Internationale Artikel Professionelle Beratungsmethoden für die integrative Ernährungsberatung mit TCM-Diätetik: Nährstoffzufuhr mit Ernährungspyramiden abschätzen Ruth Rieckmann Die Ernährung soll viel Qi und alle lebensnotwendigen Nährstoffe liefern. Ernährungsprotokolle aus der Beratungspraxis zeigen: Die Realität sieht anders aus. FastFood, Süßes und Alkohol, aber auch Fleisch oder Milchprodukte werden zu häufig verzehrt. Wichtige Lebensmittelgruppen wie Wasser, Gemüse, Vollkorngetreide oder Fisch kommen zu kurz. Bei solchen Schwachpunkten wirken auch die diätetischen Strategien der TCM nicht zufriedenstellend. Die integrative Ernährungsberatung verbindet drei Aspekte, um Gesundheit zu erhalten oder Krankheiten zu lindern: ernährungswissenschaftliche Erkenntnisse, die Diätetik der Chinesischen Medizin und professionelle Beratungsmethoden. Die Pyramidenmodelle der Ernährungswissenschaft vermitteln Basiswissen anschaulich und alltagstauglich. Denn damit Ernährungsempfehlungen umgesetzt werden, müssen sie einfach und eindeutig, aber dennoch flexibel im Alltag anzuwenden sein. Ernährungspyramiden ermöglichen Klienten, Stärkendes aus dem Lebensmittelangebot auszuwählen und das persönliche Maß zu finden. Sie passen zu den lebensmittelbasierten Empfehlungen der Chinesischen Medizin, weil sie sich auf Lebensmittelgruppen und Portionen an Stelle von Kalorien und Nährstoffen beziehen. Individuelle Anpassungen sind möglich und sinnvoll. Ein weiterer Nutzen dieser Modelle: das gleiche Modell erleichtert die Auswertung des Ernährungsprotokolls, das Gespräch mit den Patienten und deren eigenständige Umsetzung im Alltag. Lebensmittelauswahl in den Klassikern der TCM Chinesische Klassiker wie der gelbe Kaiser geben Empfehlungen zum Verzehr verschiedener Lebens188 mittelgruppen: „Nimm Getreide als Nahrung, Früchte zur Unterstützung, Tierisches zum Energie vermehren, Gemüse zum Füllen.“ Sie betonen den Wert der Mahlzeit und der Esspausen dazwischen: „Der Magen muss sich füllen und leeren.“ Auch Ernährung als Krankheitsursache war bekannt: „Wenn das Magen-Qi schwach oder die Nahrungsaufnahme übermäßig wird, dann wird nicht nur das Qi von Milz und Magen geschädigt, sondern auch das Ursprungs-Qi verkümmert. Viele Krankheiten können nun entstehen“ (Li Gao, Pi Wei Lun). Den Magen bei einer Mahlzeit nur bis zu 80% zu füllen wird bis heute empfohlen (1). Bis in das letzte Jahrhundert mögen solche Empfehlungen in Kombination mit bewährten Kochrezepten, festen Essenszeiten sowie saisonalem und regionalem Nahrungsangebot ausreichend gewesen sein. Angesichts der modernen Essgewohnheiten mit ständigem Snacking, FastFood-Konsum, Milchkaffee XXL oder Rohkostteller statt einer Mahlzeit greifen die Empfehlungen der Klassiker nicht mehr: ihre Botschaften werden nicht mehr verstanden. Moderne Ernährungsgewohnheiten Viele junge Menschen sind mit natürlichen, unverarbeiteten Lebensmitteln nicht mehr vertraut und können keine Mahlzeit daraus zubereiten. Singles und Zwei-Personen-Haushalte greifen unter der Woche zu Fertigprodukten aus der Mikrowelle und nehmen sich die Zeit zum Kochen nur am Wochenende (2). Gegessen und getrunken wird immer häufiger spontan, was am Arbeitsplatz und unterwegs angeboten wird und verlockend aussieht oder riecht. Die Portionsgrößen von Softdrinks, Fast-Food und ZTCM 3-4/2012 Ernährungspyramiden Süßigkeiten haben sich zwischen 1959 und 2000 um rund 300 % vergrößert. Und gegessen wird oft bis die Tüte oder der Behälter der Fertigmahlzeit leer sind. Die Kunden werden durch niedrigere Preise für größere Portionen verführt, Hunger und Sättigung spielen nur eine untergeordnete Rolle (3). Süßigkeiten und die Lock-Angebote der Fast-Food-Ketten sind für jedes Taschengeld und auch bei niedrigem Einkommen erschwinglich. Traditionelle Mahlzeiten aus frischem Gemüse der Saison, Kartoffeln oder Getreide und maßvoll tierischen oder pflanzlichen Eiweißquellen treten in den Hintergrund. Durch den Mangel an Essrhythmus und Bewegung, qualitativ hochwertigen Lebensmitteln und sinnvollen Portionsgrößen entstehen viele ernährungsbe- dingte Erkrankungen wie z.B. Adipositas, Diabetes mellitus, Eisenmangelanämie, Jodmangel-Struma, Bluthochdruck oder Gastritis. Als Zang-Fu-Syndrome der TCM formuliert sind dies Milz- und MagenQi-Mangel, Feuchtigkeit, Schleim und auf Dauer auch Qi-Mangel in anderen Funktionskreisen, Blut-, Yin- oder Yang-Mangel, je nach Konstitution, Lebensstil und Ernährungsgewohnheiten. Moderne Ernährung kann so weit vom Ideal abweichen, dass es den Betroffenen nicht möglich erscheint, ihre Gewohnheiten einfach umzustellen. Um auch diese Klienten in der Beratung dort abzuholen, wo sie stehen und sich auf ihr Tempo bei der Umstellung einzustellen, eignen sich die Modelle der Ernährungspyramiden. Abb. 1: Die aid-Ernährungspyramide einfache Symbole statt umständlicher Nährwertangaben. ©aid infodienst, Idee: S. Mannhardt Wir danken für die freundliche Abbildungsgenehmigung. ZTCM 3-4/2012 189 Internationale Artikel Einfache Botschaften – einfache Bilder Die einfachste Botschaft der Diätetik der Chinesischen Medizin lautet: Esst regelmäßige Mahlzeiten mit maßvollen Portionen aus natürlichen Lebensmitteln und geht sparsam mit Genussmitteln wie Süßigkeiten oder Alkohol um. Die Diätetik der TCM beginnt nicht erst bei