Kunst wirkt….

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Kunst wirkt….
oder warum beschäftigen sich Menschen mit Kunst?
Die Poesie ist unerlässlich — wenn ich nur wüsste wofür!
Jean Cocteau
Die Frage „warum?" ist eine Frage nach der Ursache eines Phänomens. Der Begriff der
„Ursache" kann nach Aristoteles vier Aspekte haben. Zum einen bedeutet Ur-Sache das Ausgangsmaterial oder die materiellen
Voraussetzungen —ohne Bild keine Bildbetrachtung. Außerdem muss ein Betrachter fähig sein, das Bild wahrzunehmen. Wahrnehmung
ist ein informationsverarbeitender Prozess, der in bestimmter Form stattfindet. Der Betrachter wird auf dem Bild nach bestimmten
Regeln zusammengehörige Einheiten ausfindig machen und ihnen u.U. eine Bedeutung geben. Der charakteristische Ablauf der
Bildverarbeitung bestimmt die Bildbetrachtung unter einem zweiten Aspekt von Kausalität, der Formursache oder causa fornialis. Die
Voraussetzungen allein reichen aber nicht aus, damit es zu einer Bildbetrachtung kommt. Das Vorhandensein eines Bildes und die
generelle Wahrnehmungsfähigkeit des Betrachters sind zwar notwendige, aber nicht hinreichende Bedingungen, denn ohne dass der
Betrachter motiviert ist, wird er sich nicht mit dem Bild auseinandersetzen. Die Kräfte die ein Ereignis in Gang setzen und durchführen,
nennt Aristoteles die Wirkursache. Kunstbetrachtung muss auf irgendeine Weise Bedürfnisse befriedigen, sonst würden Menschen sich
nicht damit beschäftigen. Neben der treibenden Kraft, die zu einem Ereignis führt, kann man noch den Zweck als ursächlich betrachten.
Die Handlungspsychologie greift diese aristotelische Grundannahme auf, indem menschliches Handeln als grundsätzlich zielgerichtet
begriffen wird. Die Zweckursache einer Bildbetrachtung ist in den Konsequenzen einer solchen Tätigkeit zu sehen: Der Betrachter lernt
bei der Auseinandersetzung mit dem Bild u.U. eine neue Sichtweise kennen und kann so sein Wahrnehmungs- und Denkrepertoire
erweitern. Aber sicherlich liegt der Zweck nicht allein in der Erfüllung pädagogischer Absichten, sondern auch schlicht in der
Befriedigung von antreibenden Bedürfnissen.
Ausgehend von einer funktionalistischen Perspektive sollen zu Beginn dieses Textes mögliche Funktionen von Kunst und der
Beschäftigung mit ihr diskutiert werden. Die Ansichten darüber, was der Zweck von Kunst sei, sind sicher so vielfältig, wie die einzelnen
Künstler, Kritiker, Ästhetiker und sonstigen Theoretiker, die sich zu diesem Thema äußern. Kreitler und Kreitler (1980, S. 3051) listen
einige häufig genannte auf: „die Offenbarung der immanenten Wahrheit, die Konkretisierung des metaphysischen Jenseits, die
Darstellung der nackten Wirklichkeit, die Schöpfung einer glücklichen Phantasiewelt. die Konfrontation mit den klaffenden Abgründen
innerhalb des Individuums, das Wiederbeleben verlorener Zeiten und verdrängter Kindheit. die Förderung von Selbsterkenntnis, (...)".
Nachdem Kunst im Laufe der Zeit von verschiedenen religiösen und politischen ldeologien „verzweckt" wurde, tendieren heute viele
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Autoren dazu zu sagen, Kunst müsse „zweckfrei" sein. Sogenannte Tendenzkunst die dem Rezipienten eine bestimmte Weltsicht und
daraus abgeleitete Handlungsrichtungen nahe bringen will, wird inzwischen in enger Nachbarschaft und mit fliessenden Übergängen
zum Kitsch gesehen (z.B. Broch, 1969). Die l`art pour l'art-Bewegung reagierte auf diese vielfältigen Zwecke ausserhalb der Kunst,
indem sie versuchte, sich ihnen zu verweigern und den Zweck der Kunst nur noch in der Kunst selbst zu suchen. Seit Hegel wurde auch
immer wieder verkündet. die Kunst sei überhaupt an ihrem Ende, sicher u.a. eine Folge der Entwicklung, die vor ca. zwei Jahrhunderten
einsetzte als die Kunst im Zuge der Aufklärung aus der Dienerschaft unter Kirche und weltlichen Herrschern heraustrat.
So bildeten sich immer wieder Antikunstströmungen, von denen der Dadaismus wohl die bekannteste ist. Ihr Anliegen war es, die
Kunst aus den Zweckgebundenheiten zu befreien und autonom zu machen. Auch Adorno vertritt die Ansicht, dass Kunst nicht nach
einem wie auch immer gearteten äusseren Zweck zu beurteilen sei: „
Was kann nun zB eine allgemeinpsychologische Arbeit zu diesem widersprüchlich diskutierten Thema beitragen? Die
Fragestellungen der allgemeinen Psychologie sind nicht normativ, es geht nicht darum zu entscheiden, was Kunst vermitteln sollte.
Psychologie untersucht vielmehr wie etwas funktioniert und — bezogen auf Kunst — was sie auslöst. lnsofern beschäftigen sich die
folgenden Gedanken mit verschiedenen Funktionen, die Kunst für die Menschen haben kann. Der Unterschied zwischen „Zweck" und
„Funktion" wird darin gesehen, dass Zweck den bewussten Einsatz der Kunst zur Verfolgung eines angestrebten Zieles meint. Dies ist
etwa der Fall wenn Kunst „wachrütteln" oder von einer Idee überzeugen soll. Eine Funktion dagegen muss nicht vorher bewusst
angestrebt werden, sondem ergibt sich als Konsequenz aus der Beschäftigung mit Kunstwerken, bspw. wenn im Betrachter ganz private
Prozesse angestossen werden, die subjektiv bedeutsam sind.
Nachdem oben beispielhaft erläutert wurde, welche Zwecke die Kunst im Dienste verschiedener Weltanschauungen und Ideologien
hatte, werden im weiteren einige Funktionen diskutiert, die die Beschäftigung mit Kunst für den einzelnen Menschen haben kann. Die
Beschäftigung mit Kunst kann bedeuten, Kunst zu schaffen oder sie zu rezipieren.
Kunst als Aneignung von Welt
Das Verwirrende, Unheimliche und Unfassbare des Lebens kann nur geordnet werden, indem es Form
erhält.
Fritz Baumgart
Seit der prähistorischen Zeit diente die Kunst der Deutung und Fassbarmachung der Welt. Neben Werkzeugen sind künstlerische
Darstellungen und Gegenstände das erste, was uns von Menschen überliefert ist. Die ersten erhaltenen Höhlenzeichnungen stammen
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aus der Zeit zwischen 40 000 und 10 000 v. Chr. (vgl. Das große Lexikon der Malerei. 1982). Dabei handelt es sich meistens um Tier- und
Jagddarstellungen, die sich, wie in den Höhlen Nordspaniens und Südwestfrankreichs (Lascaux), oft an verborgenen Stellen tief im
Höhleninneren befinden, die vermutlich nicht als Aufenthaltsräume dienten, sondern als eine Art von Kultstätte. Baumgart (1979) meint,
dass mit Pfeilen auf die Tierbilder geschossen wurde, um die Jagd erfolgreich zu machen. Er geht davon aus, dass die Darstellungen
den Versuch bedeuteten. ..eine Welt zu ordnen und zu beherrschen, deren unheimliche und hilfreiche Kräfte sich in den Tieren
verkörperten" (S. 9f). Betrachtet man zunächst nur den ersten Aspekt, den der Ordnung, so könnte man auch sagen, die Höhlenmalerei
diente dem Begreifbarmachen der Welt und damit der Reduktion von Unbestimmtheit. Beim Malen eines Bildes müssen die
verschiedenen Details in eine räumliche Struktur gebracht werden. Dabei muss man sich über die verschiedenen Anordnungen und
Beziehungen zwangsläufig klar werden, und der Betrachter kann sie später an dem Bild ablesen. Bilder helfen beim Verstehen
komplexer räumlicher aber auch semantischer Sachverhalte. Im außerkünstlerischen Bereich denke man an die Nützlichkeit von
Stadtplänen oder anatomischen Zeichnungen in Medizinbüchern usw. „Ich kann mir jetzt ein Bild von der Sache machen" bedeutet, dass
ein Sachverhalt verstanden worden ist, weil die verschiedenen Variablen, aus denen er besteht, mitsamt ihren Verknüpfungen nun zu
einer Struktur für den Nachdenkenden zusammenfügbar sind. In vielen Bereichen, in denen es um komplexe Themen geht werden
Visualisierungstechniken eingesetzt, die den Umgang mit diesen Themen erleichtern sollen (z.B. graphische Abbildungen in
Lehrbüchern aller möglichen Fachrichtungen).
Hat man einen Sachverhalt erst einmal verstanden, wird es leichter, gezielt auf ihn einzuwirken. Das betrifft den zweiten Zweck den
Baumgart den Höhlenzeichnungen zuschreibt: die Welt, insbesondere die Jagd zu beherrschen und Kontrolle über sie zu erlangen. Die
dahinterstehende magische Annahme ging davon aus, dass wenn man etwas abbilden konnte, man auch Macht darüber bekam. Das ist
heute noch die Grundannahme von Voodoo-Zauberern. Vielleicht liegt hierin auch ein Grund dafür, dass es im Christentum, aber noch
deutlicher im Judentum und im Islam streng verboten ist, sich ein Bild von Gott zu machen: Gott ist und soll unvorstellbar, unbegreifbar
und damit unbeherrschbar bleiben. Doch dies nur als spekulative Anmerkung am Rande.
Um ein Tier so realistisch abzubilden, wie es bspw. bei dem verwundeten Bison in der Höhle von Altamira gelang, muss der Künstler
über eine gute Beobachtungsgabe verfügt haben. Genaue Beobachtungen, die man zu einem Bild zusammenfügen kann, sind aber
auch jenseits aller magischen Hypothesen tatsächlich eine Voraussetzungen für zielgerichtetes und effektives Handeln.
Kunst hat seit ihrem Beginn immer Themen behandelt, die für die Menschen ihrer Zeit Ungewissheit und Bedrohung bedeuteten. So
wurden soziale und technische Neuerungen, aber auch der Fortschritt in den Wissenschaften und der Kunst selbst zum Inhalt
künstlerischer Auseinandersetzung, die mit dazu beitragen sollte, die kleineren und grösseren Umwälzungen verstehbar zu machen.
Indem sie dabei die Vorgänge festhielt, schaffte die Kunst ausserdem ein nach aussen verlegtes „Bild-Gedächtnis". Damit ist es den
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Menschen innerhalb einer Kulturgemeinschaft möglich, auf eine gemeinsame Geschichte zurückzublicken (Wundt) spricht in diesem
Sinne von Erinnerungskunst.
Indem sich der Mensch mit Kunst beschäftigt, sei es als Produzent oder als Betrachter, kann er sich mit unbekannten,
beunruhigenden Aspekten seiner Lebenswelt auseinandersetzen und diese begreifbar und damit beherrschbar machen und sie
ausserdem in Form von beständigen Kunstwerken auch einem späteren Zugriff zur Verfügung stellen. Kunst ist dabei nicht nur
deswegen ein besonders gutes Medium, weil sie erlaubt, sich von den Dingen ein Bild zu machen, sondern auch, weil sie die potentiell
gefährlichen Themen aus dem realen Leben in die Phantasiewelt transportiert,
in
der man sich gefahrlos mit ihnen beschäftigen kann.
Kunst als spielerische Auseinandersetzung mit Wirklichkeit
Der Mensch ist ein spielendes Wesen. Keine andere Spezies hat eine ebenso lange Kinderund Jugendzeit wie der Mensch, und auch
Erwachsene hören nicht damit auf zu spielen. Spiel ist eine zwangfreie Tätigkeit, die auf keinen weiteren, ausserhalb des Spiels selbst
liegenden Zweck gerichtet ist. Diese Zweckfreiheit meint — wie oben schon angedeutet — keineswegs, dass das Spiel psychologisch
gesehen keine Funktion hätte. Von vielen Autoren wird betont, dass das Spielen der Realitätsanpassung diene (vgl. Piaget, 1969,
Heckhausen, 1964. Benesch, 1980 usw.). Das Kind übt zunächst die Beherrschung von Bewegungsabläufen (Funktionsspiele), später den
Umgang mit verschiedenen Materialien (Konstruktionsspiele) und das Einhalten von Regeln (Regelspiele), auch der soziale Umgang
wird im Einnehmen verschiedener Rollen geprobt. Nicht zuletzt nehmen Fiktionsspiele einen grossen Raum ein, bei denen das „so tun
als ob" — die Phantasie — die entscheidende Rolle spielt.
