Ambulanz für Schulabsentismus – Projekt der Klinik für Psychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie im Kindes‐ und Jugendalter, Klinikum Nürnberg Dr. med. Sven Lienert Oberarzt Kinder- und Jugendpsychiater Kinder- und Jugendarzt Psychotherapeut [email protected] Klinik für Psychiatrie, Psychosomatik u. Psychotherapie im Kindes u. Jugendalter, Nürnberg Chefarzt Dr. med. P. Nonell Klinik für Psychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie im Kindesund Jugendalter Pilotprojekt Schulabsentismus – Entwicklung eines interprofessionellen Konzept zur multimodalen Behandlung Lienert, Sven; Braun-Scharm, Hellmuth; Nonell, Patrick Fragestellung Schulabsentismus ist ein wenig untersuchtes, kinder- und jugendpsychiatrisch uneinheitliches Krankheitsbild [1]. Daten zur Prävalenz liegen auch international eingeschränkt vor. Schätzwerte gehen von ca. 5% der Schüler aus [1]. In der englischsprachigen Literatur werden überwiegend die Begriffe „school refusal behavior“ und „school absenteeism“ [2, 3] verwendet. Im DSM-5 [4] findet sich unter dem Diagnosecode 309.21 „Separation Anxiety Disorder“ [5] der Verweis, dass dies häufig die Vorstufe zu Schulabsentismus sei. In der ICD-10 [6] findet sich keine Einteilung zur Differenzialdiagnose von Schulabsentismus. Dennoch scheint Schulabsentismus entsprechend aktueller Literatur als Oberbegriff geeignet [1], wobei auch der Begriff Schulvermeidung Verwendung findet [7]. Für die Praxis relevante Fachbegriffe und Diagnosen bei Schulabsentismus umfassen [8] „Schulverweigerung“ (Störung des Sozialverhaltens, SSV, ICD-10 F90.1, F91.ff, F92.ff), „Schulschwänzen“ (keine Entsprechung im ICD-10), „Schulangst“ (die Symptomatik entspricht letztlich der einer sozialen Phobie mit Ängsten unter prüfender Betrachtung, ICD-10 F40.1) und „Schulphobie“ (Emotionale Störung mit Trennungsangst, ICD-10 F93.0). Methoden Im Rahmen der Institutsambulanz der Klinik für Psychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie im Kindesund Jugendalter im Klinikum Nürnberg erfolgt der Aufbau einer Ambulanz für Schulabsentismus. Fokus liegt auf internalisierenden Störungsbildern, wenngleich auch externalisierende Erkrankungen diagnostiziert werden. Die Evaluation erfolgt mittels klinischer Einschätzung und Diagnostik [9]. Eine Kooperation mit der Kooperationsstelle Polizei-Jugendhilfe-Schule (PJS), die aus der 2. Chance hervorgegangen ist [10], ist initiiert [11]. Wünschenswert bezüglich der wissenschaftlichen Begleitung wäre die Zusammenarbeit mit Hochschulen vor Ort. Die Implementierung einer niederschwelligen Beratungsstelle als Clearingstelle „Schulabsentismus und Schulvermeidung“ ist in Diskussion. Abbildung 1: Zeitschiene der Behandlung und Settingwechsel [56] Ergebnisse Bislang liegen noch keine Ergebnisse vor. Elementar scheint eine umfassende Aufklärung von Schulen, Eltern, Jugendhilfe, niedergelassenen Behandlern. Vermieden werden sollte eine Schulbefreiung ohne medizinisch objektivierbaren Grund. Zielführend scheint zudem eine enge Vernetzung von Kinder- und Jugendpsychiatrie mit Kinder- und Klinik für Psychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie im Kindes- und Jugendmedizin. Der Kinder- und Jugendarzt oder Hausarzt ist oft erster Ansprechpartner Jugendalter bei wiederkehrenden somatischen Beschwerden, die zur Schulbefreiung führen. Schlussfolgerungen Poststationäre Clearingphase Diagnostikphase Behandlungsphase Folgen von Schulabsentismus für die Betroffenen sowie die Gesellschaft werden derzeit Konsolidierung nicht ausreichend gewürdigt. Aus der klinischen Erfahrung ist von Wechselwirkungen auf Schulpsychologin bio-psycho-sozialer Ebene auszugehen. Dies führt zu individueller, schulischer, Lehrer 1. Woche familiärer und letztlich auch einer Beeinträchtigung der Teilhabe am Leben in der Allgemeiner Erstkontakt Sozialdienst Gesellschaft, häufig gemäß Sozialgesetzbuch VIII § 35a. Erschwerend kommt hinzu, Kinder- und 2. Woche Kinder- und Jugendmedizin Psychologische dass Untersuchungen zu Entstehungsbedingungen und aufrechthaltenden Faktoren im Jugendpsychiater Teilstationäre Untersuchung und Behandlung bio-psycho-sozialem Umfeld sowie Angaben zu Vorläufersymptomen fehlen. 3. – 4. Woche Kinder- und psychotherapeut Abschlussgespräch Grundsätzlich darf davon ausgegangen werden, dass erfolgreiche Jugendpsychiater Familie / Patient 45min Interventionsmaßnahmen multimodal sowie individualisiert ausgerichtet sein und die Nachbetreuung Stationäre Behandlung Schulpsychologis Lebensrealität des Betroffenen einbeziehen sollten. Gemäß Essener Modell nach Beratungsstelle Ambulanz che Anbindung Schulvermeidung Schulabsentismus Knollmann und Hebebrandt et al. [7, 9] sollte erstes Ziel immer die Wiederaufnahme Ambulante Behandlung eines vollumfänglichen Schulbesuchs sein. Dies erfordert eine strukturierte Vernetzung Recall: Telefonsprechstund Aufsuchende Hilfe Aufsuchende Hilfe des ambulantem und stationären Helfersystems unter Einbeziehung der Eltern. Nach e 1h/Woche bereits initial multimodaler Behandlung im interprofessionellen Team sollte die KJP Notfallambulanz 24/7 bei krisenhafter Zuspitzung Behandlung bei weiter ausbleibendem Schulbesuch stationär fortgeführt werden. Dabei scheint trotz hohem Belegungsdruck die rasche Aufnahme der Patienten entscheidend, Beratung durch ASD Schulische Hilfen Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie primär mit deren Einverständnis, bei Persistenz oder fehlender Kooperation aber auch gem. §16 SGB VIII gegen deren Willen mittels Beschluss nach §1631b Bürgerliches Gesetzbuch (BGB). Niedergelassener Kinder- und Niedergelassener Kinder- und Jugendpsychiater – und psychotherapeut Jugendpsychiater – und psychotherapeut Damit kann eine Chronifizierung verhindert werden. Als Grundlage für die Therapieplanung bieten sich nach [25] auf Basis der vorher genannten Persistenz oder Aggravation Schulische Reintegration Erstmanifestation Einschätzung Verhaltensanalyse vier Kategorien im Hinblick auf das individuelle Erklärungsmodell an: Vermeidung spezifischer angstbesetzter Situationen, Vermeidung aversiv erlebter Abbildung 2: Nürnberger Ambulanz für Schulabsentismus der Klinik für Psychiatrie, Psychosomatik und sozialer Situation, aufmerksamkeitssuchendes Verhalten und mit Trennungsangst in Paracelsus Medizinische Privatuniversität | Klinik f. Psychiatrie, Psychosomatik u. Psychotherapie im Kindes- u. Jugendalter | Klinikum Nürnberg | Dr. S. Lienert Psychotherapie im Kindes- und Jugendalter [56] Verbindung stehendes Verhalten, positiv verstärkende Erfahrungen, die außerhalb der Schule geboten werden. Danksagung Danken möchten wir den Kollegen der LVR-Klinikum Essen, Kliniken und Institut der Universität Duisburg-Essen, vor allem Hr. Dr. Knollmann und Prof. Dr. Hebebrandt für deren freundlichen Einblick in ein etabliertes und funktionierendes Behandlungsmodel. Nürnberger Ambulanz für Schulabsentismus Schulverweigerung: Mittleres Alter in LJ* Das Fehlen erfolgt mit Wissen der Eltern, dabei hält sich das Kind meist zu Hause auf, Symptome umfassen Angst, insbesondere morgens (Zittern, Schwindel, Herzrasen, Übelkeit, Bauchschmerzen, Erbrechen, Hyperventilation, depressive