der Analyse von Temperaturverhalten, Geschmacksrichtungen, Funktionskreisbezügen oder Wirkrichtungen der Lebensmittel. Heutzutage ist eine integrative Diätetik nötig, die die Empfehlungen der Klassiker der TCM auf unsere Lebensumstände anwendet und sie so kommuniziert, dass sie verstanden werden. Menschen lernen effektiv durch einfache Bilder und behalten das Gelernte in bildhafter Form besser (4). Ernährungspyramiden veranschaulichen die natürlichen Lebensmittelgruppen und die Extras wie Fast-Food. Sie geben Anhaltspunkte, wie viele Portionen täglich verzehrt werden sollten und wie groß die Portionen sind. Zwei Pyramidenmodelle eignen sich besonders für die integrative Ernährungsberatung: die aid-Ernährungspyramide für verschiedene Altersgruppen und die Gießener vegetarische Ernährungspyramide für erwachsene Vegetarier und Veganer. Die aid-Ernährungspyramide Die aid-Ernährungspyramide ermöglicht es Menschen, ihr Essverhalten zu überprüfen und zu verbessern. Die Pyramide basiert auf den Empfehlungen der Deutschen Gesellschaft für Ernährung (DGE) und des Forschungsinstituts für Kinderernährung in Dortmund (FKE). Statt umständlicher Nährwertangaben verdeutlichen einfache bunte Symbole und Zahlen auch Kindern oder Menschen mit Sprachbarrieren eine ausgewogene Lebensmittelauswahl. Portionen werden durch die Größe der Hände abgeschätzt. Die Fläche der Pyramide zeigt den Anteil der Lebensmittelgruppen an der Ernährung. (vgl. Abb. 1) Ampelfarben bewerten die Lebensmittelgruppen zusätzlich: • Grün: reichlich pflanzliche Lebensmittel als Beilage und Wasser zum Durstlöschen • Gelb: mäßig Fleisch, Fisch, Milchprodukte und Käse zum maßvollen Genuss • Rot: sparsam Fette zum Verfeinern und Extras zum Genießen Würfelaugen empfehlen die Zahl der Portionen der einzelnen Lebensmittelgruppen pro Tag: • 6 Portionen Getränke • 5 Portionen Gemüse (3) und Obst (2) • 4 Portionen Getreide und Kartoffeln • 3 Portionen Milch, Milchprodukte und Käse sowie 1 Portion Fleisch oder Fisch • 2 Portionen Streichfette und Öle • 1 Extra: z.B. Limonade, Pommes, Süßigkeiten, Alkohol Die eigene Hand ist das Maß für eine Portion: • kleine Kinderhände – kleine Portionen • große Männerhände – große Portionen • Frisches wie Gemüse: beide Hände voll • Getränke: 1 Glas, das in die eigene Hand passt • Brotscheiben: Umriss der Hand • 1 Portion Öl oder Streichfett: 1,5–2 EL • Extras: maximal 1 Handvoll oder 1 Stück (z.B. Kuchen, Schokoriegel) Tab. 1 Aid-Ernährungspyramide: Lebensmittelgruppen, Zahl und Größe der Portionen pro Tag im Detail (6) Lebensmittelgruppen und Portionen pro Tag Lebensmittelbeispiele Maße für 1 Portion 6 Portionen Getränke · · · · Mineralwasser Leitungswasser ungesüßter Kräuter- u. Früchtetee stark verdünnte Säfte (1:3) · 1 Glas, das in die eigene Hand passt 5 Portionen Obst, Gemüse und Salat · · · · · · rohes und gegartes Gemüse Salat Hülsenfrüchte frisches Obst Trockenobst Tipp: Saisonales Angebot nutzen! · 1 Handvoll Obst oder Gemüse, (z.B. 1 Apfel) 2 Hände voll, wenn voluminös (z.B. Blattsalat) oder kleinstückig (z.B. Kirschen) 190 · ZTCM 3-4/2012 Ernährungspyramiden 4 Portionen Brot, Getreide und Beilagen · · · · · · · Brot, Brötchen Getreide, Getreideflocken Müsli Reis Nudeln Kartoffeln Tipp: Vollkornprodukte bevorzugen! · · · 1 fingerdicke Scheibe Brot 2 Hände voll Müsli 2 Hände voll Beilagen (z.B. gegarter Reis, Nudeln, Kartoffeln) 3 Portionen Milch und Milchprodukte · · · · · Milch Joghurt, Kefir, Buttermilch Quark Käse Tipp: Fettarme Produkte bevorzugen! · · · 1 Glas Milch 1 Scheibe Käse 1 Becher Joghurt 1 Portion Fisch, Fleisch, Wurst oder Ei · · · · · Fleisch Geflügel Wurst, Schinken Fisch Ei · 1 handtellergroßes Stück Fleisch oder Fisch oder 2 Scheiben Wurst oder 1–2 Eier 2 Portionen Fette und Öle · · · · · · · Butter Margarine Speiseöl Bratfette Sahne Mayonnaise Tipp: Pflanzliche Öle bevorzugen! · 3 Teelöffel Öl oder Butter oder Margarine 1 Portion Extras · · · · · Süßigkeiten süße Getränke Gebäck salzige und fettreiche Snacks Alkohol · maximal 1 Hand voll (z.B. 1 Stück Kuchen, 1 Riegel Schokolade) oder 1 Glas süße oder alkoholhaltige Getränke Beratung mit der aidErnährungspyramide Die aid-Ernährungspyramide orientiert sich an der Esspraxis und nicht am Idealzustand. Sie enthält alle Lebensmittel, auch die zu reduzierenden Extras wie Fast-Food, Süßigkeiten oder Limonaden. Mit einem Protokoll, das auf einem Blatt für jeden Wochentag eine kleine Pyramide abbildet (zum Download: http:// www.aid.de/downloads/pyramidentagebuch.pdf ), lässt sich das Essverhalten selbst beobachten. Der Klient kann die verzehrten Portionen im Tagesverlauf ankreuzen und sein Essverhalten flexibel steuern. Alle Extras und Snacks werden notiert. Mahlzeiten werden analysiert, welche natürlichen Lebensmittel sie enthalten oder ob sie durch einen hohen Gehalt von Zucker, Fett, Salz oder Alkohol zu den Extras gehören. So kann schrittweise von der Analyse des Ist-Zustands die Veränderung der Gewohnheiten im Alltag trainiert werden, eigenständig oder mit Unterstützung durch Ernährungsberatung. Die einzelnen Portionen sollen als Mahlzeiten verzehrt werden. Neben drei Hauptmahlzeiten können bei Bedarf ZTCM 3-4/2012 · · · bis zu zwei Zwischenmahlzeiten eingeplant werden, z.B. bei Kindern. Die aid-Ernährungspyramide wird häufig in der Ernährungserziehung im Kindergarten und in der Schule eingesetzt. Eine Vielzahl von Medien als Poster, Spiele, Lieder, Broschüren für Kinder im Kindergarten in der Grundschule oder weiterführenden Schule, große Wandmodelle mit Lebensmitteltafeln erleichtern die Ernährungsinformation und -beratung (vgl. www.aid-ernaehrungspyramide.de). In der präventiven Ernährungsberatung z.B. von Schwangeren sowie der Ernährungstherapie setzen Fachkräfte Ernährungspyramiden ein, um die Grundlagen einer ausgewogenen Ernährung zu erklären. Weiterführende Aspekte der Ernährungswissenschaften oder der TCM und eine individuelle Anpassung der Pyramide sind sinnvoll. Didaktisches Pyramidenmodell und Diätetik der Chinesischen Medizin Die Botschaften der aid-Ernährungspyramide sind bewusst stark vereinfacht und plakativ dargestellt. 191 Internationale Artikel Abb. 2: Die Gießener vegetarische Ernährungspyramide: für eine ausreichende Nährstoffversorgung mit weniger bzw. ohne tierische Lebensmittel. © Markus Keller und Claus Leitzmann; aus: Leitzmann C, Keller M: Vegetarische Ernährung, Ulmer Verlag, Stuttgart, 2. Aufl. 2010, S. 310. Wir danken für die freundliche Abbildungsgenehmigung. Dadurch lässt sie sich gut mit der Diätetik der Chinesischen Medizin verbinden. Die Stärke des Pyramidenmodells liegt darin, Menschen jeden Alters die Basis der Lebensmittelauswahl und der Portions- 192 größen einfach zu vermitteln und praktikable Entscheidungshilfen für den Alltag zu geben. Hier liegen die Herausforderungen der modernen Ernährung, auch aus Sicht der TCM. Mit der Pyramide ZTCM 3-4/2012 Ernährungspyramiden lässt sich besprechen und trainieren, was in den TCM-Klassikern nicht steht, weil es damals nicht notwendig war: Welche Wahl treffe ich angesichts ständiger Verlockungen durch verführerische Speisen, Getränke und Genussmittel, die im Übermaß krank machen? Was sind angemessene Portionen, wenn Bewegungsmangel die Regel und nicht die Ausnahme ist? Wo Patienten weitere Aspekte der chinesischen Diätetik brauchen, lassen sich diese ergänzen. Je nach Zang-Fu-Syndromen können zu den einzelnen Lebensmittelgruppen bestimmte Sorten genannt werden, die gezielt stärken bzw. reduziert werden sollen, da sie das Syndrom verstärken. Alle Lebensmittelgruppen wie z.B. Gemüse, Getreide, Käse, Nüsse, Gewürze und Getränke sowie die Zubereitungsmethoden können mit einbezogen werden. Bei Bedarf können beispielhafte Rezepte oder Hinweise zur Kochpraxis gegeben werden. Insbesondere bei Erkrankungen sind sowohl aus ernährungswissenschaftlicher als auch aus TCM-Sicht über die Pyramide hinaus weitere Aspekte in der Beratung zu berücksichtigen. Das detailliertere Modell der Gießener vegetarischen Lebensmittelpyramide liefert nützliche Informationen, wenn in der integrativen Ernährungsberatung tierische Lebensmittelgruppen reduziert und bestimmte pflanzliche Lebensmittel wie Nüsse oder Hülsenfrüchte bevorzugt werden sollen. Die Gießener vegetarische Lebensmittel-Pyramide Die aid-Ernährungspyramide empfiehlt den maßvollen Verzehr von Milchprodukten, Fleisch, Fisch und Ei. Damit eignet sie sich nicht für Menschen, die eine oder mehrere Lebensmittelgruppen tierischen Ursprungs nicht verzehren. Dies gilt z.B. für Vegetarier, die auf Fleisch und Fisch verzichten oder für Veganer, die sich ausschließlich mit pflanzlichen Lebensmitteln ernähren. Auch in der integrativen Ernährungsberatung mit TCM gibt es Zang-Fu-Syndrome, bei denen der Verzehr bestimmter tierischer Lebensmittel reduziert werden sollte, z.B. bei „Milz-Qi-Schwäche mit Feuchtigkeit“ der Verzehr von Milchprodukten oder beim Vorliegen von „Feuchter Hitze“ im Funktionskreis Milz oder Dickdarm zusätzlich auch das Fleisch. Die Gießener vegetarische Lebensmittelpyramide gibt praktikable, wissenschaftlich fundierte Empfehlungen zur Lebensmittelauswahl für die ovolacto-vegetarische und die vegane Ernährungswei- ZTCM 3-4/2012 se. Sie zielt ab auf eine ausreichende Nährstoffversorgung mit weniger bzw. ohne tierische Lebensmittel und die Vorbeugung von chronischen Erkrankungen (vgl. 7). Die Basis der vegetarischen Ernährungspyramide bilden, wie bei der aid-Ernährungspyramide, die Lebensmittelgruppen Wasser und pflanzliche Lebensmittel, welche reichlich verzehrt werden sollen (vgl. Abb. 2): • Wasser und andere energiearme und kohlenhydratfreie Getränke • Gemüse inkl. unerhitzte Frischkost und Säfte • Obst inkl. Trockenfrüchte und Säfte • Vollkornprodukte und Kartoffeln In der Pyramidenmitte, zum maßvollen Verzehr, befinden sich: • Hülsenfrüchte, Sojaprodukte und weitere Proteinquellen • Nüsse und Samen • pflanzliche Fette und Öle In der Pyramidenspitze sind die Lebensmittel genannt, die nicht verzehrt werden müssen, aber in geringen Mengen toleriert werden können: • Milchprodukte und Eier (nur für Ovo-Lacto-Vegetarier) • Snacks, Alkohol und Süßigkeiten Die Lebensmittelgruppe „Fleisch und Fisch“ fehlt. Stattdessen werden zwei pflanzliche Lebensmittelgruppen explizit genannt: Als wichtige pflanzliche Proteinquellen die Gruppe „Hülsenfrüchte, Sojaprodukte und weitere Proteinquellen (z.B. Seitan)“ sowie die Gruppe der „Nüsse und Samen“. Nicht empfohlen, aber möglich, sind der Verzehr von Milchprodukten, Eiern und Extras wie Snacks, Süßigkeiten und Alkohol. Da bei veganer Ernährung natürliche Lebensmittel bei einzelnen kritischen Nährstoffen (z.B. Vitamine B12 und D, Kalzium) keine ausreichende Nährstoffzufuhr ermöglichen, ergänzen Angaben zu Supplementen und angereicherten Lebensmitteln sowie zu Sonnenlichtexposition und Bewegung die Pyramide. Die Anteile der Lebensmittelgruppen an der Pyramidenfläche verdeutlichen den prozentualen Anteil an der Ernährung. Als Portionsmaß gilt nicht das Handmaß, sondern Haushaltsmaße, z.B. Esslöffel, oder Gramm-Angaben der Lebensmittel (vgl. Tab. 2). Die Mengenangaben der Lebensmittel beziehen sich auf eine Nahrungsenergiezufuhr von 2.000 kcal pro Tag für Erwachsene. 