich m. E. die Integration von psychodynamischem und systemischen Denken sehr bewährt, verändernde Interventionen findet man in unterschiedlichen methodischen Ansätzen, vor allem in der systemischen und lösungsorientierten, aber auch in der Verhaltenstherapie und nicht zuletzt in der KIP. Psychodynamische Konzepte ermöglichen ein Verständnis der Entwicklungsgeschichte jedes Partners, was entlastend wirkt, denn die jeweiligen Prägungen und Beziehungserwartungen haben natürlich Auswirkungen sowohl auf das eigene Verhalten dem Partner gegenüber als auch auf die Interpretationen des Imagination, Nr. 2 /2009 Die Liebe in der Paartherapie mit KIP 47 Verhaltens des Partners. Gerade bei Paaren finden sich wegen der hohen Intensität der Beziehung viele übertragungsbedingte Wahrnehmungsverzerrungen, die wahrgenommen und korrigiert werden müssen. Systemische Konzepte ermöglichen dagegen ein Verständnis der interaktionellen Zirkel, Eskalationen und Verfestigungen, die sich aus den persönlichen Eigenarten der Partner im Umgang miteinander entwickelt haben und die leider, auch wenn man sie verstanden hat, zunächst bestehen bleiben, entweder weil sie unterschwellig eine wichtige Funktion für das Lebensgleichgewicht haben, oder schlicht deswegen, weil sie sich verfestigt haben und keiner weiß, wie er hinauskommen kann. – Watzlawick hat dafür seinerzeit eine schöne Metapher gefunden: Wenn ein Boot Schlagseite hat, versucht man, es zu stabilisieren, indem man sich zu der Seite, die zu wenig Gewicht hat, hinauslehnt. Wenn der andere aber findet, dass durch dies Hinauslehnen die andere Seite jetzt zu viel Gewicht bekommen hat, wird er sich zu seiner Seite hinauslehnen, um die Balance zu halten. So kann es sein, dass sich jeder immer weiter hinauslehnt, um den andern zu kompensieren, keiner kann sich entspannen und zurücklehnen, das ist sehr anstrengend. In dieser Situation einer gegenseitigen Polarisierung finden sich viele Paare: Wenn z. B. der Mann findet, dass die Frau den Kindern zu gewährend ist, wird er mehr von ihnen verlangen und strenger sein als sie, das wiederum findet die Frau dann zu viel und beginnt, die Kinder vor ihm zu schützen, d. h. jeder kompensiert den andern, und der Konflikt miteinander vergrößert sich dabei immer mehr. Im Folgenden möchte ich speziell auf die Gefühlsbeziehung der Partner zueinander fokussieren, auf ihr Gefühl von Liebe zueinander, möchte einige theoretische Konzeptionen und empirische Ergebnisse dazu vorstellen und dann auf die Möglichkeiten der KIP eingehen, Gefühle zu verdeutlichen und zu verändern. Leitvorstellungen von Beziehungen In den letzten Jahrzehnten haben sich die inneren Leitvorstellungen von Beziehungen sehr verändert, was man deutlich an den zunehmend emotionalen Anliegen der Paare in der paartherapeutischen Praxis merkt. Schmidt und von Stritzky (2004) bestätigten in einer großen empirischen Längsschnittuntersuchung, dass Beziehungen heute primär aus gefühlsmäßigen Gründen eingegangen werden und auch nur so lange aufrecht erhalten werden, solange sich beide darin wohl fühlen. Dadurch sind sie prinzipiell instabil, und serielle Beziehungen, die mit seriellen Single-Phasen abwechseln, sind bei den Jüngeren zum gängigen Muster geworden: Die heute 30-Jährigen haben mehr feste Beziehungen hinter sich als die 60-Jährigen. Aber 95 % der heute 30-Jährigen empfinden die feste Zweierbeziehung weiterhin als die ideale Art, das Leben einzurichten. Die 29 % Singles sind Imagination, Nr. 2 /2009 48 Leonore Kottje-Birnbacher »gerade mal wieder Single«. Die Instabilität der heutigen Beziehungen ist letztlich eine Konsequenz des hohen Stellenwertes, der Beziehungen für das persönliche Glück beigemessen wird. Und das glückliche, stimmige Lebensgefühl in einer Beziehung ist weitgehend von dem Vorhandensein oder Nicht-Vorhandensein des Gefühls von Liebe für den Partner abhängig. Dies Gefühl ist letztlich dafür maßgeblich, ob Paare weiter miteinander leben und in die Beziehung investieren wollen oder nicht. Astrid Riehl-Emde hat den zentralen Stellenwert der Liebe in einer Befragung von 900 Züricher Paaren belegt: als wichtigster Faktor für den Zusammenhalt und das Sich-Wohlfühlen miteinander wurde »Liebe« genannt (Riehl-Emde 2003). Andere wichtige Faktoren waren: die Identifikation mit der Partnerschaft (also ein Gefühl von Zusammenhalt durch die gemeinsame Geschichte und das Wissen, dass man zueinander steht, egal was passiert), der Austausch im gemeinsamen Gespräch und die persönliche Entwicklung im Umgang miteinander. – Zärtlichkeit rangierte erst an 10., Erotik an 12. und Sex an 14. Stelle. – Es mag sein, dass die Gewichtung der einzelnen Faktoren in andern Gegenden Europas etwas anders ausfiele, aber in allen westlichen Industriegesellschaften gilt die Liebe zur Zeit als wichtigstes Fundament einer Beziehung, obwohl meist etwas unklar bleibt, was damit gemeint ist. Was wissen wir über die Liebe? Was man als liebevolle Beziehung empfindet, kann je nach Temperament offenbar sehr verschiedene Tönungen haben. Gottman (1994) fand in umfangreichen empirischen Untersuchungen an lange verheirateten Paaren drei deutlich verschiedene Typen von zufriedenen stabilen Paaren, die von sich sagten, dass sie sich liebten. Er nannte diese Typen: impulsiv, wertschätzend und vermeidend. Die Paare unterschieden sich sehr in der Art und der Intensität ihres Umgangs miteinander, gemeinsam war aber bei allen ein günstiges Verhältnis von positiven zu negativen Äußerungen dem andern gegenüber (5 : 1), d. h. die Partner signalisierten sich gegenseitig, dass sie sich akzeptierten. – Liebe impliziert also offenbar notwendig eine intensive positive Verbundenheit miteinander, aber die Verbundenheit kann sich je nach Temperament sehr verschieden äußern, Streit ist für manche Paare absolut kompatibel mit Liebe, für andere schwer aushaltbar. Für die Differentialdiagnostik der gefühlsmäßigen Beziehung ist die Dreieckstheorie der Liebe von Sternberg (1986) sehr nützlich. Sternberg geht von drei Komponenten der Liebe aus, die durch ihre spezifischen Mischungsverhältnisse unterschiedliche Liebesstile ergeben. Die drei Komponenten sind: 1. Intimität (Gefühle von Nähe, Verbundenheit, Zusammengehören) 2. Leidenschaft (Romantik, physische Anziehung und sexuelle Erfüllung) Imagination, Nr. 2 /2009 Die Liebe in der Paartherapie mit KIP 49 3. Entscheidung /Selbstverpflichtung (Treueversprechen und formelle Bin­­­­­dungs­­schritte) Eine erfüllte Liebe wird alle drei Aspekte umfassen, eine romantische Liebe nur Intimität und Leidenschaft, aber keine Verpflichtung, eine kameradschaftliche Liebe nur Intimität und Verpflichtung, aber keine Leidenschaft. Die drei Komponenten entwickeln sich über die Zeit hin unterschiedlich, wodurch sich Beziehungen immer über die Zeit hin verändern: die Leidenschaft pflegt zu Beginn hoch zu sein, sie kann rasch entflammen, aber auch rasch wieder abklingen; die Verpflichtung wächst allmählich bis auf ein bestimmtes Niveau, das dann gehalten wird. Durch Entscheidungen (zusammenzuziehen, miteinander Kinder zu haben, zusammen ein Haus zu bauen) steigt die Verbindlichkeit auf ein höheres Niveau; die Intimität wächst langsam und stetig über lange Zeit – solange sich die Partner gegenseitig zuhören. Sie kann auch verflachen. Eine weitere wichtige Unterscheidung, die den Paaren hilft, ihre Erwartungen aneinander besser zu verstehen, ist die zwischen Partnerschaft und Liebe (Retzer 2004). Die Liebe ist eine Art Himmelsmacht, man wird von ihr ergriffen oder auch nicht, sie ist willentlich nicht beeinflussbar, kann nicht hergestellt oder beendet werden. Sie lässt die Persönlichkeit in Fluss geraten, macht Veränderungen möglich und gibt Schwung für einen Neubeginn. Sie kann auch in Konflikt zu andern Werten stehen, moralische und emotionale Konflikte auslösen, kann die Persönlichkeit reifen lassen, kann sie auch ins Verderben führen. Sie ist nicht harmlos, sondern voll Risiko, führt in mitten in das Abenteuer des Lebens hinein, ist ein Sinnangebot voll Erlösungshoffnungen und Apokalypse-Befürchtungen. Sie wird in der Poesie besungen (Hohelied Salomos, Hafis) und in der Literatur dargestellt mit ihrer ganzen Sprengkraft, die Ausbrüche und Verzweiflungstaten bis zum Selbstmord und Mord verursacht (Romeo und Julia, Anna Karenina, Woyzeck). – Partnerschaft dagegen ist ein Verfahren zur Risikominimierung, sie wird durch die Vernunft und den Willen gesteuert. Man vereinbart Geben und Nehmen und erwartet Fairness (Retzer 2004, 76) und dauerhafte Kooperation. Die Partnerschaft stellt die unverzichtbaren Rahmenbedingungen her, die Liebesbeziehung gibt dem Leben Sinn und Inhalt (Willi und Limacher 2005), ermöglicht Geborgenheit, Zuhausesein, Miteinander-Vertrautsein. In Paar­therapien wurde bis vor ca. 10 Jahren primär die Ebene der Partnerschaft fokussiert, besonders in der verhaltenstherapeutischen Paartherapie wurde an der Verbesserung der Kommunikation und der Klärung der beiderseitigen Bedürfnisse gearbeitet, man gab Anregungen für ihre Befriedigung, suchte negative Interaktionsverläufe zu unterbrechen und Regeln zu erarbeiten, um Beziehungsgerechtigkeit und Ausgewogenheit zu fördern. Das sind alles wichtige Aspekte, denn Störungen in diesen Bereichen bedingen viele ungute Gefühle, aber damit geht es nur um die technischen Skills, um Vorbedingungen einer liebevollen Imagination, Nr. 2 /2009 50 Leonore Kottje-Birnbacher Beziehung, aber das ist nicht alles. Die Frage nach Liebe und Intimität eröffnet den Blick auf das Zusammenspiel der widerstreitenden existenziellen Strebungen mit der Sehnsucht nach Einssein und dem Wunsch nach Freiheit, Unabhängigkeit und Abwechslung und auf die Angst vor Abhängigkeit und Selbstverlust in der Beziehung. Damit geht es um persönliche Weiterentwicklung in der Beziehung (Willi 1985). Unvermeidliche Veränderungen in dauerhaften Beziehungen Beziehungen verändern sich notwendig im Lauf der Zeit. Äußere Veränderungen verlangen Neuanpassungen (Zusammenziehen in eine gemeinsame Wohnung, Geburt eines Kindes, Veränderungen im Beruf, Umzüge, Krankheiten etc.), aber auch innere Veränderungen sind unvermeidlich: die eigenen Bedürfnisse verändern sich beim Älterwerden und bei längerer Dauer der Beziehung, man nimmt immer wieder innerlich Stellung zu der Art des bisherigen Lebens miteinander, ob man so weitermachen möchte oder nicht. Immer wieder sind partnerschaftliche Verhandlungen miteinander notwendig darüber, wie man miteinander leben möchte, dadurch gibt es zyklisch wiederkehrende Phasen der Auseinandersetzung und Neuadaptation und solche des harmonischen Miteinanders. In den ersten Jahren einer Beziehung verändern sich besonders spürbar die Kommunikation und die Sexualität. In der Anfangsphase nutzen Paare die Sexualität gern und oft, um Intimität miteinander zu erleben, auszudrücken und aufzubauen. Etablierte Paare dagegen spüren ihre Zusammengehörigkeit sowieso durch die gemeinsame Lebensgestaltung, sie brauchen dazu die Sexualität nicht. Diese bleibt aber wichtig für die Definition des Paares als Liebespaar (Clement 2004 und 2005) und für das Selbsterleben als Mann und als Frau. Nach empirischen Ergebnissen von Schmidt 2004, der umfangreiche Befragungen von 30-, 45- und 60-jährigen Großstadtbewohnern über ihre aktuelle Sexualität und ihre sexuelle Geschichte durchführte, kommt es in den ersten 5 Jahren zu einer deutlichen Abnahme der Frequenz (das entspricht dem Rückgang der Leidenschaftskomponente der Liebe), danach bleibt die sexuelle Aktivität meist über lange Jahre konstant auf dem dann etablierten Niveau. Dieser erste Übergang von der Verliebtheit zu einer etablierten Partnerschaft wird von vielen Paaren als sehr beunruhigend empfunden, denn nicht nur die Quantität, auch die Qualität der Sexualität verändert sich dabei: das Überschäumende, das Kribbeln im Bauch geht verloren, gewonnen wird Offenheit und Sensibilität (die Intimitätskomponente wird