Symptome) [9, Grafik 1] 13,1 10,9 Männlich* 66 50 Weiblich* 33 Soziale und emotionale Probleme** 33 50 Praxisrelevante Einteilung [1, 8] Gemischte Gruppe [%] Geringes Einkommen* Konflikte mit Gleichaltrigen* 31,5 16,2 22,1 27 0,7 Störung des Sozialverhaltens* 26,5 Depressive Episode* 0,2 0,3 Soziale Phobie* 0,23,2 Einfache Phobie* 0,2 2,1 Trennungsangst* 0,3 43,4 13,1 0,5 1,3 Panikstörung* 42 14,8 5 Aufmerksamkeitsdefizit- u. Hyperaktivitätsstörung* Symptomatik 31,2 28,9 8,5 Körperliche Beschwerden (Kopf- und 15,5 7,5 13,9 11,6 14,4 10,8 Weitere psychiatrische Diagnose* 10 20 30 Soziale Ängste, Leistungs-/ Prüfungsängste (inkl. Anpassungs-störungen Trennungsängste 40 Panik- und Somatisierungs- Depressives Syndrom (Affektive Psychosen) Oppositionelles Verhalten bzw. Störung des Sozialverhaltens syndrom Angst vor Leistungsanforder ungen in Schule (Prüfungsangst), nicht gut genug zu sein, etwas nicht zu können. Angst muss inadäquat zum möglichen Leistungsniveau sein. Hinzu kommen können soziale Ängste oder „Mobbing“ kommen, die sich auch als Anpassungsstörun g äußern können [9, Grafik 1] Emotionale Störung mit Trennungsang st [30]: Angst vor Trennung von den Eltern. 50 60 70 80 90 100 Tabelle 1: Komorbidität, assoziierte Symptome und Belastungsfaktoren in Abhängigkeit von der Form der Schulverweigerung, nach **[21] bzw. *[15], adaptiert aus [18, Tab. 1] [die Daten sind erhebungsbedingt nicht direkt vergleichbar] Panik-störung: Wiederkehren de, ausgeprägte Angstattacken, die sich nicht auf spezifische Situation oder Umstände beschränken, nicht vorhersehbar sind, zu Erwartungsan gst führen können. Ausdruck der Antriebs-, Interessen-, Motivationsar mut, Erschöpfung, Unlust, sozialer Rückzug [30] Symptome umfassen die bei den anderen Diagnosen genannten: Externalisierende und Internalisierende. Dissoziales Verhalten, das in der Verweigerung der Schule symptomatisch ist. Andere Aktivitäten sind attraktiver (lerntheoretisch verstärkend), und die Schule wird nicht aufgesucht: Störung des Sozialverhaltens. Symptome umfassen dabei Opposition, Lügen, Delinquenz, Aggressivität, Impulsivität, hyperkinetische Symptome [9, Grafik 1] F32.ff, F41.2 F92.ff, F43.2ff F90.1, F91.ff, F92.ff Somatoforme Störungen: Polysymptoma tisches Beschwerdebild 88,2 25,4 24,5 0 Schulschwänzen [9, Grafik 1]) 28,6 12,4 Hänseleien, tyrannisiert werden in der Schule Syndromdiagnosen [30] 52,4 31,3 37,1 Geringe elterliche Kontrolle* Schulphobie das Fehlen erfolgt ohne Wissen der Eltern, das Kind erhält sich dabei meist nicht zu Hause auf, verlässt häufig pünktlich den häuslichen Rahmen, schwänzt mit anderen [9, Grafik 1] (CAVE: Bei [8] wird der Begriff „Schulverweigerung“ verwendet) Ängstliche Schulverweigerer [%] 11 Sozialverhaltensstörung** Das Fehlen erfolgt mal mit, mal ohne Wissen der Eltern [9, Grafik 1]. Schulschwänzen: Schulschwänzer [%] 22 Emotionale Störung** Schulangst Mischung aus Schulverweigerung und Schulschwänzen: ICD-10 Code F40.1, F41.ff, F93.0 Panikstörung, F43.2ff F41.0 Tabelle2:PraxisrelevanteEinteilungvonSchulabsen6smus,modifiziertnach[1,6,8,9,Grafik1,16,19,30]) [6, 35] Somato-forme Störungen, F45.ff ICD-10 Beschreibung [6, 35] Symptomatik entspricht letztlich der einer sozialen Phobie mit Ängsten unter prüfender Betrachtung, in Testsituationen Emotionale Störung mit Trennungsang st Panik-störung: Auftreten wiederkehrend er, ausgeprägter Angstattacken. Kombinierte Störung des Sozialverhaltens und der Emotionen. Die Symptomatik kann sich als Anpassungsstörung äußern [9, Grafik 1]. Störung des Sozialverhaltens Hyperkinetische Störung des Sozialverhaltens 5