193 Internationale Artikel Tab. 2 Vegetarische Ernährungspyramide: Empfehlungen zu Ernährung und Lebensstil (8) Lebensmittelgruppe/ kritische Nährstoffe Lebensmittelbeispiele empfohlene Tagesmenge Getränke · · · Wasser ungesüßte Tees alkoholfreie, energiearme Getränke · insgesamt 1–2 l Gemüse · · · Rohkost gegartes Gemüse Gemüsesaft · · mind. 400 g ¼ davon als Saft möglich Obst · · · Obst Trockenfrüchte Saft · · · mind. 300 g davon max. 50 g Trockenfrüchte ¼ der Obstmenge kann als Saft getrunken werden Vollkornprodukte und Kartoffeln · · · · · Getreide Reis Brot Nudeln Kartoffeln 2–3 Portionen pro Tag, 1 Portion ist jeweils: · 80 g Getreide oder Reis (Rohware) oder 250 g gekocht oder · 2–3 Scheiben Vollkornbrot à 50 g oder · 125 g Vollkornteilwaren (Rohware) oder 200 g gekocht oder · 2–4 Kartoffeln (200–350 g) Hülsenfrüchte, Sojaprodukte, weitere Proteinquellen · · · · · · Erbsen, Bohnen, Linsen, Kichererbsen Sojamilch Sojamilcherzeugnisse Tofu Seitan Nüsse und Samen · · · · · Wal-, Hasel-, Cashewnüsse Mandeln Leinsamen Kürbis-, Sonnenblumenkerne Nussmuse · 30–60 g Pflanzliche Öle und Fette · Raps-, Walnuss-, Leinöl · 2–4 Esslöffel Milch und Milchprodukte · · · Milch Joghurt Käse · · 0–250 g Milch oder Joghurt oder 0–50 g Käse oder entsprechende Anteile mischen Eier · Hühnerei · 0–2 Stück pro Woche Extras · Snacks · falls gewünscht, in Maßen · Süßigkeiten · Alkohol Bewegung · mind. 30 Minuten pro Tag Sonnenlicht/Vitamin D · mind. 15 Minuten pro Tag Vitamin-Supplemente oder angereicherte Lebensmittel im Winter Vitamin B12 · Veganer: angereicherte Lebensmittel oder Supplemente Kalzium · Veganer: gezielt kalziumreiche oder angereicherte Lebensmittel auswählen oder Supplemente 194 · 1–2 x pro Woche 40 g Hülsenfrüchte (getrocknet) oder 100 g gekocht 50–150 g Sojaprodukte und weitere Proteinquellen (z.B. Seitan) pro Tag ZTCM 3-4/2012 Ernährungspyramiden Nährstoffversorgung bei vegetarischer und veganer Ernährung Die Empfehlungen der Gießener vegetarischen Lebensmittelpyramide basieren auf wissenschaftlichen Untersuchungen. Eine lakto-vegetarische Ernährung kann den Nährstoffbedarf bis auf wenige Ausnahmen von der Kindheit bis ins hohe Lebensalter decken. Sie muss jedoch • abwechslungsreich, • altersgerecht bekömmlich zubereitet, • gemäß den Empfehlungen der vegetarischen Ernährungspyramide geplant und • bei Bedarf durch Supplemente oder angereicherte Lebensmittel ergänzt werden. Kritische Nährstoffe bei ovo-lacto-vegetarischer Ernährung sind häufig Vitamin D und Vitamin B12. In der Schwangerschaft und Stillzeit können zusätzlich Eisen, Jod und Zink, sowie bei Veganerinnen auch die Vitamine B2, B6 und Kalzium Versorgungsengpässe darstellen. Diese Engpässe treten jedoch auch bei Mischköstlerinnen auf, die ihre Ernährung nicht ausgewogen zusammenstellen (9). Zur Vermeidung von Versorgungsengpässen mit kritischen Nährstoffen wird empfohlen: • tägliche Sonnenlichtexposition (15 min) oder Vitamin-D-Supplemente im Winter • mind. 30 Minuten körperliche Aktivität pro Tag (u.a. zur Osteoporoseprophylaxe) • ausschließliche Verwendung von jodiertem Speisesalz und gelegentlicher Verzehr von Meeresalgen mit moderatem Jodgehalt (z.B. Nori) Zusätzliche Empfehlungen für Veganer sind: • mit Vitamin B12 angereicherte Produkte (z.B. Sojamilch, Säfte) • kalziumreiche pflanzliche Lebensmittel (z.B. Grünkohl, Nüsse, Samen), kalziumreiches Mineralwasser, mit Kalzium angereicherte Produkte oder Supplemente • Überprüfung des Versorgungsstatus bei Kinderwunsch, Schwangerschaft, Stillzeit und im höheren Alter Beratung mit der vegetarischen Ernährungspyramide Die vegetarische Pyramide ergänzt die stark vereinfachte aid-Pyramide für Mischköstler. Eine Reduktion von tierischen Lebensmitteln wie Fleisch, ZTCM 3-4/2012 Milch, Käse und Eiern ist möglich, wenn sie durch gezielte Auswahl pflanzlicher Lebensmittel und ggf. angereicherte Lebensmittel oder Supplemente ausgeglichen wird. Auch für Nicht-Vegetarier gibt sie sinnvolle Portionsgrößen für in der TCM therapeutisch eingesetzte Lebensmittel wie Nüsse, Samen und Hülsenfrüchte an. Aber auch die steigende Zahl der Vegetarier, der Vegetarierbund Deutschland spricht von 6 Millionen, hat Beratungsbedarf. Meist sind es junge, gut gebildete Frauen in Großstädten, die aus Gründen des Tierschutzes auf Fleisch, Fisch und Eier verzichten. Manche lassen diese Lebensmittel weg, ohne sich um eine ausgewogene Zusammenstellung der vegetarischen Ernährung zu informieren (10). Die vegetarische Pyramide ermöglicht in der Beratung eine schnelle Orientierung, welche Lebensmittelgruppen fehlen, ob sie sinnvoll und bedarfsdeckend durch pflanzliche Lebensmittel oder Supplemente, Sonnenlichtexposition und Bewegung ersetzt