ADHS bei Autismus – Symptom oder Syndrom Priv.-Doz. Dr. med. Judith Sinzig Abteilung für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie, LVR-Klinik Bonn Symptomatik • Qualitative Beeinträchtigung der reziproken sozialen Interaktion • Qualitative Beeinträchtigung der Kommunikation • Eingeschränktes, stereotypes, repetitives Interessen und Aktivitätsrepertoire TES nnb. Frühkindlicher Autismus Asperger Atypischer Autismus HFA Autismus-Spektrum HighFunctioningAutismus Geistige Behinderung, Keine Sprache „Low-Functioning“ AspergerSyndrom Überdurchschnittliche Intelligenz, Gute Sprache „High-Functioning“ Prävalenz Alle Tiefgreifenden Entwicklungsstörungen 60-65/ 10 000 ADHS 200-400/ 10 000 Frühkindlicher Autismus (inkl. HighFunctioning Autismus) 10-40/ 10 000 ADHS des Sozialverhaltens 200-400/ 10 000 16/ 10 000 Störung des Sozialverhaltens 200-700/ 10 000 Asperger-Syndrom Jungen : Mädchen 3-4:1 (Fombonne und Tidmarsh 2003; Blaxill 2004; Baird et al. 2006; Williams et al. 2007, 2008; Pineda et al., 2003; Schlack, 2007) Ursachen von Autismus: Frühe Theorien • Freud: • ICD 9: • Bettelheim: Autismus=Narzissmus Kindliche Schizophrenie “Refrigerator moms” Das sind Mythen! Pathogenese Molekularbiologie Zwillingsstudien • Erkrankungsrisiko von Geschwistern bei 2,2% (Gupta & State, 2006) • Autismusspezifischer Phänotyp bei monozygoten Zwillingen stärker ausgeprägt als bei dizygoten (Poustka et al., 2004; Freitag, 2007) • Konkordanzraten von 60% bei monozygoten Zwillingen (Bailey, 1995) • Bei Geschwistern: nicht das Vollbild der Störung in Erscheinung, sondern vielfach einzelne Merkmale (Delorme et al., 2007) Molekulargenetische Studien • Identifikation und Suche nach Kandidatengenregionen: 2q, 3q 25-27, 3p25, 6q14-21, 7q31-36 und 17q11-21 (Freitag, 2007) • Verbindung mit Genosomen gefunden, die in Verbindung mit dem Serotonin-Neurotransmittersystem stehen (Weiss et al., 2004) Zytogenetische Studien • 3-12%: identifizierbare Chromosomenaberrationen (Lauritsen & Ewald, 2001) • Chromosom 15q11-q13: autistischer Phänotyp mit geistiger Behinderung Pathogenese Molekularbiologie Neurobiologie Bildgebende Befunde • Annahme eines beeinträchtigten neuronalen Netzwerks Frontalhirn Partietalkortex Kleinhirn (Zerebellum) limbisches System (z.B. Amygdala) Corpus Callosum • erhöhtes Gesamtgehirngewicht • Unterentwicklung neuronaler Strukturen im limbischen System Fazit: Die insgesamt widersprüchlichen Befunde deuten auf Auffälligkeiten während der Hirnentwicklung hin, d.h. auf eine Über- bzw. Unterentwicklung bestimmten Strukturen. Biochemische Befunde Serotonin: ca. bei 60% der Patienten mit ASS findet sich ein erhöhter Serotonin-Blutspiegel aufgrund vermehrter Aufnahme und Speicherung (Stereotypien, Rituale, rigides Verhalten) Dopamin: erhöhte Konzentration im synaptischen Spalt, (Stereotypien und repetitives Verhalten), Noradrenalin: widersprüchliche Befunde (Hyperaktives Verhalten, Impulsivität, Irritierbarkeit) Pathogenese Molekularbiologie Neurobiologie Spiegelneuronen Spiegelneuronensystem Nervenzellen im Gehirn, die gleichen Potenziale auslösen bei passiver und aktiver Betrachtung. Dysfunktionen im Spiegelneuronensystem Funktionen: • Ausführung und Beobachtung von Bewegungen bzw. Verhalten • Deuten und Verstehen (Lernen durch Nachahmung) • Empathieverständnis • Sprache Pathogenese Molekularbiologie Neurobiologie Spiegelneuronen Neuropsychologie Neuropsychologie Theory of mind