höher, sofern die Liebe lebendig bleibt). – Und in der Verliebtheitsphase wollen Männer und Frauen etwa gleich viel Sex und Zärtlichkeit, bei etablierten Paaren wollen oft die Männer mehr Sex, die Frauen mehr Zärtlichkeit (Schmidt 2004). Das heißt, die Verantwortung für Imagination, Nr. 2 /2009 Die Liebe in der Paartherapie mit KIP 51 die sexuelle und die nicht sexuelle Seite der Intimität wird sozusagen aufgeteilt. Dabei kommt es oft zu Kämpfen, die der Liebe schaden. Auch die Kommunikation der Partner miteinander verändert sich oft dramatisch im Lauf der ersten Jahre. Schnarch fragt in seinem Buch »Psychologie der Leidenschaft« (2006) provozierend: Woran erkennt man in einem Restaurant, dass ein Paar am Nebentisch verheiratet ist? Dass sie nicht miteinander reden. Und woran erkennt man Paare, die sich gerade erst gerade erst kennengelernt haben? Dass sie ständig miteinander reden und sich gegenseitig anschauen. Und warum reden verheiratete Paare nicht miteinander? Sie wollen nicht hören, was der andere zu sagen hat. Sie glauben zu wissen, was er sagen möchte, glauben ihn zu kennen und möchten sich nicht mit ihm auseinandersetzen. – Intimität miteinander verlangt aber sowohl Einfühlung und Bestätigung als auch Auseinandersetzung sowohl mit sich selbst als auch mit dem Partner. Eine lebendige Beziehung verlangt Pflege und Exklusivität und auch Konfrontation und Offenheit. Verarbeitung von Enttäuschungen je nach psychischem Funktionsniveau In der Verliebtheitsphase wird eine intensive positive Gegenseitigkeit entwickelt, der andere ist wichtig, man selbst ist wichtig, man fühlt sich glücklich und verbunden miteinander, sucht und findet Verständnis und Unterstützung. Auf die Dauer lässt sich diese nur positive Bezogenheit nicht halten, eine Ent‑Täuschung als Zusammenbruch der gegenseitigen Idealisierungen tritt zwangsläufig ein, Interessengegensätze, unterschiedliche Reaktionsweisen und gelegentliches Befremden über das Verhalten des andern sind unausweichlich. Die Frage ist dann, wie das Paar damit umgeht. 1. Bei gutem psychischen Funktionsniveau kann jeder Partner den andern als eigenständige Person sehen mit bestimmten Eigenschaften, Vorlieben und Schwächen, die teils gut, teils weniger gut zu den eigenen Eigenschaften, Vorlieben und Schwächen passen. Enttäuschungen aneinander können dann verarbeitet werden durch die Entwicklung von realistischer Ambivalenz im Rahmen einer ganzheitlichen, positiven Beziehung. 2. Bei niedrigerem Funktionsniveau können Enttäuschungen meist nicht so gut bewältigt werden, weil die innere Abhängigkeit vom Partner als einem idealen Objekt größer ist und die reiferen Verarbeitungsmöglichkeiten weniger stabil verfügbar sind. 2.1. Es kommt daher zunächst häufig zu einer Verleugnung von negativen Anteilen mit Entwicklung einer Pseudoharmonie (es wird alles unter den Teppich gekehrt, jeder sucht sich seine Phantasie von totaler Einigkeit zu erhalten). Imagination, Nr. 2 /2009 52 Leonore Kottje-Birnbacher 2.2. Danach kann es zu einem Kippen der Beziehung in negative Gegenseitigkeit und offenen Machtkampf kommen (der andere ist nur böse und gemein – während zu Anfang die schwierigen Aspekte abgespalten waren, können nun die befriedigenden wegen der Spaltung nicht gesehen werden). 2.3. Oder es entwickelt sich durch Druck auf den andern bzw. die Anpassung an die heftig vorgetragenen Wünsche des andern eine relativ starre polarisierte Rollenverteilung, also eine Stabilisierung auf niedrigerem Niveau, 2.4. oder es kommt zu einer Trennung. Viele Paare, die in Paartherapie kommen, stecken in einer dieser Sackgassen: entweder haben sie eine Pseudoharmonie entwickelt, die sich langweilig und unverbunden anfühlt, oder sie bekämpfen sich heftig, ohne voneinander los zu kommen, oder sie haben eine Kollusion mit starrer Rollenverteilung entwickelt, in der sie sich nicht gut fühlen: ausgenutzt oder dominiert oder in Abhängigkeit gehalten oder klein gemacht oder in übertriebene Verantwortung gedrängt. Das Gefühl von Liebe ist ihnen dabei verloren gegangen. Bei Vorliegen einer Pseudoharmonie ist die Förderung der Differenz auf einer sicheren Basis notwendig, denn beide fürchten die Unterschiedlichkeit, weil sie fälschlicherweise unterschiedliches Empfinden mit Sich-nicht-genug-Lieben oder Nicht-zueinander-Passen und Sich-trennen-Müssen assoziieren. Bei chronischen Auseinandersetzungen geht es um das Aufzeigen der Verklammerung miteinander und deren Neukonnotation: beide sind dauernd auf den andern fixiert, offenbar weil sie sich zu sehr lieben, zu viel voneinander wollen und zu leicht enttäuscht sind, wenn der andere nicht perfekt ist. Bei festgefahrenen Kollusionen mit komplementärer Rollenaufteilung kann man das Ineinandergreifen des Verhaltens aufzeigen, wie jeder das Verhalten des andern mit seinem eigenen Verhalten quasi herausfordert und sie sich so immer wieder gegenseitig in ihrem Weltbild bestätigen. Jeder wehrt sich ständig gegen den andern und setzt sich zu wenig mit sich selbst auseinander. Diese Interventionen verändern die Sichtweise der Situation miteinander, auch das Selbstbild und das Bild des andern, sie schaffen damit Raum für weiterführende Interventionen. Bei diesen geht es dann sowohl um die Verbesserung von Basisfertigkeiten (Kommunikationstechniken) als auch um eine Sichtung der gemeinsamen Geschichte mit Fokussierung auf der Partnerwahl (wie haben sie sich kennen gelernt, was mochte jeder am andern besonders), den gemeinsamen Lebensthemen und dem bisher gemeinsam Bewältigten, als auch um die Entwicklung von Beziehungsvisionen für die Zukunft und um die Gestaltung der Beziehung in der Gegenwart. Hier ist die Etablierung geschützter Paar-Räume wichtig, Geben und Bemerken von kleinen Gesten der Liebe im Alltag und der Umgang mit Kränkungen und Ambivalenz. Bei der Etablierung eines geschützen Entwicklungsraums für die Beziehung Imagination, Nr. 2 /2009 Die Liebe in der Paartherapie mit KIP 53 und bei der Entwicklung von Beziehungsvisionen sind gemeinsame Imaginationen sehr hilfreich. Imaginationen eignen sich als Projektionsfläche für die Beziehungsdynamik, Bedürfnisse, Ängste und Abwehrmechanismen beider Partner, so dass man durch sie leichter versteht, worum es emotional geht, auch dem Paar selbst wird die eigene Beziehungsdynamik meist spontan verständlich. Das führt zu einer gewissen Betroffenheit und der Unmöglichkeit, einfach so weiterzumachen wie bisher. Wegen der Verschiebung auf die Symbolebene rasten in Imaginationen nicht so unvermeidlich die eingespielten Verhaltensabfolgen ein, man hat die Chance, den Prozess zu verlangsamen und die Suche nach Ressourcen und kreativen Lösungen anzuregen. Das konkrete Vorgehen sieht so aus, dass der Therapeut ein Motiv vorgibt, das es den gerade anstehenden Beziehungsthemen ermöglicht, sich metaphorisch darzustellen. Man kann dann entweder eine stille Imagination durchführen, bei der man Anregungen gibt und Zeit zum Imaginieren lässt und sich dann anschließend die beiden Imaginationen berichten lässt und sie miteinander bespricht. Man kann auch eine gemeinsame Imagination beider Partner durchführen, bei der erst der eine und dann der andere schildert, was er sich vorstellt, wobei der Therapeut nachfragt und dann wieder zum andern Partner übergeht, bis beide in einem Dialog ihre Imaginationen weiterführen wie in einem Gruppen-KB. Fallbeispiel Um das Vorgehen konkret darzustellen, möchte ich im Folgenden Ausschnitte eine Paartherapie darstellen. Das Paar kam in einer verfestigten kollusiven Verstrickung mit inzwischen offenem Machtkampf. Es fanden 24 Sitzungen über zwei Jahre hin statt, die ersten beiden im Abstand von 14 Tagen, dann in monatlichem Abstand, gegen Ende noch seltener. Anfangsphase: Entwicklung einer gemeinsamen Problemdefinition Die beiden meldeten sich in einer akuten Krise. Beide sind Mitte 40 und seit 15 Jahren verheiratet, sie haben drei Kinder im Schulalter und haben seit 10 Jahren zusammen eine Firma aufgebaut. Die Krise besteht darin, dass der Mann seit einiger Zeit seine Arbeit kaum mehr ertragen kann, er fürchtet in der Hektik »kaputt­zugehen«, er will die Firma verkaufen und irgendwo eine Stelle annehmen, um mehr Ruhe zu haben. Das beunruhigt die Frau sehr, denn sie will das auf keinen Fall, da sie wegen der Kinder nicht außerhalb des Hauses arbeiten kann und sehr gern arbeitet. Der Konflikt ist heftig eskaliert, jeder hat den Eindruck, dass der andere total egoistisch ist und ihm das eigene Befinden offenbar völlig egal ist. Die Stimmung ist feindselig und angespannt, die Frau trägt vehement Imagination, Nr. 2 /2009 54 Leonore Kottje-Birnbacher ihre Anklagen vor, der Mann mauert eisern. Er will in Ruhe gelassen werden, sie fühlt sich allein gelassen und übergangen. Es geht in den Gesprächen zunächst um die Herstellung eines tragfähigen Kontaktes zu jedem Partner, ich möchte verstehen, wie jeder die Situation empfindet und wie er sie sich wünschen würde, und bitte die beiden, die Entscheidung, wie es beruflich weitergehen soll, zu vertagen, da sie zur Zeit nicht in der Lage sind, gute gemeinsame Entscheidungen zu treffen. Ich akzentuiere, wie verantwortungsbewusst, fleißig und tüchtig beide sind, um ihr Selbstwertgefühl wieder zu stabilisieren. Durch die ständige Kritik des andern sind beide sehr verunsichert und daher primär auf Selbstschutz und Abwehr eingestellt. Durch diese Positivierung entsteht eine gewisse Beruhigung, jeder fühlt sich von mir ernst genommen und angenommen. Gegen Ende der zweiten Sitzung können wir uns auf eine erste gemeinsame Problemdefinition einigen, die die Bedürfnisse beider aufeinander bezieht und nebeneinander gelten lässt: Die Dosierung von Nähe und Abgrenzung ist miteinander schwierig, denn der Mann hat gewisse mönchische Tendenzen, er braucht genügend Ruhe, und Nähewünsche mobilisieren bei ihm allergische Abwehrreaktionen, aber bei zu wenig Nähe und Austausch wird die Frau depressiv und fordernd. Dadurch verstärkt sich dann seine Abwehr noch weiter und ihr Gefühl von Alleingelassensein auch, so dass sie miteinander in einen Teufelskreis geraten. Es wäre gut, ein Gleichgewicht zu finden, das für beide lebbar ist. Positivierung des Bildes vom eigenen Selbst und vom Bild des andern In der 4. Sitzung, 3 Monate nach Beginn der Therapie, schlage ich zum ersten Mal eine gemeinsame Phantasie vor. Um diese einzuführen, bitte ich die beiden, eine kleine Übung zu machen. Jeder soll sich entspannen und sich für innere Bilder und Vorstellungen öffnen und sich dann irgendeinen Baum vorstellen und den beschreiben. – Damit bekommt jeder die Möglichkeit, dem andern in einem Symbol etwas von sich zu zeigen. Bäume eignen sich als Selbstrepräsentanzen, sie können groß oder klein sein, kräftig oder schwächlich oder verletzt, gut oder weniger gut verwurzelt, allein stehend oder in Gesellschaft. Mit dieser Übung wird die Fixierung auf den andern unterbrochen, jeder ist aufgefordert, sich auf sich selbst zu konzentrieren und nach innen zu schauen. Die Frau sieht einen Pflaumenbaum mit vielen Früchten (also eine positive, weiblich-spen­den­de Selbstrepräsentanz), der Mann hat zunächst Schwierigkeiten, sein Bild ist unscharf, er meint, sein Baum sei wohl eine große Buche auf einer weiten Wiese (er hat Mühe damit, ein inneres Bild zu entwickeln, weiß nicht so genau, wie es ihm geht). Dann bitte ich beide, eine Landschaft zu suchen, in der beide Bäume einen guten Platz finden können, bitte also jeden darum, dem andern einen Platz in der eigenen inneren Landschaft zuzuweisen. Beide können leicht den Baum des Imagination, Nr. 2 /2009 Die Liebe in der Paartherapie mit KIP 55 andern in das eigene Bild mit hinein nehmen, und beide sind sich darin einig, dass sie meinen, die Buche brauche viel Platz. Der Mann sieht den Pflau­menbaum seiner Frau in einem Garten stehen neben anderen Obstbäumen. Die Frau sieht die Buche ihres Mannes auf einer Wiese an einem Weg und meint, ihr