Im Phantasiespiel findet ein Übergang vom Gegebenen zum
Möglichen statt, der auch für viele Formen der Kunst charakteristisch ist.
Das Schaffen von Kunst ist ein kreativer Akt, der dem Spiel auch insofern vergleichbar ist, als dass Dinge aus der Realität durch
Symbole dargestellt werden, und so diese z.T. in völlig neuartige Zusammenhänge gestellt werden können. Für das spielende Kind „ist"
das Stück Holz ein Auto, das in der Phantasiewelt im Sandkasten herumfährt. Durch dieses Herausnehmen aus der tatsächlichen
Wirklichkeit und die Übertragung in die Spielwelt kann das Kind die Dinge für sich beherrschbar machen und auf diese Weise
Erfahrungen mit ihnen sammeln. Auch der Künstler greift sich Ausschnitte aus der Wirklichkeit heraus, mit denen er umgeht, z.B. indem
er sie in ungewöhnliche Zusammenhänge bringt. Picasso bspw. setzte zwei Spielzeugautos aufeinander und nahm sie als Kopf einer
Affenskulptur. Kreativität ist wichtig, wenn es darum geht, aus erfahrenen und evtl. unwirksam gewordenen Handlungsroutinen
auszubrechen und so neue Wege zu suchen. Die Entdeckung von Alternativen und neuen Möglichkeiten trägt zur Flexibilität im Handeln
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und Denken bei.
Kunstwerke nützen aber diesbezüglich nicht nur dem, der sie herstellt, sondern können auch im Betrachter kreative Prozesse
anregen: Durch das Kunstwerk wird eine neue Möglichkeit vor Augen geführt, die vom Rezipienten ein Umdenken erfordert. Um etwas
Neues nachvollziehen zu können, müssen im Denken aktiv Bezüge hergestellt werden die vorher so nicht gegeben waren. Auch die
Beschäftigung mit Kunst auf der Rezipienten-Seite kann somit ein Kreativitätstraining darstellen.
Indem Spiel und Kunst Realitätsausschnitte in die Phantasiewelt übertragen, stellen sie
ausserdem eine Gelegenheit dar, sich gefahrlos auch potentiell gefährlichen Sachverhalten
zu widmen. Kinderspiele handeln oft von Abenteuern, in denen das Kind als Held
gefährliche Situationen meistert. Und auch Kunst bietet die Möglichkeit, sich mit Inhalten
auseinanderzusetzen, die in der Realität zu bedrohlich wären. Es gibt viele Kunstwerke, die
schreckliche Inhalte darstellen, z.B. Bacons verzerrte Körperbilder, Munchs Darstellungen
existentieller Verzweiflung, Dix' düstere Gesellschaftskritik, usw.
Aber nicht nur die Auseinandersetzung mit
Tod und Verzweiflung bedarf eines geschützten Raumes, um nicht zu bedrohlich zu werden. Die Konfrontation mit etwas Neuem allein
schon kann Angst auslösen. Um schnell und sicher handeln zu können, ist es normalerweise im Alltag wichtig, ein einigermaßen festes
Weltbild zu haben, aus dem klar hervorgeht, was gut und richtig ist. Es ist aber auch nützlich, dieses Weltbild hin und wieder in Frage zu
stellen, um im obigen Fall nach neuartigen Möglichkeiten suchen zu können, Dinge einzuschätzen und mit Ihnen umzugehen. Da die
Welt sich ändert, sollte auch das Bild der Welt, das man im Kopf hat an diese Veränderungen angepasst werden. Die Beschäftigung mit
Kunst stellt einen Rahmen dar, innerhalb dessen man gefahrlos probehalber neue Einstellungen ausprobieren und etwas aus einem
bisher ungewohnten Standpunkt heraus betrachten kann.
Indem also Kunst die Welt des Möglichen — die Phantasie — fördert und damit -Gelegenheit gibt. sich Neuem und Bedrohlichem
spielerisch zu nähern, erfüllt sie eine wichtige Funktion in der Auseinandersetzung mit der Welt. Im Spiel und in der Kunst kann
der Mensch kreativ sein und sich probehalber auf neue Denk- und Handlungsmöglichkeiten einlassen.
Kunst als Mittel zur Horizonterweiterung
Neben der Trainingsmöglichkeit kognitiver Fähigkeiten wird Kunst häufig die Funktion zugeschrieben, den eigenen Horizont zu
erweitern. Künstler waren schon immer in der Position, ihre Umgebung genau beobachten zu können, schliesslich gehört es zu ihrem
Berufsstand, ihre Beobachtungen in eine Form zu bringen und anderen zur Verfügung zu stellen. Ausserdem ist Kunstschaffen ein
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kreativer Prozess, bei dem u.U. auch ganz ungewöhnliche ldeen verwirklicht werden. Insofern kann der Betrachter bei der Beschäftigung
mit Kunst die — vielleicht ungewöhnlichere — Auffassung von der Welt aus Sicht des Künstlers teilen. Bezogen auf einen
Problemlösungsprozess kann man von einer „Suchraumerweiterung" sprechen, wenn man zu einem Problem neben den bereits selbst
bedachten Strategien noch eine neue Sichtweise in Betracht zieht. Aber auch ohne gerade ein Problem zu haben, kann so quasi
prophylaktisch das eigene Weltwissen erweitert werden.
Indem Kunst auf der einen Seite die gegenwärtigen Zustände schildert (z.B. die Kunst des sozialen Realismus). auf der anderen
Seite immer wieder Utopien (z.B. die Architektur des Bauhaus) oder auch apokalyptische Zukunftsszenarien (z.B. die sog. Junk-Art)
darstellt, konfrontiert sie die Rezipienten aber auch mit ihren eigenen Zielen, Wünschen und Befürchtungen. Wiederum auf das
Problemlösen bezogen liefert sie Analysen des Sollzustands bzw. des .,Soll-nicht-Zustands". Insofern kann die Beschäftigung mit Kunst
auch zu Selbstreflexion führen, bei der sich der Betrachter kritisch mit den eigenen Werten auseinandersetzt, mit eingefahrenen Sehund Denkgewohnheiten, und mit seinen Handlungstendenzen. Um ein Beispiel zu nennen, seien kurz einige Eindrücke aus einer
Tinguely-Ausstellung geschildert, bei der u.a. eine grosse Maschine gezeigt wurde, die Puppen aus einem Kasperltheater in Bewegung
setzt. In der Ausstellung im Pariser Centre Georges Pompidou konnte man beobachten, wie sich viele Betrachter zunächst sehr eifrig
ans Werk machten, die vielartigen verschiedenen Maschinen durch Knopfdruck in Gang zu setzen. Sie schienen Spass dabei zu haben
beobachten zu können, wie sich die komplizierten Maschinen auf das eigene Eingreifen hin in Bewegung setzten und über
verschlungene Riemen und Zahnräder schliesslich die Kasperlfiguren animierten. Erst nach einer gewissen Weile der Funktionslust
bemerkten einige, was sie da in Gang gesetzt hatten: die Kasperlpuppe hat begonnen, mit einem Knüppel auf eine zweite Handpuppe
einzuschlagen.
Bei einigen Besuchern hat die Beschäftigung mit Tinguelys Automaten dazu geführt, dass bislang automatisch und unbewusst
ablaufende Handlungstendenzen bewusst wurden. Das Bemerken der eigenen Bedenkenlosigkeit oder die Abgabe der Verantwortung
für das eigene Tun an eine höhere Instanz, in diesem Falle den Künstler oder die Ausstellungsmacher, kann die Besucher dazu
anregen, auch in anderen Situationen genauer hinzusehen. Diese Art der Selbsterkenntnis nennen Kreitler und Kreider die
archäologische Wirklichkeit" der Kunst, die darin besteht, verborgene Motive und Beweggründe ans Licht zu bringen (1980, S. 3186).
Hierin sehen auch einige, v.a. psychoanalytische, Kunsttherapeuten einen Hauptgesichtspunkt des Heilungspotentials von Kunst: Was
einem Menschen bewusst ist, ist leichter veränderbar, und schon das Verstehen eigener Tendenzen kann heilsam wirken, indem sie so
in das Selbstkonzept und die Biographie integriert werden können (vgl. Schmeer, 1992).
Bei dieser Art der Horizonterweiterung handelt es sich also um einen bewussten Vorgang. Selbstreflexion setzt immer eine explizite
Auseinandersetzung mit dem eigenen Denken und Handeln voraus. Insofern als dass bei der Rezeption von Kunst eigene
Wahrnehmungs- und Urteilstendenzen bewusst werden, können diese auch einer kritischen Hinterfragung zugänglich gemacht werden.
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Das Anzweifeln eigener Gedanken bringt allerdings ein gewisses Gefühl der Verunsicherung mit sich, da es ja impliziert, dass bislang
Gewohntes u.U. falsch war oder inzwischen nicht mehr angemessen ist. Je länger
man mit bestimmten Einstellungen oder Handlungsstrategien operierte und je wichtiger einem diese Einstellung ist, desto schwerer fällt
es einzugestehen, dass sie nicht richtig ist. (vgl. Festingers Dissonanztheorie, 1957). Das Nachdenken über das eigene Denken kann
eine unangenehme Beschäftigung sein, so dass es meistens nur dann stattfindet, wenn es unumgänglich ist (vgl. Stäudel, 1987).
Andererseits wird die Konfrontation auch mit verstörender Kunst von vielen Menschen immer wieder gesucht. Da Kunst u.a. durch
ihre Schönheit und durch die Befriedigung verschiedener Bedürfnisse angenehme Gefühle auszulösen vermag, und da
Kunstbetrachtung, wie schon erwähnt, in einem gefahrlosen Raum stattfindet, kann sie das Lagestellen der eigenen Weltsicht durchaus
lustvoll gestalten.
Aber auch ohne dass sich ein Rezipient explizit Gedanken über sein Denken macht, kann sich durch die Konfrontation mit
Neuartigem in der Kunst etwas in seiner bisherigen Weltsicht lindem.
Kunst stellt Seh- und Denkgewohnheiten in Frage
Das eigene Weltbild hin und wieder in Frage zu stellen, ist nützlich, um es daraufhin zu überprüfen, ob es der aktuellen Lebensumwelt
und -situation noch angemessen ist. Eine Möglichkeit dies zu tun, besteht in der Selbstreflexion, der bewussten Auseinandersetzung mit
dem eigenen Denken und Erleben. Daneben gibt es aber auch noch eine weniger explizite und stringente Art der „Weltbildpflege": das
Tagträumen. Beim Tagträumen werden verschiedene Gedanken assoziativ aneinandergereiht. Ausgangspunkt kann z.B. ein
wahrgenommenes Bild sein.
„Also diese Bilder - er hat ja mehrere gemacht, also da gibt's ja eins, diese berühmte an so 'ner, an so'm Restaurant, wo auch
so'n kaltes Licht ist. Die erregen in mir eine ... Angst, oder sagen wir: sind Ausdruck von Angst und erregen sie auch
gleichzeitig.... Woran das liegt ..., eins ist, für mich, es gibt auch so Stimmungen. Draußen, wenn die Erde heller ist als der
Himmel. Dann bekommt das so was Unwirkliches, also nicht, wenn die Erde künstlich beleuchtet ist, sondern wenn - ich weiß
nicht, ob Sie das auch schon mal gesehen haben. Also wenn irgendwoher noch Sonne kommt und Sie sehen das noch vor einem
komplett wolkenschwarzen - nicht nachtschwarzen - wolkenschwarzen Himmel. Und Sie haben dann, zum Beispiel also im
Sommer gibt es das manchmal, wenn Sie so goldene Komfelder haben, die ganz hell strahlen, und dahinter ist so, so ein ganz
schwarzer, wolkenschwarzer Himmel.... Gibt es auch schon mal im Winter, wenn Schnee ist, hm. das glaub ich, gibt dem... das
macht glaub ich was aus.... Weil es so, so künstlich wirkt, die Erdbeleuchtung und so als kämen sie gar nicht vom Himmel und
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dann fragt man sich, woher dann aus der Erde selbst oder aus der Halle oder was weiss ich woher. "
(Herr M.. Bildbetrachtung über Hopper)
In dieser Betrachtung scheint sich Herr M. selbst Fragen zu stellen: wieso wirken HopperBilder so auf mich?, Wie kommt es zu dieser
unwirklichen Stimmung in dem Bild? Wo kommt eine solche Stimmung in der Wirklichkeit vor? Wenn das Licht nicht von oben zu
kommen scheint — woher dann? usw. Zu diesen Fragen fallen ihm verschiedene Aspekte ein, die er alle relativ lose aneinanderreiht. Er
assoziiert. Genau dasselbe geschieht beim Tagträumen, das von irgendeinem äusseren Reiz oder einer inneren Empfindung oder
Erinnerung aus seinen Anfang nimmt. In dieser Passage finden sich also zunächst als Ausgangspunkt selbstreflektorische Fragen, die
dann aber in ein eher assoziatives „vorsich-Hindenken" übergehen.