Defizit Schwache zentrale Kohärenz Defizit der Exekutiven Funktionen Komorbiditäten Aufmerksamkeits-/Hyperaktivitätsstörungen 50-60% Schlafstörungen 44-83% Zwangsstörungen 35% Angststörungen - Spezifische Phobie - Trennungsangst -Soziale Phobie 10-40% 44% 10% 10% Depressive Störungen 10-25% Störung des Sozialverhaltens 10% (nach Leyfer et al., 2008) Aufmerksamkeitsdefizit/-Hyperaktivitätsstörung (ADHS) Soziale Sprachentwicklung Kommunikation Restriktives/ Stereotypes Verhalten Hyperaktivität Unaufmerksamkeit Impulsivität (ASS) Autismus Spektrum Störungen ADHS-Symptomraten bei ASS Alter in % Kinder und Jugendliche Goldstein et al. (2004) Yoshida Gadow Erwachsene Sinzig et al. (2004) et al. (2006) et al. (2009) Sinzig et al. (einger.) (n=37) (n=53) (n=483) (n=83) (n=73) 59 68 44 53 65 - Kombiniert 44 33 31 32 44 - Unaufmerksam 56 56 56 46 49 - Hyperakt./ Imp. 0 11 12 22 7 Gesamt Subtyp Sinzig et al. Attention Deficit/Hyperactivity Disorder in Children and Adolescents With Autism Spectrum Disorder: Symptom or Syndrome? 2009 Sinzig et al. Overlap of autistic features and attention deficits in adults with autism spectrum disorders. Eingereicht Multiaxiale Klassifizierung, Anamnese ? Gruppe ASS+ADHS: • In Schwangerschaft Konsum schädlicher Substanzen durch Mütter ↑ • psychische Erkrankungen eines Elternteils ↑ • Alter der Eltern ↑ beide Gruppen: • Vätern Tätigkeit in akademisch-technischen Beruf ↑ Vinzelberg & Sinzig, Besonderheiten in der multiaxialen Klassifizierung, Anamnese und Psychopathologie bei Kindern und Jugendlichen mit einer Autismus-Spektrum-Störung und einer Aufmerksamkeitsdefizit/hyperaktivitätsstörung, in Vorb. Gemeinsamkeiten ASS und ADHS Molekularbiologie (van Steijn et al., 2012 Molekularbiologische Befunde • 17 Regionen des menschlichen Genoms: 2q35, 3p14, 4p16.1, 4p16.3, 5p15.31, 5p15.33, 7p12.3, 7p22, 7q21, 8q24.3, 14q12, 15q11-12, 16p13, 17q11, 18q2123, 22q11.2, Xp22.3. Gemeinsamkeiten ASS und ADHS Molekularbiologie Neurobiologie Strukturelle Befunde Frontostriatale Dysfunktion Zerebelläre Hypoplasie (Gargaro et al., 2011; Durston, 2004; Chugani, 2000; Faraone et al. 1998; Bailey, 1996) Konnektivität (Konrad & Eickhoff, 2010; Minshew & Keller, 2010) Strukturelle Befunde Brieber et al., 2007: Vergleich von Kindern und Jugendlichen mit ASS und ADHS hinsichtlich struktureller Auffälligkeiten: gemeinsame inferior parietal lokalisierte Abweichungen in der grauen Substanz Aufmerksamkeitsprobleme Gemeinsamkeiten ASS und ADHS Molekularbiologie Neurobiologie Neuropsychologie Theory of- Mind (ToM) Definition: Fähigkeit die Intentionen, Überzeugungen und Wünsche anderer Menschen von ihrem Verhalten abzulesen und entsprechend darauf zu reagieren. Frage Therapeut: Was siehst Du? Antwort Patient: Mmhh. Also da liegt ein Fahrrad am Boden, dass kann ich jedoch nicht so gut erkennen, weil das Mädchen davor sitzt. Im Hintergrund einen Park. Das Mädchen hat einen gelben Helm mit grünen Streifen an. Kognitive Ansätze II: Schwache zentrale Kohärenz (Frith, 1989): Annahme: Wahrnehmung und Denken ist normalerweise durch zentrale Kohärenz charakterisiert. Normal: Reize kontextgebunden, global und gestaltmäßig erfassen und interpretieren Pathologisch: Einzelne Komponenten nicht zu einem kohärenten Ganzen integrieren zu können (Reize kontextfrei verarbeiten) Versteckte Figur Versteckte Figur Neuropsychologische Befunde/ Emotionserkennung ASS: Erkennung von fazialem Affekt ↓ (Davies et al., 1994; Klin et al., 2000; Bölte & Poustka, 2003) ADHS (Singh et al., 1998; Corbett & Glidden, 2000, Dickstein &Castellanos, 2011) ADHS Vgl. Störung des Sozialverhaltens (Cadesky et al., 2000; Downs & Smith, 2004) ADHS im Erwachsenenalter (Rapport, 2002) Ergebnisse ADHS ASS mit ADHS ASS ohne ADHS Gesichter ↓ ↔ ↔ Augenpaare ↓ ↓ ↔ Sinzig et al. Do hyperactivity, impulsivity and inattention have an impact on the ability of facial affect recognition in children with autism and ADHD? 2008 Exekutive Funktionen Definition: Mentale Prozesse höherer Ordnung, die interne Verhaltensplanung und – kontrolle (Selbstregulation) gewährleisten (z.B.: Aufmerksamkeit, Planung, Vigilanz, kognitive Flexibilität, Initiierung und Hemmung von Handlungen,...) Neuropsychologische Befunde/ Exekutive Funktionen und Aufmerksamkeit ADHS ASS Daueraufmerksamkeit ↓ ↔ Inhibition ↓ ? Flexibilität ↔ ↓ Arbeitsgedächtnis ↓ ? Planungsverhalten ↔ ↓ (Ozonoff et al. 1999; Nyden et al. 1999; Nigg, 2001; Geurts et al., 2004; Goldberg et al. 2005; Johnson et al., 2007) Ergebnisse ADHS ASS mit ADHS ASS ohne ADHS Daueraufmerksamkeit ↓ ↔ ↔ Inhibition ↓ ↓ ↔ Flexibilität ↔ ↓ ↓ Arbeitsgedächtnis ↓ ↔ ↔ Planungsverhalten ↔ ↓ ↓ Sinzig et al. Attention profiles in autistic children with and without comorbid hyperactivity and attention problems, 2008 Sinzig et al. Inhibition, Flexibility, Working Memory and Planning in autism spectrum disorders with and without comorbid ADHD-symptoms. 2008 Unterschiede in den Aufmerksamkeitsprofilen Fokussierte Aufmerksamkeit Selektivität ASS Geteilte Aufmerksamkeit Alertness AD(H)S Intensität Aufrechterhaltung der Aufmerksamkeit Supervisory Attentional System Aufmerksamkeitsmodell nach van Zomeren & Brewer (1994) Strategie Flexibilität Inhibition AD(H)S, ASS+ADHS Unterschiede im Kodierungsprozess bei Autismus und ADHS Kodierungsprozess • Wahrnehmung Autisten haben Schwierigkeiten wesentliche Schlüsselmerkmale eines Gesichts wahrzunehmen • Empfindung • Aufmerksamkeit • Aufmerksamkeitslenkung ADHS- Kinder nehmen Schlüsselreize zwar korrekt wahr, aber schaffen es nicht ihre Aufmerksamkeit auf die relevanten Reize auszurichten Standards im diagnostischen Prozess ADHS Autismus FSK (Autismusscreening) FBB- TES (Autismusscreening) MBAS (Asperger- Fragebogen) Autismus Diagnostisches Interview (ADI-R) Autismus-Diagnostisches Beobachtungs-Instrument (ADOS) Neuropsychologie (ToM- Task, Emotion Cards, FEFA, EFT,…) FBB- HKS/ SBB-HKS FBB- DCL Conners Rating Skalen Neuropsychologie (Untertests aus ANT, TAP, CANTAB) YSR (11 Jahre) CBCL Klinischer Eindruck FSK: Fragebogen zur sozialen Kommunikation; FBB-TES: Fremdbeurteilungsfragebogen für tiefgreifende Entwicklungsstörungen; MBAS: Marburger Beurteilungsskala zum Asperger-Syndrom; ADOS: Autism Diagnostic Observation Scale; ADI-R: Autism Diagnostic Interview-R; FBB bzw. SBB-HKS: Fremd- bzw. Selbstbeurteilungsbogen für hyperkinetische Störungen; CBCL: Child behavior Checklist; YSR: Youth Self Report for ages 11-18. Sprachentwicklung Motorik Körperkontakt Blickkontakt Nonverbale Kommunikation Sprachstil Kommunikation Interaktion ASS Normal oder früh ADHS Unterschiedlich Oft ungeschickt Vermindert oder nur selbstbestimmt Kaum, nicht sozial moduliert Deutlich eingeschränkt Pedantisch, auffällige Modulation der Stimme Einseitig, Monologe, wenig Bezug zum anderen Keine geteilte Freude, gestörter Kontakt, keine Freundschaften, geringe sozioemotionale