Neurophysiologische Entwicklungsaspekte des Sehens

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Neurophysiologische Entwicklungsaspekte des Sehens:
Konsequenzen für Aufmerksamkeitsprobleme,
Teilleistungsstörungen, Verhaltensprobleme aus
entwicklungspädiatrischer Sicht
PD Dr. med. Dipl-Phys. E. Friederichs,
Privatärztliche Gemeinschaftspraxis, Heiligenstadt
Die visuelle Wahrnehmung ist die einzige unserer Sinneswahrnehmungen, die im Uterus keine
Stimulation erfährt. Neugeborene können bei Geburt ihren Blick noch nicht scharf stellen, sie
können nur etwa 20 Zentimeter weit sehen, die klassische Entfernung zwischen Mutter und Kind,
wenn das Kind auf den Oberschenkeln der Mutter liegt. Die rasche Zunahme seiner Sehfähigkeit
verdankt das Neugeborene der raschen Verschaltungsfähigkeit seiner Neuronen in der Sehrinde. Die
Erfahrung spielt dabei die größte Rolle bei der Gestaltung der Sehzentren im Gehirn eines jeden
Neugeborenen. In der Regel sind mit einem halben Jahr alle primären Sehfähigkeiten wie
Tiefenwahrnehmung, Farbensehen, Scharfsicht und zielgerichtete, koordinierte Augenbewegungen
ausgebildet. Die Feinabstimmung erfolgt dann normalerweise bis zum Abschluß des ersten
Lebensjahres, kann sich aber noch darüber hinaus erstrecken (2,3).
Sind die visuellen Schaltkreise entstanden und funktionsfähig, werden die von beiden Augen
eintreffenden optischen Informationen fortan streng getrennt und an die 1. Schicht der primären
Sehrinde weitergeleitet. Die Weiterleitung erfolgt durch sog. „monokulare“ Neuronen. Im Anschluß
werden die jeweiligen Informationen wieder zusammengelegt, um ein plastisches binokulares Bild
zu erzeugen. Voraussetzung ist die Bildung der sog. „Area striata“ zwischen dem 2. und 6.
Lebensmonat.
Zwei wichtige Reifungsstörungen sowie die Symptome bei einer Dekompensation in der
Entwicklungsperiode des Sehens sollen im folgenden besprochen werden:</td>
Reifungsstörung des binokularen Sehens
Reifungsstörung der axonalen Verbindung zwischen den kortikalen Neuronen mit einer
Unterentwicklung der weißen Hirnsubstanz. (magno- /parvozelluläres System)
a) Reifungsstörung des binokulares Sehen
Die Fähigkeit, die am meisten von der Zusammenarbeit beider Augen abhängt, ist das räumliche
Sehen, das Wahrnehmen von drei Dimensionen. Das binokulare Sehen selbst ist aber ausschließlich
eine Funktion des Gehirns. Die schnelle Reifung des binokularen Sehens im Gehirn von Säuglingen
hat entscheidende Konsequenzen. Alles, was die koordinierte Aktion beider Augen stört,
beispielsweise Schielen, kann das binokulare Sehen dauerhaft beeinträchtigen. Es ist also durchaus
denkbar, daß sich selbst kleinste Abweichungen in der frühen visuellen Erfahrung eines Kindes auf
die Vernetzung seiner Schaltkreise und damit seine visuelle Wahrnehmung auswirken. Wenn die
Augenachsen von der Normalstellung abweichen (i.S. einer Exophorie, Esophorie bzw.
Hyper(o)phorie) kann sich das binokulare Sehen nicht entwickeln, falls das Problem über den
sechsten bis achten Lebensmonat hinaus besteht. Falls sich bis zu diesem Zeitpunkt zumindest ein
Ansatz des binokularen Sehens entwickelt hat, sind bis zum achten Lebensjahr noch
Feinabstimmungen möglich. Solange sich die Synapsen in der Phase der Feinabstimmung in den
ersten Lebensjahren befinden bleibt also die Sehfähigkeit plastisch, d.h. durch Erfahrung formbar
(3).
