Quelle: Ralf / bmp Seit Jahren nimmt die Zahl der Kinder zu, die wegen Verhaltensauffälligkeiten in der Praxis vorgestellt werden. Besonders häufig werden expansives Verhalten und Störungen der Konzentration beklagt. Die Diagnose Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung (ADHS) ist durch Eltern und Lehrer bereits gestellt und wenn es nach ihnen ginge, würde sofort behandelt werden. Eine Hypothesen geleitete Diagnostik der ADHS muss klären, ob die Symptomtrias Hyperaktivität, Impulsivität und Aufmerksamkeitsstörung Folge einer ADHS ist oder ob sie durch eine andere Störung besser erklärt werden kann. Die dazu notwendige praxisorientierte und sorgfältige Diagnostik sollte an Leitlinien orientiert und so ausführlich doku- Quelle: modifiziert nach Dr. med. Ulrich Kohns Pädiatrix 5/2008 mentiert werden, dass die Diagnose für andere nachvollziehbar ist und später zur Verlaufskontrolle eingesetzt werden kann. In einer mehrdimensionalen Diagnostik werden die aktuell beklagte Symptomatik erfasst, der körperliche und neurologische Status sowie Entwicklungsstand, Intelligenz und psychischer Status erhoben und Informationen über die sozialen Begleitumstände der Familie gesammelt. Anamnesemodul Mehrdimensionale Fragebogen Der nicht standardisierte, von den Eltern ausgefüllte Fragebogen für Kinder mit Verhaltensund/oder Schulproblemen (Skrodzki) der AG ADHS der Kinder- und Jugendärzte verschafft dem Arzt vor dem Erstgespräch mit Patient/ Eltern einen Überblick über die Familienanamnese, die Auffälligkeiten in der Entwicklung und im aktuellen Verhalten mit ihren Folgen und die bereits durchgeführte Diagnostik und Behandlung. Störungsspezifische Fragebogen Störungsspezifische, nicht standardisierte Fragebogen wie der Explorationsbogen ADHS/ ADS (Kohns) und das Explorationsschema für von Dr. med. Ulrich Kohns ADHS 10 Die Fremdanamnese sollte erst bei berechtigter Annahme der ADHS durchgeführt werden. hyperkinetische und oppositionelle Verhaltensstörungen ESHOV (Döpfner) erfassen störungsrelevantes Verhalten. Die Symptomchecklisten HKS (hyperkinetische Störung) bewerten die Leitsymptome der ADHS bedingten Aufmerksamkeitsstörung, Hyperaktivität und Impulsivität nach Häufigkeit, Ausmaß und Situationsabhängigkeit. Sie erlauben eine international übliche Objektivierung der beklagten Symptome. Die Diagnose-Checkliste HKS (DCL-HKS) für den Arzt-Eltern-Kontakt, die Fremd- und Selbstbeurteilungsbogen für Eltern, Lehrer, Erzieher (FBB-HKS) und der Selbstbeurteilungsbogen (SBB-HKS) aus dem Diagnostiksystem für psychische Störungen im Kindes- und Jugendalter nach ICD-10 und DSM-IV (DISYPS-KJ) beschreiben und werten in drei Symptomgruppen mit neun Items für Aufmerksamkeitsstörung, fünf Items für Überaktivität und vier Items für Impulsivität die Kernsymptome, basierend auf den internationalen DSM-IV-Kriterien und den Forschungskriterien der ICD-10. Einblick in die Entwicklungsgeschichte und biografische Vorgeschichte geben der Fragebogen für Kinder mit Verhaltens- und/oder Schulproblemen (Skrodzki) und der Explorationsbogen ADHS/ADS (Kohns). Hinweise auf Risikofaktoren in der Familien- und Entwicklungsgeschichte des Kindes, auf Belastungen des Kindes durch Entwicklungsstörungen, auf emotionale Beeinträchtigung z. B. durch Trennung oder Konflikte der Eltern, Über- oder Unterforderung und auf störungsspezifisches Verhalten in frühem Kindesalter sind für die Diagnostik wichtig. Auch haben Störungen der Gehirnentwicklung durch Drogen, Nikotin, Alkohol, Infektionen und Schädigung vor, unter oder nach der Geburt für die Entstehung der ADHS Bedeutung. Bei zwei Dritteln der Fälle kann von einer genetischen Belastung ausgegangen werden, sodass die Kenntnis der Bio- grafie der Eltern in Hinblick auf Schul- und Berufsausbildung und der aktuellen Arbeits- und Lebenssituation wichtig ist. Das Einsehen von Vorbefunden wie Untersuchungsberichte, Zeugnisse, Schulberichte, Hausaufgabenhefte und Therapieberichte vervollständigt die Anamnese. Wichtiger Teil der Diagnostik ist die Fremdanamnese, die erst bei berechtigter Annahme der ADHS durchgeführt werden sollte. Hierzu stehen störungsspezifische, standardisierte Fragebogen wie z. B. FBB-HKS aus DISYPS-KJ zur Verfügung. Der persönliche Kontakt zu Erziehern, Lehrern, Trainern und Bezugspersonen ergänzt die Anamnese mit den Eltern. Untersuchungsmodul Alle Untersuchungen und Tests sind geeignet, Störungen aufzudecken, die die Kernsymptome selbst verursachen oder ungünstig beeinflussen. Sie tragen aber nicht zur Diagnose der ADHS bei. Der Ganzkörperstatus erfasst Größe, Gewicht, Kopfumfang, Blutdruck und Puls und sucht nach Organstörungen oder Dysmorphiezeichen. Gestörtes Hören und Sehen muss ausgeschlossen werden. Untersuchungen von Blut und Urin sind Teile der Basisuntersuchung. Empfehlenswert ist die Untersuchung des Differenzialblutbilds, Eisenhaushalts, der Leberund Nierenwerte und Schilddrüsenhormone und der Ausschluss chronisch entzündlicher Erkrankungen. Die klinisch-neurologische Basisdiagnostik, motoskopische Untersuchung und orientierende entwicklungsneurologische Untersuchung sollen Funktionsstörungen aufdecken, die für Störungen der Handlungskompetenz und Entwicklung verantwortlich sind und zu emotionaler und psychosozialer Beeinträchtigung mit Pädiatrix 5/2007 11 Pädiatrix 5/2007 Differenzialdiagnostik-Modul Aufmerksamkeitsstörung und Hyperaktivität können auch psychoreaktive, organische oder psychiatrische Ursachen haben. Während der Diagnostik stellt sich fortlaufend die Frage, was das Verhalten des Kindes besser erklären würde als die Annahme der ADHS. Sind die beklagten Symptome Folge mangelnder, automatisierter Selbstregulation, die in der Entwicklung nicht ausreichend erworben, aber grundsätzlich möglich ist? Sind sie Folge anderer psychischer und körperlicher Störungen? Oder liegt eine ADHS vor? Zur Beantwortung der Fragen sind standardisierte, nicht nur störungsspezifische Fragebogen hilfreich. In der Praxis haben sich die Fragebogen zu Stärken und Schwächen (Strengths and Difficulties Questionnaire, SDQ) bewährt. Durch sie kann im Alter von drei bis 16 Jahren eine klinische Einschätzung von 25 positiven und negativen Verhaltensattributen in den Bereichen emotionale Störungen, Verhaltensprobleme, Hyperaktivität, Probleme mit Gleichaltrigen und prosoziales Verhalten gemacht werden. Für die Selbstbefragung des Patienten und die Befragung von Eltern und Lehrern gibt es getrennte Fragebogen (SDQ-selbst, -Eltern, -Lehrer). Eine Normierung erlaubt in jedem Problembereich eine Bewertung als normal, grenzwertig oder auffällig. So kann nicht direkt beobachtbares, längerfristiges und kontextunabhängiges Verhalten erfasst und bewertet werden. Die Fragebogen sind international normiert und stehen in vielen Sprachen zur Verfügung. Sie sollten zur Exploration durch den Kinder- und Jugendarzt gehören. Umfangreicher ist die deutsche Form der ADHS nachfolgenden Verhaltensstörungen führen können. Der orientierende psychiatrische Status dokumentiert Verhalten, Orientierung, Affekt, Stimmung, Antrieb, Wahrnehmung, Denkablauf, Psychomotorik und Funktionen wie Aufmerksamkeit, Merkfähigkeit, Kritikfähigkeit und Erinnerungsfähigkeit unter Berücksichtigung des Alters. Der Ausgangsbefund dient auch zur Verlaufskontrolle späterer Therapie. Funktionstests als psychologische Leistungsdiagnostik und psychometrische Tests werden bezüglich ihrer