Pflaumenbaum stehe auch auf einer offenen Wiese, nicht in einem Garten. Sie widerspricht damit der Zuschreibung ihres Mannes, sie wolle sicher einen umhegten Raum (Garten mit Zaun) und Geselligkeit (andere Bäume um sich herum), und definiert sich damit als ihm ähnlicher, als er angenommen hat. Ich frage, was sie sonst noch möchten, oder ob das Bild so gut sei. Sie meint daraufhin, es flögen Vögel zwischen den beiden Bäumen hin und her, und ein Maulwurf grabe im Zwischenraum an seinem Bau. (Sie will Kontakt zu ihm, nicht zu andern, das ist eine Antwort auf sein Bild: andere Bäume stünden in der Nähe ihres Baums). Ich frage den Mann, ob ihm das so recht sei. Er meint, das müsse man jeweils sehen, ob Besuch willkommen sei oder nicht. – Im Nachgespräch identifizieren sich beide spontan mit den Eigenarten ihrer Bäume und betonen beide, dass sie genügend Platz um sich herum bräuchten. Durch solche Imaginationen entsteht ein neuer Beziehungsraum, der nicht durch die chronischen Konflikte miteinander kontaminiert ist, sondern in dem sich jeder Partner mit seinen Vorlieben und Besonderheiten darstellen kann und respektiert wird. Der Therapeut sorgt dabei dafür, dass jeder Raum erhält, um sein Bild zu entwickeln (beim Mann sind dafür einige klärende Nachfragen notwendig) und dass jeder über sein Bild verfügen darf (die Frau bemächtigt sich sofort des Zwischenraums zwischen den beiden Bäumen durch Maulwurf und Vögel – ich spreche den Mann dann explizit darauf an, so dass er entscheiden kann, ob er Besuch haben möchte oder nicht). In der nächsten Sitzung einen Monat später schlage ich nach den obligatorischen anfänglichen Klagen relativ schnell wieder ein KB vor, um damit wieder neben dem chronischen Konflikt jedem eine Darstellung der eigenen Ressourcen und Wünsche zu ermöglichen und den Entwicklungsraum miteinander weiter zu gestalten. Diesmal soll sich jeder ein Haus vorstellen und es beschreiben, so dass praktisch jeder dem andern sein Haus zeigt. Die Frau beschreibt ein reetgedecktes weißes Haus. Es steht in den Dünen und hat schönen Blick aufs Meer. Im Flur brennt eine bunte Lampe, das Wohnzimmer wirkt gemütlich mit vielen Blumen und Bildern. In der Küche dampft die Suppe, im Keller sind Vorräte. Im ersten Stock sind Schlafzimmer und Kinderzimmer, auf dem Dachboden stehen Kisten mit alten Büchern, Kleidern und Weihnachtsbaumschmuck. Eine Katze wohnt da auch. Dies Haus kann man wie den Pflaumenbaum als lebendiges weibliches Selbstbild ansehen. Der Mann sieht ein großes Haus, das er aus Nachtträumen kennt. Es liegt am Hang, hat eine große Glasfront mit Blick über das Tal, der Eingang ist auf der Imagination, Nr. 2 /2009 56 Leonore Kottje-Birnbacher Bergseite. Unten ist ein riesiges, kaum eingerichtetes Wohnzimmer, daneben eine Küche, dahinter ein großer leerer Saal. In der oberen Etage ist rechts ein Raum, vollgestopft mit »altem Krempel«, links ein eigenartiger Raum, dunkel und kühl, in den er sich nicht recht hinein traut. Es ist unklar, was für Herausforderungen dort warten und ob er stark genug dafür ist. Unten gibt es noch einen Gewölbekeller. Keller und Obergeschoß wirken alt, die Etage dazwischen modern. Sein Haus wirkt auf beide merkwürdig in seiner Heterogenität, mit dem vielen ungenutzten Raum und den unheimlichen Ecken. Er möchte gern mit ihr in ihr Haus gehen, das er sehr schön findet, sie würde gern seinen Keller irgendwann genauer untersuchen und würde auch gern mit ihm in den dunklen Raum hineingehen. In den Imaginationen ist der Umgang miteinander deutlich anders als sonst im Gespräch, beide sind neugierig auf die Bilder des andern und äußern sich positiv. Er fühlt sich in der warmen Atmosphäre ihres Hauses deutlich wohl, und sie findet seine Andersartigkeit und seine dunklen Seiten irgendwie faszinierend. Damit kommen Aspekte der Beziehung wieder zum Vorschein, die im täglichen Kleinkrieg vergessen waren. Analyse des Umgangs miteinander: Unterschiedlichkeit der Bedürfnisse, kommunikative Missverständnisse Parallel zu dieser emotionalen Entwicklungsarbeit müssen wir in den Sitzungen immer wieder kommunikative Basisfertigkeiten einüben und Streitigkeiten klären. Es geht beim Streit immer wieder um Unterschiedlichkeit im Empfinden, und es gilt, symbiotische Verklammerungen zu lösen. So hatte z. B. die Frau einen Bagatellunfall mit dem Auto und ärgerte sich über den Unfall­gegner. Ihr Mann schlug ihr vor, sich nicht aufzuregen, sondern die Sache einem Anwalt zu übergeben. Sie empfand das als einen Versuch, ihre Gefühle wegzubügeln, und wurde wütend. Er wusste gar nicht, wie ihm geschah, denn er wollte sie mit diesem Vorschlag eigentlich unterstützen. Wir arbeiten heraus, dass ihr das Beobachten und Fühlen wichtig ist, ihm das aktive Bewältigen. Sie können sich damit gut ergänzen, sie können sich damit aber auch gegenseitig kritisch in Frage stellen und nerven, besonders, wenn sie sich nicht darüber austauschen, was jeder gerade braucht. Sie will ihre Gefühle haben und äußern dürfen, das ist für sie Ausdruck von Lebendigkeit. Er will möglichst wenig durch Gefühle gestört werden und empfiehlt ihr daher Lösungsansätze, die für sein Ziel einer Beruhigung brauchbar wären, für ihr Ziel des Sich-Spüren-Wollens aber nicht. So geht die Kommunikation oft aneinander vorbei und jeder fühlt sich vom andern dann nicht gesehen. In den Gesprächen entsteht durch meine klärenden Nachfragen allmählich eine wohlwollende Atmosphäre, in der beide ihre Sicht darstellen und dem Imagination, Nr. 2 /2009 Die Liebe in der Paartherapie mit KIP 57 andern zuhören können und lernen, ihre Unterschiedlichkeit zu ertragen und zu antizipieren. Durch meine Fragen werden ihnen auch die Lücken in ihrer Kommunikation deutlich, und sie drücken sich allmählich klarer und vollständiger aus. Erstes spontanes positives Miteinander und Bewältigung kleiner Krisen In der 8. Stunde schlage ich wieder ein KB vor, jeder soll sich ein Tier vorstellen und es beschreiben. – Auch Tiere eignen sich als Selbstrepräsentanzen, aber im Unterschied zu Bäumen und Häusern können sie sich bewegen. Mit diesem Motiv ist also erstmals eine Einladung zur Interaktion verbunden, während es bisher nur darum ging, das eigene Symbol darzustellen und das des andern auf sich wirken zu lassen. Direkte Interaktion ist bei Streitpaaren zu Beginn nicht empfehlenswert, weil dann eben gestritten wird. Erst wenn im Gespräch ein gewisser Respekt für den andern wieder hergestellt ist, besteht auf der Symbolebene die Möglichkeit, miteinander einen freundlichen Umgang zu probieren. – Der Mann sieht einen kleinen Braunbären, der allein durch den Wald streift, die Frau eine schwarze Katze, die sich räkelt. Ich frage die beiden, ob die Tiere sich vielleicht treffen könnten. Die Tiere gehen aufeinander zu. Die Frau meint, die Katze hätte dem Bären Nüsse mitgebracht, die breite sie jetzt vor ihm aus. Der Bär ist verwundert, dass er etwas geschenkt bekommt, und überlegt, wie er sich revanchieren könnte. Er bietet an, der Katze Honig zu besorgen. Sie gehen zusammen in den Wald, der Bär steuert einen Bienenstock an, den er kennt. Die Katze entdeckt unterwegs eine Höhle, würde die gern untersuchen, aber der Bär will erst mal zum Honig, sie kommt mit. Er holt mit seiner Tatze den Honig aus dem Stock und bietet ihr seine Tatze zum Abschlecken an. Sie streift den Honig mit einem Blatt ab, er leckt dann den Rest von der Tatze. Sie sitzen nebeneinander im Gras. Nach einer Weile möchte sie wieder nach Hause. Er ist betroffen, denn er wollte eigentlich jetzt mit ihr zu der Höhle gehen, die sie entdeckt hatte, und ist ganz irritiert, dass sie da jetzt nicht mehr hin will. Er versucht fast, ihr die Höhle aufzudrängen, und sagt auf Nachfragen, weshalb ihm denn jetzt ihre Höhle so wichtig sei, er wisse jetzt nicht, ob er Schuldgefühle haben müsste, wenn sie jetzt gar nicht mehr in ihre Höhle käme. Ihr ist die Höhle im Moment aber nicht wichtig. Im Nachgespräch versuchen wir die typische Interaktionssequenz, die sich in dem Bild zeigte, besser zu verstehen. Auch im Alltag ist der Mann meist zielorientiert, will alles der Reihe nach erledigen, so wie er sich das vorgenom­men hat oder wie sie es miteinander vereinbart haben. Die Frau dagegen schätzt Spon­ taneität, sie lässt die Pläne von gestern gern zugunsten einer neuen Idee fallen. Er betrachtet Pläne als feste Absprachen, für sie sind es nur Augen­blicksideen. Dadurch ergeben sich oft Missstimmungen, wenn er sich für ihre alten Pläne einsetzt und sie nicht mehr mitmachen will. Sie nehmen sich vor, in Zukunft Imagination, Nr. 2 /2009 58 Leonore Kottje-Birnbacher nicht so selbstverständlich davon auszugehen, der andere empfände genauso wie man selbst, sondern konkreter nachzufragen. Auf andere Aspekte des KB gehe ich im Nachgespräch bewusst nicht ein: Die Tiere waren einander sehr zugewandt, der Mann war ganz gerührt über die Geschenke seiner Frau, ihre Freundlichkeit tat ihm offen­sichtlich gut, und er war sehr dankbar dafür, wodurch sie sich wiederum geschätzt fühlte. Im KB konnten sich diese freundlichen Gefühle füreinander szenisch zeigen, ohne dass man sich eindeutig zu ihnen bekennen musste, sie konnten sozusagen inoffiziell auftauchen und schauen, wie sie beantwortet wurden. In den folgenden Monaten ging es den beiden schon besser, und sie machten manches anders als in der Vergangenheit, fuhren z. B. erstmals getrennt in die Sommerferien und trugen damit der Unterschiedlichkeit ihrer Vorlieben Rech­nung, statt immer Kompromisse zu suchen, wodurch wichtige individuelle Wünsche auf der Strecke blieben. Aber dann gab es plötzlich eine heftige Krise, in der die Frau extrem wütend war, sich am liebsten trennen wollte, die ich überhaupt nicht verstand. Ich fühlte mich in einer Stunde völlig überrumpelt, ausgegrenzt und ohnmächtig, versuchte ohne jeden Erfolg zu klären, worum es eigentlich ging, und fürchtete, dass die Therapie dabei sei zu scheitern. Die Stunde danach musste ich wegen einer Grippe absagen, so dass wir uns erst nach acht Wochen wieder sahen. Ich rechnete mit einer Absage der Stunde, aber sie kamen und waren sehr vorsichtig miteinander. Ich hatte den Eindruck, dass auch sie einen Schrecken bekommen hatten, sowohl über die eigene Aggressivität als auch über meine Krankheit, und dass wir nun erst wieder miteinander in Kontakt kommen mussten. Da ich wenig Lust hatte, über die merkwürdige letzte Sitzung zu reden und mich dabei vielleicht wieder in Unverständlichkeiten zu verfangen, schlug ich ihnen vor, über ein KB wieder miteinander in Kontakt zu kommen, und zwar schlug ich ihnen vor, um das Unbewusste zu aktivieren, im Meer zu tauchen. Beide waren sofort im Bild und intensiv bei der Sache, der Vorschlag war offenbar auch für sie erleichternd: Die Frau sieht sich bei einem Korallenriff in der Südsee und ist ganz begeistert von den bunten Farben und exotischen Formen. Der Mann taucht ganz tief und kommt dann wieder hoch zu ihr. Beide tauchen zusammen ein Stück tiefer, bis sie auf Grund stoßen. Da unten ist Sand, und die Frau entdeckt ein Schiffswrack, daneben eine Marmor­ statue von einem schönen jungen Mann mit lockigen Haaren (ihr Mann hat lockige Haare). Sie setzt sich neben die Statue, fühlt sich traurig, aber fügt hinzu, das sei ein gutes Gefühl. Er taucht mal nach oben, dann wieder tief nach unten, genießt die Weite des Meeres, entdeckt Fische, kleine, große, schwimmt zur Sonne, kommt dann wieder hinunter zu ihr. Er ist ganz euphorisch in einem intensiven Freiheitsgefühl und würde seine Frau gern in den Arm nehmen. Ich frage die Frau, ob ihr das recht sei. Sie möchte nicht umarmt und damit festgehalten werden, er könne sich aber gern neben sie setzen oder Rücken an Rücken, Imagination, Nr. 2 /2009 Die Liebe in der Paartherapie mit KIP 59 dass sie die Köpfe aneinander lehnen könnten. Das mag er aber nicht. Er will ihre Haut spüren und mag keine Halbheiten. Schließ­lich einigen sie sich, dass er sich neben