werden oder ob hier Beratungsbedarf besteht. Auch die vegetarische Ernährungspyramide lässt sich individuell auf den Klienten abzustimmen. Je nach vorliegendem Zang-Fu-Syndrom der TCM sind die Empfehlungen zu den stärkenden und schwächenden Lebensmitteln zu differenzieren. So sind z.B. bei Osteoporose durch „Nieren- und MilzYang-Mangel“ eher die kalziumreichen Hülsenfrüchte mit wärmenden Gewürzen und geröstete Walnüsse empfehlenswerte Kalziumlieferanten, ein Übermaß an kalziumreichen Mineralwasser und hochdosierten Kalziumpräparaten mit kaltem Temperaturverhalten jedoch nicht. Pyramidenmodelle in der integrativen Ernährungsberatung Ernährungspyramiden sind nur ein Baustein in der Beratung. Mehr Informationen, die ganzheitlich ausgewertet und klientenzentriert besprochen werden können, liefern ausführliche 7-Tage-Ernährungs- und Beschwerdenprotokolle, z.B. zum Tagesablauf, dem Mahlzeitenrhythmus, den Lebensmittelwirkungen gemäß der TCM, emotional bedingtem Essen und den Diskrepanzen zwischen der Selbstwahrnehmung der Ernährung und dem Protokoll (11, 12). In der Literatur zur Diätetik der Chinesischen Medizin fehlen Richtwerte und Modelle, um zu beurteilen, ob die Ernährungsweise eines Klienten eine ausreichende Qi- und Nährstoffquelle für ihn darstellt und die sich eignen, um ihm konkrete und dennoch flexible Empfehlungen zu geben. Listen von nach TCM stärkenden und schwächenden 195 196 Smoothies gezuckertes Konservenobst kandierte Früchte Nüsse Ölsaaten Croissant Milchschnitte Müsliriegel Kroketten Pommes frites · · · · · · · Brot, Getreide und Beilagen Obst · · · · · Fertiggerichte mit geringem Gemüseanteil Wurstsalat Kartoffelsalat · Gemüse, Salat Obst wird per se als gesund angesehen und häufig in größeren Mengen roh verzehrt, auch als Ersatz für Mahlzeiten. Nach TCM wirken viele, insbesondere Zitrus- und exotische Früchte zu befeuchtend und kühlend in unserem Klima. Die Banane fördert nach TCM Erkältungskrankheiten mit Schleim, besonders bei Kleinkindern. Einheimisches Obst der Saison sollte bevorzugt und im Winter auch mit wärmenden Gewürzen kurz gegart werden, da es nach TCM sonst zu kühlend und befeuchtend wirken kann. Trockenfrüchte enthalten viel Zucker und sollten nur in kleinen Mengen und zu einer Mahlzeit verzehrt werden, auch die therapeutisch in der TCM gerne eingesetzten wie Jujuben, Longanen und Goji-Beeren. Obst kann Gemüse weder in seiner Wirkung nach TCM noch in seinem Nährstoffgehalt ersetzen. Obst enthält große Mengen natürlichen Fruchtzucker, der in Smoothies aber auch Fruchtjoghurts stark konzentriert sein kann, eine häufige Ursache für Fruktoseintoleranz. Obst in kandierter oder in Zuckersirup konservierter Form enthält viel Zucker und ist damit ein „Extra“. Nüsse sind wertvoll, sollten aber aufgrund des Fettgehalts nur teelöffelweise dosiert werden (s.u.). Stark zucker- oder fetthaltige Beilagen oder Backwaren und Cerealien zählen zu den Extras. Nach TCM fördert Frittiertes oder mit viel Fett Gebackenes Feuchtigkeit oder feuchte Hitze. In Wasser gekochte, gedünstete, gedämpfte oder in wenig Öl gebratene Beilagen sind verträglicher. Backwaren aus fein gemahlenen Vollkornmehlen, längerer Teigführung mit Sauerteig oder Backferment sind bekömmlicher als Hefebrote. · · · · · · · · · · · · · · · · · Fertiggerichte wie Pizzen, Pasta oder Aufläufe enthalten oft dem Namen nach Gemüse, tatsächlich entfällt nur ein geringer Prozentsatz des Gewichts darauf, der weit unter einer Portion Gemüse liegt. Wurst-, Käse-, Nudel- oder Kartoffelsalate zählen zu den jeweiligen Lebensmittelgruppen und zur Gruppe Fette/Öle für das Dressing. Sie sind meist fett- und salzreich. Nach TCM sind Rohkostsalate kein Ersatz für eine Mahlzeit, da sie viel Qi und Yang für die Verdauung verbrauchen. Empfehlenswert sind ein Beilagensalat aus Gemüse/Salat der Saison zu einer warmen Mittagsmahlzeit oder alternativ Gemüse in kurz gegarter Form oder gegarte Hülsenfrüchte mit einem Salat-Dressing. · · · · · · · Milch Milchkaffee Säfte Saftschorle 1:1 Limonaden Eistee Alkohol · · · · · · · Getränke Als Durstlöscher eignet sich warmes Leitungswasser. Mineralwasser, Kaffee, schwarzer und grüner Tee, Kräuter- und Früchtetees entfalten nach TCM spezifische Wirkungen und sollten nur in kleinen Mengen oder gezielt therapeutisch eingesetzt werden. Sie zählen zur Trinkmenge, ebenso wie Kraftbrühen. Milch, Joghurtgetränke und Milchkaffees sind Lebens- oder Genussmittel und keine Durstlöscher. Säfte sind nur in stark verdünnter Form (mindestens 1:3), in kleinen Mengen und zu den Mahlzeiten empfehlenswert. Kinder sollten so früh wie möglich an Wasser als Durstlöscher gewöhnt werden. Getränke mit Süßstoff können die natürliche Regulation von Hunger und Sättigung beeinträchtigen. Die Schwelle zur körperlichen Suchtentstehung liegt bei Frauen im Schnitt bei 10 g, bei Männern bei 20 g reinem Alkohol pro Tag. Das entspricht 1 bzw. 2 Gläsern Bier oder Wein. Nicht täglich Alkohol trinken. Besonderheiten Was gehört nicht dazu? Lebensmittelgruppe Tab. 3 Besonderheiten beim Einsatz von Ernährungspyramiden in der integrativen Ernährungsberatung Internationale Artikel ZTCM 3-4/2012 ZTCM 3-4/2012 gesalzene Erdnüsse Wasabi-Nüsse Schokonüsse gebrannte Mandeln Sahne Schmand Creme fraiche Sojasoße Miso gebrannte Mandeln gesalzene Erdnüsse scharfes Knabbersoja Speck Schmalz · · · · · · · · · · · · · · Nüsse und Samen Milch und Milchprodukte Hülsenfrüchte, Sojaprodukte und andere Proteinquellen Nüsse und Samen Fleisch, Geflügel, Wurst, Fisch, Eier · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · Fettreiches vom Tier gehört zur Gruppe Öle und Fette. Wer durch Sport oder Wachstum keinen hohen Energiebedarf hat, sollte bei tierischen Lebensmitteln die fettarmen Produkte bevorzugen. Ausnahme ist der fettreiche Seefisch, der aufgrund seines hohen Omega-3-Fettsäure-Gehaltes günstig ist, z.B. Lachs, Makrele, Hering, Sardine. Stark zucker- oder salzhaltige Nüsse bzw. Hülsenfrüchte zählen zu den Extras. Die Kombination aus stark befeuchtendem Lebensmittel mit konzentrierter Süße, Schärfe oder Salz und hohem Erhitzen potenziert nach TCM die ungünstige Wirkung z.B. bei Befunden mit Feuchtigkeit und feuchter Hitze. Nur Lebensmittel, die in einer üblichen Portion einen hohen Proteingehalt haben, zählen als Portion. Soja ist ein starkes Allergen und kann unverträglich sein. Auch das Klebereiweiß Gluten (meist aus Weizen gewonnen) führt häufiger zu Unverträglichkeiten. Einheimische Hülsenfrüchte wie Erbsen, Bohnen und Linsen sowie Nüsse und Samen können als Ersatz täglich verstärkt verzehrt werden. Milchprodukte haben das Image, gesund zu sein und werden häufig in sehr großen Mengen verzehrt, oft in Kombination mit hohem Zucker- oder Salzgehalt. Cappuccino und Latte macchiato enthalten viel Kuhmilch, meist mit hohem Fettgehalt, und wenig Kaffee. Sie zählen zu den Milchprodukten oder den Extras, je nach Diagnosen des Patienten. Mehrfach zwischen den Mahlzeiten getrunkene große Milchkaffees mit hohem Fettgehalt und Zucker können Übergewicht und Diabetes fördern. Liegt bei Laktoseintoleranz nach TCM die Disharmonie Milz-Qi-Schwäche mit Feuchtigkeit vor, reicht es meist nicht, laktosefreie Milchprodukte zu verzehren oder Laktase einzunehmen. Fettreiche Produkte aus Milch zählen zu Fetten und Öle. Bei 30 % Fettgehalt entsprechen 3 Esslöffel Sahne 1 EL Öl. Gemäß TCM wirken Schafs- und Ziegenmilchkäse weniger befeuchtend als Kuhmilchkäse. Kuhmilch befeuchtet und kühlt weniger als gesäuerte Milchprodukte. Oft reicht eine Reduzierung auf die empfohlenen Mengen der Pyramiden und eine Reduktion des Kuhmilchanteils. Bei Verzicht gelten die Empfehlungen der vegetarischen Pyramide. Nüsse und Ölsaaten enthalten viele wertvolle Nährstoffe, zählen aufgrund des Fettgehalts zur Gruppe der Fette und Öle. Da bei vegetarischer Ernährung versteckte Fette aus tierischen Produkten reduziert sind, können Vegetarier Nüsse und Samen zusätzlich zur Öl- und Fettmenge der Mischköstler als eigenständige Lebensmittelgruppe verzehren. Allergiker auf Frühblüher-Pollen sensibilisieren sich schnell auf rohe Haselnüsse und Walnüsse. Alternativen sind botanisch nicht verwandte Nüsse und Samen wie Leinsamen und Cashewkerne. Erdnüsse sind botanisch gesehen Hülsenfrüchte, haben ähnliche Nährstoffe wie Nüsse und zählen ebenfalls zu den stark allergenen Lebensmitteln. Hoch erhitzte, scharf oder salzig gewürzte Nüsse sind weniger empfehlenswert und zählen zu den Extras. Walnüsse, Pinienkerne und Leinsamen werden in der TCM gerne als Tonika eingesetzt. Sie befeuchten jedoch auch stark und es sollte eine (geringe) Tagesdosis empfohlen werden damit sie nicht „1 Handvoll“ verzehrt werden. „Körnerbrötchen und –brote“ enthalten neben einigen Körnern meist Auszugsmehl und färbende Zutaten und kein Vollkorn. Low-carb-Brote können große Mengen Weizengluten, Nüsse und Samen enthalten. Fettgehalt, mögliche Unverträglichkeiten und Allergien sind zu beachten (s.u.). Ernährungspyramiden 197 Internationale Artikel Lebensmitteln sind zu ungenau, weil sie keine Mengenangaben enthalten. Kochrezepte können unflexibel sein, weil sie den Außer-Haus-Verzehr nicht berücksichtigen. Beides ist sinnvoll, aber oft als Ergänzung zum Basismodell der Pyramiden. Angesichts der heutigen Ernährungstrends, muss die integrative Ernährungsberatung folgende Punkte berücksichtigen: • Deckung der Nährstoffversorgung in der jeweiligen Lebensphase • Vermeidung von Überversorgung mit „Kalorien“, Fett, ungünstiger Fettqualität, Zucker, Salz, Koffein und Alkohol • Versorgungsengpässe und sinnvolle natürliche und angereicherte Lebensmittel oder Supplemente • Vermeidung von unnötigen, falsch dosierten oder kombinierten Supplementen Die vorgestellten Pyramidenmodelle eignen sich zur groben Abschätzung der Nährstoffversorgung gesunder Menschen, auch bei Verzicht auf bestimmte Lebensmittelgruppen. Sie geben als praktische Handportion oder als Mengenangabe in Gramm eine einfache Anleitung zum Zusammenstellen von Mahlzeiten bzw. zum Überblickbehalten über Zwischenmahlzeiten und Extras. Insbesondere das Modell des aid eignet sich als Basismodell für viele Beratungssituationen. Empfehlungen der vegetarischen Ernährungspyramide lassen sich bei Bedarf auch in das Modell des aid übertragen, indem z.B. einzelne Portionen von Milchprodukten durch Hülsenfrüchte ersetzt werden, Nüsse und Samen in die Obst- oder die Fett-Portionen mit eingebaut werden. Stolperfallen und besondere Aspekte bei der integrativen Beratung mit Ernährungspyramiden zeigt die Tabelle 3. Die Einfachheit der Modelle ermöglicht es, die Kernbotschaft seit den Klassikern der TCM, dass maßvolle Portionen aus den verschiedenen Gruppen der natürlichen Lebensmittel zur Gesunderhaltung nötig sind, einfach und verständlich zu vermitteln. Das Pyramiden-Tagebuch des aid unterstützt die Klienten bei der Selbstbeobachtung und dem Training neuer Essgewohnheiten im Alltag (12). Pyramiden-Poster, Wandtafeln mit Fotos der Portionsgrößen der einzelnen Lebensmittel, Vorlagen für den Schulunterricht und Projekte im Kindergarten sowie Lieder sprechen viele Sinne an, fördern das Gemeinschaftserlebnis beim Essen und schaffen ein positives Gefühl gegenüber dem, was in der Werbung zu kurz kommt: regelmäßige Mahlzeiten aus bekömmlich zubereiteten Lebensmitteln. 198 Fallbeispiele zum Einsatz der Ernährungspyramiden Adipositas per magna 17-jährige Schülerin, 1,62 m , 133 kg, Body Mass Index (BMI) 51, lebt bei den Eltern, nimmt ständig weiter zu, isst nach ihrer eigenen Einschätzung und der der Mutter nicht viel; häufig appetitlos, kein Durstgefühl, 4 x täglich breiiger Stuhlgang, Hypothyreose, Cholezystektomie nach Gallenkoliken, Laktoseintoleranz, sonstige internistische Abklärung ohne Befund, Luftnot, Knie- und Hüftgelenkschmerzen, unangenehme Wärmegefühle und Schwitzen bei Anstrengung und nachts, Ovarialzyste entfernt, seit 2 Jahren nur noch sehr selten Menstruationsblutung, Medikation: L-Thyroxin 75; Ihr Wunsch: „Einige Kilo abnehmen, besser Luft kriegen, nicht mehr so deprimiert sein“ Disharmoniemuster: Milz-Qi-Schwäche mit Schleim, Lungen-Qi-Mangel, Nieren-Yin-Mangel mit LeereHitze Ein typischer Tag aus dem 7-Tage-Ernährungsprotokoll: Frühstück: 2 Schokocroissants Mittagessen: 3 Brötchen mit Butter, Hackfleisch, Käse und Nutella, 1 Eis am Stiel Abendessen: 2 Mettwürstchen, ½ Tüte Nachos mit Soße Getränke: keine Auswertung der Nährstoffversorgung mit der aidErnährungspyramide: • keine Getränke (bei expliziter Nachfrage bestätigt) • kein Gemüse und kein Obst • 3 Portionen Getreide, Auszugsmehl • 1 Portion Käse, 3 Portionen Fleisch • sehr hohe Fettaufnahme durch Croissants, Hackfleisch, Käse, Nutella, Mettwürstchen, Nachos • 4–5 Portionen Extras: Croissants, Nutella, Eis, Nachos Fazit: Die Patientin und ihre Mutter schätzen die Ernährung der Tochter qualitativ und quantitativ falsch ein. Die fett-, zucker- und salzreichen Lebensmittel der Pyramidenspitze stellen die Basis der Ernährung der Tochter dar und verursachen die Adipositas und die zugrundeliegenden Disharmonien. Lebensnotwendiges Wasser, Gemüse und Obst fehlen ganz. Eine schrittweise Umstellung der Ernährung auf die Portionsgrößen der Ernährungspyramide und eine leicht diureZTCM 3-4/2012 Ernährungspyramiden tische Maisgriffelteemischung mit Löwenzahn und Orangenschale leiteten eine Gewichtsabnahme ein. In den ersten Beratungsstunden standen die Ernährungspyramide und das entsprechende Pyramiden-Protokoll zum Ankreuzen im Mittelpunkt. Folsäure und Jod wurden als Supplement gegeben, da Gemüse und Fisch weiter abgelehnt wurden, engmaschige Kontrolle der Stoffwechselparameter wurde angeraten. Ovo-Lacto-Vegetarierin Studentin, 1,75 m groß, 71 kg schwer, BMI 23, seit 8 Jahren Vegetarierin, starke Müdigkeit bis 11 Uhr morgens und ab frühem Abend, seit Stressphase vor 1 Jahr beidseits Tinnitus mit hohen Pfeifen, Kloßgefühl im Hals, häufig Seitenkopfschmerz, keine Besserung der Müdigkeit trotz normalisierter Eisenwerte nach Supplement, ständig kalte Hände und Füße, weicher Stuhl, Phasen von Durchfall, starker Hunger und Durst, trinkt 3 l pro Tag, häufiger Harndrang tagsüber und nachts, Zunge: blass, geschwollen mit Zahneindrücken, Belag: Mitte leicht weißlich, Wurzel dick weiß, Ränder belaglos. Ihr Wunsch: „Gewichtsabnahme und mehr Energie“ Disharmoniemuster: Milz-Qi-Mangel, Tendenz zum Milz- und Nieren-Yang-Mangel, Leber-Qi-Stagnation mit aufsteigendem Leber-Yang Ein typischer Tag aus dem 7-Tage-Ernährungsprotokoll: Frühstück: 1 Schale Flocken-Müsli mit frischen Erdbeeren und Milch, 1 Glas Mineralwasser Mittagessen: 1 Nudelgericht (Auszugsmehl) mit Gemüsesoße und Käse, 1 Flasche Mineralwasser Abendessen: 1 großer Teller Rohkostsalat mit Mozzarella Später abends: 1 Handvoll Trauben oder ½ Grapefruit oder 1 Stück Käsekuchen Getränke: insgesamt 3 Liter Mineralwasser mit Kohlensäure, 1 l davon nachts Bewegung: 1 Stunde Walken, Laufen oder Tennis Supplemente: derzeit keine • Jod, Zink, Eisen, Vitamin D und B12 werden nicht gezielt durch angereicherte Lebensmittel oder Supplemente zugeführt • 2-3 Portionen Getreide, jedoch aus Auszugsmehl Eiweißquellen: 3 Portionen Kuhmilchprodukte Fazit: Der erste gute Eindruck täuscht. Die Analyse mit der Pyramide für Vegetarier und nach TCM offenbaren die Ursachen der Beschwerden: Der Verzicht auf Fleisch und Fisch wird nicht gezielt ausgeglichen, Nährstoffmängel sind wahrscheinlich. Nach TCM schwächt das Übermaß an befeuchtenden Lebensmitteln mit kühlem und kaltem Temperaturverhalten (3 Liter Mineralwasser, rohes Obst, Rohkost als Abendmahlzeit, Kuhmilchprodukte) das Milz-Qi und -Yang, so dass die Produktion von Qi und Blut und auf Dauer auch das Nieren-Yang leiden. Therapiestrategie: Reduktion der Trinkmenge, Umstellung auf warme Getränke und Mahlzeiten mit wärmenden Gewürzen, bekömmliche Gerichte mit Vollkorngetreide und Hülsenfrüchten (mit Meeresalgen gegart), Ziegen- und Schafs- statt Kuhmilchkäse sowie übergangsweise ein Supplement mit Folsäure, Jod und Vitamin B12. Gestationsdiabetes und Sodbrennen 29-jährige Schwangere, 2-jähriges Kind, 20. Schwangerschaftswoche (SSW), oraler Glukosebelastungstest grenzwertig, Gestationsdiabetes in letzter Schwangerschaft, starke Übelkeit und Erbrechen bis zur 16. SSW, danach oft Völlegefühl, Sodbrennen und Kopfschmerzen, alle 1–2 Tage Stuhlgang, geformt und stinkend, mehrmals nachts Harndrang, beide Eltern mit 50 Jahren Diabetes mellitus II, Zunge: rosig, Nierendelle, vorderes Drittel leicht geschwollen, rote Punkte an Spitze und rechtem Rand, Anzeige Auswertung der Nährstoffversorgung mit der vegetarischen Ernährungspyramide: • Zu hohe Trinkmenge: 15 Portionen (3 Liter Mineralwasser) • 2 Portionen rohes Obst • 2 Portionen Gemüse, davon 1 x Rohkostteller statt Mahlzeit am Abend • kein Ersatz von Fleisch durch Hülsenfrüchte, Sojaprodukte, Nüsse und Samen ZTCM 3-4/2012 199 Internationale Artikel Belag: dünn, weißlich, Ränder belaglos, leichtes Übergewicht (BMI 27) vor Schwangerschaft Ihr Wunsch: „Weniger Sodbrennen, nicht wieder Diabetes“ Disharmoniemuster: Milz-, Magen- und Nieren-QiMangel, Leber-Blut-Mangel, Magen-, Herz- und Leber-Hitze Blutzucker und Kohlenhydraten wurden zusätzlich ernährungswissenschaftliche Modelle und Empfehlungen ergänzt. Literatur 1 Ein typischer Tag aus dem Ernährungsprotokoll: Frühstück: 2 Scheiben Vollkornbrot, 2 Scheiben Käse, 1 Scheibe Wurst, rohe Gurke, 1 Kohlrabi Vormittags: 3 Stücke Obst, 1 Scheibe Knäcke Mittagessen: jeweils große Portionen Knödel, Gulasch und Tomaten- und Gurkensalat Nachmittags: 1 Stück Kuchen, mehrere Stücke Obst Abendessen: Spiegelei, Pilze, Salat, 1 Scheibe Brot Später abends: 1 Stück Obst Getränke: 2 Gläser Leitungswasser zu den Mahlzeiten, 1 Becher Tee dazwischen und abends Bewegung: ca. 30 Minuten Gehen Supplemente: Folsäure, B12, Jod sischen Medizin: Band 3 Wandlungsphase Erde, Verlag Müller und Steinicke, München 1996 2 Fazit: Der Abgleich mit der Pyramide zeigt: Die Klientin ernährt sich in der Schwangerschaft nach dem Motto: viel hilft viel. Sie kombiniert große Portionen fettreicher Hausmannkost mit hoher Trinkmenge und viel rohem Obst und Gemüse. Der hohe Rohkostanteil in jeder Mahlzeit verstärkt das Sodbrennen und schwächt zusammen mit der hohen Trinkmenge zu den Mahlzeiten nach TCM das Qi der Funktionskreise Milz und Magen. Die häufigen und großen Mahlzeiten überlasten die Bauchspeicheldrüse. Die Umstellung auf die Portionsempfehlungen der Pyramide und ein höherer Anteil von gegartem Obst und Gemüse linderten das Sodbrennen rasch. Gegen die Hitze in mehreren Funktionskreisen wurden gezielt bestimmte Obst- und Gemüsesorten und Tees mit entsprechendem Funktionskreisbezug der TCM ausgewählt. Zur Verdeutlichung der Zusammenhänge von 200 Ellrott T: Aktuelle Trends im Essverhalten in: e & m (27) 03/2012, 115119 3 aid infodienst (Hrsg.): Wie viel esse ich? Portionen und Portionsgrößen. Projekteinheit für die Klassen 5-7, Bonn, 2. Aufl. 2009: S. 21 4 Thelen J: Lasst Bilder sprechen, in Ernährung im Fokus (EiF) 08-07/2008, 269-271 5 aid infodienst (Hrsg.), Idee Sonja Mannhardt: Die aid-Ernährungspyramide, s. auch www.aid-ernaehrungspyramide.de, www.aid-medienshop.de, www.was-wir-essen.de 6 aid infodienst (Hrsg.): Die aid-Ernährungspyramide – einfach gesund leben, DIN A5 - s.a. Karte, Bonn 7 Leitzmann C, Keller M: Vegetarische Ernährung, Ulmer Verlag, Stuttgart, 2. Aufl. 2010 8 Auswertung der Nährstoffversorgung mit der aidErnährungspyramide: • 8 Portionen Getränke • 6–7 Portionen rohes Obst • 5 Portionen Gemüse, 3 davon roh • 5 Portionen Getreide (Vollkorn) • 2 Portionen Käse (fettreich) • 2 Portionen Fleisch (fettreich), 1 Portion Ei • Extra: 1 Stück Kuchen • Supplemente: wie üblich in der Schwangerschaft Lorenzen U, Noll A: Die Wandlungsphasen der traditionellen chine- ebd. S. 310, Gießener vegetarische Lebensmittelpyramide im Internet: www.ugb.de/vegan-gesund 9 ebd. S. 269-307 10 test (Hrsg.): Fleisch? Nein danke – vegetarisch essen. In test 2/2012: 30-32 11 Rieckmann R: Professionelle Beratungsmethoden für die integrative Beratung mit TCM-Diätetik: Ernährungsprotokolle anleiten und auswerten in: ZTCM 01/2012: 51-59 12 Rieckmann R: Professionelle Beratungsmethoden für die integrative Beratung mit TCM-Diätetik: Kommunikation im Beratungsprozess als Schlüssel zum Erfolg in: ZTCM 02/2012: 111-123 Über die Autorin Ruth Rieckmann (geb. 1966) ist Diplom-Oecotrophologin und Master of Chinese Dietetics. Seit 2007 verbindet sie westliche und chinesische Diätetik-Ansätze. Sie berät in ihrer Bonner Praxis und arbeitet mit Schwerpunktpraxen für Chinesische Medizin zusammen. Die Grundlagen der Chinesischen Medizin und Diätetik lernte sie an der Universität WittenHerdecke und bei Dr. med. Dipl. oec. troph. Uwe Siedentopp. Sie gibt ihr Wissen praxisorientiert u.a. in eigenen Seminarangeboten in Bonn, an der Akademie Gesundes Leben in Oberursel, der August-Brodde-Schule in Wuppertal und den TCM-Kongress in Rothenburg o.d.T weiter. Sie ist zertifizierte Ernährungsberaterin des Oecotrophologen-Verbandes „VDOE“ und initiierte das Netzwerk „Chinesische Diätetik“ für DiplomOecotrophologen sowie im Verband „AGTCM“ den Qualitätszirkel „Diätetik“. Kontakt: [email protected] ZTCM 3-4/2012 Anzeige Anzeige ZTCM 3-4/2012 201