Inwiefem trägt das lockere Aneinanderreihen von Wahmehmungs- und Gedächtnisinhalten zur Weltbildpflege bei? Ein Weltbild soll
dem lndividuum die wesentlichen Aspekte seiner Lebensumwelt möglichst vollständig, widerspruchsfrei zur Verfügung stellen. Da es
sich bei komplexen Umwelten um sehr viel Informationen handelt und täglich sehr viele Eindrücke ins Gedächtnis eingespeichert
werden, ist es erforderlich, hin und wieder in Ruhe diese Eindrücke zu sortieren. Zum einen geschieht dies im Schlaf beim Träumen (vgl.
Zimmer. 1984. S. 208; Dörner, 1999, S. 300). Träume greifen meist unerledigte Tagesreste auf, die sich noch nicht glatt in das bisherige
Weltwissen fügten (s. auch Freuds Traumtheorie, 1972, S. 141ff). Tagträume können demselben Zweck dienen. Beide Formen des
Träumens stellen assoziativ Verbindungen zwischen verschiedenen Inhalten her. Gelingt die Verbindung, ist damit Koharenz gestiftet,
gelingt sie nicht können Widersprüche oder WissensIücken entdeckt werden.
Herr M. wendet im obigen Beispiel sein Wissen über bestimmte Lichtverhältnisse in unterschiedlichen Situationen an. Indem er
versucht für die wahrgenommene Szene in seinem Gedächtnis passende Schemata zu finden. Nun fallen dazu nacheinander mehrere
Schemata ein. Gleichzeitig beantwortet er sich damit die Frage, wo diese angsterfüllte Atmosphäre des Bildes herrührt. Damit elaboriert
er zum einen vorhandene Schemata im Gedächtnis, zum Anderen schliesst er eine WissensIücke, indem er sein Wissen zur
Beantwortung der offenen Frage neu kombiniert. um zur Nächsten offenen Frage überzugehen.
Kunst vermittelt soziale Werte
Das ästhetische Urteil erzeugt bei denen, die es teilen, das nahezu ozeanische Gefühl, in der Welt zu Hause
zu sein.
Thomas Palzer
Eine letzte Funktion von Kunst, die hier besprochen werden soll, bezieht sich auf einen andern Aspekt von Kunst. Viele Autoren betonen
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die kommunikative Funktion der Kunst. Der Künstler ist der Sender einer Botschaft, die er seinem Publikum, als dem Empfänger, in
Form seiner Kunst vermitteln will (vgl. z.B. Moles, 1972; Schuster & Poschek. 1989). Das Publikum reagiert auf die Botschaft, z.B. indem
sie sie kritisiert oder indem verschiedene Rezipienten sich über das Kunstwerk unterhalten. Kommunikation mit anderen Menschen kann
mehrere Funktionen erfüllen. Zum einen wird so die eigene Weltsicht anhand der Erfahrung anderer überprüft und verifiziert. Zum
anderen dient die Kommunikation auch einfach der Geselligkeit und dem Gemeinschaftsgefühl. Ein angeregtes Gespräch gibt den
Teilnehmern das Gefühl, von den anderen akzeptiert zu sein. Schuster (1992, S. 22tt) weist darauf hin, dass durch Kommunikation in
einer Gruppe ein gemeinsames Weltbild erzeugt wird. Zum einen kennen sich die Mitglieder gegenseitig als „Verifikatoren", zum
Anderen entsteht ein Gruppendruck, der abweichende Meinungen über einer gewissen Toleranzschwelle nicht stehen lässt. Jede
Gruppe legt fest, was „ver-rückt" ist und zum Ausschluss führt, denn um für die Individuen, die ihr angehören, nützlich zu sein, muss die
Gruppe u.a. über eine verbindliche Wirklichkeitsauffassung und allgemein anerkannte Werte verfügen. Kunst kann als Medium der
Kommunikation eine gruppeneinigende Funktion haben: indem in ihr bestimmte Wirklichkeitsauffassungen dargestellt werden oder ein
bestimmtes Lebensgefühl ausgedrückt wird, an das die Gruppenmitglieder appellieren können oder aber das sie sich
auseinandersetzen. Gemeinsamer Geschmack verbindet (vgl. z.B. Sillmann & Gan, 1997).
Darüber hinaus, dass über Kunst weltanschauliche Aspekte und Wahrnehmungskonventionen vermittelt werden können, kann Kunst
auch unmittelbar gemeinschaftsstiftend wirken, indem sie die Rezipienten „in gleiche Schwingungen versetzt. Beim Schunkeln zur Musik
und beim Tanzen ist das durchaus wörtlich gemeint. Auch Marschmusik ist ein gutes Beispiel dafür, wie über die gemeinsamen
rhythmischen Bewegungen ein Gefühl der Zugehörigkeit und Einigkeit erzeugt wird. (Und Einigkeit macht stark. Das Aufgehen in einer
perfekt organisierten Gruppe vermittelt dem einzelnen eine große Sicherheit und das Gefühl, an einer übergeordneten Macht
teilzuhaben (vgl. Tajfel & Turner, 1986; Stroebe, Hewstore & Stephenson. 1996). Aber auch außerhalb des militärischen Bereichs gibt es
das Phänomen, dass „schöne" Erlebnisse verbinden, etwa das gemeinsame Singen in einem Chor oder auf der Klassenfahrt am
Lagerfeuer. Es scheint so zu sein, dass die Wahrnehmung gleicher Bewegungen für die Beteiligten ein Signal der Zugehörigkeit
darstellt. Musik, aber auch andere Formen von Kunst, lösen bei den Rezipienten Gefühle aus. Befindet sich ein Mensch in einer
bestimmten Stimmungslage, bedeutet dies, dass sein Handeln auf bestimmte Art und Weise moduliert wird (vgl. z.B. Dörner, 1993;
Schaub. 1995: Hille. 1997). Werden nun durch Kunst bei einer Gruppe von Rezipienten Gefühle ausgelöst besteht bei ihnen auch eine
ähnliche Einfärbung der psychischen Abläufe. Die Rezipienten erleben ähnliches und haben auch ähnliche Handlungstendenzen. Und
das Wahrnehmen dieser gleichen Resonanz scheint verbindend zu wirken.
Ein anderer Aspekt des Zusammenhangs von Kunst und Gemeinschallserlebnissen wird anhand einer Studie von Baumgartner
(1992) deutlich. Er untersuchte die Verbindung von Musikstücken zu Erinnerungen an Lebensereignisse und kam dabei zu dem
Ergebnis, dass 64% der genannten Erinnerungen explizit Gemeinschaftserlebnisse waren. Besonders häufig werden dabei romantische
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Erlebnisse berichtet, was dazu passt, dass viele Paare ein gemeinsames Lied — ein „unser-Lied-Erlebnis" .
Viele Autoren weisen auf die Bedeutung des Musikgeschmacks für die Gruppenidentität von Jugendlichen hin (z.B. Hargreaves bk.
North, 1997; Crozier. 1997; Russell. 1997). Gemeinsame Vorlieben und Abneigungen definieren Gruppenstandards. Das gilt genauso
stark auch für Mode (s. z.B. Sommer. 1993). In ästhetischen Objekten werden die gemeinsamen Kategorisierungen und damit
verbundenen Wertorientierungen symbolisiert. Das funktioniert natürlich auch mit anderen Formen der Kunst. Es gibt Kultfilme, die das
Lebensgefühl von bestimmten Subgruppen zum Ausdruck bringen oder Bücher, die „man" liest. Manchmal werden Dialogszenen oder
Liedzeilen direkt in das Kommunikationsrepertoire übernommen. Aber auch visuelle Symbole können dem Ausdruck bestimmter
Gruppennormen dienen. Wer in seiner Wohnung Poster von Rosina Wachtmeister aufgehängt hat, hängt einem anderen Wertekanon
auf als jemand, dessen Wände Cy Twombly ziert. Fans des Films „Natural born killers" erkannten sich eine Weile an den roten
Sonnenbrillen, die neben dem Kunstgeschmack auch eine bestimrnte Werthaltung symbolisierten.
Kunst hat also das Potential Gruppenkohäsion zu stärken. Das liegt zum einen daran. dass Menschen durch sie in ähnliche
emotionale Stimmungen versetzt werden können, zum anderen daran, dass sie einen gemeinsamen Symbolcode für
gruppenverbindliche Normen zur Verfügung stellt. Insofem wird klar, dass religiose Ideologien und säkulare Machtsysteme viel Wert auf
Aesthetik legen. Man denke z.B. an römische Paläste oder gotische Kirchen, an Aufmärsche im Dritten Reich oder an sozialistische
Gemälde, an goldene Kelche in Gottesdiensten und an die Abläufe von Riten allgemein.
Aber Kunst ist nicht nur relevant für die Vermittlung von gemeinschaftsstärkenden, kollektivistischen Werten. In eher individualistisch
orientierten Kulturen finden sich viele Kunstwerke. die gerade diese Werte transportieren. Das zeigt sich z.B. im Geniekult der Modeme,
in den aufgegriffenen Sujets, und v.a. in der Art der Darstellung: Ist es das Ziel eines Bildes, dem Betrachter eine bestimmte Botschaft
zu vermitteln, die ihn fester an eine Gruppe binden soll, ist es nicht ratsam, dabei viel Interpretationsspielraum zu lassen. Zu leicht
könnten individuelle Auslegungen diese Absicht vereiteln. Die Kunst des Mittelalters z.B. war sehr darauf bedacht, klare Formen und
entschlüsselbare Symbole zu verwenden so dass die Botschaft der dargestellten Szenen eindeutig war. Kunst aus Epochen, in denen
Individualität hochgehalten wurde, zeichnet sich dagegen eher dadurch aus, dass emotional Bedeutsames dargestellt ist, das auf das
subjektive Erleben des einzelnen Betrachters abzielt. Hier ist es das Ziel, individuelle Gedanken oder Gefühle auszulösen, der genaue
Inhalt des Dargestellten tritt dahinter zurück (vgl. Gombrich.S. 87ff).
Ob also durch Erzeugen von Gemeinschaftserlebnissen oder im Anregen zu individuellen Erfahrungen — Kunst hat die Möglichkeit, eine
große Bandbreite ganz unterschiedlicher Werte zu vermitteln.
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Zusammenfassung: Funktionen von Kunst
Angesichts einer zunehmend ins Unübersichtliche hinübergleitenden Lebenswelt sichern Erfindung und Wiederholung von inneren und
äußeren Bildern das notwendige Maß an Zuversicht, Ordnung und Selbstvergewisserung, ohne die wir nicht handlungsfähig wären",
schreibt Lantermann (1992, S.7). Seit jeher trägt Kunst zur Deutung der Wirklichkeit bei, indem sie dem Ungeordneten Form gibt und es
damit begreiflich und fassbar macht. Kunstobjekte können dazu anregen, sich mit der eigenen Weltsicht, eingeschliffenen
Wahrnehmungsgewohnheiten, Einstellungen und Handlungstendenzen auseinanderzusetzen, diese dabei kritisch zu prüfen und ggf. zu
ergänzen oder zu revidieren. Die Beschäftigung mit Kunst kann der Pflege des eigenen Weltbildes dienen. Sie kann darüber hinaus im
Dienst der Vermittlung sozialer Werte stehen und dabei den Rezipienten Gemeinschaftserlebnisse ermöglichen.
Pflege des Weltbildes, Anregung zu Gemeinschafts- oder anderen Erlebnissen. Deutung der Welt, Beschäftigung mit der eigenen Weltund Selbstsicht usw. können also potentielle Funktionen der Beschäftigung mit Kunst sein. Davon ausgehend lässt sich nun weiter
fragen: Wie muss ästhetisches Erleben ablaufen und welche psychischen Strukturen müssen daran beteiligt sein, damit diese
Funktionen erfüllt werden können?