sie setzt und seine Hand auf ihren Schenkel legt und sie ihren Kopf an seinen lehnt. – In dem KB herrschte unvermittelt eine ganz intensive Stimmung, die auch im Nachgespräch anhält. Er war ganz glücklich, dass sie seinen Bewegungs­drang akzeptierte, denn er fürchtet immer, seine Extreme sollten »auf ein vernünftiges Maß« beschnitten werden. Sie mag aber Extreme auch, bloß nicht ausschließlich, sie vermisst bei ihm oft den Mittel­bereich, der für sie auch positiv besetzt ist, und betont den dann. Er wundert sich, wie ähnlich ihre Vorstellungen sind. Dadurch, dass jeder die Position betonte, die seiner Meinung nach vom andern nicht akzeptiert wurde, entstand bei jedem das Gefühl, der andere wolle grundsätzlich etwas anderes als man selbst. – Beim Abschied sage ich noch, das letzte Mal, als sie sich miteinander gut gefühlt hätten, hätten sie anschließend zu Hause heftig gestrit­ten. Ich sei neugierig, was diesmal passieren würde, ob sie Nähe nur durch Streit dosieren könnten oder noch andere Möglichkeiten fänden. Das nächste Mal (19. Sitzung) berichten sie schmunzelnd, sie hätten drei Tage nach der letzten Sitzung angefangen zu streiten, es dann aber wieder gelassen. Sie haben im Moment sehr viel Arbeit. So scheint es sinnvoll zu sein, diesmal die Arbeitssituation im KB einzustellen. Ich schlage ihnen als Motiv vor: Zwei Pferde gehen im Geschirr und ziehen einen Wagen. Der Mann sieht zwei sehr unterschiedliche Pferde, ein kräftiges dunkles Kaltblut und ein leichter gebautes schönes braunes Pferd. Sie zögen zusammen einen sehr soliden, aber sehr schweren Wagen. Unterstützt durch Nachfragen schildert er weiter seine Vorstellungen: Es geht bergauf und bergab. Zu fressen gibt es zwischendurch am Wegesrand. Die beiden Pferde sind gut gehalten, sie haben auch einen Tag pro Woche frei und dürfen dann auf die Weide. Der Wagen hat keinen Kutscher, die Pferde können das allein. – Die Frau dagegen sieht zwei braune Pferde, die einen leichten offenen Wagen ziehen. Auf dem Wagen steht eine tibetische Hochzeitstruhe. Ein erfahrener Kutscher lenkt den Wagen, es geht durch den Wald, an einer Quelle wird Rast gemacht. Die Pferde haben einen Tag pro Woche frei und dürfen vier Wochen im Sommer in den Bergen herumstreunen. Die Pferde sind ganz zufrieden, sie sind stolz auf ihre Aufgabe, ohne Arbeit wäre es ihnen langweilig. Es beun­ruhigt sie nur, dass der Wagen so offen und schutzlos ist: Wenn die Truhe geraubt würde, wäre das ganz schlimm. Beide haben schon während des KB geschmunzelt, weil die Parallelität zu ihrem Alltag so augenfällig war. Im Nachgespräch geht es hauptsäch­lich um die unterschiedlichen Wagen: Ihrer ist extrem leicht gebaut, wodurch die kostbare Ladung völlig ungeschützt ist, er hält seinen für eine Fehlkonstruktion, denn er ist so schwer, dass die Pferde ihn gerade so ziehen können, jede zusätzliche Ladung wäre zu schwer. Insgesamt fänden beide ein Mittelding am besten – sie ist durch Imagination, Nr. 2 /2009 60 Leonore Kottje-Birnbacher ihre Offenheit und Durchlässigkeit sehr angreifbar, er durch seine Abschottung und Kompliziertheit äußerst schwergängig im Alltag. Endphase: Verselbständigung, Selbstberuhigung und Intimität Sie gehen inzwischen durchgängig freundlich und wertschätzend miteinander um. Er meint, sie hätten schon lange keine heftige schlechte Phase mehr gehabt, sie könnten Eskalationen inzwischen besser abbremsen. Sie meint, sie würde immer noch manches herunterschlucken, aber die Spannungen würden inzwischen zwei Stunden dauern und nicht mehr Tage. Beide sind inzwischen in den Gesprächen bei mir konstant ansprechbar, auch wenn sie in Ärger geraten, das ist anders als früher. Offenbar haben sie eine stabile Erwartung ausgebildet, dass sich die Dinge im Gespräch miteinander klären lassen. Wir überlegen, wie lange die Gespräche noch weitergehen sollen. Sie möchten ihre Angelegenheiten allein regeln lernen und denken darüber nach, wie die Gespräche auch zu zweit konstruktiv verlaufen können (mit vorheriger Ankündigung, gutem Rahmen mit genügend Zeit und etwas Verwöhnung, gegenseitigem Zuhören, Aufschub von Stellungnahmen, Antworten und Entscheidungen lieber erst beim nächsten Treffen, Stoppsignale, wenn die Belastungsgrenze erreicht ist, etc.). In den nächsten Sitzungen (22 – 23) besprechen wir wieder prototypische Streitszenen aus der Zwischenzeit und arbeiten ihre Struktur heraus. Es geht eigentlich immer darum, dass sie sich in ihren Wünschen unterscheiden und jeder annimmt, der andere müsse doch einsehen, dass die eigene Position die richtigere sei. Beispielsweise genießt die Frau es am Wochenende, weniger diszipliniert zu sein als wäh­rend der Woche und trödelt gern herum, während er findet, dass Verlässlichkeit generell wünschenswert ist, weil dadurch Reibungen verhindert werden, er ärgert sich, wenn er auf sie warten muss. Beide Positionen sind gut nachvollziehbar, man kann nicht sagen, die eine ist richtiger als die andere, es ist nur die Frage, wie sie sich von Fall zu Fall einigen könnten – Ich habe den Eindruck, dass sie die Auseinandersetzung um solche Alltagsthemen immer wieder zur Abgrenzung benötigen und frage sie, was wohl passieren würde, wenn sie eine ganze Serie guter Tage hätten, ohne Krach. Sie vermuten beide, dass dann die Wünsche nach Intimität steigen würden. Durch Ärger hält sich jeder ein Rückzugs­türchen offen. Beide haben das Gefühl, dass Streit bei ihnen manchmal einfach so ausbricht, ohne großen Anlass, ohne Vorboten. Ich schlage ihnen vor, sie sollten in den nächsten Wochen versuchen, immer morgens beim Zähneputzen eine stille Voraussage darüber zu treffen, ob es heute Streit geben werde oder nicht. Der Mann vermutet daraufhin, es könnte zu Streit kommen, wenn sie lange nicht miteinander geschlafen hätten (d. h. seine Frau suche auf diese Weise Kontakt zu erzwingen), die Frau meint dagegen, Streit entwickle sich besonders dann, wenn Imagination, Nr. 2 /2009 Die Liebe in der Paartherapie mit KIP 61 sie gerade miteinan­der geschlafen hätten (d. h. ihr Mann grenze sich dadurch ab). – Die Hausaufgabe haben sie nicht gemacht, aber ich nehme an, dass sie trotzdem wirksam war, indem sie die Aufmerksamkeit auf das Thema Intimität lenkte, das sie bis dahin eher umgangen hatten. Es wurde klar, dass jeder den andern für den Streit verantwortlich machte und dass beide den Streit als Hilfsmittel zur Regulation von Intimität ansahen. Von da aus kann man sich dann fragen, ob man Intimität vielleicht auch anders regulieren könnte. Wir machen noch ein KB, und zwar bitte ich jeden, sich ein Tor vorzustellen (also eine Öffnung innerhalb einer Grenze). Die Frau sieht eine bemooste, alte Mauer zwischen zwei Feldern, in die ein von Rosen umrankter Torbogen eingelassen ist, so dass man sich gegenseitig besuchen kann. Der Mann sieht ein großes Eingangstor, in das noch eine kleinere Tür für den täglichen Gebrauch eingelassen ist. Es ist der Eingang zu einem gepflegten alten Bauernhof. Er geht durch die Tür in einen schönen viereckigen Innenhof, der von Ställen, Scheune und Wohnhaus begrenzt ist. In der Mitte des Hofs ist ein Brunnen. Er ist ganz stolz auf diesen schönen wohnlichen Hof, der sich ja wirklich von seinem Haus im Anfang sehr unterscheidet. – Ich denke, in dieser Imagination wird unmittelbar spürbar, dass die beiden inzwischen ihre Liebe wiedergefunden haben, beide Bilder enthalten eine emotional intensive stimmungsvolle Beziehungsvision, die Frau fokussiert auf die Begegnung miteinander unter Rosen bei Respektierung des jeweils eigenen Raums, der Mann gestaltet einen wohlgeordneten gemeinsamen Raum und setzt seine Frau symbolisch als Brunnen in seine Mitte. Zusammenfassende Diskussion Das Paar kam in einer akuten Krise, in der beide hochgradig erregt waren und eine Trennung genauso wahrscheinlich zu sein schien, wie zusammen zu bleiben. Daher galt es zuerst, die beide zu stabilisieren und eine Problemdefinition zu erarbeiten, die Veränderungsoptionen enthielt (Regulierung von Nähe und Distanz). Das KB war in der Anfangsphase wichtig, um die inneren Bilder vom eigenen Selbst und vom Partner zu korrigieren, insofern es eine ressourcenorientierte Selbstdarstellung ermöglichte (Motive »Baum« und »Haus«). Nachdem eine gewisse Beruhigung gelungen war, konnte inhaltlich an der Klärung der unterschiedlichen Bedürfnisse und an möglichen Einigungen gearbeitet werden. Aufgabe der Therapeutin war dabei, in der Position eines engagierten, aber neutralen Vermittlers zu bleiben und für eine wertschätzende Atmosphäre zu sorgen. Im KB erprobten sie in dieser Zeit ein erstes Miteinander (z. B. Tiere, es gab dazu noch mehr KBs), wobei sich typische Beziehungsschwierigkeiten plastisch darstellten und bearbeitet werden konnten. Dann folgte die heftige, von mir völlig unverstandene Krise, die an die plötzlichen Auseinandersetzungen zu Hause erinnerte, als ob sie diese Art Szene in der Therapie inszeniert hätten, um sie mich spüren zu lassen. Sie wurde ertragen Imagination, Nr. 2 /2009 62 Leonore Kottje-Birnbacher und überlebt. Danach ließen sich beide mit viel größerer Innigkeit aufeinander ein als vorher (KB Tauchen im Meer), sie schienen sich entschieden zu haben, doch zusammen bleiben zu wollen. Sie begannen, selbst die Verantwortung für ihre Beziehung übernehmen und freundlicher mit ihrer Unterschiedlichkeit umzugehen. In den Gesprächen als auch im KB ging es danach um ihre konkrete Alltagsbewältigung und um ihre Dosierung von Intimität. Bei der therapeutischen Haltung waren Neutralität und Respekt entscheidend wichtig. Ich beschränkte mich auf Beobachtungen, Klarifikationen und positivie­ rende Akzentuierungen, vermied alle Deutungen. Das KB ermöglichte immer wieder einen Blick nach innen, schaffte Distanz zu den Standardklagen und Routineproblemen und führte in eine existentiellere Dimension, wobei das intensive Spüren der Situation mit innerem Begreifen der Symbolik zu spontanen Veränderungen im Umgang miteinander führte. Literatur Clement, U. (2004): Systemische Sexualtherapie. Stuttgart: Klett-Cotta Clement, U. (2005): Erotische Entwicklung in langjährigen Partnerschaften. In: Willi, J., Lim­acher, B. (Hrsg.): Wenn die Liebe schwindet. Möglichkeiten und Grenzen der Paar­ therapie. Stuttgart: Klett-Cotta. S. 170 – 183 Gottman, J. M. (1994): What predicts divorce? Hillsdale, NJ: Erlbaum Retzer, A. (2004): Systemische Paartherapie. Stuttgart: Klett-Cotta Riehl-Emde A (2003) Liebe im Fokus der Paartherapie. Stuttgart: Klett-Cotta Schmidt, G. (2004): Das neue Der Die Das. Über die Modernisierung des Sexuellen. Gießen: Psychosozial-Verlag Schmidt, G., von Stritzky, J. (2004): Beziehungsbiographien im sozialen Wandel. Ein Vergleich dreier Generationen. Familiendynamik 29: S. 78 – 100 Sternberg, R. J. (1986): Triangular theory of love. Psychological Review, 93. S. 119 – 135 Schnarch, D. (2006): Die Psychologie sexueller Leidenschaft. Stuttgart: Klett-Cotta. Engl. 1997 Watzlawick, P., Weakland, J. H., Fisch, R. (1974): Lösungen. Zur Theorie und Praxis menschlichen Wandels. Bern: Huber Willi, J. (1985) Koevolution. Die Kunst gemeinsamen Wachsens. Reinbek: Rowohlt Willi, J., Limacher, B. (2005): Wenn die Liebe schwindet. Möglichkeiten und Grenzen der Paar­therapie. Stuttgart: Klett-Cotta Zusammenfassung: In dem Artikel werden zunächst einige empirische Ergebnisse und theoretische Weiterentwicklungen referiert, die für die Paartherapie in den letzten Jahren Imagination, Nr. 2 /2009 Die Liebe in der Paartherapie mit KIP 63 wesentlich waren. Dann wird der therapeutische Ansatz der Paartherapie mit KIP in seinen Grundzügen dargestellt und anhand eines Fallbeispiels veranschaulicht. Keywords: Paartherapie – Liebe – Beziehungsentwicklung – Beziehungsdynamik Autorin: Dr. Leonore Kottje-Birnbacher Düsseldorfer Str. 55 D – 40545 Düsseldorf Imagination, Nr. 2 /2009 64 Barbara Hauler Geschlechtsunterschiede im therapeutischen Prozess Barbara Hauler Die Geschlechtlichkeit gehört wesenhaft zum Menschsein, wird aber aus meiner Sicht in ihrer Bedeutung für den therapeutischen Prozess zu wenig berücksichtigt. In meinem Beitrag geht es mir um die Frage, ob wir uns als Psychotherapeutinnen und -therapeuten »geschlechtsneutral« verhalten können oder ob nicht vielmehr bzw. wie sich unsere Geschlechtsidentität auf das Geschehen in der Therapie, auf unsere therapeutische Haltung und das Übertragungs-GegenübertragungsGeschehen auswirkt. Während es in den Gesellschaftswissenschaften eine intensive Diskussion über Geschlechtsrollen und »Gender-Mainstreaming« gibt, scheinen im Diskurs der verschiedenen Psychotherapieformen »Sex und Gender« kein Thema zu sein. Fragen der Geschlechtsidentität des Therapeuten bzw. der Therapeutin werden eher selten thematisiert. Sollte sich in dieser Gleichgültigkeit, in diesem fehlenden Interesse ein unbewusstes Festhalten an den von Freud entworfenen Theorien zur Weiblichkeit bzw. zur weiblichen Sexualität manifestieren, obwohl das psychoanalytische Verständnis der psychosexuellen Entwicklung und der Ausbildung der Geschlechtsidentität inzwischen gründlich revidiert wurde? Oder wird das Geschlecht des Patienten, der Patientin bzw. des Therapeuten und der Therapeutin als »naturgegeben« hingenommen, so dass darüber nicht mehr nachgedacht werden muss? Das diagnostische Instrument der Operationalisierten Psychodynamischen Diagnostik (OPD) gilt weithin als »Goldstandard« einer objektiven und damit auch geschlechtsneutralen Diagnostik. Stefani Schmitz-Moormann untersuchte 2005 in ihrer Dissertation zum Thema »Mann und Frau in der OPD – der ›kleine Unterschied‹« den Einfluss des Geschlechts von Patienten/Patientinnen und Diagnostikern/Diagnostikerinnen. Sie fand heraus, dass männliche und weibliche Diagnostiker zwar in vielen Bereichen übereinstimmen, sich jedoch in der Beurteilung von »Typisch Männlichem« und »Typisch Weiblichem« im Imagination, Nr. 2 /2009 Geschlechtsunterschiede im therapeutischen Prozess 65 Beziehungsverhalten signifikant unterscheiden. Die Beurteilung des Beziehungsverhaltens scheint eigenen geschlechtsspezifischen Wahrnehmungen, Rollenerwartungen und geschlechtsstereotypen Annahmen der DiagnostikerInnen zu unterliegen. Verhaltensmuster, die den geschlechtstypischen Rollenerwartungen entsprechen, werden von männlichen bzw. weiblichen Diagnostikern in Hinsicht auf ihre Angemessenheit bzw. Dysfunktionalität unterschiedlich beurteilt. Bereits 1958 äußerten Chodoff und Lyons die Vermutung, dass »männliche Kliniker ein Konzept von hysterischer Psychopathologie entwickelt haben, das hauptsächlich jene Charakterzüge von Frauen hervorhebt, die Männer bei ihnen nicht schätzen«. (Zitiert nach Klöß-Rotmann 1992, S. 117) Auch auf der Konfliktachse gibt es geschlechtsspezifische Unterschiede. So überwiegen bei Frauen Konflikte um Versorgung und Autarkie sowie um Autonomie und Abhängigkeit. Bei Männern hingegen werden häufiger Selbstwert­konflikte und Konflikte um Unterwerfung und Kontrolle diagnostiziert. Es handelt sich also um Konflikte, die mit jeweils geschlechtsstereotypen Annahmen über Männer und Frauen übereinstimmen: dass nämlich Macht- und Dominanzstreben, Abgrenzung und Unabhängigkeit für Männer typisch sei, für Frauen hingegen die Beziehungsorientierung. Insgesamt scheint die OPD eine sog. Gender-Bias aufzuweisen, d. h. »Fehlbeurteilungen und Urteilsverzerrungen, die in der klinischen Beurteilung von Männern und Frauen in Abhängigkeit von ihrem Geschlecht auftreten« (SchmitzMoormann 2005, S. 27). Diese könnten darauf zurückzuführen sein, dass die OPD überwiegend von männlichen Diagnostikern (mit einem Verhältnis von zwanzig Männern zu fünf Frauen) erarbeitet wurde. Zu ähnlichen Ergebnissen kommt auch eine Studie von Lang, Pokorny und Kächele (2009), die sich mit dem Zusammenhang von Geschlechterkonstellation zwischen Therapeut/in und Patient/in und gestellten Diagnosen beschäftigt. Dabei wurden die Abschlussarbeiten von DPV-AusbildungskandidatInnen im Zeitraum von 1969 bis 2006 ausgewertet. Auch hier stellte sich heraus, dass die Diagnose »Hysterie« statistisch signifikant häufiger an Frauen als an Männer vergeben wurde, und zwar insbesondere von männlichen Therapeuten, was auf »androzentrische Klischeebestandteile« des Konzepts der Hysterie (Schmerl 2002) hinweisen könnte. »Das Gegenstück zur Hysterie, nämlich die Narzisstische Störung« (Lang, Pokorny, Kächele 2009, S. 395) wurde »interessanterweise überwiegend bei männlichen Patienten diagnostiziert« – allerdings am häufigsten von Frauen bei Männern, so dass auch hier die Vermutung erlaubt sei, dass es sich bei dieser Diagnose um ein geschlechtsspezifisches Klischee handeln könnte in dem Sinn, dass »mit der narzisstischen Persönlichkeitsstörung … allgemein eine selbstherrliche Inszenierung eigener Fähigkeiten und Talente, die rastlose Suche nach Erfolg und Bewunderung sowie Egozentrismus assoziiert« werden (Herpertz, Habermeyer und Habermeyer 2007, S. 219). Imagination, Nr. 2 /2009 66 Barbara Hauler Geschlechtsstereotypien sind natürlich weit verbreitet und trotz aller Umbrüche und Veränderungen der gelebten Geschlechtsrollen weitgehend unverändert wirksam. So konnte die Wochenzeitschrift »Die Zeit« im Mai 2007 mit einem ­vielerorts verbreiteten Plakat für ihr neues Magazin »Leben« werben, auf dem auf der linken Seite der ehemalige deutsche Bundeskanzler Helmut Schmidt, abgeklärt-staatsmännisch an einer Zigarette ziehend, die Bildunterschrift »Denken« illustriert, während auf der rechten Seite eine erotische Blicke geradezu anziehende weibliche Schönheit den Begriff »Fühlen« verkörpert. »Denken« wird hier mit dem männlichen Geschlecht in Verbindung gebracht, mit Dominanz, Macht und einsamer Stärke, die an den in der Zigarettenwerbung gerne eingesetzten »lonesome cowboy« erinnern, »Fühlen« hingegen durch eine weibliche, in rote Seide gewandete Gestalt repräsentiert, die weitaus weniger als Helmut Schmidt in ihrer Individualität sichtbar wird, sondern eher durch ihre Brüste als wichtigstem weiblichem Geschlechtsattribut, durch Hingabebereitschaft und Schwärmerei zu charakterisieren ist. Stellen diese beiden Aufnahmen nicht die typischen Rollenklischees von der »emotionalen Frau« und dem »rationalen Mann« dar? Von derartigen Rollenklischees sind auch wir Psychotherapeuten und Psychotherapeutinnen nicht unbedingt frei. Doch auch die verinnerlichten, mehr oder weniger schulspezifischen Theorien beeinflussen den Erkenntnisprozess und bestimmen das Erleben gegenüber dem Patienten. Damit meine ich in diesem Kontext ganz besonders die Theorien über die Entwicklung weiblicher und männlicher Geschlechtsidentität. Die Festschreibung einer »typisch weiblichen Identität« entsprechend den von Freud entworfenen Theorien ist heute nicht mehr haltbar. Sie waren schon immer von gewissen Widersprüchlichkeiten geprägt, die Freud nicht auflösen konnte. So spricht Freud 1905 zwar von der grundsätzlichen Bisexualität des Menschen und der Existenz von männlichen und weiblichen Anteilen der Persönlichkeit, orientiert sich dann aber in seiner Theorie der Weiblichkeit (1925, 1931, 1933) an einem männlichen Modell der Entwicklung. Für die Freud’sche Psychoanalyse ist nach Rohde-Dachser (2003, S. 52) ein »doppelter Weiblichkeitsentwurf« charakteristisch, in dem die Frau zum einen als Mängelwesen, als »kastrierte Frau«, und zum anderen als »furchtbare Frau«, als das Unheimliche, das abgespaltene bzw. verleugnete Dunkle auftritt. In beiden Bildern taucht die Frau nicht als Subjekt auf, als die Andere, die Autonome. Denn auch der idealtypische Verlauf der Individuation orientiert sich bei Freud an einem männlich gedachten Modell, das insbesondere in der »forcierten Loslösung von der Mutter, mit einer begleitenden Entwertung des Weiblichen und umgekehrter Hochschätzung von Männlichkeit« (Rohde-Dachser 1991, S. 51), besteht. Weibliche Entwicklung ist in diesem Sinn nach Rohde-Dachser (ebd.) eine »Theorie der Nicht-Individuation, die – wenn auch indirekt und sicherlich unbeabsichtigt – der Anpassung der Frau an die ihr zu jener Zeit angesonnene Geschlechtsrolle dient«. Imagination, Nr. 2 /2009 Geschlechtsunterschiede im therapeutischen Prozess 67 Folge der sexuellen Revolution und des Feminismus war auch eine Revision der Psychologie der Frau. Im Zentrum der Theorierevision stehen das Konzept der primären Feminität, ein verändertes Verständnis der Bisexualität und die Eigenständigkeit der weiblichen Entwicklung, die nicht mehr als defizitär betrachtet wird. Entsteht bei Freud Weiblichkeit in Auseinandersetzung mit der Wahrnehmung des Geschlechtsunterschiedes und dem Penisneid und müssen Frauen nach Freud gleichsam »von der Männlichkeit zur Weiblichkeit fortschreiten« (Zimmermann 2007, S. 259), so wird heute davon ausgegangen, dass die weibliche Identitätsbildung von Geburt an stattfindet. Auch Jungen identifizieren sich zunächst mit der Mutter. Man spricht daher von »primärer Feminität« (Horney 1933, Stoller 1976). Bei Mädchen äußert sich eine gelingende primäre Weiblichkeit in der Zufriedenheit am Besitz eines weiblichen Körpers. Sie wird zur Quelle von Selbstvertrauen, da die Ähnlichkeit mit dem Körperbild der Mutter und die intensive, von wechselseitiger Einfühlung geprägte Beziehung Sicherheit vermitteln. Gleichzeitig erschwert dies dem Mädchen jedoch die Ablösung von der Mutter und die Autonomieentwicklung. Auch Jungen entwickeln aus der erfahrenen mütterlichen Fürsorge »primäre Feminität«, auch sie identifizieren sich in den »klassischen« Familienkonstellationen zunächst mit der Mutter. Daraus erwächst ihnen aber die Notwendigkeit, sich von der Mutter zu unterscheiden, um ihre männliche Geschlechtsidentität zu festigen. Dies macht den oft lebenslangen Kampf mancher Männer gegen die eigene Weiblichkeit verständlich. Theorien zur Geschlechterdifferenz haben die Tendenz, entweder auf die Bedeutung der Mutter oder des Vaters zu fokussieren und die Bedeutung des jeweils Anderen zu relativieren. Wir können patrizentrische (oder phallozentrische) Theorien zur Entwicklung der Geschlechtsidentität – prototypisch bei Freud und bei Lacan, der sagen konnte: »La femme n’existe pas« – von matrizentrischen Theorien unterscheiden. Letztere wurden bereits von Freud-Schülern und -Schülerinnen formuliert – ich möchte nur an Karen Horney, Joan Rivière, Otto Rank, Sándor Ferenczi und Melanie Klein erinnern. Mir erscheint es sinnvoll, diese unterschiedlichen Theorien als Facetten einer komplexen Dynamik anzusehen, die keinen Ausschließlichkeitsanspruch erheben dürfen. Irene Fast beschreibt mit ihrer »Theorie der Geschlechterdifferenzierung« (1984) einen dreiphasigen Prozess der psychosexuellen Entwicklung, der diesem Gedanken am nächsten kommt. Danach glauben Kinder bis zur Entdeckung des Geschlechtsunterschieds, dass sie alles haben und alles sein können und identifizieren sich mit beiden Eltern. Zwischen dem 18. und 24. Lebensmonat wird dann die naturgegebene Notwendigkeit der Differenz der Geschlechter und ihrer Beschränkung durch bisexuelle Phantasiespiele ausgelotet. Jungen müssen realisieren, dass sie nicht dazu in der Lage sind, Kinder zu gebären, während Mädchen Imagination, Nr. 2 /2009 68 Barbara Hauler anerkennen müssen, dass sie keinen Penis besitzen. Das Erkennen der Zugehörigkeit zu einem Geschlecht löst eine narzisstische Krise aus, in der unter Protest und Trauer die Begrenzung der realen Möglichkeiten verarbeitet werden muss. Geschlechtsgrenzen überschreitende Identifizierungen – des Mädchens mit dem Vater, des Jungen mit der Mutter – eröffnen beiden Geschlechtern »symbolische Freiräume« (Rohde-Dachser 2006, S. 959) bei der Ausgestaltung ihrer Geschlechtsidentität. Diese geschlechtsübergreifenden Identifizierungen und Symbolbildungen sind mit der ödipalen Phase nicht abgeschlossen, sie finden einen weiteren Höhepunkt in der Adoleszenz und setzen sich bis ins Erwachsenenalter hinein fort. Dies