Der Beginn des stereoskopischen Sehens ist also mit der Reifung der Sehrinde verbunden. Die
visuelle Erfahrung prägt die Sehrinde, so daß jede Beeinträchtigung potentiell eine
Fehlenentwicklung verursachen kann. Dies gilt für alle Erfahrungen, die von der Sehrinde gesteuert
werden. Die zwei größten Probleme in diesem Zusammenhang stellen die angeborene
Linsentrübung und jede Form des Schielens dar. Trübungen der Hornhaut oder Linse oder auch
Schielen, müssen deswegen schnellstmöglich behoben werden, weil sonst kein binokulares Sehen
möglich wird.
Schielen ist somit keine Gefahr für das Auge sondern für das Gehirn. Zur Entwicklung des
binokularen Sehens müssen die Neuronen der Sehrinde von beiden Augen mit optischen
Informationen übereinander entsprechende Bereiche versorgt werden, beide Augen müssen sich auf
den selben Punkt einstellen können, d.h. korrespondierende Netzhautpunkte an die Sehrinde
weiterleiten. Die Neurowissenschaftler sind heute der Ansicht, daß Erfahrung oder Konkurrenz um
Synapsen der Entwicklung jedes Schaltkreises in der Sehrinde zu Grunde liegt. Im Fall eines
Schielens können sich die entsprechenden „binokularen“ kortikalen Neuronen nicht adäquat
miteinander verschalten.
Wenn beispielsweise einer Katze oder Affen kurz nach der Geburt künstlich ein Schielen
herbeigeführt wird (oder Auge zugenäht wird), so können die Augen nicht einträchtig
zusammenarbeiten und der Sehrinde wird jene Art elektrischer Aktivität vorenthalten, die
normalerweise für die Entwicklung der binokularen Neuronen - der Zellen, die eine entscheidende
Rolle bei Raumwahrnehmung und Scharfsehen spielen - erforderlich ist (5). Übertragen auf das
menschliche Wesen kann eine Augenabweichung wie das Schielen bei Neugeborenen sich
demzufolge sehr nachteilig auf die langfristige Entwicklung der visuellen Wahrnehmung auswirken.
b) Reifungsstörung der axonalen Verbindungen zwischen den kortikalen Neuronen mit einer
Unterentwicklung der weißen Hirnsubstanz. (magno- /parvozelluläres System)
Andreas Warnke (24) fand, daß Kinder mit Legasthenie sich in ihren Fähigkeiten, Bilder und
Muster zu erkennen und zuzuordnen nicht von Vergleichspersonen unterscheiden. Dies wird nach
Fischer (9,10) auch als sog. „statisches Sehen„ bezeichnet werden. Wichtiger ist es deswegen nach
Fischer und Mitarbeitern, sich mit dem sog. funktionellen Anteil des Sehens dem „dynamischen
Sehen“ zu beschäftigen. Anatomische Untersuchungen von Gallaburda (11) bzw. Livingstone (in
15) zeigten in diesem Zusammenhang bei Legasthenikern charakteristische Veränderungen im
linken Schläfenlappen und im lateralen Corpus geniculatum. Es handelt sich um eine funktionelle
und morphologische Schädigung von Hirnarealen, die mit der Erfassung und Verarbeitung
geschriebener Sprache befaßt sind. Dies sind Veränderungen des sog. magnozellulären Systems der
Sehbahn, welches aus Ganglienzellen mit schnell leitenden Axonen besteht und zur Wahrnehmung
schneller Veränderungen des Netzhautbildes dient. Es umfasst die Reizleitung von der Netzhaut bis
hin zum Sehzentrum im Okziptalbereich mit Projektionen in den parietalen Cortex (22). Dieser
funktionelle Teil des Sehens (Fischer spricht auch von „dynamischen Sehen“) findet also in
verschiedenen kortikalen (präfrontalen Anteilen des Gehirns) und subkortikalen Teilen des Gehirns
statt (10,14).
Dieses System projiziert nach Fischer auch zu Hirnstrukturen, die für die Blicksteuerung benötigt
werden (8, 9,10). Der ständige Wechsel zwischen Fixation und Sakkade, die Blicksteuerung, wird
normalerweise automatisiert durch den sog. optomotorischen Zyklus geleistet. Eine korrekte
automatisierte Funktion des Zusammenwirkens von Sehprozessen und Blicksteuerung ist somit
Voraussetzung für die zuverlässige Bewältigung der Spezialaufgaben von Lesen und Schreiben. Der
gegenwärtige Stand der Forschung geht davon aus, daß dieses System bei Legasthenikern nicht
vollständig entwickelt ist. Nach Fischer und Biscaldi (4,9) haben 60-70% aller dyslektischen Kinder
Dysfunktionen der Blicksteuerung, insbesondere der Fixation und der sog. Sakkadenbewegungen.
Diese neuronalen Veränderungen führen offensichtlich bei einer großen Anzahl von Legasthenikern
zu einer Beeinträchtigung des simultanen Sehens bereits auf der Wegstrecke zwischen Netzhaut und
der primären Sehrinde. Es kommt zu einer Reifungsstörung der axonalen Verbindung zwischen den
kortikalen Neuronen und einer Unterentwicklung der weißen Hirnsubstanz. Daraus resultieren
Teilleistungsstörungen ohne sprachliche Defizite. Typische Erschungsbilder sind i) feinmotorische
Einschränkungen ii) räumlich-konstruktive Einschränkungen iii) Störungen der visuellen Analyse
iv) Störungen der visuellen figuralen Merkfähigkeit sowie v) Kopfschmerzen.
Demgegenüber steht das langsamere parvozelluläre System, welches u.a. auf die Erfassung von
Farben ausgerichtet ist. Durch anatomische Untersuchungen des Gehirns Neugeborener und
teilweise auch durch moderne Bildgebungsverfahren, weiß man, daß das magno- und das
parvozelluläre System zum Zeitpunkt der Geburt noch nicht voll entwickelt ist.
c) Symptome und Folgen einer Dekompensation von Reifungstörungen des Sehens unter
Belastungsbedingungen
Primäre Hirnreifungsstörungen können zu sekundären Einschränkungen führen (17,18) u.a. a)
kognitiver Strategiebildung, b) visueller Analyse, visueller Merkfähigkeit und visueller
Aufmerksamkeit. In der Folge kann es zu Einschränkungen der visuo-motorischen Fähigkeiten,
Dyslexie, Rechenstörungen mit konsekutiven sozialen Anpassungsstörungen, Fehleinschätzung
sozialer Beziehungen und allen Formen psychiatrischer Erkrankungen kommen (15). Klinische
Erfahrungen bei Kindern mit frühkindlichen Hirnstörungen zeigen häufig u.a. eine Dyskalkulie als
Folge einer räumlich konstruktiven Störung. Diese Kinder haben oft auch Schwierigkeiten beim
Ablesen einer Analoguhr, während das Ablesen von Digitaluhren mühelos gelingt. Insbesondere
machen sich die Minderleistungen bei geometrischen Aufgabenstellungen bemerkbar. In der
angloamerikanischen Literatur werden räumlich-konstruktive Rechenstörungen unter dem
umfassenderen Syndrom der sog. „Nonverbal Learning Disabilities“ beschrieben. Dieses Konzept
beinhaltet eine Dysfunktion der rechten Hirnhemisphäre unter Einschluss des Corpus callosum auf
der Basis prä- und perinataler Hirnreifungsstörungen.
Eine Beeinträchtigung des beidäugigen Sehens kann auch bei einer sog. Heterophorie (latentes
Schielen) auftreten. Es handelt sich dabei um ein kompensiertes Ungleichgewicht der
Augenbewegungsmuskulatur. Das beidäugige Sehen kann unter Belastungsbedingungen
dekompensieren. Zwar weisen ca. 75% aller Menschen eine Heterophorie und keine exakt
symmetrischen Augenbewegungen auf, sind aber trotzdem zur Bildverschmelzung (binokularen
Fusion) durch Unterdrückung der Informationen des nicht-dominanten Auges in der Lage. Bei
Legasthenikern ist dieses koordinierende Verarbeitungssystem offensichtlich gestört. Unter
Belastungsbedingungen (z.B. Lesedauer) kommt es zu Unschärfe, Doppelbildern und instabilen
Wortbildern. Funktionell kann es zu Wortblindheit kommen. Solche Kinder erkennt man sehr oft an
ihrer asymmetrischen Körperhaltung und Kopfneigung beim Lesen. Meistens haben die Kinder
weiterhin auch sog. asthenopische Beschwerden, diese müssen in jedem Fall das Kriterium für
therapeutische Hilfestellungen sein (21).
Grund für die Auffälligkeiten ist eine Überbeanspruchung des Gehirns bei der Blickaktivierung des
Augenpaares, welche die Seheindrücke zu einem Bild übereinander legen und zu einem Bild
verschmelzen muß (Fusion), falls einzelne Muskeln der Augenaufhängung zu kurz oder zu lang
sind. Ursachen der unterschiedlichen muskulären Augenaufhängung können genetisch sein. Es kann
aber auch durch eine hohe Zugspannung verursacht sein, die durch einseitige Fehlstellung von
Schädelknochen (z.B. Os sphenoidale/Os frontale) im Rahmen einer Geburts- oder späteren
Traumas bedingt sein. Viele Verzweigungen der Hirnnerven verlaufen direkt durch Öffnungen im
Os sphenoidale zu Muskeln und Sinnesrezeptoren von Augen, Mund und Gesicht. Konstriktionen,
erhöhte Zugspannungen in den Geweben können so möglicherweise zu Schmerzen und/oder
Funktionseinschränkungen im jeweiligen Bereich führen (1).
Eine andere Ursache oben beschriebener Beschwerden kann ein Ungleichgewicht des
magnozelluären Systems sein, welches dem Betroffenen einen mehr oder weniger großen
zusätzlichen zentralen Energieaufwand abverlangt. Diese Kompensation kann zum einen zu
Anstrengungsschwierigkeiten (Kopfschmerzen, Müdigkeit) und zum anderen zu erheblichen
Störungen der visuellen Wahrnehmungen, und daher zu Entwicklungsproblemen in bestimmten
Bereichen der Fein- und Grobmotorik führen. Ängste und Depressionen können sich im Verlauf als
sekundäre Störungen aufpfropfen (15).
Viele der vorkommenden Symptome werden auch bei Aufmerksamkeitsstörungen mit oder ohne
Hyperaktivität beobachtet. Gerade die hiervon betroffenen Kinder werden zum Teil nicht in der
Lage sein, das Ungleichgewicht der Augenbewegungsmuskulatur bzw. ihre eingeschränkte
Blicksteuerung beschwerdefrei und stabil zu kompensieren. Symptome zeigen sich unter anderem
in Form von Teilleistungsstörungen besonders im Bereich Ausmalen, Ausschneiden, Lesen,
Schreiben und auch zu Konzentrationsstörungen. Anstrengungsschwierigkeiten sind zum Beispiel
Augenbrennen, Augenschmerzen, Kopfschmerzen, Bauchschmerzen. Sie werden auch als
asthenopische Beschwerden bezeichnet.
Die Frage stellt sich, ob z.B. durch eine frühzeitige Korrektur des binokularen Sehens bzw. externe
Stimulation des magnozelluären Systems nachgeordnete Hirnfunktionen wieder aufgebaut werden
können, d.h. inwieweit ein einwandfreies stereoskopisches Sehen und „dynamisches“ Sehen wieder
zu einer ungestörten Raum-Lage Orientierung insbesondere in der rechten Hemisphäre führt.
Visuell-perzeptive und räumlich-konstruktive diagnostische Erklärungsansätze und demzufolge
auch therapeutische Ansätze finden in diesem Zusammenhang noch viel zu wenig Beachtung.
Therapie
In Deutschland herrscht insgesamt eine große Unsicherheit bezüglich der „richtigen“
Therapiemethoden. Inwieweit u.a. optische Sehhilfen und/oder Trainings o.g. Störungen verringern
können, ist Gegenstand offener Forschung. Augenärztliche Untersuchungen bei Kindern werden in
den meisten Fällen unter idealen „Ruhebedingungen„ (und hier meist auch nur mit dem
Schwerpunkt „Kurz- bzw. Weitsichtigkeit„) durchgeführt. Demzufolge erhält man sehr oft
unauffällige Ergebnisse. Es ist daher zur genauen Erfassung der eigentlichen Ursachen gefordert,
eine sehr differenzierte Diagnostik durchzuführen und eine adäquate Therapie einzuleiten.
Erfahrungen aus dem eigenen Patientengut zeigen, dass zum Beispiel bei Kindern mit einer
„Aufmerksamkeitsstörung“ (ADS) die Dosis von Methylphenhidat deutlich verringert werden kann,
wenn ein bestehendes Augenbewegungsungleichgewicht mit einer Prismenbrille korrigiert wird.
Eine alleinige medikamentöse Therapie wäre in solchen Fällen nicht der richtige Weg, da zum Teil
unnötig hohe Dosen von Methylphenhidat nur zu einer teilweisen Kompensation der Beschwerden
führen. Inwieweit das magnozelluläre System durch Methylphenhidat langfristig beeinflusst werden
kann, ist ebenfalls noch unklar. Untersuchungen aus dem eigenen Patientenkollektiv sehen z.T.
signifikante Verbesserungen der Blicksteuerungsefunde unter Methylphenhidat. Fischer und
Mitarbeiter konnten in ihren Untersuchungen zeigen, daß durch ein entsprechendes Training der
Blicksteuerung (nicht identisch mit sog. orthoptischen Sehübungen) bei ca. 1/3 der betroffenen
Kinder meßbar bessere Leseergebnisse erzielt wurden (9, 10). Blicksteuerungstrainings trainieren
wahrcheinlich eine bessere „Verschaltung“ magnozellulärer Systeme und können deswegen nicht
als klassisches Visualisierungstraining (12, 16) angesehen werden.
Von einigen Augenärzten werden diese sog. Visualtrainings insbesondere bei der Diagnose einer
Heterophorie kritisch gesehen (25). In erster Linie solle ein frühzeitiger adäquater Ausgleich des
einäugigen bzw. beidäugigen Sehens erfolgen. Schäfer fand 1995 in diesem Zusammenhang bei
einer Untersuchung von 341 Schülern in 31% ein unbefriedigendes Sehvermögen (19). Davon lag
in 82% eine behandlungsbedürftige Hyperopie und in 75% eine Heterophorie (in den meisten Fällen
ein latentes Außenschielen, Exophorie) vor. In der klinischen Erfahrung werden oft deutliche
Veränderungen bei der Behandlung mit Prismenbrillen gesehen (14). Hierbei werden schon sehr
geringe Abweichungen unter Anstrengungsbedingungen korrigiert, mit dem Ziel einer normale
binokulare Fusion zu erreichen, da es sonst zu einer Dekompensation kommt. Diese Methode ist in
der augenärztlichen Schulmedizin allerdings heftig umstritten. Schäfer hält eine Prismenbrille vor
allem bei Höhenabweichungen der Augen und bei latentem Außenschielen indiziert (19, 20).
Die noch von vielen Augenärzten vertretene und überholte Behauptung, daß Patienten von der
Prismenbrille abhängig würden, trifft nicht zu. „Abhängigkeit“ entsteht nur dann, wenn dem
betroffenen Kind objektiv geholfen wird, wenn es also zum Beispiel seine Kopfschmerzen verliert
oder wenn es anfängt Lust am Lesen zu bekommen; kurz gesagt, wenn seine visuelle Wahrnehmung
verbessert wird. Auch ein Kurzsichtiger wird von seiner Brille abhängig werden, weil auch seine
visuelle Wahrnehmung damit einfach besser wird.
Bei etwa 3% der Prismenbrillenkorrektion wird eine operative Augenmuskelkorrektur erfolgen,
weil hier eine große Winkelfehlsichtigkeit aus technischen Gründen nicht vollständig mit
Prismenbrillen ausgeglichen werden kann. Diese Operation erfolgt aber nur dann, wenn zuvor
objektiv die Prismenbrille zu einer deutlichen Verbesserung der Symptome geführt hatte.
Bevor jedoch ein Augenbewegungsmuskelungleichgewicht mit einer Prismenbrille korrigiert wird,
sind Sehfehler wie Hyperopie, Myopie und Astigmatismus zuerst auszugleichen. Hier setzt sich
leider auch viel zu langsam bei Augenärzten durch, daß eine frühzeitige und exakte Korrektion aller
auch noch so kleinen Sehfehler notwendig ist, da bereits hierdurch aus entwicklungspädiatrischer
Sicht oft deutliche Entwicklungsfortschritte zu erzielen sind.