Weltbild: Modell der Wirklichkeit
Zunächst seien kurz einige Begriffe geklärt. Das Gedächtnis ist das Medium, innerhalb dessen alle psychischen Prozesse
ablaufen. Es bildet damit die Datenbasis und stellt das Material für die psychischen Prozesse bereit. Das Gedächtnis
überträgt Informationen über die Zeit, ist dabei aber nicht nur ein passiver Speicher, sondern verändert die transportierten
Inhalte auch. Es enthält zunächst alle Erfahrungen, die ein Individuum macht, denn im Gedächtnis wird ein Protokoll aller
sich abspielender Ereignisse angelegt. Dieses Protokoll unterliegt Veränderungen über die Zeit, es zerfällt teilweise und das
Übriggebliebene bildet zusammenhängende Einheiten.
Die im Gedächtnis gespeicherten Informationen sind das Wissen, über das eine Person verfügt. Es kann in expliziter Form
gespeichert sein und daher von der Person bewusst abrufbar und erklärbar sein, aber auch implizit, wie z.B. das Wissen, wie
man Ski fährt: die Person weiss wie sie diese Tätigkeit auszuführen hat und beherrscht sie, ohne genau erklären zu können,
wie sie dies im Einzelnen bewerkstelligt.
Das Weltbild schliesslich strukturiert das Wissen im Gedächtnis und ermöglicht es, Bedeutungen zu erkennen, indem es
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einzelne Wissensinhalte zueinander in Beziehung setzt. Bedeutung ergibt sich aus der Art solcher Beziehungen. Je
nachdem, in welchem Kontext ein Sachverhalt auftritt und wie etwas zu anderen Sachverhalten in Beziehung steht ergibt
sich die jeweilige Bedeutung für das Individuum. Bspw. kann für den einen ein Kandinsky-Bild ein Kunstgenuss sein, einen
anderen erinnert es an eine Kunstpostkarte, die er von einem wichtigen Menschen bekam und ein dritter lehnt es ab, weil es
klischeehaft in jeder Studenten-WG hängt. Solche individuellen Interpretationen ergeben sich aus dem Weltbild, denn das
Weltbild ist die Bedeutungsstruktur des im Gedächtnis gespeicherten Wissens. Aus ihm ergibt sich die Art und Weise, wie
Eindrücke interpretiert, welche Erwartungen gebildet werden und wie eine Person sich selbst in der Welt wahrnimmt.
Aufgrund der Erfahrungen, die eine Person im Laufe ihres Lebens mit sich und den verschiedenen Realitätsbereichen der
Welt macht, bildet sie ein subjektives Modell der Wirklichkeit. Von diesem Modell der Welt — dem Weltbild — nehmen wir an,
dass es funktional ist, indem es dem Individuum hilft, sich in seiner Umgebung möglichst gut zurechtzufinden, weil es dazu
dient, die Welt zu bewerten und zu erklären, so dass die eigenen Handlungen den jeweiligen Besonderheiten der Welt
angepasst werden können.
Ein Weltbild ist für den Menschen deswegen notwendig, weil er mit relativ wenigen fest vorprogrammierten
Verhaltensabläufen auf die Welt kommt. Daraus ergibt sich für ihn auf der einen Seite die Möglichkeit, sich an die
unterschiedlichsten Umgebungsbedingungen anzupassen, aber auch der Zwang, sich Wissen selbst anzueignen. Ohne feste
Reizreaktions-Ketten entsteht eine gewisse Entscheidungsfreiheit, die es erforderlich macht als Grundlage ein Bild der
Lebenswelt zu haben. Da er nicht automatisch auf bestimmte Umgebungskonstellationen reagiert, muss er lemen, welche
Verhaltensweisen sich als brauchbar, welche als schädlich erweisen, welche Situationen gut welche schlecht sind, wie die
Dinge normalerweise ablaufen, an welcher Stelle sich ein Eingreifen lohnt usw.
Mit anderen Worten: der Mensch braucht eine Art Modell seiner Umgebung, dem er entnehmen kann, was gerade der Fall
ist, wie dies zu bewerten ist und wie er am besten reagieren sollte.
Wie kommt die Welt in den Kopf?
Bei seiner Geburt hat der Mensch vermutlich noch kein Wissen über die Welt in die er hineingeboren wird. Dennoch kommt
er nicht als „Tabula rasa" auf die Welt, sondern verfügt über eine gewisse angeborene Grundausstattung, die dem Erkennen
und Einordnen aller Erfahrungen zugrundeliegt. Ganz basal besteht die Grundausstattung zunächst aus den Sinnesorganen,
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die auf das Erkennen eines bestimmten Ausschnitts aller vorkommenden Reize ausgelegt sind. Bestimmte Lichtwellen
identifizieren wir als verschiedenfarbiges Licht, Schallwellen eines bestimmten Spektrums als Töne usw., wohingegen Reize,
für die wir kein Sinnesorgan besitzen, nicht direkt wahrgenommen werden können.
Die Sinnesorgane verbinden den Menschen mit seiner Umgehung, indem sie die Wahrnehmung bestimmter Informationen
ermöglichen. Damit Reize allerdings als etwa Bestimmtes erkannt werden können, müssen sie weiter zu sinnvollen Einheiten
zusammengefasst werden. Diese Strukturierung erfolgt ebenfalls anhand angeborener Prinzipien der Gestaltgesetze (s. z.B.
Koffka, 1950. Köhler, 1929).
Aufbau des Weltbilds aus Schemata
Im Gedächtnis werden die zusammengefassten Reize als Schemata repräsentiert. Ein Schema ist die basale
Organisationseinheit des Gedächtnisses, es umfasst Elemente und Relationen und fasst auf diese Weise sinnvolle Einheiten
zusammen. Schemata bilden die Bausteine aller kognitiven Prozesse (vgl. Mandl. Friedrich & Hron, 1988).
In der Psi-Theorie wird unterschieden zwischen sensorischen Schemata für Objekte, Geschehnisschemata für Ereignisse
und motorischen Verhaltensprogrammen. Solche Schemata sind sowohl für die Wahrnehmung als auch für das Verstehen
von Bildern grundlegend. In dieser Arbeit wird an mehreren Stellen auf das Schemakonzept zurückgegriffen, an dieser Stelle
werden die wesentlichen Begriffe in aller Kürze eingeführt. Die Orientierung hierzu lieferte auch die Arbeit im Rahmen der
Europäischen Hochschulschriften Wie Kunst wirkt. Zur Psychologie ästhetischen Erlebens von Dorothée Halcour.
Ein sensorisches Schema umfasst die Elemente eines Objekts und ihre räumliche Relationen untereinander. Die
räumlichen Beziehungen zwischen den einzelnen Elementen eines sichtbaren Objekts ergeben sich daraus, dass für ihre
Wahrnehmung jeweils bestimmte Blickbewegungen notwendig sind. Die Bewegungen der Augenmuskeln werden registriert.
Ein sensorisches Schema ist damit weniger ein inneres Abbild eines Objekts als eher ein motorisches Programm, das die
Abfolge von Aktivierungen der Augenmuskeln steuert (ausführlich nachzulesen bei Dömer, 1999, S. 141f).
In Abbildung 6.1 ist sehr vereinfacht die schematische Variante eines visuellen Schemas abgebildet. Verschiedene
Elemente, symbolisiert durch die grauen Kreise, sind durch Relationen miteinander verbunden, die durch Pfeile dargestellt
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sind. Zweigen von einem Element mehrere Pfeile ab, so sind sie mit verschiedenen Wahrscheinlichkeiten miteinander
verknüpft. Bezogen auf das rechte Beispiel der Erkennung eines Gesichts kann dies bspw. bedeuten: Wenn ein Element als
ein Auge erkannt worden ist befindet sich mit einer Wahrscheinlichkeit von p = 0,6 in einem bestimmten Abstand in rechter
Richtung ein zweites Auge. Ist dies nicht der Fall, dann müsste sich mit einer Wahrscheinlichkeit von p = 0.3 schräg rechts
unten ein Ohrläppchen befinden etc.
Auch Geschehnisschemata sind solche Programme, allerdings besteht die „Anweisung" hier nicht darin, dass die Augen
bewegt werden sollen, sondern darin, dass abgewartet wird, ob sich von allein eine zeitliche Veränderung einstellt. Ein
Geschehen bedeutet die Veränderung einer Konfiguration über die Zeit. Schemata können ineinander eingebettet sein. Ein
Schema kann wiederum Element eines untergeeordneten Schemas sein. Die Welt im Kopf hat eine hierarchische Struktur,
genauer genommen sogar eine mehrfach hierarchische, denn die Schemata können sich nicht als Teile gegenseitig
enthalten (Teil-Ganzes-Hierarchie), sondern auch unterschiedlich abstrakt sein, so dass sie jeweils ein Beispiel einer
übergeordneten Kategorie sein können (Abstraktheits-Hierarchie). Abstraktheit bedeutet, dass das Wesentliche eines
Sachverhalts herausgezogen wird und Unwesentliches „abgezogen" wird (abstrahere, lat.: abziehen).
Abstraktheit entsteht indem in einem Schema „Hohlstellen” erzeugt werden, die jeweils für verschiedene konkrete
Ausformungen stehen können. Um ein Selbstportrait von Kirchner und eine Aktdarstellung von Nolde unter das abstrakte
Schema „Expressionismus" fassen zu können. werden bestimmte wesentliche Merkmale in das abstrakte Schema
übernommen, etwa die kontrastreiche und wenig abgestufte Farbgebung und der lockere, grobe Pinselduktus, von den
konkreten Inhalten aber wird abstrahiert — das Schema „Expressionismus" verzweigt sich an dieser Stelle und kann sowohl
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auf „Akt in der Natur" als auch auf „Selbstportrait" verweisen. Durch die jeweils unterschiedlich ausführbaren Hohlstellen stellt
ein abstraktes Schema eine Oberkategorie für mehrere konkrete Schemata dar.
Abstraktheit kann sich auf zwei Merkmale beziehen. Dealer (1999, S. 142ff) unterscheidet zunächst zwischen
„Elementabstraktheit" und „Strukturabstraktheit". Bei der Strukturabstraktheit können die einzelnen Bestandteile eines
Schemas in unterschiedlicher Art miteinander verbunden sein. Das Schema verzweigt sich an solchen Stellen, und es
enösteht eine Strukturhohlstelle. Zu einem Gesicht gehören Augen, Nase, Mund etc. Wie diese aber genau geformt sind und
in welchen Proportionen sie zueinander stehen (man erkennt ein Gesicht von vorne
und im Profil), ist im
abstrakten Gesichtsschema nicht festgelegt.
Bei der Elementabstraktheit bleibt im übergeordneten Schema die Struktur einer konkreten Schemata erhalten, allerdings
werden für manche Elemente Hohlstellen angelegt. Das bedeutet, dass an diesen Stellen im Schema unterschiedliche
Elemente vorkommen können. Beispielsweise setzte Arcimboldo (1573) in einem Bild ein Gesicht aus Früchten zusammen,
in dem eine Gurke die Nase bildet, eine Birne das Kinn- eine Bohne den Mund etc. — und das Bild bleibt doch als Gesicht
erkennbar.
Der Erwerb von Schemata
Von diesen Schemata, die die Grundlage des Erkennens, Denkens und Erinnern darstellt sind nur wenige angeboren. Zu
ihnen gehört bspw. das Erkennen von gesichtsähnlichen Gebilden, was Neugeborene schon unmittelbar nach der Geburt
können.
Die meisten Schemata werden im Laufe des Lebens erworben. Im Gedächtnis werden permanent alle Eindrücke (als
Momentaufnahme aller aktivierten Neurone) protokolliert. Das sog. Protokollgedächtnis besteht aus einem Neuronenstrang,
der sich permanent vorwärts in die Zeit fortsetzt, und dessen Protokollneuronen jeweils auf die Eindrücke verweisen, die mit
ihm verknüpft sind (s. ausführlich Dörner, 1999. S. 110ff). Dabei sind die Verbindungen zwischen den Protokollneuronen so
beschaffen, dass sie sich mit der Zeit wieder lösen können. Die Verbindungen sind also flexibel angelegt. Das macht sie
einerseits anfällig für das Vergessen, und in der Tat vergessen wir ziemlich schnell das meiste von dem, was ständig um uns
herum geschieht. Andererseits entsteht damit die Möglichkeit. zwischen Wichtigem und Unwichtigem zu unterscheiden. Nur
das Wichtige wird dauerhaft behalten. Langfristig gespeicherte Schemata werden also so angelegt, dass Irrelevantes vergessen und Relevantes behalten wird.
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Relevanz ist eine Bewertung, die sich auf ein Kriterium beziehen muss: Wichtig ist das, was dem Individuum nützt, seine
Bedürfnisse zu befriedigen und Schaden zu vermeiden. Damit besteht eine enge Verbindung zwischen Motivation und
Weltbild. Im Weltbild wird das dauerhaft gespeichert, was mit der Entstehung oder der Befriedigung von Bedürfnissen
einhergeht, denn das ist für das Individuum wichtig. Von daher sollte im Gedächtnis ein Modell der Welt angelegt werden,
das Auskunft darüber gibt, welche Situationen günstig und welche ungünstig sind, und wie die einzelnen Situationen erreicht
bzw. vermieden werden können. Daraus ergibt sich, dass Weltbilder grundsätzlich auf den eigenen Nutzen ausgerichtet sind,
und alle Erfahrungen werden in Hinblick auf dieses Kriterium bewertet.
Ein großer Teil der Schemata wird auf diesem Wege über Erfahrungen gelernt, die zu Belohnung oder Bestrafung führen,
bzw. gemeinsam mit belohnenden oder bestrafenden Ereignissen auftreten und damit Hinweischarakter haben (operantes
und klassisches Konditionieren). Belohnung und Bestrafung führen dazu, dass im Gehirn die Verbindungen verstärkt werden
und damit weniger leicht zerfallen können. Auf diese Weise bilden sich im Gedächtnis „Wissensinseln": Sachverhalte, die
wichtig sind, werden behalten, die irrelevanten Verbindungen zwischen ihnen aber gehen mit der Zeit verloren. Man weiß
nach einer gewissen Zeit oft nicht mehr genau, unter welchen Umständen man etwas Wichtiges gelernt hat (zumindest,
wenn dieser Kontext nicht selbst emotional bedeutsam war), wohl aber noch, was gelernt wurde. Besonders, wenn sich
Ereignisse unter verschiedenen Bedingungen immer wieder wiederholen, gehen die unterschiedlichen Kontextinformationen
verloren. Das Gelernte wird generalisiert, verliert aber seine genaue Lokalisation im Zeitstrang. Die so entstehenden
“Wissensinseln" umfassen jeweils einzelne relevante Episoden.
Wäre aber das Gedächtnis nur eine Ansammlung solcher Episoden, bliebe das Wissen verstreut und vereinzelt. Längere
Plane liessen sich damit nicht erstellen, weil ja die Verbindungen zwischen den einzelnen Episoden nicht vorhanden waren.
Deswegen werden Erfahrungen nicht einfach gesammelt, sondem zueinander in Beziehung gesetzt, so dass ein komplexes,
zusammenhängendes Bild möglicher Situationen und Ereignisse entstehen kann._
Zusammenhänge können gestiftet werden indem einzelne Inhalte zueinander in Beziehung gesetzt werden, indem sie
verglichen und auf abstraktere, allgemeine Regeln zurückgeführt werden. Auf diese Weise erhalten sie Bedeutung. Dazu
sind Menschen in der Lage, weil sie über Sprache verfügen. Wichtig wird sein dass sich die Generierung von Bedeutung in
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einem Wechsel von sprachlichen und ansehaulichen Denkprozessen vollzieht. Die Sprache ist dabei das Medium, das es
erlaubt, sich vom unmittelbar Erfahrbaren zu lösen und nach Kausalität, Konsequenzen und allgemein nach Zusammenhängen zu fragen.
Damit haben Weltbilder einen hohen sprachlichen Anteil. Dennoch sind nicht alle relevanten Erfahrungen, die im
Gedächtnis einer Person verankert sind, auch bewusst sprachlich zugänglich, zum einen weil sprachliche Verknüpfungen
auch vergessen werden können, zum anderen, weil auch nicht alle Erfahrungen in Sprache gefasst und bewusst verarbeitet
werden. Handlungsleitende Weltbilder in unserem Sinne umfassen damit nicht nur explizit philosophische
Gedankengebäude, wie dies in der Literatur oft gefasst wird (z.B. Benesch, 1984; Preiser, 1994), sondern beinhalten auch
relevante unbewusste Gedächtnisschemata.
Fassen wir zusammen: Schemata werden angelegt, indem im Protokollgedächtnis gleichzeitig auftretende
Erregungsmuster festgehalten werden. Diese verfallen schnell wieder. wenn sie nicht für das Individuum relevant sind, wenn
sie also nicht mit Bedürfnisbefriedigung oder Bestrafung zu tun haben. Durch Verstärkung des Relevanten und Zerfall des
Unwichtigen entstehen ,Wissensinseln", einzelne zunächst unverbundene Episoden. Diese werden von Menschen sprachlich
zueinander in Beziehung gesetzt so dass ein zusammenhängendes, bedeutsames Modell der Welt entsteht, das dazu dient,
sich die Ereignisse zu erklären und sie in Bezug auf die eigenen Bedürfnisse zu bewerten.
Neben dem direkten Lernen aus Erfahrungen gibt es für Menschen noch eine andere Art zu lernen: Vieles - ganz
besonders aber das Wissen über Bedeutungen — wird in der Erziehung verbal vermittelt oder als Modell vorgelebt. Insofern
gehen in das Weltbild immer auch Traditionen ein, denn Eltern geben das weiter, was sie selbst gelernt haben und was sich
für sie (und ihre Vorfahren) bewährt hat.
Im Prinzip funktioniert das Lernen anhand eigener Erfahrungen genauso wie das Lernen am Modell: Das Nachahmen der
Eltern führt zum einen unmittelbar zu Belohnungen, weil Eltern solches Verhalten explizit belohnen, zum anderen befriedigt
die Wahmehmung, dass man sich verhält wie andere auch, das Bedürfnis nach Legitimation, und schließlich kann am Modell
beobachtet werden, ob das gezeigte Verhalten zu Erfolg oder Misserfolg führt, das Modell macht sozusagen stellvertretend
Erfahrungen mit Belohnung bzw. Bestrafung.
Durch die Erziehung wird allerdings das Feld der möglichen eigenen Erfahrungen neu-strukturiert. In Familien wie in allen
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sozialen Verbänden wird ein Set gemeinsam geteilter Normen und Werte festgesetzt. Diese bestimmen, in welchen Feldern
sich die einzelnen Mitglieder überhaupt bewegen dürfen und welche tabu sind, welche Handlungen als gut und richtig und
welche als verboten angesehen werden, inwieweit dem Einzelnen Freiheit zuerkannt und Verantwortung auferlegt wird,
welche Rollen den verschiedenen Mitgliedern innerhalb der Gruppe zukommen und wie sehr das Bandeln der Einzelnen auf
die Gruppe bezogen bleibt.
Familien wiederum sind ihrerseits eingebunden in andere soziale Verbände, wie Nachbarschaft, Freunde, Gemeinde,
Arbeitsgruppen usw., die sich auf oberster Ebene in einem Kulturkreis zusammenfassen lassen. Kultur spiegelt sich
dementsprechend im Handeln der Einzelnen, weil innerhalb einer kulturellen Gemeinschaft ähnliche Annahmen über die
Erlaubtheit und Beschaffenheit der Handlungsfelder der einzelnen Mitglieder geteilt und tradiert werden (vgl. z.B.
Eckensberger, 1990, 1992; Boesch; 1991).
Indem also in sozialen Verbänden schon bestimmte Lebensbedingungen vorgegeben sind und damit die Menge möglicher
Erfahrungen vorstrukturiert ist, sind Weltbilder immer kulturell und sozial geprägt.
Wertewelt und Wirkwelt
Im letzten Abschnitt wurde erwähnt, dass das Weltbild in Hinblick auf Relevanz angelegt ist. Relevant ist es um positive
Bedürfnisse zu befriedigen und Schaden zu vermeiden. Um in Bezug auf die Bedürfnisse effektiv handeln zu können, ist es
grob betrachtet zunächst notwendig, zwischen „guten". ,schlechten" und ,.neutralen" Situationen unterscheiden zu können.
„Gut" sind Situationen, in denen Bedürfnisse befriedigt werden können. „schlecht" sind Situationen, in denen Bedürfnisse
entstehen oder das Individuum zu Schaden kommt, und „neutral" sind solche Situationen, die keine unmittelbare Relevanz
für die Bedürfnisse haben, aber (zeitlich oder räumlich) auf dem Weg zu den guten oder schlechten Situationen liegen.
Solche Bewertungen der Welt gehen aus denn Werteweltbild hervor (vgl. Dörner, 1999, S. 244ft).
Situationsbewertungen geben Auskunft über mögliche Ziele, die angestrebt werden können, und Gefahrensituationen, die
zu vermeiden sind. Damit geben sie dem Handeln die Richtung vor. Beim Menschen sind ja die Bedürfnisse nicht fest mit
Zielsituationen verbunden, diese müssen erst erlernt werden.
Außerdem sollten im Gedächtnis auch Informationen darüber gespeichert sein, wie gute Situationen angestrebt und
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schlechte vermieden werden können. Es sollten also zielführende Handlungsmöglichkeiten abrufbar sein, aber auch
Schemata von Geschehnissen, die ohne eigenes Eingreifen ablaufen. Insgesamt wäre es günstig, ein Bild davon zu haben,
wie die Welt funktioniert. Das ist Inhalt des Wirkweltbildes. Es enthalt die Geschehnisschemata und Verhaltensprogramme
und gibt Auskunft darüber, welche Operatoren in bestimmten Situationen zur Verfügung stehen, unter welchen Bedingungen
sie anwendbar sind und wie sich Situationen eigendynamisch oder nach bestimmten Eingriffen verändern.
Ganz grob teilt das Wirkweltbild die Welt in einen passiven und einen aktiven Bereich ein (vgl. Doerner). Im passiven kann
nicht selbst gehandelt werden, die Ereignisse treten ohne eigenes Zutun und ohne Beeinflussungsmöglichkeit ein. In einer
passiven Wirkwelt bleibt dem Handelnden nur, sich den Umständen zu fügen und sie als Schicksal anzunehmen. Aktive Teile
der Welt dagegen stehen potentiell unter der eigenen Kontrolle — der Handelnde sieht für sich Möglichkeiten, in das
Geschehen einzugreifen, auch wenn er nicht unbedingt sicher ist, ob die eingesetzten Strategien auch zum Erfolg führen.
Da im Wirkweltbild das Wissen über allgemeine Ereignisfolgen abgespeichert ist, kann es auch dazu herangezogen
werden, Erwartungen über die Zukunft zu bilden. Damit kann abgeschatzt werden, was in nächster Zeit vermutlich eintreten
wird, so dass das Verhalten dementsprechend geplant werden kann.
Wertewelt und Wirkwelt sind im Weltbild aufeinander bezogen. Man wählt nicht nur welche Situationen gut und schlecht
sind und welche Operatoren schon irgendwann einmal erfolgreich angewendet wurden, sondern auch, welche
Handlungsweisen in welchen Situationen angemessen sind.
Es lässt sich also
zusammenfassen: Ein Weltbild besteht aus den beiden Bereichen Werte- und Wirkweltbild, die gemeinsam eine subjektive,
funktionale, handlungsleitende Gedächtnisstruktur darstellen. Aus dieser Struktur Iässt sich entnehmen welche Situationen
anzustreben und welche zu vermeiden sind, und wie dies jeweils geschehen kann. Schematisch lassen sich Weltbilder als
Zustands-Uebergangs-Diagramme darstellen, bei denen die Zustände jeweils als positiv, negativ oder neutral bewertet
werden und die Übergänge entweder passiv von alleine oder aktiv durch eigenen Eingriff erfolgen.
Auf der Abbildung 6.2 sieht man Kreise, Sterne und Blitze — diese entsprechen neutralen, positiven und negativen
Ereignissen. Sie sind jeweils mit durchgezogenen oder aber gestrichelten Pfeilen miteinander verbunden. Gestrichelte Pfeile
bedeuten, dass der Übergang von einer Situation zur nächsten von alleine vor sich geht, ohne dass das Individuum aktiv an
dieser Veränderung beteiligt ist. Dagegen symbolisieren durchgezogene Pfeile, dass hier das Individuum selbst auf das
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Geschehen Einfluss nehmen kann. Von manchen Stellen zweigen mehrere Pfeile ab. Dann sind prinzipiell mehrere
Ausgänge einer Situation denkbar. Bei durchgezogenen Pfeilen hat dann die Person die Auswahl, was sie tun möchte, bei
gestrichelten hängt es von äusseren Faktoren ab, was geschieht. Auch kommen an manchen Stellen sowohl Sterne als auch
Blitze vor — solche Situationen haben dann zwei Seiten, eine positive und eine negative. Sie sind dadurch konfliktträchtig.
Je nachdem, wie die Anteile negativer, positiver und neutraler Situationen sich im Weltbild einer Person verteilen und
durch welche Art von Pfeilen sie miteinander verbunden sind, ergibt sich dadurch eine individuell geprägte Weltsicht.
Abb 6.2 Struktur eines Weltbilds (nach Dömer, 1999, S. 247)
Bevor auf die Auswirkungen unterschiedlicher Weltbilder genauer eingegangen wird sei hier noch eine Anmerkung zum
Thema der Wertwelt gemacht:
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Oben wurde behauptet, dass die Einteilung der Welt in gute, schlechte und neutrale Situationen, die im Werteweltbild
verankert ist, im Hinblick auf die Befriedigung von Bedürfnissen erfolgt. Dies entspricht einer pragmatischen
Bewertungsstrategie: gut ist, was mir nützt. Die meisten Werte, die Menschen haben, sind aber gerade dadurch
gekennzeichnet, dass sie die unmittelbare Befriedigung von Bedürfnissen beschränken. Freud spricht deshalb von einem
grundsätzlichen „Unbehagen in der Kultur" (s. Freud, 1978). das dadurch zustandekommt, dass die Übernahme der kulturell
vorgegebenen Normen das Ausleben der ursprünglichen Bedürfnisse verhindert. Moral bedeutet meistens das Handeln zugunsten der Gruppe unter Verzicht auf eigene Vorteile.
Da der Mensch aber als soziales Wesen auf andere angewiesen ist, müssen in einer Gruppe Bedürfnisse der
verschiedenen Mitglieder aufeinander abgestimmt werden. Nur eine Gruppe, in der eine gewisse gemeinsame
Handlungsbasis und —bereitschaft vorherrscht, erfüllt auch für die Individuen ihren Zweck. Für den Einzelnen ist es auch
unmittelbar belohnend (und damit bedürfnisbefriedigend), sich konform zu den Vorgaben der Gruppe zu verhalten: denn
dadurch wird sein Bedürfnis nach Legitimität befriedigt (vgl. Kapitel 6.2.1). Menschen brauchen ein Gefühl der Zugehörigkeit
zu einer Gruppe und streben es an, von anderen akzeptiert zu werden. Eine weitere Erklärung darin, dass Menschen
Normen folgen, die die Befriedigung ihrer Grundbedürfnisse einschränken, liegt darin dass Werte auch gute und schlechte,
richtige und falsche Handlungen und Handlungsergebnisse vorgeben. Durch diese Festlegung kann der Erfolg oder
Misserfolg einer Handlung beurteilt werden. In vielen Situationen ist es ohne feste Werte schwer einzuschätzen, ob man
„gut- oder „richtig" gehandelt hat, und damit auch schwerer, klare Erfolgserlebnisse zu erzielen. Verfügt man aber über klare
Kriterien, wird es leichter, gezielt nach Erfolg zu streben. Werte helfen dann auch bei der Befriedigung des
Kompetenzbedürfnisses.
Werte haben also eine motivationale Grundlage, auch wenn sie vordergründig die unmittelbare Befriedigung von
Bedürfnissen einschränken. Sie sind zum einen, wie eben beschrieben, auf das Grundbedürfnis nach Legitimität
zurückzuführen und können auch dem nach Kompetenz dienen. Ausserdem befriedigen sie noch ein weiteres menschliches
Grundbedürfnis: Sie reduzieren Unbestimmtheit, indem sie den Bereich der legalen Ziele und Handlungen eingrenzen.
Werte dienen der Orientierung und Ausrichtung des Handelns. Da Menschen in ihren Handlungsmöglichkeiten verglichen
mit anderen Tieren nur wenig festgelegt sind, leben sie auch in der unbestimmtesten Umwelt. Das wird ausserdem dadurch
verstärkt, dass sie in der Lage sind, sich mithilfe der Sprache vom im Augenblick unmittelbar Gegebenen zu entfernen und
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in die Zukunft zu denken oder sich Sach-verhalte vorzustellen, die sie so noch nie in der Realitat beobachtet haben.
Dadurch wächst die Menge der möglichen Ereignisse an, die Welt wird unübersichtlicher.
Weltbilder helfen dabei dieser Unübersichtlichkeit wieder Herr zu werden, indem sie die potentiellen Ereignisse zu
Bedeutungsklassen zusammenfassen und dem Menschen seine Welt erklären und ihm damit eine grundlegende
Handlungstendenz nahe legen.
Welche Welt ein Mensch für besonders bedeutsam hält und wonach er sein Handeln ausrichtet, wird durch die bei ihm im
Vordergrund stehenden Grundbedürfnisse bestimmt. Dabei kann er einer eher pragmatischen (gut ist, was mir nützt), einer
moralischen (gut ist, was sozial verträglich ist) oder einer ästhetischen Ethik (gut ist, was schön ist) folgen.
Weltbild und allgemeine Haltung der Welt gegenüber
Die Welt wird im Gedächtnis so abgebildet, wie es das Individuum brauchen kann. Das hängt mit der Befriedigung oder
Entstehung der Bedürfnisse zusammen (s. Dörner, 1999, S. 245). Sensorische Schemata und Verhaltensprogramme
werden dann angelegt, wenn sie sich als zielführend erweisen bzw. wenn sie unterschiedliche Situationen hervorrufen.
Wie die Wert- und die Wirkwelt eines Individuums dabei aussehen mag, hängt von der Art der Erfahrungen ab, die jemand
mit der Welt macht. Diese wiederum hängen zum einen davon ab, wie die Welt beschaffen ist, von Ressourcen und
Gefahren, zum anderen aber auch davon, wie jemand die Situationen seinen bisherigen Erfahrungen entsprechend
interpretiert und wie er sich in dieser Welt zurechtfindet. Die eigenen Bedürfnisse und Fähigkeiten und die Fähigkeit, sich
differenziert Sachverhalte und längere Ereignisketten zu merken, bestimmen Art und Umfang der Wert- und Wirkwelten. Es
ist klar dass Weltbilder so vielfaltig sind wie ihre „Träger". Jeder macht seine subjektiven Erfahrungen und deutet diese
entsprechend der eigenen Schemata.
Weltbilder bestimmen dadurch, dass sie die Grundlage sind, auf der alle aktuellen Erfahrungen bewertet und gedeutet
werden, die allgemeine Einstellung der Welt und sich selbst gegenüber und eine allgemeine Verhaltensbereitschaft. Ob
jemand mutig zupackt oder leicht aufgibt, hängt davon ab, ob er optimistisch in die Zukunft blickt oder eher Schlimmes
erwartet — ob also positive oder negative Situationen in seinen Realitätsmodellen vorherrschen — und davon, ob er sich
selbst Kontrolle über Ereignisse zuschreibt oder alles vom Schicksal oder anderen höheren Mächten abhängig glaubt — ob
also die aktive oder die passiven Anteile in seinem Weltbild überwiegen.
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Es gibt eine Vielzahl solcher Grundeinstellungen, die sich überspitzt mit einigen Sprichwörtern charakterisieren lassen:
„Mit Zähigkeit kommt man auf Dauer ans Ziel, nur nicht aufgeben!", „Wer wagt gewinnt!", „Vorsicht ist die Mutter der
Porzellankiste". „Trau niemals dem Glück, denn es ist vergänglich!" (vgl. Dörner, 1999, S. 245f) — dies alles sind Beispiele
für allgemeine Lebenseinstellungen. Damit ist ein Weltbild die Brille, durch die ein Mensch sich und die Welt betrachtet,
Situationen bewertet und Handlungsmöglichkeiten auswählt, und bestimmt die jeweils persönliche Art eines Individuums. auf
Situationen zu reagieren. Weltbilder sind eine bedeutende Grundlage der Persönlichkeit (vgl. Dörner, 1999. ebd.), sofern
man unter „Persönlichkeit" eine einigermaßen stabile Tendenz verstehen will, sich der Welt gegenüber zu verhalten.
Die Welt, in der Menschen leben, ist nicht immer einheitlich, sondern gliedert sich für verschiedene Personen in mehr
oder weniger viele verschiedene Realitätsbereiche. Diese zeichnen sich durch jeweils unterschiedliche Objekte, Personen,
Ereignisse und Handlungsmöglichkeiten aus. Im Weltbild besteht ein Realitätsbereich daher aus verschiedenen Objektund Geschehnisschemata und Verhaltensprogrammen, die zu einer Einheit zusammengefasst werden können. Im Laufe
des Lebens kristallisieren sich meistens verschiedene solcher Einheiten heraus — es sind die „Welten" in denen das
Individuum lebt (vgl. Harms, 1999; Stumpf. 1993). Es ist sinnvoll, unterschiedliche Handlungsbereiche zu unterscheiden,
wenn in ihnen verschiedene Motive angesprochen werden und in ihnen verschiedene Regeln herrschen, nach denen sich
das Individuum in seinem Verhalten zu richten hat. Viele der für diese Arbeit interviewten Personen unterteilen ihr Leben in
die zentralen Bereiche „Beruf, Familie und Freizeit".
Ob sich die Lebenshaltung der Interviewteilnehmer in diesen Bereichen jeweils anders ausdrückt, hängt davon ab ob
sich die einzelnen Realitätsbereiche im Weltbild unterschiedlich gestalten. Je nach Bezug den eine Person zwischen sich
selbst und der Welt sieht und welche Rolle sie sich dabei zuschreibt, wird sie sich auch unterschiedlich verhalten.
Eigenschaften von Weltbildern
Weltbilder sind individuell unterschiedlich. Solche Unterschiede betreffen natürlich zum einen die jeweiligen Inhalte, denn
jeder Mensch macht seine eigenen Erfahrungen. Zum anderen betreffen solche Unterschiede auch den Aufbau der
Weltbilder: je nach Beschaffenheit von Werte- und Wirkweltbild und je nach Verknüpfungen zwischen beiden ergeben sich
wiederum individuelle Besonderheiten. Allgemein lassen sich Weltbilder hinsichtlich folgender Eigenschaften beschreiben:
Strukturelle Eigenschaften:
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1. Menschen leben in unterschiedlich vielen verschiedenen Realitätsbereichen. Von daher finden sich auch in den
Weltbildern unterschiedliche Anzahlen von Realitatsbereichen.
2. Je nachdem wie wichtig die verschiedenen Handlungsfelder für die Person sind, wie viele Erfahrungen gemacht werden,
wie gut sich eine Person Zusammenhänge merken kann und wie viel Mühe sie auf die Erkundung ihrer Lebensbereiche
verwendet, unterscheidet sich auch die Differenziertheit. Je differenzierter ein Realitätsbereich im Gedächtnis dargestellt
ist, desto besser kann in ihm zwischen einzelnen Aspekten (Differenziertheit i.e.S.) und zwischen Abstufungen eines
Aspekts (Diskriminiertheit) unterschieden werden (vgl. Stumpf, 1993, S. 13 ff).
3. Meistens sind im Weltbild einer Person nicht alle Realitätsbereiche gleich differenziert repräsentiert. Es gibt Menschen,
die auf einem einzigen Gebiet Experten sind und sehr detailliertes, genaues Wissen darüber erworben haben, über
andere Bereiche aber wenig informiert sind. Andere verfügen sehr breit über „Halbwissen". Je nachdem, wie viele oder
wenige Bereiche im Leben einer Person wichtig sind und deshalb differenzierter betrachtet werden, sind die Weltbilder
mehr oder weniger zentriert.
4. Die einzelnen Realitatsbereiche können im Gedächtnis einer Person mehr oder weniger unverbunden nebeneinander
stehen, sich sogar mehr oder weniger widersprechen oder aber zu einer einheitlichen Weltbildstruktur zusammengefasst
werden. Die Integriertheit ist das Ausmass in dem sich die verschiedenen Weltausschnittsbilder zu einer
widerspruchsfreien Hierarchie zusammenfügen lassen. Wie Harms (1999, S. 28) zeigt. ist es wahrscheinlich, dass die
beiden Eigenschaften Differenziertheit und Integriertheit in gewissem Grade gegenläufig sind: Ein sehr hoher
Auflösungsgrad bei der Betrachtung der Welt, wie er bei einem stark diskriminierten Weltbild zum Tragen kommt,
bedeutet, dass viele Einzelheiten genau in Betracht gezogen werden. Dabei kann es leicht geschehen, dass das Ganze
aus dem Blickfeld gerät. Zumindest erfordert es zeitliche und intellektuelle Ressourcen, um den grösseren Umfang an
Details wieder zu einem einheitlichen Erklärungskonzept zusammenzufassen. Das trifft um so mehr zu je
unterschiedlicher die einzelnen Realitätsbereiche sich für das Individuum gestalten.
Gelten in den verschiedenen Bereichen jeweils unterschiedliche Regeln und ist es notwendig, diese genau zu kennen,
wird eine selbst erarbeitete Integration zunehmend aufwendiger.
5. Eine Eigenschaft, die nur bei einigermassen integrierten Weltbildem zu finden ist,
ist die Koharenz respektive Widersprüchlichkeit. Widersprüche können sich nur
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dann ergeben, wenn davon ausgegangen wird dass zwei Bereiche etwas
miteinander zu tun haben und denselben Gesetzen folgen. Das bedeutet, dass
sie sich beide aus einem übergeordneten Schema ableiten lassen müssten.
Ohne eine integrierende hierarchische Struktur würden die verschiedenen
Bereiche einfach unverbunden nebeneinander stehen, sie könnten dabei
unterschiedlich funktionieren, ohne dass dies als Widerspruch empfunden würde.
Ein kohärentes Weltbild zeichnet sich dadurch aus, dass es wenige
Widersprüche enthält, so dass aus ihm logische Erklärungen abgeleitet werden
können. Ein widersprüchliches Weltbild dagegen bedeutet für die Person, dass
sie mit einem hohen Maß an Unbestimmtheit leben muss- wenn sie es nicht
schafft die Widersprüche auf einer höheren Ebene aufzulösen.
Eigenschaft des Werteweltbilds:
6. Werteweltbilder können mehr aversive, „schlechte" Situationen enthalten, oder aber eher freudige Ereignisse
repräsentieren. Dominieren die negativen Situationen, wird die Person eine ängstlich-pessimistische Haltung entwickeln:
es kommt ja doch früher oder später wieder etwas Unangenehmes auf einen zu.
In solchen Weltbildern überwiegen
die „Vermeidungsziele", so dass die Person zwar bemüht ist, Schaden abzuwenden. aber wenig lustvolle Ereignisse
anstrebt. Menschen, die mehr positive Ziele in ihrem Weltbild haben, entwickeln dagegen eher eine optimistische Haltung,
da sie weniger befürchten und mehr Angenehmes erwarten. Über die Anzahl der angenehmen und unangenehmen
Ereignisse ist der hedonische Charakter eines Weltbilds festgelegt.
Eigenschaft des Wirkweltbilds:
7. Das Wirkweltbild kann sich durch mehr oder weniger ausgeprägte Aktivität oder
Passivität auszeichnen. Sind in ihrem Weltbild die meisten Ereignisse als
unabänderlich repräsentiert oder geht die Person davon aus, dass sie auf
Veränderungen keinen Einfluss hat, kann daraus ein resignativ-passives Sichadrian müller sept 2010
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Fügen folgen. Sind dagegen die meisten Bereiche durch eigenes Eingreifen
beeinflussbar, erlebt der betreffende Mensch seine Welt als etwas, das er selbst
mitgestalten und zumindest teilweise kontrollieren kann. Damit ergibt sich auch,
dass er für Ereignisse in seinem Leben selbst Verantwortung trägt.
Werte- und Wirkweltbilder stehen nicht unverbunden nebeneinander, sondern sind — in jeweils spezifischer Art —
aufeinander bezogen (vgl. zu den nächsten Eigenschaften Dörner, 1999, S. 249H).
Eigenschaften des Gesamtweltbilds:
8. Die Korrespondenz zwischen Werte- und Wirkweltbild bestimmt, inwieweit sich
eine Person in der Lage sieht, die ihr wichtigen Ziele auch erreichen zu können.
Werte- und Wirkwelt korrespondieren dann, wenn sich im Gedächtnis ein Weg
konstruieren lässt, der zu den positiven Zielen führt und die negativen Situationen
umgeht. Dabei können aktive und passive Geschehnisse überwiegen, wichtig ist
nur, dass die Person zu der Ansicht gelangt, Kontrolle über die relevanten
Bereiche zu haben. Im Extremfall gar keiner Korrespondenz erlebt die betroffene
Person Hilflosigkeit: Was auch immer sie unternimmt (und was in anderen
Situationen durchaus effektiv gewesen sein kann), hat keinen Einfluss auf die
weiteren Ereignisse (s. Seligmans Konzept der „erlernten Hilflosigkeit", 1975). Die
Korrespondenz des Weltbilds hat Einfluss darauf, wie sicher sich ein Mensch fühlt
und inwiefern er davon überzeugt ist, die Ereignisse in seinem Leben
beeinflussen zu können.
9. Eine weitere Eigenschaft von Weltbildem besteht im Ausmass der
Konfliktträchtigkeit. Konflikte ergeben sich dann, wenn sich aus einem Geschehen
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sowohl positive als auch negative Konsequenzen ergeben. Das kann zum einen
daraus resultieren, dass ein Ereignis ambivalent ist — es hat dann positive und
negative Aspekte, und es entsteht ein Appetenz-Aversionskonflikt, der dazu führt,
dass es schwer ist zu entscheiden, ob man sich dem Ziel nähern oder es eher
vermeiden sollte. Zum anderen ergeben sich Konflikte, wenn zwei oder mehr
Altemativen zur Auswahl stehen, die sich aber gegenseitig ausschliessen. Je
nachdem ob die Altemativen positiv oder negativ sind, ergeben sich AppetenzAppetenz- oder Aversions-Aversions-Konflikte, beide Arten von Konflikten führen
zu Schwierigkeiten, sich für das eine und gegen das andere zu entscheiden. Ist
ein Weltbild in hohem Masse konfliktträchtig, hat das lndividuum ständig mit
solchen Entscheidungsproblemen zu tun und wird ein eher zauderndes Handeln
an den Tag legen. Sind die angenehmen und aversiven Situationen dagegen im
Weltbild deutlich voneinander getrennt, wird sich die Person entscheidungsfreudig
verhalten.
10. Die Geschehnisschemata im Gedächtnis enthalten Angaben darüber, wie sich
eine bestimmte Situation unter bestimmten Bedingungen weiterentwickeln wird.
Dabei ist der weitere Gang der Dinge aber nicht unbedingt völlig klar. Manchmal
kann es so oder so weitergehen. Solche „Weichen" sind als Verzweigungen in
den Geschehnisschemata repräsentiert. Enthält ein Weltbild viele stark
verzweigte Schemata, entsteht in vielen Bereichen Unklarheit darüber, wie sich
die Dinge entwickeln werden. Das Weltbild ist sehr unbestimmt. Verzweigen sich
zudem die Verhaltensprogramme, ist sich die Person nicht einmal über den
Effekt der eigenen Handlungen im Klaren. Sie fühlt sich zwar nicht hilflos, wie
dies bei geringer Korrespondenz der Fall wäre, denn es bleibt die Gewissheit,
dass etwas bewirkt werden kann. Auch führt Unbestimmtheit nicht unbedingt zu
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Pessimismus, denn es könnte ja auch etwas Positives eintreten. Aber mit einem
solchen Weltbild kann nie eine klare Kausalitätskette aufgestellt werden, kann
nie sicher geplant werden, da sich vorweggenommene Ereignisfolgen ziemlich
schnell ins Nebelhafte verzweigen.
Die hier aufgelisteten zehn Eigenschaften sind allgemeine Beschreibungsmerkmale von Weltbildem, hinsichtlich derer sich
Personen unterscheiden. Je nach Beschaffenheit des individuellen Weltbilds wird eine Person Situationen auf ihre subjektive
Art und Weise wahrnehmen und bewerten, wird Ziele bilden und Handlungsschritte auswählen, wird Erwartungen haben und
ihr individuelles Ausmass an Zutrauen in die Welt und die eigenen Fähigkeiten entwickeln. Gerade in unbestimmten
Situationen dient das Weltbild als Orientierungshilfe, weil es Auskunft darüber gibt wie Situationen einzuschätzen sind und
wie die Person sich auf sie einstellen kann. Damit bestimmt das Weltbild auch in hohem Maße, wie eine Person auf ein
Kunstwerk reagiert. Im folgenden soll dies genauer betrachtet werden, indem zunächst die Weltbilder zweier
Interviewteilnehmer dargestellt werden. An diesen Beispielen soll zunächst verdeutlicht werden, wie Weltbilder generell
analysiert werden können, um im Anschluss daran zu untersuchen, wie sich diese Weltbilder jeweils auf das ästhetische
Erleben auswirken.
Das Weltbild von Herrn F.: Befreiung von einengenden Konventionen
Herr F. ist Astrologe. Er ist 48 Jahre alt und leitet schon seit einiger Zeit ein astrologisches Ausbildungszentrum und führt
Beratungen durch. Im Interview erklärt er seine Auffassung von Astrologie und dass er sich abgrenzt von seinen
esoterischen Kollegen, weil er ein wissenschaftliches Verständnis seines Berufes habe.
Für sein bisheriges Leben war bedeutsam, dass er streng katholisch erzogen wurde, weswegen er als Jugendlicher
bezogen auf seine Sexualität Angst und Schuldgefühle entwickelte. Er schildert, dass es eine wichtige Befreiung für ihn
bedeutete, als er sich von der Kirche abwandte. Dies tat er auf eine interessante Weise — heute schildert er sein Verhältnis
zum Glauben folgendermaßen: „Ich bin ein tief religiöser Mensch, denn ich bin Atheist". Es ist ihm gelungen, sich „Nischen"
zu suchen und diese für sich selbst zu definieren. Dafür war es wichtig, das einengende Weltbild, das er zunächst
mitbekommen hatte, völlig neu zu strukturieren. Die strengen Regeln, die in seiner Kindheit und Jugend herrschten, hatten zu
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massiven Konflikten zwischen seinem Legitimitätsbedürfnis auf der einen Seite und seinen starken (homo-)sexuellen
Bedürfnissen auf der anderen Seite geführt. Sein Weltbild war damit sehr konfliktträchtig: Der Bereich der Sexualität war ihm
äußerst wichtig, und dieser wichtige Bereich war von massiven Appentenz-Aversions-Konflikten beherrscht.
Innerhalb seines damaligen Weltbilds waren diese Konflikte nicht lösbar, obwohl er nach Möglichkeiten suchte:
,,...wenn ich mich daran erinnere, was ich als Kind bei Sexualität für Schuldgefühle hatte, nämlich das Gequältsein,
und wenn ich daran denke, so völlig sinnlos, ja als ich so in die Pubertät kam mit 11, 12, da habe ich dann Verträge mit
dem lieben Gott geschlossen, dass ich jetzt dann das nicht mehr so oft machen werde und so, ich denke. das ist
einfach eine seelische Grausamkeit...".
(Herr F. im Weltbildinterview)
Um sich aus diesen für ihn quälenden Konflikten zu befreien, wandte er sich dann vom christlichen Glauben insgesamt ab.
Das wurde ihm möglich, als er innerhalb seines Weltbilds auf logische Widersprüche stieß.
„Zwischen 12 und 14, da setzte dann so ein Ablehnungsprozess ein, dass ich irgendwie so dachte, das kann doch nicht
sein, dass der liebe Gott so ein fieses Schwein ist, dass er dich mit solchen Bedürfnissen ausstattet und dann aber unter
Strafe stellt, da du sie auslebst. Und damals wankte das sehr intensiv."
(Herr F. im Weltbildinterview)
Damit wurde das rationale Analysieren und logische Denken für ihn ein wichtiges Instrument, um die massiven
vorhandenen Konflikte zu beheben, die sich auch aus seinen (sexuellen) Neigungen und den Restriktionen seiner Umgebung
ergaben. Es gelang ihm, die aufgefundenen Widersprüche aufzulösen, indem er die strengen vorgegebenen Verhaltensvorschriften in Frage stellte und sich seine eigenen Werthaltungen zu definieren begann, die zu seinen Bedürfnissen nicht in
Widerspruch standen. Damit war er der für ihn quälenden Dynamik aus Bedürfnisdruck und schlechtem Gewissen nicht mehr
passiv ausgeliefert, sondern lernte früh, sich seine Lebenswelt mithilfe seines Verstandes nach den eigenen Bedürfnissen
selbstständig umzugestalten. Diese Kompetenz fand auf der einen Seite Anerkennung bei seiner Mutter („Meine Mutter hat
gesagt, ja du Hans, ich weiß, du bist so geschickt...."), führte aber auch zu Unverständnis in seinem sonstigen sozialen
Umfeld:
Ich bin ja im Arbeitermilieu groß geworden, und ich habe unter der Einfachheit der Erklärungen dort recht gelitten. Die
Leute (...) konnten bestimmte Dinge. die ein bisschen komplexer waren, in meiner Familie oft nicht nachvollziehen. Da
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fühlte ich mich sehr fremd, und ich empfand das als belastend..."