möchte ich anhand einer kurzen Fallvignette verdeutlichen. Es handelt sich um eine Patientin, die 41-jährig psychotherapeutische Hilfe suchte, da sie wiederkehrend an schweren depressiven Verstimmungen litt. Frau H. konnte sich nur schlecht abgrenzen und wurde rasch von Stress und Versagensängsten überwältigt. Die Mutter der Patientin hatte ihrer Tochter keinen Raum für eine eigenständige Entwicklung gelassen und die Ablösung der Tochter weitgehend sabotiert. Der Vater war wenig präsent und wurde von Frau H. wegen Bild 1 seiner Unberechenbarkeit und fehlenden Empathie eher gefürchtet. Frau H. entwickelte ein überaus strenges, rigides Über-Ich, dessen Forderungen sie nicht gerecht werden konnte. In einer fortgeschrittenen Phase der Therapie schlug ich ihr das Motiv »Muschel« vor. Frau H. sah eine zunächst geschlossene schöne Muschel (Bild 1), in die sie, so klein wie ein Däumling, hineinklettern konnte. Ich ermutigte sie, sich dort so einzurichten, dass sie sich sicher und geborgen fühlen konnte. Dies führte zu der Einsicht, dass sie für ihr Wohlbefinden noch einen Stock benötigte. Dieser sollte die Muschel offen halten, damit sie sich darin nicht eingeBild 2 sperrt fühlte (Bild 2). Nachdem Imagination, Nr. 2 /2009 Geschlechtsunterschiede im therapeutischen Prozess 69 der Stock eingesetzt war, empfand sie große Befriedigung, »die »Muschel gebändigt« zu haben. Weiblichkeit hat für Frau H. einerseits positive Seiten wie Emotio­nalität und Geborgenheit vermittelnde Mütterlichkeit, andererseits auch bedrohliche verschlingende Züge. Um sich davor zu schützen, benötigt sie ein phallisches Symbol, das für die Fähigkeit, sich abzugrenzen und eigene Bedürfnisse wahrzunehmen und zu verfolgen, stehen könnte, d. h. also für instrumentelle, traditionell eher männliche Fähigkeiten. In dieser Imagination könnten wir eine individuelle Lösung für die Ausbalancierung weiblicher und männlicher Aspekte sehen, zu der die Patientin im Verlauf der intensiven Therapie gefunden hatte. In der therapeutischen Beziehung zwischen Frau H. und mir hatte sich zunächst eine enge mütterliche Übertragung mit überwiegend idealisierender Tönung entwickelt. In dieser Phase wurden inhaltlich insbesondere die heftigen Ablösungskonflikte mit der Mutter und die Konflikte um Autonomie und Abhängigkeit bearbeitet. Die Patientin zeigte in ihren Imaginationen über weite Strecken die Tendenz, sich in schwierigen Situationen, etwa der Bergbesteigung, männlichen Führern anzuvertrauen. In meiner Gegenübertragung wurden dabei durchaus ambivalente Gefühle spürbar: Frau H. schien dem männlichen Geschlecht mehr Kompetenz zuzutrauen! Die intensive Auseinandersetzung mit ihrem eher angepassten inneren Bild weiblicher Identität ermöglichte Frau H. mit der Zeit die Integration eigener männlicher Anteile. Diese Entwicklung war die Voraussetzung dafür, dass sie die bislang ausgesparten negativen Gefühle in der Übertragung allmählich wahrnehmen und damit dann auch die frühen Konflikte mit ihrer Mutter bearbeiten konnte. Dieser kurze Einblick in den Prozess einer Patientin zeigt auf, wie eine individuelle Lösung für die Ausbalancierung männlicher und weiblicher Anteile bei einer Frau aussehen kann. Was meint nun aber eigentlich der Begriff »Bisexualität« jenseits biologischer Konnotationen? Psychische Bisexualität äußert sich zunächst in einer Offenheit der Phantasie und der Kreativität im kindlichen Spiel. Dabei richten sich bisexuelle Phantasien auf die geschlechtliche Differenz und beinhalten die Vorstellung bzw. den Wunsch, so sein zu können wie das andere Geschlecht. Die Lust an der eigenen Weiblichkeit schließt den Wunsch, ein Junge zu sein, (und umgekehrt) nicht aus. Bisexuell zu sein bedeutet »in Möglichkeitsformen zu existieren« (Sellschopp 1999, S. 1045). »Durch die Schaffung bzw. Nutzung von Symbolen diesseits und jenseits der eigenen Geschlechtsidentität« kann nach Bassin (1996, S. 180) »›ein innerer Freiraum‹ für unbewusste und bewusste Phantasieszenarien entstehen«, die »in den Einfühlungsprozessen zu einem tieferen Verständnis des anderen beitragen« (Sellschopp 1999, S. 1045). Welche Faktoren haben nun einen Einfluss auf die Entwicklung der Bi­sexua­lität und die Vielfalt der in einem Individuum vereinten Aspekte von ­Männlichkeit Imagination, Nr. 2 /2009 70 Barbara Hauler und Weiblichkeit? Wenn wir davon ausgehen, dass im allgemeinen die Mutter das primäre Objekt ist, ist für beide Geschlechter die Anwesenheit des Vaters – und damit die Möglichkeit zur Identifizierung mit seinen »phallischen« Aspekten – von Geburt an von enormer Bedeutung. Mädchen können zunächst das ungestörte Zusammensein mit der Mutter noch sehr viel länger genießen als Jungen und ihre Beschäftigungen imitieren (beispielsweise im Puppenspiel). Bei ungestört verlaufender Entwicklung müssen die frühen Erfahrungen mit der Mutter vom Mädchen weniger intensiv verdrängt werden als von Jungen. Die Verbundenheit mit der Mutter gefährdet die gerade erworbene Geschlechtsidentität nicht und ist gut vereinbar mit der gesellschaftlich etablierten Geschlechtsrolle. Die Sprache des Mädchens (und der Frau) ist daher im Allgemeinen auch gefühlsnäher, weniger entfremdet und eher in der Lage, die Beziehungserfahrungen symbolisch zu kodieren. Jungen müssen sich hingegen viel früher innerlich von der Mutter lösen, um eine sichere Geschlechtsidentität aufzubauen. Da diese erste geschlechtliche Differenzierung so konflikthaft ist, wird das in diesem Zusammenhang entwickelte Mutterbild im typischen Fall stärker aggressiv aufgeladen und reaktiv auch stärker entwertet und/oder idealisiert. Gleichzeitig sind die Beziehungserfahrungen des Jungen mit der Mutter aus der vorsprachlichen Zeit wegen der damit verbundenen Erinnerung an die körperliche Nähe zur Mutter vermutlich eher tabuisiert als bei Mädchen. Sie werden daher möglicherweise auch in geringerem Umfang symbolisiert bzw. sprachlich zum Ausdruck gebracht. Aber hat all dies wirklich eine Bedeutung für den therapeutischen Prozess? Dass die Gegenübertragung stark von unserer persönlichen Gleichung, von den persönlichen Lebenserfahrungen, den Lernprozessen in Kindheit, Jugend und Erwachsenenleben, vom Schicksal unserer inneren Konflikte und von den Grenzen unserer eigenen Persönlichkeitsentwicklung mitbedingt ist, ist wohl unstrittig. Doch sind hier nicht auch unsere geschlechtgebundenen Erfahrungen von Bedeutung? Darauf gibt es nach Klöß-Rotmann (1992, S. 116 f.) in der Psychotherapieforschung zwei Antworten. Der idealtypisch-normative Ansatz geht von der bisexuellen Natur des Menschen aus und bejaht diese Frage unter der Voraussetzung einer hinreichend guten Lehranalyse. Der klinisch-empirische Ansatz verweist auf geschlechtstypische Phänomene in Behandlungen, die in der Beschreibung von Behandlungsbeziehungen deutlich werden, und weist nach, dass der Spielraum unserer Phantasie nicht unbegrenzt ist und dass es Hinweise für eine geschlechtstypische Begrenzung der Einfühlung und des Verständnisses gibt. So empfand auch Freud Schwierigkeiten, sich als Objekt einer mütterlichen Übertragung zu empfinden, und Melanie Klein zentrierte die Analyse völlig auf die Mutter – Hinweise dafür, wie schwierig und wie kränkend es sein mag, in der Übertragung mit dem Gegengeschlecht identifiziert zu werden! Imagination, Nr. 2 /2009 Geschlechtsunterschiede im therapeutischen Prozess 71 Nachfolgend möchte ich von einigen Untersuchungen berichten, die diese zweite These belegen, dass Therapeuten und Therapeutinnen sich nicht auf eine geschlechtsneutrale Position zurückziehen können. Lisbeth Klöß-Rotmann beschäftigte sich 1988 in einer empirischen Untersuchung mit geschlechtstypischen Sprachmerkmalen von Psychoanalytikern. Ihre Forschungsergebnisse seien im Folgenden kurz zusammengefasst. Klöß-Rotmann unterschied dabei drei Ebenen, auf denen sich die Geschlechtszugehörigkeit auswirkte, und fand 1. auf der Ebene der Gegenübertragungsphantasien »Hinweise dafür, dass der Gegenübertragungsspielraum des Therapeuten oder der Therapeutin nicht potentiell unbegrenzt, sondern begrenzt ist« (ebd. S. 120). Sie beobachtete, dass die Einfühlung dann besonders gut gelingt, wenn das Geschlecht von Therapeut/in und Patient/in übereinstimmt. Nach Wisdom (1983) können sich Frauen leichter in Männer einfühlen als Männer in Frauen, da bei Männern Kastrationsängste geweckt würden, wenn sie sich in Frauen einfühlten, während Frauen ohne Angst, ihre Weiblichkeit zu verlieren, sich in Männer einfühlen oder männliche Aktivitäten verfolgen könnten. Auch in Gegenübertragungsträumen finden sich nach Klöß-Rotmann geschlechts­typische Unterschiede. So beinhalten die Träume männlicher Therapeuten häufiger erotisch-sexuelle Themen, während Therapeutinnen eher davon träumen, dass Patienten in ihre privaten Bereiche eindringen. Eine weitere wichtige Ebene ist 2. die der Arbeitsbeziehung. Männliche The­ ra­peuten bevorzugen einen konfrontierend-deutenden Arbeitsstil und aktive Behandlungstechniken, auf die der Patient reagiert, strukturieren die Sitzungen und setzen auf Kompetenz und Autorität. Therapeutinnen sind in ihrem Arbeitsstil eher abwartend, gehen mit und bevorzugen behutsame Behandlungstechniken, um den Patienten, die Patientin zu aktivieren. Hier werden Aspekte des sog. »Doing Gender« erkennbar. Um das Gefühl von Geschlechtsidentität zu erlangen, müssen wir die eigene Geschlechtlichkeit immer wieder in Szene setzen. Das Geschlecht ist in dieser Sicht nicht etwas, das wir haben oder sind, sondern etwas, das wir tun – in prägnantem Englisch: »Doing Gender«. Dabei ist das männliche Rollenstereotyp durch Aktivität, Kompetenz, Leistungsstreben und Durchsetzungsfähigkeit gekennzeichnet, während das weibliche Stereotyp Eigenschaften wie Emotionalität, Einfühlsamkeit, Hilfsbereitschaft, Passivität und praktische Intelligenz enthält. Das heißt in diesem Kontext: Männliche Therapeuten werden durch ihre Sozialisation darauf vorbereitet, Kompetenz und Autorität auszustrahlen, bespielsweise indem sie das Setting festlegen und entscheiden, was sie wann inhaltlich deutend aufgreifen. In der Gesprächsführung sind sie nach Klöß-Rotmann eher kritisch sachorientiert und fokussieren gerne auf die konflikthaften Seiten des Lebens und auf Gefühle, die vom Objekt trennen. Bei Frauen wird hingegen in der Imagination, Nr. 2 /2009 72 Barbara Hauler ­Sozialisation die Fähigkeit zur Empathie und zu mütterlicher Fürsorge gefördert. Therapeutinnen bevorzugen Begriffe mit starken Gefühlsqualitäten, betonen häufiger harmonische Zustände und objektverbindende Gefühle und konzentrieren sich eher auf die Beziehungen in der Kernfamilie, insbesondere auf die Mutter-Kind-Beziehung. Man könnte nach Cremerius (1979) daher idealtypisch auch zwischen einer »paternistischen Einsichtstherapie« (Freud) und einer »mütterlichen Holding-Technik« (Ferenczi) unterscheiden (Zimmermann 2007, S. 276). Natürlich gibt es 3. auch auf der Ebene der Realbeziehung geschlechtsspezifische Unterschiede im Verhalten, beispielsweise Höflichkeitsregeln. Nicht zuletzt ausgelöst durch solche Rollenzuweisungen, aber natürlich insbesondere bedingt durch die unterschiedlichen Übertragungsbereitschaften der Patientinnen und Patienten gegenüber männlichen bzw. weiblichen Therapeuten entwickeln sich spezifische Übertragungsbeziehungen in Abhängigkeit vom Geschlecht des Psychotherapeuten, die ich im folgenden genauer schildern möchte. Aus Gründen der Begrenzung kann ich dabei jedoch nicht auf die spezifischen Konstellationen bei Menschen mit gleichgeschlechtlicher sexueller Orientierung eingehen, sondern beschränke ich mich auf einen heterosexuellen Personenkreis. Ganz grundsätzlich kann man sagen, dass es bei gemischtgeschlechtlicher Konstellation – sei es Patientin und Therapeut oder Patient und Therapeutin – zu Beginn der Behandlung häufige Übertragungs- und Gegenübertragungsmuster gibt, die von beiden Seiten initiiert werden, nämlich mütterliche Übertragungsmuster bei Therapeutinnen und väterliche und ödipale Übertragungsmuster eher bei Therapeuten. Zwischen männlichen Therapeuten und weiblichen Patientinnen entwickelt sich häufig ein heterosexuelles Spannungsfeld, während sich zwischen Therapeutinnen und männlichen Patienten zumeist eine entwicklungsbedürftige Mutter-Kind-Beziehung einstellt. Die Konstellation »hilfsbedürftige Frau wendet sich an einen männlichen Therapeuten« ist uns aus der Literatur (und der Realität) wohlbekannt. Die Zuneigung in der sich meist entwickelnden Vaterübertragung kann sich zu einer intensiven Übertragungsliebe steigern, in der jedoch nicht nur kindliche Beziehungswünsche zum Ausdruck kommen, sondern durchaus auch erwachsene Phantasien und Wünsche mitschwingen können. Insbesondere bei Frauen, die in ihrer Mutterbeziehung und damit in ihrer primären Feminität schwer gestört sind, erweist sich dieses heterosexuelle Spannungsfeld im Rahmen einer ödipalen Konstellation jedoch unter Umständen als Falle, wenn es der Abwehr der Bearbeitung der frühen Konflikte mit der Mutter dient, und kann zum Scheitern der Behandlung führen. Denn ohne die Auseinandersetzung mit der Ambivalenz gegenüber der Mutter bleibt die Patientin unter Umständen abhängig von der narzisstischen Bestätigung durch idealisierte väterliche Objekte und kann damit auch in der Therapie keine stabile und unabhängige weibliche Identität entwickeln. Imagination, Nr. 2 /2009 Geschlechtsunterschiede im therapeutischen Prozess 73 Doch auch in der Frau-zu-Frau-Konstellation können behandlungstechnische Probleme auftreten. Bei meiner Patientin, Frau H., diente die Idealisierung (der Therapeutin bzw. der Mutter) auch der Abwehr oral-aggressiver Phantasien und der unbewussten Ambivalenz, die in ihrem Bild in der Imagination zum Motiv »Muschel« (vgl. Bild 1) in dem gezackten, an Zähne erinnernden Rand und den verschlingenden Aspekten der Muschel symbolisiert sind. Erst nach der sicheren Aneignung phallischer Aspekte – symbolisiert im Stock in der Muschel bzw. in der darauf folgenden Imagination zum Motiv »Werkzeug« in einem Gummihammer, den Frau H. dazu benutzte, Holzpflöcke in den Boden zu schlagen (Bild 3) – wurde es möglich, die negativen Gefühle und Phantasien hinsichtlich unserer therapeutischen Beziehung durchzuarbeiten. Bei gleichgeschlechtlicher Konstellation überwiegen bei Patientinnen Themen um Nähe und Distanz zum mütterlichen Objekt und der Kontrolle darüber. Ohne die Integration der gegen die Mutter gerichteten »schwierigen« Gefühle und Impulse wie Aggression, Neid und Rivalität und ohne die Erlaubnis zur Integration auch phallischer Qualitäten kann jedoch die ersehnte reife Identifikation mit der Mutter nicht erfolgen. Die Patient-Therapeut-Konstellation bietet dem Patienten die Möglichkeit zur Identifikation mit einem präsenten Bild 3 Vater, weckt jedoch oft auch bedrohliche homoerotische Gefühle und Rivalitätskonflikte, die häufig durch sachliche, intellektualisierende Gespräche abgewehrt werden. So beobachtete bereits Freud, dass männliche Patienten eher dazu neigten, ihm gegenüber feindselige Gefühle zu entwickeln, als weibliche Patientinnen. In Dyaden zwischen Patient und Therapeutin sind erotische, v. a. sexuelle Phantasien seltener als in der Konstellation Patientin-Therapeut. Das hängt sicherlich mit der »Asymmetrie der Geschlechtsrollen« (Kottje-Birnbacher 1994, S. 26) zusammen, die dem Mann insbesondere bei der Werbung die dominante Position zuschreiben. Stattdessen herrschen mütterliche Erwartungen vor, die ja auch dem weit verbreiteten Rollenverständnis der Therapeutinnen entsprechen (vgl. Mann 1999). Dies führt häufig zur Konzentration auf die Bearbeitung der Defizite der frühen Mutterbeziehung, der frühen präödipalen Sehnsüchte und Ängste und erfüllt die regressiven Bedürfnisse des Patienten. Es könnte sich aber um eine Flucht in eine verharmlosende reparative Mutter-Kind-Beziehung handeln, die Imagination, Nr. 2 /2009 74 Barbara Hauler dazu dient, verdrängte sexuelle Wünsche und die damit verbundenen Aggressionen zu vermeiden. In dieser Konstellation bleibt also die sexuelle Übertragung und die zwar spürbare, aber dissoziierte Aggression gegenüber Frauen unbewusst. Auf diese Weise kann jedoch das Problem des Patienten mit der Anerkennung der primären Identifikation mit der Mutter nicht gelöst werden, weil der Lösungsversuch durch Abwehr ihrer Weiblichkeit nicht bearbeitet wird. Auch hierzu möchte ich kurz von einem Patienten berichten, der etwa 40-jährig wegen Gefühlen der inneren Leere und der Depressivität zu mir in die Praxis kam. Er fühlte sich zeitweise wie gelähmt und in sich eingeschlossen, grübelte ständig und konnte die zahlreichen Ideen, die er im Kopf hatte, nicht umsetzen. Herr M. war in einem sozialen Beruf tätig und zeigte dort ausgesprochen mütterliche Qualitäten. Er lebte alleine, war aber mit einer deutlich jüngeren, weit entfernt lebenden Frau befreundet. Als Kind hatte er sich für seine an Angstzuständen leidende Mutter zuständig gefühlt. Seine große Kindheitsenttäuschung bestand darin, dass auch sein Vater, den er als streng und verbissen schilderte, nur ein gewöhnlicher, nicht unfehlbarer und allmächtiger Erwachsener war, der im Winter einmal auf Glatteis ausgerutscht war. Herr M. hatte sich schon als Kind innerlich zurückgezogen und in einer Phantasiewelt gelebt. Im Verlauf der Katathym Imaginativen Psychotherapie bot ich Herrn M. auch das Motiv Berg an (Bild 4). Herr M. stellte sich einen kegelförmigen Bild 4 Berg vor, der durch vier Zinnen wie durch eine Krone abgeschlossen wurde und dadurch einerseits geheimnisvoll und anziehend, andererseits bedrohlich wirkte. Herr M. stand sofort auf dem Gipfel und schaute mit einer Mischung aus Befriedigung, hinaufgestiegen zu sein, Faszination und Erschaudern in einen tiefen, dunklen Krater hinein. Der feste, kantige Fels vermittelte ihm ein Gefühl von Halt und Sicherheit, das es ihm erlaubte, in die Tiefe zu blicken. Dort sah er eine Treppe, die an bemoosten, von Wasser glänzenden Wänden vorbei hinunter führte. Herr M. war erfüllt von einer tiefen Sehnsucht nach einer »nur guten« mütterlichen Beziehung, die jedoch sofort eine verschlingende Qualität anzunehmen drohte – ein hochaggressiver oraler Vorgang, den wir in der zahnähnlichen Form symbolisiert finden. Der Berg symbolisiert aus meiner Sicht eine mächtige frühe präödipale mütterliche Repräsentanz mit aggressiven Zügen, die vom Patienten selbst dem Objekt zugeschrieben werden, aber sicherlich auch eigene (nicht Imagination, Nr. 2 /2009 Geschlechtsunterschiede im therapeutischen Prozess 75 ­integrierte) aggressive Regungen repräsentieren. Um sich von einem derartigen Objekt abzulösen, bedarf es eigener instrumenteller Fähigkeiten, die dem Patienten nicht ausreichend zur Verfügung standen (»er konnte die zahlreichen Ideen, die er im Kopf hatte, nicht umsetzen«). Es ging in der Therapie also neben der Auseinandersetzung mit der Mutter auch darum, seine männlichen Identifikationen zu stärken. Schließlich fühlte sich Herr M. soweit gekräftigt, dass er in einer Imagination den Abstieg in die tiefe Höhle im Inneren des Berges wagen konnte (Bild 5). Sie erwies sich als eine Art Brunnenschacht, in dem eine Treppe in die immer enger werdende Tiefe führte. Herr M. überlegte noch, ob es besser wäre, zum Abstieg Steigeisen zu benutzen (männliche Attribute, die ihm helfen sollten, nicht so auszurutschen wie der Vater), und erreichte schließlich das klare Wasser am Grund des Schachtes. Dort fühlte er sich geborgen und akzeptiert. Wir finden hier vielerlei Hinweise für frühe, präödipale Konflikte, die in der Therapie intensiv bearbeitet wurden. Was mir nach und nach jedoch bewusst wurde, war, dass es auch eine untergründige idealisierend-erotische Tönung der Mutter-Übertragung gab, die jedoch nicht ansprechbar Bild 5 war. Gegen Ende der Therapie tauchten erstmals ärgerliche Gefühle auf, die vordergründig die zeitliche Begrenzung der Therapie betrafen. Als dann auch noch sichtbar wurde, dass ich schwanger war, wurden die abgewehrten negativen Gefühle gegenüber der ödipalen Mutter, die offenbar einen »anderen« Mann hatte, zugänglich. Dies auszuhalten fiel auch mir nicht leicht. Doch erwies es sich als unabdingbar wichtig, dass wir diese Gefühle anerkannten, verstanden und durcharbeiteten. So konnte die Therapie zu einem guten Abschluss gebracht werden, der sich für mich – katamnestisch – auch darin zeigte, dass Herr. M. die Beziehung zu seiner Freundin intensivieren und mit ihr schließlich eine Familie gründen konnte – Ausdruck seiner stabileren Männlichkeit und seiner gewachsenen Fähigkeit zur Vaterschaft. Wie wir an all diesen Konstellationen sehen, kann die Geschlechtszugehörigkeit des Psychotherapeuten zum Kern eines unter Umständen kaum zu bearbeitenden Widerstands werden, insbesondere bei Patienten mit ausgeprägten Frühstörungsanteilen und nicht-triangulierter psychischer Struktur. Insgesamt ist nach Untersuchungen von Almuth Sellschopp (1999, S. 1053f.) »der Einfluss des realen Geschlechts … in kurzen Psychotherapien am größten« Imagination, Nr. 2 /2009 76 Barbara Hauler und bei langen Psychoanalysen nur am Anfang wirksam. Auch scheint der Schweregrad der Störung den Einfluss des Geschlechts zu verstärken. Umso wichtiger erscheint daher gerade bei kürzer dauernden Therapien eine besonders sorgfältige Indikationsstellung, die solche dyadenspezifischen, geschlechtsabhängigen Aspekte berücksichtigt. Bei Behandlungsstillständen könnte es ratsam sein, nach Möglichkeit gegengeschlechtliche Kollegen zu konsultieren oder aber einen Behandlerwechsel hin zum anderen Geschlecht in Erwägung zu ziehen. Denn auch die Begrenzung der Fähigkeit des Therapeuten, die mit jenem Geschlecht, das er nicht besitzt, verbundene Übertragung und Gegenübertragung zu erdulden, zu deuten und theoretisch zu erfassen, darf nicht unterschätzt werden. Kernberg hatte bereits 1965 vermutet, dass es ganz allgemein schwieriger sei, sich auf Probe mit dem jeweils anderen Geschlecht zu identifizieren. Das liegt daran, dass die frühzeitig erworbene Geschlechtsidentität die Phantasien und Reaktionen der Therapeuten prägt. Nach Sellschopp besteht eine Voraussetzung für erfolgreiches therapeutisches Arbeiten darin, dass »eine rigide Etablierung der Geschlechtsidentität … soweit wie möglich rückgängig gemacht wird zugunsten der Fähigkeit fluktuierender bisexueller Identifizierungen und ihrer phantasievollen spielerischen Übergänge« (A. Sellschopp 1999, S. 1046). Die psychische Bisexualität muss aufgrund der spezifischen weiblichen Entwicklung von Frauen weniger verdrängt werden – sie haben und behalten dasselbe Geschlecht wie die Mutter und dürfen sich bzw. sollten sich auch mit väterlichen/phallischen Aspekten identifizieren, um eine eigenständige Persönlichkeit zu entwickeln. Dies ermöglicht auch die oben beschriebene oft größere Fähigkeit von Frauen, sich in Männer einzufühlen. Männer hingegen müssen sich in ihrer Entwicklung schon früh vom primären Objekt, der Mutter, desidentifizieren, um eine stabile männliche Geschlechtsidentität zu entwickeln. Dabei wird bedauerlicherweise oft »das Kind mit dem Bade ausgeschüttet«, mit der Folge der weitest gehenden Abgrenzung vom Weiblichen bzw. der Ausgrenzung und Ablehnung eigener weiblicher Aspekte. Psychische Bisexualität bedeutet jedoch nicht eine »Vergleichgültigung« beider Geschlechter (Molfino 1993, S. 571), sondern beinhaltet den inneren Zugang zu den Möglichkeiten des jeweils anderen Geschlechts. Damit meine ich auf einer allgemeinen Ebene die individuelle Ausgestaltung der eigenen Geschlechtsrolle, die männliche und weibliche Anteile, instrumentelle und expressive Fähigkeiten umfassen kann. Für den therapeutischen Bereich ist nach Chasseguet (1988) zum einen die Fähigkeit zur Mutterschaft von Bedeutung, die beiden Geschlechtern den präverbalen Austausch von Unbewusstem zu Unbewusstem ermöglicht, ähnlich wie eine Mutter ein »Gespür« für den Zustand des Säuglings hat. Diese mütterlichen Qualitäten äußern sich auch in der Fähigkeit abzuwarten, wie sich eine Beziehung entwickelt, vergleichbar einer Schwangerschaft, als die der therapeutische Prozess betrachtet werden kann. Gleichzeitig bedarf es jedoch Imagination, Nr. 2 /2009 Geschlechtsunterschiede im therapeutischen Prozess 77 auch väterlicher Elemente in Form des therapeutischen Rahmens, die verhindern, dass dieses regressionsfördernde Angebot der Therapeutin oder des Therapeuten gleichsam verschlingende und damit bedrohliche Züge annimmt. Die selbstreflexive Wahrnehmung der eigenen weiblichen und männlichen Anteile und die Sensibilisierung für geschlechtstypische Phänomene in der therapeutischen Arbeit erweisen sich aus meiner Erfahrung als ungemeine Bereicherung, nicht zuletzt deshalb, weil wir damit an die Freude anknüpfen können, mit der unsere kindlichen Phantasiespiele im Raum der nahezu unbegrenzten Möglichkeiten verbunden waren. Literatur: Bassin, D. (1996): Beyond the He and the She: Toward the reconciliation of masculinity and femininity in the postoedipal female mind. J Am Psy Ass 44: 183 – 190 Chasseguet-Smirgel, J. (1988): Die Weiblichkeit des Psychoanalytikers bei der Ausübung seines Berufs. In: Zwei Bäume im Garten. Zur psychischen Bedeutung der Vater- und Mutterbilder: 27 – 46. München – Wien: Verlag Internationale Psychoanalyse Cremerius, J. (1979): Gibt es zwei psychoanalytische Techniken? Psyche – Z Psychoanal 33, 577 – 599. Stuttgart: Klett-Cotta Fast, I. (1984): Gender Identity. A Differentiation Model. Hillsdale, N.J.: The Analytic Press. Deutsch (1991): Von der Einheit zur Differenz. Psychoanalyse der Geschlechtsidentität. Berlin: Springer Freud, S. (1905): Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie. GW Bd. 5, 27 – 145. Frankfurt: Fischer Freud, S. (1925): Über einige psychische Folgen des Geschlechtsunterschieds. GW Bd. 14, 17 – 30. Frankfurt: Fischer Freud, S. (1931): Über die weibliche Sexualität. GW Bd. 14, 515– 537. Frankfurt: Fischer Freud, S. (1933): Neue Folge der Vorlesungen in die Psychoanalyse. GW Bd. 15. Frankfurt: Fischer Herpertz, S., Habermeyer, E. & Habermeyer, V. (2007): Persönlichkeitsstörungen. In: Rohde, A., Marneros, A. (Hrsg.) (2007): Geschlechtsspezifische Psychiatrie und Psychotherapie: 212 – 224. Stuttgart: Kohlhammer Horney, K. (1933): Zur Frage des weiblichen Masochismus. In: Die Psychologie der Frau: 191 – 219. München (1977): Kindler Kernberg, O. F. (1965): Notes on countertransference. J Am Psy Ass 13: 38 – 56 Klöß-Rotmann, L. (1992): Geschlechtstypische Übertragungs- und Gegenübertragungs-Phä­no­ ­mene. Praxis der Psychotherapie und Psychosomatik 37: 113 – 123. Berlin: Springer Kottje-Birnbacher, L. (1994): Übertragungs- und Gegenübertragungsbereitschaften von Män­­nern und Frauen. Imagination 2: 15 – 31. Wien: Facultas Imagination, Nr. 2 /2009 78 Barbara Hauler Lang, F. U., Pokorny, D., Kächele, H. 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Zum anderen werden die neueren Konzepte zur Ausbildung der Geschlechtsidentität und zur Ausgestaltung der Geschlechtsrollen dargestellt, um damit die Grundlage für ein Verständnis geschlechtstypischer Aspekte der therapeutische Rolle und Haltung, Imagination, Nr. 2 /2009 Geschlechtsunterschiede im therapeutischen Prozess 79 von Übertragung und Gegenübertragung zu schaffen. Zwei Fallbeispiele illustrieren die Thematik. Die Autorin plädiert für eine selbstreflexive Wahrnehmung der eigenen weiblichen und männlichen Anteile wie auch für eine Sensibilisierung für geschlechtstypische Phänomene in der therapeutischen Arbeit. Keywords: Geschlechtsidentität – Bisexualität – Übertragung-Gegenübertragung Autorin: Dr. med. Barbara Hauler D – 88250 Weingarten, Reschenstraße 12 E-Mail: [email protected] Fachärztin für Psychotherapeutische Medizin. KIP-Therapeutin. In eigener Praxis tätig. Dozentin der AGKB. Arbeitsschwerpunkt: Gender-Aspekte in der Psycho­therapie. Imagination, Nr. 2 /2009 80 Nachruf Nachruf auf Univ.-Prof. univ. med. Dr. Alois Moritz Becker Am 5. Februar dieses Jahres starb, 91-jährig, Prof. Dr. Alois Moritz Becker, Psychia­ ter, Psychoanalytiker, mit Prof. Hans Strotzka einer der wichtigsten Pioniere der Tiefenpsychologie im Nachkriegsösterreich. Er war eine der wichtigsten Persönlichkeiten der ÖGATAP, ursprünglich »Österreichische Gesellschaft für ärztliche Hypnose und Autogenes Training«. Ohne ihn wäre vor allem das wissenschaftliche Wachstum, wären die Programme der Gasteiner Psychotherapiewochen, des International College für Autogenes Training und allgemeine Psychotherapie usw. gar nicht denkbar gewesen. Es waren die Teilnehmer »seines« psychotherapeutischen Seminars der Wiener Psychiatrischen Klinik (Prof. Hans Hoff, Prof. Hans Strotzka), die die ersten Mitglieder wurden, als mich I. H. Schultz mit der Leitung der Landesstelle Österreich der Deutschen Gesellschaft für ärztliche Hypnose und Autogenes Training betraute, und es waren ebendiese Kollegen die ersten Mitglieder der österreichischen Gesellschaft gleichen Namens. Ich gründete damals die heutige ÖGATAP, weil wir – auch unter dem Beifall Prof. Beckers – nicht wieder »angeschlossen« sein wollten. Es war mit seiner Hilfe, dass wir an der Klinik und im Neurologischen Institut von Prof. Seitelberger anfangs jährlich rund 200 Ärzte, später Ärzte und Psychologen und angehende Psychotherapeuten, ausbilden konnten. Mit seinem immer kritischen und nüchternen Blick hat er so manches überschießende Ziel in vernünftige Bahnen gelenkt. Er wusste sehr wohl, dass sich der Analytiker nicht hinter einer grauen Wand verstecken konnte und machte immer wieder deutlich, dass Psychotherapie eine »menschliche« Angelegenheit ist: So schrieb er: »Abstinenz meint durchaus nicht kalte, starre Distanziertheit, wie Unkenntnis zuweilen vermutet, sondern, im Gegenteil, vernünftig – wohltemperiertes Verhalten, das ermöglicht, mit dem gesunden Teil der Persönlichkeit des Patienten ein tragfähiges Verhältnis aufzubauen, das unter dem Begriff des Arbeitsbündnisses behandelt wird.« Und es war noch ein letztes Ereignis, an dem die alten Mitglieder der Gesellschaft eine besondere Freude erleben konnten: Ali Becker ergriff noch einmal zu einem Hauptthema der Gesellschaft das Wort. Es war sein letzter öffentlicher­ Imagination, Nr. 2 /2009 Nachruf 81 Auftritt. Eine Veranstaltung des ehrwürdigen Vereins für Neurologie und Psychia­trie (Mitglied war u. a. Sigmund Freud) unter Leitung von Prof. Lenz am 17. November 2003 im Hörsaal der Kliniken im Südgarten: »Vom Autogenen Training zur Autogenen Psychotherapie.« Es sprachen unter anderen Prof. Henriette Walter und Dr. Marianne Martin. Besonders im Vordergrund stand die analytische Oberstufe, an der er auch nicht unbeteiligt war. Mit Ali Becker verband mich noch ein weiteres Band: Wir waren beide (wie übrigens auch Prof. Berner) »Marinekinder«, das heißt Söhne eines k. u. k. Seeoffiziers. Und die kaiserlich und königliche Kriegsmarine war – trotz ihres Untergangs im Jahre 1918 – bis lang über den zweiten Weltkrieg hinaus ein Band, das sie Angehörigen in einer heute kaum mehr praktizierten Weise miteinander verband. Es leben nicht mehr viele seiner Schüler und Freunde die um ihn trauern, er und seine Gedanken werden aber sicher auch in den Schülern dieser Schüler weiterleben. Heinrich Wallnöfer Imagination, Nr. 2 /2009 82 Hinweise für AutorInnen Hinweise für AutorInnen 1) Eine Zeitschrift ernährt sich von dem, was die LeserInnen erfreut (frei nach Augustinus). 2) Manuskripte schicken Sie bitte zum einen ausgedruckt in einfacher Ausfertigung an die Schrift­leitung: Dr. Josef Bittner, Landhausgasse 2/44, A-1010 Wien, zum ­anderen als E-Mail oder auf Datenträger an das Sekretariat der ÖGATAP, Kaiserstraße 14/13, A-1070 Wien (E-Mail: [email protected]). Hinweise zu den möglichen Formaten finden Sie im Anschluss in den technischen Hinweisen. 3) Die Schriftleitung gibt eingesandte Manuskripte in ein Peer-Review-System. AutorInnen erhalten nach der Begutachtung der vorgelegten Manuskripte eine Benachrichtigung bezüglich der Annahme zum Abdruck in der Imagination. 4) Bitte fügen Sie Ihrem Beitrag eine Zusammenfassung von maximal 10 Zeilen hinzu. 5) Kennzeichnen Sie bitte Ihren Artikel durch maximal 3 Schlüsselwörter. 6)Zur Hervorhebung einer Textstelle verwenden Sie bitte ausschließlich die Kursivsetzung des Textverar­bei­tungs­­programms (also nicht fett, nicht unterstrichen bzw. nicht gesperrt!). 7) Fußnoten bzw. Endnoten bitte immer mit der Fuß- bzw. End­noten­funktion des Textverarbeitungsprogramms erstellen. 8) Korrektes Zitieren in der Zeitschrift »Imagination« (Autorinnen und Autoren bitte unbedingt Zitiervorschriften für Literaturangaben beachten!): Literaturangaben im Text: Nur Nachname des Autors und Jahreszahl (ohne Beistrich). Im Text soll die Jahreszahl der Originalpublikation angegeben werden. Im Literaturverzeichnis dann auch Jahreszahl einer Übersetzung oder einer Neuauflage. Beispiel (im Text): (Kohut 1971). Beispiel (im Text mit Seitenangabe): (Kohut 1971, S. 83) Beispiel (im Text mit Angabe einer Seite und der folgenden): (Kohut 1971, S. 83 f ) Beispiel (im Text mit Angabe einer Seite und mehreren folgenden): (Kohut 1971, S. 83 ff ) Beispiel (im Text mit Angabe von – bis): (Kohut 1971, S. 83 – 87) Beispiel (im Literaturverzeichnis, mit Angabe des Erscheinungsjahres der deutschen Ausgabe): Kohut, H. (1971): Narzissmus. Frankfurt/Main: Suhrkamp. Dt. 1973 Beispiel (im Literaturverzeichnis, mit Angabe der Auflage): Ermann, M. (1999): Psychosomatische und Psychotherapeutische Medizin. Stuttgart: Kohlhammer, 3. Aufl. Erstellen des Literaturverzeichnisses: Beispiel (Zitieren eines Buches): Winnicott, D. W. (1958): Von der Kinderheilkunde zur Psychoanalyse. München: Kindler. Dt. 1983 Ullmann, H. (Hrsg.) (2001): Das Bild und die Erzählung in der Psychotherapie mit dem Tagtraum. Bern: Huber: 158 – 166. Beispiel (Zitieren einer Zeitschrift): Dornes, M. (2004): Über Mentalisierung, Affektregulierung und die Entwicklung des Selbst. Forum Psycho Anal 20: 175 – 199. Heidelberg: Springer Fischer-Kern, M. (2004): Psyche – Z Psychoanal 52: 681 – 706. Stuttgart: Klett-Cotta 9) Am Ende Angabe von Namen, Adresse und Schwerpunkte der Tätigkeit. 10) Prinzipiell sollten neue Manuskripte nach der neuen deutschen Rechtschreibung verfasst sein. Für die Einhaltung dieser Richtlinien bedanken wir uns herzlich. Imagination, Nr. 2 /2009 Hinweise für AutorInnen 83 Technische Hinweise Stand: Juni 2009 Senden Sie uns bitte Ihre Daten in einem der folgenden Formate: Textdateien: .DOC oder .DOCX aus MS Word (Windows oder Macintosh – alle Versionen) .RTF – Rich Text Format In jedem Fall aber bitte auch einen Ausdruck mitsenden! Grafikdateien:Anstelle von eingescannten Fotos oder Grafiken wäre es uns lieber, wenn Sie uns die Originale zum Scannen zu Verfügung stellen könnten. Ande­ren­falls ist bei Farb- und Graustufenbildern eine Auflösung von ca. 300 dpi notwendig (bezogen auf die Größe, in der das Bild abgedruckt wird). Farbbilder kön­nen nur in Graustufen gedruckt werden. Für reine Strichgrafiken (schwarzweiß) ist eine Auflösung von ca. 1000 bis 1200 dpi notwendig. Binden Sie die Bilder bitte keinesfalls in das Textdokument ein, sondern legen Sie sie als getrennte Dokumente bei. Formate: TIF (möglichst LZW-komprimiert), JPG (mit minimaler Kom­pres­sion, Auflösung s. o.), evtl. auch: BMP, PIC, PICT. Für dem Druck nicht geeignet: GIF. Vektorgrafiken aus CorelDraw (bis 10.0), Adobe Illustrator (bis CS4), FreeHand (bis MX) können meistens problemlos übernommen werden, bitte aber ­unbedingt die verwendeten Schriften beilegen oder die Schriften in Kurven umwandeln! Beachten Sie bitte beim Verwenden fremder Bilder und Grafiken unbedingt das Urheberrecht der jeweiligen Bildquellen. 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