Notwendigkeit in der Diagnostik der ADHS widersprüchlich diskutiert. Sie gehören daher nur dann zur Differenzialdiagnostik, wenn in der Anamnese oder während der Untersuchungen Hinweise auf entsprechende Störungen vorhanden sind. Auch Aufmerksamkeitstests sind nicht diagnosespezifisch. Bei unauffälliger Leistung in der hoch strukturierten, optimal motivierten Testsituation als Einzelperson kann nicht davon ausgegangen werden, dass die gleiche Leistung in Alltagssituationen, vor allem in der Gruppensituation z. B. einer Schulklasse, erbracht werden kann: Ein unauffälliger Test schließt eine ADHS nicht aus. Bei auffälliger Leistung ist eine ADHS nicht bewiesen, da viele psychiatrische Störungen mit Beeinträchtigung der Aufmerksamkeit einhergehen. Intelligenztests sind bei Annahme von Überoder Unterforderung oder bei Entwicklungsstörungen bisher nicht bekannter Ursache notwendig. Eine EEG-Untersuchung muss bei akuten Hinweisen auf ein Anfallsleiden, Auffälligkeiten in der Vorgeschichte des Kindes oder Anfallsleiden in der Familie veranlasst werden. Die Verhaltensbeobachtung bei der Kontaktaufnahme, in Gesprächen, bei Aufforderungen wie An- und Ausziehen und bei Untersuchungen und Leistungstests lässt oft störungsspezifisches Verhalten erkennen. Das Verhalten zeigt oft mehr als die Testergebnisse selbst die beeinträchtigte Aufmerksamkeit, eingeschränkte serielle Handlungsfähigkeit, erhöhte Ablenkbarkeit, mangelnde kognitive Flexibilität und Interferenzkontrolle sowie die nicht altersentsprechende motorische und emotionale Selbstregulation. Bei der Beobachtung der Kind-Eltern- und Eltern-Kind-Interaktionen können Beziehungsqualität, ungünstiges Erziehungsverhalten und problematische Persönlichkeitsstrukturen der Eltern erkannt werden. Sie gestalten die Symptomausprägung entscheidend mit. Abbildung 1: Durch die für ADHS charakteristischen Verhaltensmuster werden Kinder oft von Gleichaltrigen gemieden und leiden entsprechend unter sozialer Isolation Quelle: Lilly Pharma Holding GmbH Es gibt keinen Nachweistest zur Diagnose ADHS. ADHS 12 Abbildung 2: ADHS macht die kleinen Betroffenen fahrig, unkonzentriert und flatterhaft Schon das Ticken der Schuluhr kann ihre Aufmerksamkeit so fesseln, dass der Lehrer völlig in Vergessenheit gerät. Quelle: Lilly Pharma Holding GmbH Child-Behavior-Checklist (CBCL) von vier bis 18 Jahren. Eltern-, Lehrer- und Selbstfragebogen zum Verhalten von Klein- und Vorschulkindern, Kindern und Jugendlichen sowie jungen Erwachsenen explorieren internale Auffälligkeiten (sozialer Rückzug, körperliche Beschwerden, Angst/Depressivität), externale Auffälligkeiten (aggressives Verhalten, dissoziales Verhalten) und andere Auffälligkeiten (soziale Probleme, schizoid/zwanghaftes Verhalten, Aufmerksamkeitsstörungen). Fragen zu Kompetenzen erleichtern den Einstieg in die Exploration unter Vermeidung der Fokussierung auf ungünstiges Verhalten. Die CBCL gehört zum Standard in der kinder- und jugendpsychiatrischen Praxis. Weitere Differenzialdiagnostik kann mit Symptomchecklisten und Befragungsbogen aus DISYPS-KJ durchgeführt werden. Das Fehlen von diagnosespezifischen Untersuchungen und Tests wird durch eine sorgfältige Anamnese, objektivierte Symptombeurteilung, aufmerksame Verhaltensbeobachtung und gezielte Fremdbefragung ausgeglichen. Checklisten und Fragebogentests, Untersuchungen und Tests reichen allein nicht zur Diagnosestellung aus. Die hier vorgestellte Diagnostik entspricht weitgehend den Empfehlungen deutscher und internationaler Leitlinien und ist gut in der Praxis umsetzbar. Im nächsten Pädiatrix stellt Dr. Kohns, Kinderund Jugendarzt und ADHS-Experte, die profiladaptierte Therapie bei ADHS vor. Pädiatrix 5/2007