Es bedarf einer sehr viel engmaschigeren wissenschaftlich/klinischen Zusammenarbeit von
entwicklungspädiatrisch/neuropädiatrisch orientierten Kinder- und Jugendärzten, Kinder- und
Jugendpsychiatern und mit Kindern und Jugendlichen erfahrenen Augenärzten sowie auch ggf.
biophysikalisch orientierten Arbeitsgruppen. Zudem haben sich auch einige Augenoptiker spezielle
Fachkenntnisse bei Kindern erworben und können in der Zusammenarbeit mit hierin erfahrenen
Augenärzten hilfreich sein. Eine entwicklungspädiatrische Koordination, die neurophysiologische
(biophysikalische und biochemische) Prozesse in der Entwicklung berücksichtigt, ist in jedem Fall
notwendig.
Informationen über die Beschwerdesymptomatik sind gezielt zu erfragen, wobei neben den Eltern
auch Erzieherinnen und Lehrerinnen wichtige Informationsquellen sind und zwecks
Verlaufskontrolle der gesamten therapeutischen Maßnahmen und der Brillenkorrektion ein
intensiver Austausch unbedingt erforderlich ist.
Vielfach erhalten Eltern leider aus Unkenntnis keine adäquate Information über mögliche
Einschränkungen des frühkindlichen Sehens und beginnen den Kreislauf einer diagnostischen und
therapeutischen Odysee. Es ist Aufgabe der Behandelnden, diese Problematik so allgemein
verständlich darzulegen, daß auch Eltern eine Chance haben, auch Ziele einer adäquaten visuellen
Entwicklung zu verstehen.
Mögliche Konsequenzen z.B. einen möglichen operativen Eingriff, die zwar nur bei einem geringen
Prozentsatz nach den zugänglichen Informationen auftreten, müssen mit den Eltern im Vornherein
klar besprochen werden. Dies versteht sich ebenso selbstverständlich wie die Aufklärungspflicht bei
einer Polioimpfung über die temporäre Ausscheidung des Erregers mit dem Stuhl und den
Hinweisen auf gebotene Versichtsmaßnahmen.
Unterschiedliche Meinungen hinsichtlich einer prismatischen Versorgung zwischen den
Berufsgruppen Augenärzte und Augenoptiker um eine bestimmte Methodik zur Messung des
kompensierten Augenbewegungsmuskelungleichgewichtes (23) sind angesichts der vielen
zunehmenden und zum Teil viel besser lösbaren Probleme unserer Kinder und Jugendlichen mit
Beschwerden aus entwicklungspädiatrischer Sicht sowie der z.T. schon vorhandenen
wissenschaftlich neurophysiologischen Daten nicht zu verstehen. Insbesondere muß zukünftige
Forschung klären, welche äußeren Randbedingungen (z. B. Zunahme der Medien, (13)) sich
verändert haben, die möglicherweise zu einem Umdenkprozeß in Bezug auf die Notwendigkeit
frühzeitiger und spezifischer okulärer Korrektionen stattfinden muß.
icht sowie der z.T. schon vorhandenen wissenschaftlich neurophysiologischen Daten nicht zu
verstehen. Insbesondere muß zukünftige Forschung klären, welche äußeren Randbedingungen (z. B.
Zunahme der Medien, (13)) sich verändert haben, die möglicherweise zu einem Umdenkprozeß in
Bezug auf die Notwendigkeit frühzeitiger und spezifischer okulärer Korrektionen stattfinden muß.
Literatur
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2)Birbaumer, N. und Schmidt, R.F (Hrsg.) Biologische Psychologie Springer Verlag, 1991
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14)Pestallozi, D.: Schweizer Optiker 67: 4-13, 1991
15)Ratey, J.J.: A user´s guide to Guide to the brain, Pantheon 2001
16)Richman, J. E. und Cron, M.T.: Guide to Vision Therapy, A clinical handbook, Bernell, Indiana
17)Rösenkötter, H.: Neuropsychologische Behandlung der Legasthenie, Beltz Psychologie Verlags
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18)Rösenkötter, H.: Die Neurophysiologie des visuellen Systems bei Kindern mit Legasthenie in:
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20)Schäfer, W. D.: Visuelle Wahrnehmung bei Legasthenie. In: Sprache Stimme Gehör 22: 13-16,
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22)Stein J., Talcot, J.: Impaired neuronal timing in developmental dyslexia - The magnocelluar
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25)Wulff, U: Gestörtes beidäugiges Sehen und Schulversagen
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