(Herr F. im Weltbildinterview)
Insgesamt erlebte er alle Vorgaben von außen als einengend und erniedrigend, da er wahrscheinlich insbesondere
aufgrund seiner Homosexualität — häufig aneckte. Deswegen sind ihm alle reduktionistischen Kategorisierungen verhasst:
„Ich habe auch immer das Gefühl, ich bin das erste Opfer solcher Vereinfachungen", insbesondere gegen die „peinlichen“
Moralvorstellungen der christlichen Religion hat er eine heftige Abneigung.
Heute hat Herr F. ein sehr aktives Weltbild: er hat sich immer wieder Nischen gesucht, innerhalb derer er selbst die
Normen und Regeln bestimmen konnte. So hat er z.B. schon während des Studiums Gruppen und Therapien zum Thema
Sexualität angeboten.
Ich habe dann sehr schnell gemerkt, dass dort dadurch, dass ich mich dort, sage ich mal, so mit Werten habe
emanzipieren können, dass ich da etwas kann, was meine Kollegen schlecht können. (... )Damals war das noch eine
heiße Sache. Da habe ich so gemerkt, also da gibt es welche, die kommen tatsächlich nicht so gut damit zurecht, die
Kollegen. also in vielerlei Hinsicht, so mit Dingen. die, sage ich jetzt mal, sehr abweichend sind, haben sie so ihre
Schwierigkeiten. deshalb habe ich dann gesagt, okay, das ist mein Feld."
(Herr F. im Weltbildinterview)
Im Studium wechselte er von Physik zur Psychologie, um da Parapsychologie zu betreiben „Ich will sozusagen mich mit
dem beschäftigen, was am Rande dessen ist, was man überhaupt irgendwie verstehen kann (...)", wandte sich dann der
Astrologie zu und besetzte auch hier eine Nische indem er sich in seinem Verständnis seines Faches von seinen
esoterischen Kollegen absetzt. Außerdem ging er nie einer Beschäftigung im Angelltenverhältnis nach, sondern war stets auf
seine Selbstständigkeit bedacht.
Innerhalb seiner selbst definierten Realitätsbereiche hat er es sich so eingerichtet, dass er Ambivalenzkonflikte zugunsten
von klaren, positiv getönten Alternativen aufgelöst hat.
Da er früher andere Erfahrungen machte, hat er zum einen gelernt, dass er die Kompetenz hat, sich selbst aus negativen
Lagen zu befreien. Zum anderen weiß er aber auch darum, dass sein jetziger Zustand nicht selbstverständlich ist und dass
er auf dem Weg bis zur heutigen Zufriedenheit viele schwere Krisen durchstehen musste, so z.B. als ihn sein Freund verliess
und er deswegen depressiv wurde, oder als er seine bisherige Berufswahl in Zweifel zog. Während der Krisenzeiten erlebte
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er sich als relativ hilflos, auch wenn er es nach einer gewisser Zeit immer wieder schaffte, sich wieder aufzuraffen. Deswegen
fühlt er sich in dem nun erreichten positiven Zustand nie ganz sicher, und er verwendet viel Anstrengung darauf, diesen zu
sichern, indem er Ereignisse positiv (um-)deutet. Auch seine bisherigen Lebenskrisen betrachtet er nun im Nachhinein als
notwendige Stationen auf seinem Lebensweg, die er als Chancen zu nutzen wusste.
In vereinfachter Form könnte man Herrn F.s Weltbild graphisch folgenderweise darstellen:
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Abbildung 6.3 Das Weltbild von Herm F.
Die grau unterlegten Bereiche in Abbildung 6.3 stellen Lebensbereiche dar, die für Herrn F. derzeit nicht aktuell sind, aber
dennoch als Erinnerung sein jetziges Weltbild mitbestimmen. Die Kontlikte, die seine Jugend bestimmten und ihn sehr
quälten, hat er überwunden, diese Erfahrung schlägt sich in seinem aktuellen Weltbild nieder, da er erfahreren hat, dass er
Krisen überwinden kann. Insofem hat er ein sehr aktives und auch optimistisches Weltbild. Andererseits hat er auch
mehrmals die Erfahrung gemacht, dass er bestimmten Lebenssituationen hilflos gegenüberstand, so dass diese „grauen"
Erinnerungen im Hintergrund dafür sorgen, dass er sich nie ganz sicher fühlt und von daher sehr darauf bedacht ist, sein
Leben positiv zu gestalten. Dies gelingt ihm auch sehr gut, so dass der durchgängig umrandete Bereich, der jetzt sein Leben
bestimmt, viele positiven Ziele, (fast) keine Konflikte aufweist und durch eine äußerst hohe Korrespondenz gekennzeichnet
ist.
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Tabelle 6.1 fasst die beschriebenen Eigenschaften von Herrn F.s Weltbild zusammen.
Tabelle 6.1 Weltbildeigenschaften — Herr F.
hohe Differenziertheit, sehr
Strukturelle Eigenschaften kohärent
Werteweltbild:
positiv, aber mit Bedrohung
hedonischer Charakter
Wirkweltbild: Aktivität /
sehr aktiv
Passivität
Gesamtweltbild:
Korrespondenz
sehr hoch, aber mit Bedrohung
Konfliktträchtigkeit
Unbestimmtheit
fast nicht
hauptsächlich bestimmt, aber
mit Bedrohung
Noch eine Version
Frau H.s wissenschaftlich optimistisches Weltbild
Frau H. ist Professorin. Zum Zeitpunkt des Interviews hat sie ihren Lehrstuhl seit 2-3 Jahren inne und steht gerade am
Beginn einiger neuer Forschungsprojekte. Nachdem sie nach der Geburt ihres Kindes ein halbes Jahr lang nur halbtags
gearbeitet hatte, arbeitet sie nun wieder Vollzeit.
Ihre derzeitige Lebenssituation charakterisiert sie als „Aufbauzeit", die dadurch gekennzeichnet ist, dass in allen
möglichen Bereichen Neues beginnt. Abgesehen davon, dass sie seit kurzer Zeit Mutter ist und sich damit ihr Privat- und
Familienleben verändert hat, beginnt sie auch im Beruf neue Projekte. In der ersten Zeit, die sie den Lehrstuhl leitete, war sie
hauptsächlich damit beschäftigt, sich in die Strukturen einzuleben und die Vorlesungen neu zu konzipieren. Nun hat sie den
nötigen Freiraum, um sich wieder der Forschung zuzuwenden. Die vielen Neubeginne in ihrem Leben bewertet sie als
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äußerst positiv, da sie über eine hohe heuristische Kompetenz verfügt und dadurch Neuem wenig ängstlich, sondern
neugierig gegenübertritt. Die Konfrontation mit neuen Aufgaben beschreibt sie „nicht als Belastungsproblem, sondern
positive Probleme, also Herausforderungen könnte man sagen." Damit sind in ihrem Weltbild sehr viele positive Ziele, Vermeidungsziele dagegen kommen nicht vor, so dass ihr Erwartungshorizont insgesamt positiv getönt ist.
Das Ziel, das sie beruflich vor Augen hat, hat auch unmittelbar mit dieser Neugier und ihrer Lust an der
Unbestimmtheitsreduktion zu tun:
„also ich möchte gerne die schwammige Ahnung, oder Vision, Idee so einen Zipfel, den ich immer wieder erfasse, (...)
klar formulieren können. (...) und ich habe jetzt auch nicht die Vorstellung, ich werde da die Weltformel (...) entwickeln,
(...), aber ja, ich würde da gerne etwas beitragen (...) und vielleicht auch so ein bisschen vor dem Hintergrund der
Beschäftigung mit der Mathematik und der Faszination, die für mich davon ausgeht, so eine ldealvorstellung, wie eine
Theorie aussehen soll (...) also eine sehr sparsame, elegante, einfache Formulierung, wobei ich mir da nicht sicher
bin, (...) ob das (...) diesen Prozessen, die ja sehr komplex sind, angemessen ist, ob man das so reduzieren kann."
(Frau H. im Weltbildinterview)
Neben der Möglichkeit, sich mit Neuem auseinanderzusetzen und dabei ständig zu lernen, ist es ihr auch sehr wichtig,
dass sie in ihrem Beruf eine gewisse Freiheit hat, ihre Themen selbst zu bestimmen und auch ihr Arbeitsumfeld selbst
gestalten zu können. Dies war auch eine Vorstellung, die sie motivierte, diesen Beruf zu ergreifen.
Schliesslich arbeitet sie auch gern mit anderen Menschen zusammen und macht sich viele Gedanken darüber, wie sie
diese Zusammenarbeit so gestalten kann, dass auch ihre Mitarbeiter zufrieden sind. All diese Bedürfnisse sieht sie nun in
ihrer derzeitigen Lebenslage befriedigt. Dabei schreibt sie diesen positiven Zustand zu einem grossen Teil ihrem eigenen
Einfluss zu, hat also ein vorwiegend aktives Wirkweltbild, betont aber auf der anderen Seite auch, dass andere Menschen
dabei eine grosse Rolle spielten, die sie ermutigten, auf diesem Weg weiterzugehen.
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Abbildung 6.4 Das Weltbild von Frau H.
Insgesamt strukturiert Frau H. ihre Welt so, dass sie offen und mit positiven Erwartungen auf die Welt zugeht. Die
Offenheit zeigt sich auch darin, dass sie immer wieder zwischendurch, aber besonders als Abschluss des Interviews,
nochmals betont, dass es sich bei ihren Äusserungen lediglich um ihre derzeitigen persönlichen Ansichten handle und dass
sich das auch ändern könne, z.B. wenn sie durch schwere Schicksalsschläge in eine andere Lebenslage kommen würde. Sie
ist sich ihres derzeitigen positiven Lebenszustands zwar einigermaßen sicher, schließlich hat sie lange darauf hingearbeitet
und hat Zutrauen in ihre eigenen Fähigkeiten entwickelt, andererseits ist sie sich aber auch bewusst, dass alles auch ganz
anders sein könnte und dass man sich deswegen im Leben bemühen muss. Dieses Bemühen nennt sie ihre „Religiosität"
und meint damit die Haltung, achtsam, sorgfältig und liebevoll mit der Arbeit, den Dingen und den Mitmenschen umzugehen.
Frau H.s Weltbild (s. Abbildung 6.4) ist v.a. durch die Vielzahl der positiven Ereignisse gekennzeichnet und durch die hohe
Korrespondenz zwischen Wert- und Wirkwelt: Alle von ihr als wichtig erachteten Ziele sind von ihr selbst mehr oder weniger
selbstständig erreichbar. Auch negative Ereignisse kommen in ihrem Weltbild vor, diese enden aber nie in einer Sackgasse,
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sondern sind bisweilen mit Unterstützung durch andere selbstständig wieder in den Griff zu bekommen. Sie sieht eigentlich
immer mehrere Möglichkeiten, das Geschehen positiv zu beeinflussen. Die soziale Unterstützung, die sie dabei benötigt, hat
sie auch immer gefunden. Aus ihrem Weltbild ergibt sich, dass sie sich auf der einen Seite als sehr kompetent erlebt, auf der
anderen Seite sieht sie sich auch als eine Person, die Glück hatte im Leben. Daraus leitet sie ab, dass es in Zukunft auch
anders kommen könnte. Aus dieser Kombination ergibt sich ihre Haltung, das Glück nicht passiv zu genießen, sondern auch
etwas dafür zu tun - zumal ihr Anstrengungen auch an sich Spaß machen.
Auch Frau H.s Weltbild soll anhand der Weltbildeigenschaften zusammengefasst werden.
Tabelle Weltbildeigenschaften - Frau H.
Strukturelle Eigenschaften
hohe Differenziertheit
hohe Kohärenz
Werteweltbild: hedonischer
Charakter
sehr positiv
Wirkweltbild: Aktivität /
Passivität
sehr aktiv
Gesamtweltbild:
hoch
Korrespondenz
Kontliktträchtigkeit
Unbestimmtheit
gering
relativ gering
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