Gegenseitigkeit Unterschiedlich Unauffällig Unauffällig oder flüchtig, rasch abgelenkt Unauffällig Schnell sprechend, rasche Themenwechsel...... Wechselseitig, bezugnehmend auf die Äußerungen des Gegenübers Geteilte Freude vorhanden, Kontakt u.U. schwierig, aber vorhanden, wechselhafte Freundschaften, sozioemotionale Gegenseitigkeit u.U. sekundär gestört ASS Theory of Mind Exekutive Funktionen Zentrale Kohärenz Aufmerksamkeit Spielverhalten Stereotypes, repetitives Verhalten Betroffene Lebensbereiche ADHS Deutlich eingeschränkt Eingeschränkt Keine grundlegende Einschränkung Eingeschränkt Gering Unauffällig Fokussierung auf Details, Schwierigkeiten im schnellen Aufmerksamkeitswechsel Kein kooperatives, interaktives und phantasievolles Spielen Sonderinteressen, zwanghaft, Veränderungsängste Durchgängig alle, tiefgreifend Schwierigkeiten in der Daueraufmerksamkeit, Impulssteuerung Hyperaktiv und impulsiv, aber durchaus phantasievoll Unauffällig Vor allem Anforderungssituationen, nicht alle Diagnosekriterien für tiefgreifende Entwicklungsstörungen erfüllt Verlauf • Hohe Stabilität der Diagnose (Nordin & Gillberg, 1998; Howlin et al.,2004; Billstedt et al., 2005) • Ca. 20% der Menschen mit frühkindlichem Autismus keine normale Sprache; 10 % selbständiges Leben, 40 50 % in Institutionen (Mawhood et al. 1995) Verlauf • 53% der geistig behinderten autistischen Personen in Werkstätten; 19% der normal Begabten Arbeit auf dem freien Arbeitsmarkt (Bölte et al., 2005) • Adoleszenten: Verbesserungen in der sozialen reziproken Interaktion; Erwachsene: repetitives, ritualisiertes und stereotypes Verhalten; Insgesamt: Sprache (Seltzer et al., 2003) Prognose • Sprache • Intellektuelle Leistungsfähigkeit • Grad des repetitiven und stereotypen Verhaltens Zu untersuchende Prognosefaktoren des frühkindlichen Autismus • Autistische Störung bei Eltern • Akzeptanz der Störung durch Eltern • Geschlecht • Frühintervention • Sozioöokonomischer Status der Eltern • Ausbildungsniveau •Anzahl und Ausprägung komorbider Störungen ADHS Soziale Sprachentwicklung Kommunikation Restriktives/ Stereotypes Verhalten 74% Hyperaktivität Unaufmerksamkeit Impulsivität ASS (Jensen et al., 1997) Projekt in Kooperation mit Teil I Screeningfragebogen Teil II Neuropsychologische Parameter Teil III Pilotphase Therapieprogramm Gute Abbildung von ToM-Defiziten, Kommunikations- und Interaktionsstörung und Hyperaktivität. Itemprävalenzen zeigen, dass insbesondere autismusspezifische Symptome früh differenzieren, weniger ADHS-spezifische Items. Psychostimulanzien: bei Hyperaktivität, Impulsivität, Unaufmerksamkeit Methylphenidat (z.B. Medikinet, Ritalin): (Handen et al., 2000, Di Martino et al., 2004) CAVE: Verschlechterung Stereotypien! Atomoxetin (Strattera): bei Hyperaktivität, Impulsivität, Unaufmerksamkeit Atomoxetin: bisher nur Studien an kleinen Stichproben mit ausreichender Wirksamkeit (Arnold et al., 2006) Cave: Nebenwirkungen evtl. häufiger! Kontroverse hinsichtlich der Existenz des Vorliegens einer Diagnose einer ADHS bei Autismus In DSM-IV und ICD-10 ADHS Ausschlusskriterium bei Autismus ! Kategoriale komorbide Störung oder um Teilsymptom? Wissenschaftlich bisher nur wenig berücksichtigt DSM V: Neurodevelopmental disorders Autismus Spektrum Störung ADHS Intelligenzminderung Teilleistungsstörungen Motorische Störungen Sprachentwicklungsstörungen Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit!